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Donner und Dorian

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17.05.19 14:47
18 Ab 18 Jahren
Heterosexualität
Fertiggestellt

Autorennotiz

Willkommen bei meiner kleinen Geschichte. Sie wird vier handliche Kapitel umfassen und euch hoffentlich ein wenig Zeit vertreiben.
Viel Spaß mit Dorian und Merle!

Ich glotzte wie eine Kuh bei Donner aus dem Wohnzimmerfenster. Wortwörtlich. Draußen war die Hölle los. Orkanartige Böen rauschten vor dem Glas, rissen Laub mit sich und schleuderten sogar Zeitungspapier vom Gehweg hoch in den fünften Stock. Kleine Äste hämmerten beim Vorbeiflug ans Fenster und bestimmten den Takt der gigantischen Regentropfen, die sich im Kampfschrei des Windes gegen die Scheibe stürzten. Die Welt verschwamm im Unwetter. Dennoch sah ich sie klar und deutlich:

Blitze jagten über den nachtschwarzen Himmel, krümmten sich von links nach rechts, platzten und zischten und sausten hinter dem gegenüberliegenden Wohnblock ins Nichts. Ich biss die Zähne zusammen und zählte stumm. Einundzwanzig, zweiundzwanzig -

Rums! 

Der Donner fuhr mir durch die Knochen. Ich zuckte zusammen. Verflixt, das Gewitter war so nah, als würde es direkt vor der Scheibe lauern und nur darauf warten, mich endlich fertig machen zu können. Fensterglas vibrierte. Bedrohlich rumpelten Echos durch die Altbauwände. Dielen knarzten unter meinen Socken.

Dann schnellte ein weiterer Blitz übers Firmament wie ein Pfeil, der auf mich persönlich abgeschossen worden war.

Genug! Ich zerrte die Vorhänge vor die Scheibe und bildete mir ein: Was ich nicht sehe, sieht mich auch nicht. Also konnte mich das Gewitter nicht mehr finden, oder? Oder? Sich zu verstecken war bestimmt eine gute Idee, musste es einfach sein, da ich genau das immer machte, sobald die meteorologische Apokalypse ausbrach. Bisher hatte ich so überlebt, dann sollte das diesmal gefälligst auch der Fall sein!

Durchatmen. 

Gut, mein Puls sank minimal unter die lebensbedrohliche Grenze und erlaubte es mir, mich an meine typische Anti-Unwetter-Strategie zu erinnern. Diese sah folgendermaßen aus: Gegen die gleißenden Blitze wehrte ich mich mit den Vorhängen - check! - und zusätzlich mit allen verfügbaren Leuchtmitteln innerhalb meiner Festung. Ich linste zum Beistelltisch neben dem Sofa und knipste die Messinglampe an. Check, nun brannte wirklich jede Glühbirne, selbst in der Küche und im Bad, obwohl ich nicht mal plante, überhaupt in die Nähe von Wasserhähnen zu geraten, solang draußen die Welt unterging. Schließlich wusste man nie, aus welcher Leitung die 100.000 Ampere als nächstes schießen würden, um einen in einen Krustenbraten zu verwandeln.

Rums!

"Ieks!" Mein Quieken übertönte den Donner kaum, also machte ich mich daran, Teil Zwei meiner Strategie anzugehen: Bekämpfe Lärm mit rhythmischem Lärm. Gedacht, getan. Wie ein angefahrenes Reh schwankte ich zur Stereoanlage im Regal hinter der Couch. Normalerweise posaunte das Ding eine auf die Nervenbahnen meiner Nachbarn angepasste Playlist, nur momentan fehlte mir für derlei Sperenzchen die Geduld. Daher hämmerte ich auf den Startknopf des CD-Laufwerks und ließ mich überraschen. Ach, Metallica, wie beruhigend.

Ich lauschte Hetfields Sandmännchen-Song und rieb mir die Augen, um sie zu trocknen. Ja, ich gestehe: Mir kullerten Tränchen über die Wangen, aber, hey, über der Stadt herrschte das Armageddon und ich war allein. Da war es doch wohl erlaubt, kurz die Fassung zu verlieren. Taff sein konnte ich am nächsten Morgen wieder - vorausgesetzt da gab's mich noch; als Mensch und nicht als Grillkohle, in die mich ein hereingeschlichener Blitz verwandelt hatte, oder als Aschehaufen, nachdem das ganze Haus abgebrannt war.

Wurde ich paranoid? Gewiss. War mir das egal? Definitiv. Mich plagten nun mal andere Sorgen.

Rums!

Verdammt, ich musste mich ablenken, sonst wäre ich am Ende an einem simplen Herzinfarkt krepiert und das widerstrebte mir ehrlich. 

"Entspann dich", mahnte ich mich und straffte die Schultern, um mir Mut vorzugaukeln. Dabei fiel mein Blick aufs überfüllte Regal, aus dem ich einen Pratchett-Roman zupfte, der mich sowohl ablenken, als auch aufheitern sollte. Genau das brauchte ich jetzt: Licht, laute Musik und ein hervorragendes Buch. Damit würde ich die folgenden Stunden bestimmt einigermaßen überstehen.

Ich überzeugte mich mit einem Nicken und stakste zurück zum Sofa, ließ mich ins Polster plumpsen und mummelte mich zusammen. Ein Schmusekissen landete auf meinen Knien, darauf die fast zerlesene Ausgabe von Ab die Post. "Alles wird gut", seufzte ich beim Aufschlagen des Buchdeckels, "alles wird -"

Dunkel.

Kollektiv erloschen alle Lampen. Vor Schreck schleuderte ich den geliebten Pratchett über die Rückenlehne.

Rums!

Donner grollte wie eine Lawine durch die Wohnung und begrub mich in Finsternis. Panisch starrte ich in den Raum, der sich für einen Sekundenbruchteil im Blitzlicht zeigte und dann sofort wieder verschwand.

Rums!

Das durfte nicht wahr sein! Nicht jetzt! Krampfhaft krallte ich mich ins Kissen und wollte es mir gerade auf die Ohren pressen - oder auf den Mund, um den nahenden Schrei zu ersticken -, als meine Eingangstür so heftig bebte, dass nun auch das Kissen durch die Luft segelte und hinter mir ins Nirwana verschwand. Was zum Henker?

Jemand verzichtete auf den Brauch des Klopfens und hämmerte lieber wie ein Berserker gegen das Holz, was mich genug provozierte, um das Gewitter kurzzeitig zu vergessen. Perplex gaffte ich in Richtung Flur, aus dem mich zusätzlich handbetriebener Donnern terrorisierte. Viel fehlte nicht, bis ich geglaubt hätte gleich den Typen aus Shining durchbrechen zu sehen, doch die Axt blieb aus, also wagte ich es, mich dem Krawallmacher zu stellen. Mit einem Satz fegte ich vom Sofa, krachte mit dem Schienbein gegen den Tisch und jaulte auf, als der nächste Blitz flackerte. Wahrscheinlich machte ich mit der Szene jedem Werwolf im Horrorstreifen Konkurrenz.

"Ich sollte weniger Filme gucken", ächzte ich und rieb mir das Bein, ehe ich weiterhumpelte, um demjenigen die Leviten zu lesen, von dem ich einfach wusste, dass nur er da draußen stehen konnte. Wer sonst würde mich bei dem Unwetter heimsuchen? Niemand, der dafür einen Schritt ins Freie setzen musste.

Ich tastete mich durch die Finsternis, bis ich endlich die Wohnungstür fand. Schwungvoll riss ich sie auf. Und war blind. Grelles Licht brannte sich von meiner Netzhaut direkt ins Hirn.

"Was zum Teufel!" Stöhnend kniff ich die Lider zusammen. "Gehörst du neuerdings zu den MIB oder warum blitzdingst du mich, Blödmann?"

Der Blödmann schnaufte: "Du solltest weniger Filme gucken, Merle", und nahm die Taschenlampe herunter. 

Mehrfach blinzelte ich, in der Hoffnung irgendwann wieder sehen zu können, doch erfolglos. Vor mir blieb der Hausflur schwarz.

"Bei dir ist der Strom also auch ausgefallen", stellte der Blödmann plötzlich hinter mir fest. "Dann hat's echt das ganze Haus erwischt."

Ich fuhr herum und fragte mich, wie er so schnell in meine Wohnung huschen konnte, bevor ich ihn fragte: "Stromausfall?"

Die vornehme Blässe des Blödmanns tauchte im Schein der Taschenlampe auf, wodurch ich sicher sein konnte, dass es sich tatsächlich um meinen Nachbarn von gegenüber handelte, der mich hier behelligte. "Ja, Stromausfall, du Nuss. Sonst wär ich wohl kaum mit einer Taschenlampe hier angereist." Dorian griente überheblich und sah dabei natürlich wieder teuflisch gut aus. Ein Mundwinkel ragte spitz in die Höhe, der andere zuckte. Aus seinen blauen Augen sprang mir unverholener Schalk entgegen und die schulterlangen, weizenblonden Haare tarnten ihn auch nicht unbedingt als Unschuldsengel. Mehr erkannte ich nicht, da er in seinem schwarzen Shirt regelrecht mit der Dunkelheit verschmolz.

"Klugscheißer", maulte ich milder als beabsichtigt. Zwar hätte ich es nicht mal unter Folter eingestanden, aber ja, ich freute mich, ihn zu sehen. Aus vielerlei Gründen, doch vorrangig, weil seine Anwesenheit bewies, dass da noch jemand war, der mit der Schlechtwetterfront klarkommen musste. Wenngleich das Dorian scheinbar überhaupt nicht juckte.

Er hob die Achseln und murrte: "Wie du meinst. Mehr wollte ich eh nicht, also Tschüss."

Rums!

Mit dem nächsten Donnerschlag knallte ich die Tür vor seiner Nase zu. Ein Reflex, redete ich mir ein, während ich meinen Rücken ans Holz presste, um den Ausgang zu blockieren, was garantiert dumm aussah und zudem auch ziemlich dumm war, da Dorian mich um einen halben Kopf und zudem auch kräftemäßig definitiv überragte. Mich beiseite zu schubsen oder plump in die Ecke zu stellen, wäre für ihn kein Problem gewesen. Dennoch tat er nichts dergleichen, sondern musterte mich eingehend wie einen Verbrecher mithilfe der Taschenlampe, bevor er spottete: "Kann es sein, dass du froh bist, mich hier zu haben?"

Mit der Lampe stimmte was nicht! Sie brachte meine Wangen zum Kochen. "Schwachsinn!" Auch die Stimmbänder versengte mir das Mistding, denn ich quietschte viel zu hoch. "Als ob!"

"Wirklich?" Man konnte sein arrogantes Grinsen regelrecht hören. "Dann kann ich ja gehen." Dorian schob sich neben mich und griff nach der Klinke. Der Duft von Hugo Boss mischte sich mit Duschbad und dem typischen Aroma von mich kriegst du nicht, das Dorian umhüllte seit ich ihn kannte. Dabei wollte ich ihn auch gar nicht, hatte ihn nie gewollt. Auch nicht, nachdem ich vor gut zwei Jahren zum ersten Mal seine harsche Stimme im Hausflur gehört, ihn beim Möbelschleppen beobachtet und irgendwann diese kristallblauen Augen erblickt hatte, die einem, binnen eines Wimpernschlags, das Gefühl gaben, man wäre es nicht wert mit Dorian im gleichen Haus zu wohnen. Oder im gleichen Land. Nein, diese wandelnde Unnahbarkeit interessierte mich überhaupt nicht.

"Geh doch", motzte ich endlich und verschränkte die Arme vor der Brust. Meine Beine blieben stur wo sie waren und stemmten mich weiterhin gegen die Tür. Zugegeben: Was mich an Dorian vielleicht ein klitzekleines bisschen interessierte, war die Tatsache, dass er sich von meinen Zickereien nie beeindrucken ließ.

Auch jetzt prallten sie an ihm ab. "Gut, ich gehe", schnaufte er und drückte die Klinke hinab. Wie auf Kommando flackerte mein Wohnzimmer unter wetterbedingter Stroboskopbeleuchtung. Dorians Zähne blitzten aus einem wölfischen Grinsen. Ich kniff die Lider zusammen.

Rums! Rums! Rums!

"Andererseits", keifte ich nach der Donnerwelle, "schadet es auch nicht, wenn du bleibst. Mir war eh langweilig, so ohne Licht und Musik und mit leerem Handyakku." Ganz gelogen war das nicht, abgesehen vom Langeweile-Part.

"Ach", sagte Dorian und ging auf Abstand, "Langeweile? Das erklärt es natürlich. Du hattest ja offensichtlich nichts vor." Er inspizierte mich von Kopf bis Fuß und machte mimisch keinen Hehl daraus, was er meinte. Nach jemandem, der noch Pläne für den Abend hatte, sah ich allerdings wirklich nicht aus, in meiner schwarzen Schluderhose, dem ausgeleierten Shirt und einer Frisur, die man bloß Zopf nannte, wenn man Mopp meinte. Als Brückentroll hätte ich eine tolle Figur abgegeben.

Apropos Hose: Dorian steckte in einer dunklen Jeans, wie ich erkannte, als er weiter ins Innere der Wohnung schlenderte. "Meinetwegen bleib ich noch. Bei dem Mistwetter treibt mich sowieso nichts vor die Tür, also kann ich mir hier durchaus ein bisschen die Zeit vertreiben."

Ich sah ihm nicht auf den Hintern. "Mann, bist du gnädig." Vorsichtig, mit kurzen Schritten wühlte ich mich durch die Dunkelheit und folgte dem Strahl der Taschenlampe, die Dorian natürlich nicht nutzte, um mir Licht zu spenden, sondern dafür, mein Reich unter die Lupe zu nehmen. In aller Seelenruhe leuchtete er an den Wänden entlang, über die verrammelten Bade- und Schlafzimmertüren und schließlich über das Bücherregal, als gäbe es dahinter eine Geheimtür, durch die er noch fliehen könnte.

Derweil kämpfte ich mich mit eingeklappten Zehen voran. Vermutlich sah ich aus wie ein eingerosteter Zinnsoldat, doch das war mir ziemlich schnuppe, da mir meine körperliche Unversehrtheit mehr bedeutete als mein Auftreten. Nochmal wollte ich mich nämlich nicht unbedingt stoßen und schon gar nicht mit dem kleinen Zeh in irgendeinem Möbelstück einrasten, was definitiv schmerzhafter war als ein blauer Fleck am Schienbein. Ruckartig stoppte ich vor dem Fernsehschrank, der soeben im Blitzlicht aus den Schatten auftauchte.

Rums!

Mein Herz krachte gegen meine Rippen und ich biss mir auf die Zunge, um den Aufschrei zu unterdrücken, der mir vor Dorian peinlich gewesen wäre und ihm bloß Munition für neue verbale Spitzen geliefert hätte, von denen er eh ausreichend im Repertoire hatte. 

Verflixt, ich war momentan viel zu schreckhaft und musste dringend was dagegen unternehmen. Daher bog ich ab und stakste so hochkonzentriert in Richtung des nächstgelegenen Raums, dass mir sogar meine Manieren einfielen: "Willst du auch was trinken? Ich hab Wasser, Eistee und Cola." Unversehrt schaffte ich es in die Küche, wo es glücklicherweise kaum Stolperfallen gab. Einzig Tisch und Stühle waren gefährlich, aber die standen weit genug entfernt unter dem verhüllten Fenster. Mein Ziel befand sich jedoch direkt vor mir, also entspannte ich die Füße auf dem Linoleum und ging auf den Kühlschrank zu. "Wenn du nett bist, bekommst du vielleicht auch ein Gläschen von dem Billigwein mit Schokonote. Ab und an ist der ganz lecker, muss ich sagen. Man wird vor allem nicht total benebelt." Ernüchterung traf mich beim Öffnen des Kühlschranks, aus dem mir ein laues Lüftchen entgegen wehte. Verständnislos gaffte ich hinein wie in den Eingang einer düsteren Höhle. Ach ja, Stromausfall. Seufzend fischte ich an der Innenseite der Tür entlang, um schnellstmöglich den Wein zu finden, bevor meine paar Lebensmittel vor meiner Nase vergammeln konnten. "Ah!" Gerade spürte ich den Flaschenhals, als er mir abrupt entglitt. Der Kühlschrank knallte zu. Licht reflektierte auf Edelstahl. 

"Kein Wein", bestimmte Dorian hinter mir und räusperte sich, "für mich. Und du solltest auch nichts trinken."

"Weil?", wollte ich langgezogen wissen.

"Weil", imitierte er, "vielleicht ein Blitz ins Haus einschlägt, es anfängt zu brennen und wir dann hier raus müssen, ohne zu torkeln."

Damit hatte er mich. So abwegig war das Szenario schließlich nicht, oder? Gewitter waren fies und unberechenbar, wenn man so mancher Reportage Glauben schenkte. Was ich tat. Sonst wäre ich ja kein nervliches Wrack, sobald nur ein Wetterleuchten am Himmel zu sehen war.

"Ich nehm Cola."

"Wie du willst." Nach einem Schulterzucken hangelte ich mich an der Küchenzeile zum Vorratsschrank. Gefahrenzone Tisch und Stühle! "Kannst du vielleicht mal leuchten?", blaffte ich.

Überraschung, er tat es. Ein Lichtkegel begleitete mich zum Schrank, half mir, die Glasflaschen zu finden, und lotste mich zurück zu Dorian, dem ich eine Cola in die Hand drückte. Statt eines "Danke" erntete ich ein: "Hast du keine eigene Taschenlampe?"

"Klar, ich fand es nur praktischer, meine Fledermausfähigkeiten zu trainieren. Gleich hätte ich mit Sonar die Umgebung erforscht, weißt du?" Die Antwort schien mir einfacher, als ein Hab vergessen, Batterien zu kaufen.

"Was du nicht sagst", murmelte Dorian und schnalzte mit der Zunge. Sein Blick schweifte durch die Küche, ehe er sich noch finsterer als sonst auf mich legte. Schauer tippelten über meine Wirbelsäule, während ich den Hals reckte, um Dorian die Stirn zu bieten, falls er mir wieder was an den Kopf werfen wollte. Doch darauf verzichtete er. Stattdessen kam er auf mich zu.

Irritiert wich ich zurück, bis sich die Arbeitsplatte in meinen unteren Rücken bohrte, ohne von mir bemerkt zu werden. Meine alarmierte Aufmerksamkeit lag einzig auf Dorian, der sich gemächlich näherte und mich dadurch in die Enge drängte. Ungewohnte Körperwärme strömte an meine nackten Arme. Nur ein Hauch trennte uns voneinander. Ein tiefer Atemzug hätte genügt, um Dorians Oberkörper mit meinem Busen zu streifen, also hielt ich die Luft an, obwohl ich nicht wusste warum. Bewahrte ich Dorians persönliche Zone oder meine? Es spielte keine Rolle, denn Dorian ignorierte beide, als er sich vor beugte. Erneut wich ich aus. So gut es ging, hielt ich Abstand, indem ich mich zurücklehnte und vergebens Halt auf der Arbeitsplatte suchte. Die Colaflasche behinderte meine rechte Hand, ein nervöses Zucken meine linke. Krampfhaft bog ich mich übers Holz, bis mein Rücken streikte und meine Arme einfach nachgaben. Allein meine Ellenbogen hielten mich aufrecht. Doch wie lang? Meine Muskeln verwandelten sich nämlich in Wackelpudding, als Dorians Gesicht zu mir schwebte. Bedrohlich aufreizend tanzte seine Silhouette im Licht der Taschenlampe, von der ich gar nicht mehr wusste, wo er sie versteckte, während er seine Cola neben mich stellte. Kaltes Glas streifte meinen Oberarm und säte Gänsehaut wie Eisblumen auf meiner Haut. Ich warnte die verräterisch aufgestellten Härchen mit einem Blick und bemerkte dadurch erst Sekunden später, dass Dorians freie Hand auf der anderen Seite an mir vorbei wanderte. Gefangen zwischen Kälte und der Wärme seiner Arme rang ich nach Luft und erhaschte diese Brise von Hugo Boss und Unnahbarkeit und Nähe und Nähe und Nähe. Der Abstand verringerte sich immer noch. Hätte ich mich auch nur einen Zentimeter bewegt, hätten sich unsere Körper berührt, was es tunlichst zu vermeiden galt. So dachte mein Hirn in weiser Voraussicht auf schlaflose Nächte. Mein Herz schien da anderer Meinung und raste lieber als wolle es Dorian direkt anspringen. Sei tapfer, Hirn!, mahnte ich und schloss die Augen, um mich zu sammeln. Sofort riss ich sie wieder auf, als etwas Weiches meine Haut kitzelte. Weizenblondes Haar schlängelte sich über meine Schulter. Dorians Gesicht stoppte neben meinem. Heißer Atem floss in meinen Nacken. "Weißt du was, Merle", brummte Dorian so unerwartet tief, dass ein Schwarm Hummeln in meinem Bauch erwachte, "irgendwann könntest du deine dummen Kommentare bereuen." Er schluckte hörbar. Ich ebenfalls. "Vielleicht sogar früher als du denkst. Du machst mich damit nämlich wahnsinnig."

Klack. Zisch. Schneller als ich verarbeiten konnte, hatte Dorian den Flaschenöffner vom Haken hinter mir geschnappt und den Kronkorken von der Cola gezupft. Ein dumpfes Lachen gluckerte in seiner Kehle, als er trank und wieder auf Abstand ging. Zentimeter dehnten sich zwischen uns zu einem halben Meter, zu einem ganzen, zu so vielen, dass mich die fehlende Nähe frösteln ließ. Wie bestellt und nicht abgeholt blieb ich allein in der Küche stehen und begaffte Dorian, der sich die Taschenlampe aus der Hosentasche zog und damit zufrieden ins Wohnzimmer schlenderte. Er vertreibt sich die Zeit, erinnerte ich mich und rieb mir den Nacken. Mir blieb nur zu hoffen, dass ich diese Zeit unbeschadet überstand.

Rums!

Die Hummeln waren in Winterschlaf gefallen und lagen nun als Klumpen in meinem Magen. Seit Minuten versuchte ich Dorians merkwürdiges Verhalten zu verdauen, ohne spürbaren Erfolg. Dabei waren mir seine Marotten sonst vollkommen egal - eigentlich. Uneigentlich hatte ich an dieser neuen jedoch einiges zu knabbern. Ich biss mir auf die Lippe.

Himmel hilf! 

Rums!

Vom Donner gerührt blinzelte ich und gaffte dann durch die Küchentür ins Wohnzimmer, um festzustellen, dass Dorian dringend einen Therapeuten benötigte. Wie ein überdimensionales Glühwürmchen schwirrte er mit der Taschenlampe durch den Raum, leuchtete von einer Ecke in die nächste und suchte offensichtlich seinen Verstand. Hm. Im Gegensatz zu seinem eben noch coolen Auftreten, benahm er sich äußerst sonderbar. Konnte es eventuell sein, dass er bei dem Unwetter genauso durchdrehte wie ich?

Um sein Verhalten aus einer anderen Perspektive zu betrachten, neigte ich den Kopf. Nein, nach wetterbedingter Hirnverbranntheit sah es nicht aus, als er schließlich zielgerichtet das Regal ansteuerte. Und zwar so konzentriert, dass er vergaß, auch mal einen Blick nach unten zu riskieren. Dorian stolperte.

Halleluja, ich war glücklich! "Dumm gelaufen, was?", prustete ich. Doch zum Lachen blieb mir kaum Zeit, da mir ein fliegendes Schmusekissen direkt den Sauerstoff aus den Lungen schleuderte. Ich nahm es positiv. Dorian hätte mich immerhin auch mit dem Pratchett-Roman ausknocken können, den er stattdessen bloß vom Boden aufsammelte und auf die anderen im Regal stapelte.

"Was für ein Saustall!" Die Bücher wurmten ihn. "Räum gefälligst dein Zeug weg und bau daraus keine Fallen! Das ist ja gefährlich!" 

Sein Befehlston wurmte mich. "Krieg dich ein! Wo ich meine Sachen ausstreue geht dich gar nichts an, solang du nicht vorhast, hier einzuziehen!"

Ich machte mich auf eine Retourkutsche gefasst und staunte nicht schlecht, als diese lautlos vorbeizog. Dorian schwieg, wagte es aber tatsächlich in meinen Haushalt einzugreifen. Ungefragt dekorierte er die Taschenlampe zwischen zwei Buchrücken und richtete sie wie einen Scheinwerfer aufs Sofa aus. 

 "So sollte es gehen", sagte er zu sich und nippte zufrieden an seiner Cola.

Da war ja was. Ich erinnerte mich an die Flasche in meiner Hand und den Öffner, den Dorian vor Kurzem missbraucht hatte, um mich zu verarschen. Ganz recht. Ein anderes Fazit konnte man gar nicht ziehen, oder? 

"Blödmann", nuschelte ich und setzte den Öffner an den Kronkorken. Mit aller Gewalt verdrängte ich den Gedanken an ein Was wäre gewesen, wenn ...?, während ich gegen den Verschluss kämpfte. Meine Finger kribbelten so stark, dass ich drei Anläufe brauchte, bis das Ding nachgab. Zisch. Kohlensäure stieg auf und verebbte, als ich einen Schluck nahm, dann noch einen und noch einen. Wie trocken meine Kehle war, merkte ich erst beim Trinken. Und dabei war ich gar nicht durstig.

Schmatzend ließ ich vom Flaschenhals ab und kam mir plötzlich ziemlich doof vor. Warum grübelte ich überhaupt, wenn sowieso feststand, dass Dorian nur hier war, um sich die Zeit zu vertreiben? Und warum lungerte ich bereits seit gefühlten Ewigkeiten in der kalten Küche, obwohl nebenan ein warmes Zimmerchen wartete, in dem ich mich ablenken konnte? Leider ohne Romane und Musik.

"Sag mal", ging ich meiner Überlegung nach und dabei allmählich ins Wohnzimmer, "hast du eine Ahnung, wie lang wir ohne Strom festsitzen werden? Falls die ganze Stadt lahmliegt, dauert das bestimmt eine Weile, oder?" Ein verzweifelter Hauch belegte meine Stimme. Schleunigst tarnte ich ihn mit Gelassenheit. "Ich frag ja bloß wegen dem ganzen Zeug im Kühlschrank." Mein Daumen flog über eine Schulter, als bräuchte Dorian einen Hinweis, welchen Kühlschrank ich meinen könnte.

"Falls die ganze Stadt lahmliegt?", echote er mit erhobener Augenbraue. Dorians Gesichtszüge stachen wieder aus der blassen Haut hervor, denn Dank seiner Scheinwerfer-Konstruktion war es endlich hell genug, um von allem wenigstens ein bisschen zu sehen. "Hast du nicht rausgeguckt, um das zu prüfen?"

War das sein Ernst? Da draußen lauerte die Apokalypse! Bei meinem letzten waghalsigen Spähmanöver aus dem Fenster hatte ich wirklich andere Probleme gehabt, als nach Lebenszeichen in der Menschenwelt zu suchen. "Nein." Mehr musste Dorian nicht wissen. Mein gestörtes Verhältnis zu Thor ging ihn absolut nichts an.

Rums!

Ich verdrehte die Pupillen gen Zimmerdecke, brüllte gedanklich: Warum?, und ballte die freie Hand, um sie nicht verräterisch zucken zu lassen. Nach einem tiefen Atemzug pegelte ich meine Sicht wieder ein und fuhr umso heftiger zusammen, als ich Dorian entdeckte.

Die Neugier eines typischen Nachbarn zeichnete sich längst auf seinem Gesicht ab. Er musterte mich unverholen und kräuselte die Stirn, hinter der mindestens ein Fragenkatalog darauf wartete, abgearbeitet zu werden.

Demonstrativ versiegelte ich meine Lippen mit der Colaflasche, trank, trank weiter, schluckte, trank, schluckte, überlegte ob ich im Falle einer leeren Flasche Glas kauen konnte, trank und verschluckte mich an Luft. Hustend krümmte ich mich und versuchte nicht zu sterben, indem ich mir auf die Brust klopfte.

Dorian griente schadenfroh, sagte aber nichts dazu, sondern führte wider Erwarten unser Gespräch fort: "Die Stadt liegt nicht lahm. Unser Haus schon." Er trat an die Vorhänge und linste hindurch. War der lebensmüde? "Wahrscheinlich hat der Blitz eine Leitung erwischt oder so. Der Hausmeister wird sich morgen wahrscheinlich darum kümmern. Spätestens Montag ist das Problem bestimmt erledigt."

Ich röchelte: "Montag?" Fast zwei Tage, in denen ich nichts weiter tun konnte, als für Sonnenschein zu beten? Ruhe bewahren, Merle! Hätte Dorian meine Angst vor Gewitter gewittert, wäre er garantiert mit wehenden Fahnen von dannen gestiefelt, um mir eins auszuwischen. Den Punkt gönnte ich ihm nicht, also spielte ich erneut die besorgte Hausfrau: "Bis dahin sind ja alle Lebensmitteln vergammelt."

"Oh, bitte", schnaufte Dorian, "jetzt reg dich ab. Du wirst es schon verkraften, ein paar Tiefkühlpizzen entsorgen zu müssen. Mehr hast du eh nicht." 

Er wirkte so unglaublich überzeugt, dass diesmal mein nachbarschaftlicher Spürsinn erwachte. Knapp lugte ich über eine Schulter aufs Kühlfach, das sich unter dem normalen Kühlschrank befand - hinter einer separaten, undurchschaubaren Tür - und stierte dann Dorian forschend an. In seinen Augen blitzte eine Mischung aus Erkenntnis und Entsetzen und Erwischt, aber definitiv kein Röntgenblick. Daher hakte ich nach: "Woher willst du wissen, was ich eingefroren hab, hm?"

Eins, zwei, drei Sekunden später motzte Dorian: "Ich hab deine Einkäufe gesehen, ganz einfach."

"Wann hast du die denn gesehen?" Meine Brauen wuchsen zu einer skeptischen Linie zusammen, während ich mich fragte, ob hier noch jemand ein Spiel spielte.

Dorian war am Zug. "Ab und an", knirschte er, "sehe ich die halt, wenn wir uns auf dem Flur begegnen."

"Wirklich?" Ich ließ nicht locker, ging einen Schritt auf ihn zu und freute mich diebisch, ihn diesmal in die Ecke drängen zu dürfen. Rein verbal. "Mir fällt spontan gar nicht ein, wann ich dir mal nach dem Einkaufen über den Weg gelaufen wäre", säuselte ich provokant.

Er rückte näher ans Fenster und knurrte wie ein Wiesel in der Falle: "Dann streng gefälligst dein Hirn an! Woher sollte ich sonst wissen, was du im Kühlfach bunkerst?"

"Tja", piesackte ich aus purem Spaß an der Freude, "vielleicht bis du ja so hobbylos, dass du täglich als Flur-Ninja im Haus rumschleichst und heimlich in die Einkaufstüten deiner Nachbarn luchst?" Ich grinste. Dorian senkte die Lider und ermahnte mich stumm, doch ich witzelte weiter: "Oder lauerst du wie ein verkappter Geheimagent hinter dem Türspion und -"

Ruckartig riss Dorian die Vorhänge beiseite. Auftritt Gewitter!

Rums!

Es kostete mich jegliche Körperbeherrschung, um nicht wieder in die Küche zu hechten. Stocksteif stand ich da, umklammerte die leere Colaflasche und flehte innerlich bei allen möglichen Göttern um Gnade, als ein Geflecht aus Blitzen am Himmel spross. Grell flackerten sie von außen ins Wohnzimmer und suchten mich, tasteten über die Möbel, an den Wänden entlang, den Boden, scannten jeden Quadratmeter, bis auf ... vier? Meine Aufmerksamkeit rauschte zu der Stelle, die das Unwetter nicht fand: Die Couch versteckte sich im Scheinwerferlicht der Taschenlampe und blieb unbehelligt.

Einzig Engelschöre hätten ausdrücken können, was ich bei dieser Entdeckung empfand, aber darauf konnte ich verzichten. Wichtiger war, die gelobte Sofalandschaft schnellstmöglich zu erreichen.

Rums!, tönte der Startschuss. Schnurstracks flitzte ich durchs Wohnzimmer, wich dem Couchtisch aus, machte einen Satz und tauchte endlich in die Sicherheit der Polster. Ich pustete wie nach einem Marathonlauf.

"Wenn man dich und deine Gesichtsakrobatik beobachtet, könnte man meinen, du hättest nicht mehr alle Tassen im Schrank", spottete Dorian so gehässig wie eh und je, dass ich mich beinahe wohl fühlte. Normalität beruhigte. Nicht nur mich, sondern auch ihn, denn schon schlenderte er gelassen vom Fenster in meine auserkorene Sicherheitszone.

Ich ignorierte ihn vorläufig und lümmelte mich mit dem Rücken zum Weltuntergang gegen die Armlehne. Selten war mir die Couch derart gemütlich vorgekommen wie in diesem Moment - allerdings auch nicht so klein. Dorian nahm zwar am anderen Ende Platz, dennoch trennte uns maximal ein Meter voneinander, was theoretisch nicht schlimm war, mir aber praktisch bewusst machte, dass wir noch nie zusammen irgendwo gesessen hatten. Unsere Treffen fielen bis dato eher in die Kategorie Showdown: Zwei Duellanten im Hausflur. Filmreif, in abwehrenden Posen zwischen fliegenden Wortfetzen. Einzig vorbeihuschendes Gestrüpp und eine dramatische Mundharmonika hatten gefehlt.

"Warum schmunzelst du?", wollte Dorian nach einem Schluck Cola wissen. "Woran denkst du?"

"An uns." Seine Lider weiteten sich. Ich winkte ab, bevor ihm die Augäpfel heraus kullern konnten. "An unsere Treffen, wollte ich sagen. Wenn ich überlege, wie die sonst so abgelaufen sind, kommt es mir ziemlich komisch vor, jetzt mit dir hier zu sitzen."

Dorian sortierte sein Gesicht. "Verstehe. Und welche unserer epischen Begegnungen meinst du genau? Die Diskussion über meine Fußmatte?"

Gammeliges Kork und undefinierbare Verzierungen ploppten in meinem Gedächtnis auf. "Die war halt potthässlich", ätzte ich.

Eine wachsende Zornesfalte widersprach mir, trotzdem wechselte Dorian halbwegs das Thema: "Oder meinst du die Debatte über die Spinnweben, von denen du felsenfest behauptet hast, sie hingen näher an meiner Wohnungstür und befänden sich somit in meinem", er gluckste, "Zuständigkeitsbereich?"

"Hey", warf ich ein, "du warst derjenige, der mit einem Zollstock nachgemessen hat."

Aus der Falte entwickelte sich ein Krater. Dorian schnaufte. "Wobei übrigens rauskam, dass ich recht hatte. Trotzdem hast du dich geweigert, einen Besen in die Hand zu nehmen."

"Weil", zog ich auf der Suche nach einer Ausrede in die Länge.

"Weil?"

Gefunden! "Weil da noch eine Spinne im Netz saß und ich keinen Hausfriedensbruch begehen wollte, ganz einfach."

"Oh man", er rieb sich den Nasenrücken, "du bist manchmal so nervig, dass ich echt nicht weiß, wieso -" Ein Punkt an der Wand beanspruchte abrupt sein Interesse.

"Nun heul nicht rum", maulte ich, "du tust ja gerade so, als wärst du die Unschuld vom Lande." Zum Beweis schwang ich mein Bein aufs Sofa und krempelte die Hose bis zum Knie hoch, während ich mir mental dafür auf die Schulter klopfte, noch vor dem Unwetter zum Rasierer gegriffen zu haben. Auf Spitznamen wie Chewbacca konnte ich definitiv verzichten.

Glück gehabt. Im Schummerlicht zeigte sich kein einziger Stoppel, dafür aber der wohl gedeihende blaue Fleck auf meinem Schienbein. 

Die Wand wurde uninteressant. Dorians Aufmerksamkeit widmete sich meiner glatten Wenigkeit. "Was hast du denn da wieder gemacht?", brummte er und beugte sich vor.

Alarmiert wartete ich, ob sich das Szenario aus der Küche wiederholte. Nichts geschah. Dorian blieb brav in seiner Ecke und machte auch keine Anstalten, mir zu nahe zu kommen. Den Stich in meiner Brust hakte ich eifrig als Erleichterung ab, ehe ich murrte: "Das warst du! Weil du vorhin", ich nutzte Gänsefüßchen, "geklopft hast, bin ich gegen den Tisch gekracht."

Dorians Mundwinkel hüpften. "Oh, das tut mir leid." Tat es ihm nicht, dem grinsenden Blödmann. Trotzdem unternahm er etwas, das man als gut gemeinte Geste deuten konnte, obwohl er dabei mal wieder jegliche Regeln des Abstands brach. Ehe mein Fluchtinstinkt einsetzte, schnappte Dorian mein Bein und legte es auf seines. Ich zog es ein. Er zerrte es an sich und fixierte es nachdrücklich mit einer Hand, während er mit der anderen den Flaschenboden seiner Cola auf den blauen Fleck hielt. Erneut traf mich das kalte Glas unvorbereitet. Doch diesmal verspannte ich nicht, sondern entspannte sogar unter dem leichten Druck. Herrlich! Warum war ich nicht auf die Idee gekommen, die Prellung zu kühlen? Vielleicht, weil sie nicht wirklich weh getan hatte? Oder, weil ich dämlich war? Das musste es sein, denn sonst hätte ich mir wohl kaum dieses angenehme Gefühl verwehrt.

Genießend sackte ich gegen die Lehne und schwelgte in Dorians Wohltat, ohne mich zu fragen, womit ich diese überhaupt verdiente. Mir war die Antwort schlichtweg egal, da mein Verstand momentan in Glückseligkeit badete. Nach Stunden der Angst vor dem Gewitter zählten bloß die friedlichen Sekunden, die an mir vorbei glitten wie Kondenswasser über Glas. Verträumt beobachtete ich einen Tropfen, der vom Flaschenhals herunter kullerte, das Etikett überwand, sich mit weiteren bündelte und schließlich auf meine Wade perlte. Dort war ich kitzlig. Aber nicht lang, denn schon verschwand der Tropfen. Dorian fing ihn mit dem Daumen seiner freien Hand und verrieb ihn zu einem feuchten Hauch von nichts. Gebannt starrte ich auf die Finger, die sich mit Leichtigkeit an mein Bein schmiegten, bevor ich begriff, was überhaupt vor sich ging. Erst als der Hummelschwarm innerhalb meines Bauchs zu neuem Leben erwachte, fasste mein Verstand die Situation zusammen: Dorian berührte mich.

Das ist nicht gut! Lass das nicht zu!, keifte mein Hirn.

Halt's Maul!, brüllte mein Herz und ich gab ihm recht. Dorian saß ja bloß am anderen Ende des Sofas und kühlte meinen blauen Fleck. Was war daran verwerflich? Solang er nicht an mich heranrückte, bestand keine Gefahr, mich auf etwas einzulassen, das ich morgen bereute. Oder?

Mit einem Seufzen blendete ich die Streithähne aus. Selbst Dorian schwieg. Er biss sich auf die Unterlippe, während sein Blick in meinem nach einer Antwort suchte, obwohl sich mir gar keine Frage stellte. Stattdessen herrschte Leere oberhalb meiner Gürtellinie. Ich konzentrierte mich einzig auf das Geschehen darunter, denn dieses wurde schlagartig spannend. Dorians Finger krampften, beruhigten sich und legten sich erneut an mein Bein. Behutsam umkreisten sie den blauen Fleck, um einen anderen Wassertropfen abzufangen, und wanderten dann zurück zur Wade. Kühle verwandelte sich in Wärme, als Dorian eine zweite feuchte Spur auf meiner Haut hinterließ. Sanft zeichnete er einen Weg zu meinem Knie, das er nach kurzem Zögern mit der Handfläche bedeckte. Hitze schoss in mein Bein, verteilte sich bis zum Fuß und dann wie Lava von der Ferse zur Kniekehle und darüber hinweg. Automatisch reckte ich mich, damit der Strom ungehindert fließen konnte. Dorian nutzte den gewonnenen Spalt zwischen Hosenbündchen und Haut und schlüpfte unter den Stoff.

Ich hielt den Atem an, als seine Hand direkt weiterwanderte. Fingerkuppen tanzten auf mich zu, kamen aufregend langsam näher, schlichen an die Innenseite meines Oberschenkels. Ein Kribbeln jagte der Berührung voraus, entlud sich in einer Gänsehaut auf meinem gesamten Körper und bündelte sich heftig in meiner Mitte. Keuchend schnappte ich nach Luft. Mein Blick raste über Dorian, seine zum Zerreißen angespannten Oberarme, die hervortretenden Muskeln, den bebenden Adamsapfel, seinen Brustkorb, der sich unerwartet hektisch bewegte. Dorians Unterlippe wurde allmählich weiß, da er sie noch fest in einem Biss gefangen hielt. 

Genau so, schoss es mir durch den Kopf, habe ich ihn mir vorgestellt, wenn ich Nachts an ihn denken musste.

Ich lag auf der Couch und steckte irgendwo zwischen Realität und Fantasie fest. Vor meinem inneren Auge flackerten Bilder aus sämtlichen Träumen, in denen Dorian jemals die Hauptrolle gespielt hatte. Ich sah ihn keuchend über mich gebeugt, während er sich in mir versenkte; sah ihn stöhnend unter mir, während ich uns zum Höhepunkt ritt; sah, wie er sich auf die Lippen biss, während ich ...

Mein Hirn war ein Arschloch und schaltete sich ein:

Bilde dir nichts ein, dumme Kuh! Er vertreibt sich bloß die Zeit. Denk dran! An ihn kommst du nie wirklich heran. Nicht so, wie du es dir wünschst! 

Wow, konnte ich zickig sein. Erschrocken blinzelte ich mich ins Hier und Jetzt, bis die Träume platzten und ich endgültig in die Realität schepperte. Dorians Finger an meinem Oberschenkel fühlten sich schlagartig falsch an, also stoppte ich sie mit festem Griff: "Ho, Herr Nachbar, was wird das denn?"

 "Hm?" Dorian brauchte ebenfalls einen Moment, um - von wo auch immer - zurückzufinden. Er schüttelte den Kopf und glotzte mich an wie ein Kind, dessen Hand man gerade aus der Keksdose gescheucht hatte. "Was?"

Ich setzte mich auf und schob ihn aus meinem Hosenbein. "Was das hier wird, hab ich gefragt", deutete ich auf seine Finger, die sich quälend langsam verzogen und dabei sekündlich heißer zu werden schienen. Ich hasste mich ehrlich dafür, die Wärme von meinem Schenkel zu meiner Wade verbannt zu haben. Stark bleiben!, war angesagt, denn mein Hirn hatte recht. Leider. 

 "Wie bitte?" Dorian wirkte ernsthaft irritiert. "Ich dachte -"

 "Was dachtest du?", schnauzte ich dazwischen. Angriff war die beste Verteidigung. "Dass es irgendwie angebracht wäre, mich zu befummeln, um dir die Zeit zu vertreiben? Mir ist ja klar, dass du bloß wegen des Stromausfalls hier bist, aber das ist nun echt kein Grund, mich als Ablenkung von der Langeweile zu missbrauchen. Au!"

 Fingernägel krallten in meine Wade. Die Colaflasche bebte und bohrte sich in den blauen Fleck. Aus Reflex trat ich gegen Dorians Brustkorb und stieß ihn weg.

Rums!

Plötzlich war da wieder das Gewitter. Hinter mir zuckten Blitze; vor mir Blicke, die der Naturgewalt in nichts nachstanden. Dorian starrte mich an, als ginge es darum, mich schnellstmöglich in Flammen aufgehen zu lassen. "Was hast du gesagt?" Seine Worte knisterten durchs Wohnzimmer. "Wie kommst du denn auf den Scheiß?"

Glückwunsch, Merle, du hast dich vor einer Enttäuschung gerettet! Mein Hirn jubelte, während das Jammern meines Herzens aus einer Ecke schallte: Musste das sein? Hättest du ihn nicht netter abweisen können? Oder sogar ...

Um den Stimmen zu entkommen, floh ich. Seufzend angelte ich eine Kuscheldecke von der Rückenlehne und stülpte sie über mich, was ungefähr so effektiv war wie das Zuziehen von Vorhängen als Schutz vor Gewitter. Trotzdem blieb mir gar nichts anderes übrig. Rausrennen und mich verbuddeln, kam ja wetterbedingt momentan nicht infrage und abgesehen davon wollte ich auch Dorian nicht über den Weg laufen, wenn der gleich aus der Tür stürmte. Dass er das tun würde, bezweifelte ich nicht, so aufgebracht wie er war. Bye bye, Herr Nachbar. Lebt wohl, ihr Plänkeleien auf dem Flur. Ich werde dich vermissen, Dorian.

Doch ich irrte mich. Dorian war niemand, der einfach abhaute, solang noch Klärungsbedarf bestand, sondern jemand, der die Konfrontation suchte. Er wühlte sich durch die Decke, bis er mein Gesicht fand, und meckerte: "Ich hab dich was gefragt! Wie kommst du auf diesen Bockmist, verdammt?"

Rums!

Beim Donnerschlag zerrte ich die Decke enger über uns und verbarrikadierte somit auch Dorian ruckartig in meinem Versteck. Seine Stirn knallte an meine, aber mich interessierte das herzlich wenig. Mir wäre es sogar recht gewesen, einfach KO auf der Couch zu liegen, bis diese verfluchte Nacht vorbei war, doch so viel Glück war mir natürlich nicht vergönnt. Ich blieb aufrecht sitzen, Stirn an Stirn mit Dorian unter der Decke, die so gar nicht atmungsaktiv war. Hitze staute sich wie in einer Sauna und Dampf strömte mir ins Gesicht. Moment. Dampf? Nein, Dampf roch nicht nach Cola. Dorians Atem hingegen schon. Und der ging erstaunlich schnell, wenn man bedachte, dass ich die Aufgeregte von uns beiden war. Na ja, dafür war er der Wütende.

"Jetzt rede!", befahl er.

Ich hasste Befehle, egal von wem sie kamen. "Keif mich nicht an!", blaffte ich zurück. "Es stimmt doch, was ich gesagt hab. Du hast vorhin selbst zugegeben, dass du bloß hier bist, um dir die Zeit zu vertreiben!"

"Merle." Seine Stimme wackelte und war so fest zugleich, dass ich glaubte, von meinen Namen umgeworfen zu werden, was natürlich Quatsch war. Worte trafen einen nicht auf diese Weise, aber meine hatten definitiv etwas bewegt, denn Dorian rutschte auf Abstand. "Du Dumpfbacke!" Er spannte sich an und platzte rücklings aus der Decke.

Allein gelassen hockte ich darunter und versuchte zu begreifen, wann die Stimmung so eskaliert war und vor allem warum, doch für derart komplizierte Fragen fehlte es mir an Sauerstoff. Daher zupfte ich mir die Decke vom Schädel und holte Luft, als der Welt bereits ein Licht aufging. Blitze erhellten das Wohnzimmer und zeichneten Dorians Gesicht vor meinem ab. Mich traf der Schlag, dicht gefolgt von einer wohl dosierten Schimpftirade, die er mir entgegen pfefferte: "Glaubst du allen Ernstes, ich hätte nichts Besseres gefunden, um mir die Zeit zu vertreiben? Immerhin könnte ich einfach irgendwo hingehen, wo der Strom noch läuft, statt mich hier mit einer Nervensäge abzugeben, die Schiss vor einem läppischen Gewitter hat!"

Als Dorian vom Sofa rauschte, um sich neben mir zum personifizierten Zorn aufzubauen, schreckte ich so zusammen, dass ich automatisch in den Verteidigungsmodus umschaltete. "Pah!", argumentierte ich. "Von wegen! Ich hab keine Angst vor Gewitter!" Die Lüge kam mir unerwartet leicht über die Lippen, also gönnte ich mir noch ein überhebliches Lächeln, das Dorian ein für alle mal davon überzeugen sollte, mich nie wieder auf mein peinliches Geheimnis anzusprechen.

Dorian lächelte ebenfalls. Eiskalt. Die Raumtemperatur sank und mir flutschte ein Schauer über den Rücken, der die Couch unter meinem Hintern beinahe gefrieren ließ. Nervös rutschte ich im Polster von einer Seite zur anderen, wollte mich gerade wieder in die Decke mummeln ...

Da packte Dorian plötzlich zu. Am Handgelenk zerrte er mich vom Sofa und bevor ich überhaupt reagieren konnte, schlidderte ich bereits auf Socken hinter ihm her, wirbelte an ihm vorbei, wurde gebremst und stolperte frontal gegen die Glasscheibe.

Rums!

Donner vibrierte an meinen Handflächen, als Dorian meine Finger flach ans Fenster presste und dort festhielt. Hektisch wand ich mich. Haut quietschte auf Glas, meine Stimme durchs Wohnzimmer: "Hey, was soll das? Lass mich gefälligst los!" Vor mir schoss ein Blitz nach Osten und schnitt den Himmel auf.

"Einundzwanzig, zweiundzwanzig", zählte Dorian neben meinem Ohr.

Rums!

Meine Nackenhaare standen bereit zur Flucht, waren aber genauso gefangen wie ich. Einzig mein Atem floh und benetzte die Scheibe.

"Witzig", spottete Dorian. "Für jemanden, der keine Angst vor Gewitter hat, rast dein Puls verdächtig schnell." Zum Beweis umklammerte er meine Handgelenke, bis ich das verräterische Pochen in beiden Armen spürte und mir sicher war, dass alle Lügendetektoren des Landes momentan Alarm schlugen. Zumindest der menschliche hinter mir reagierte, denn Dorian amüsierte sich köstlich.

Ich schluckte jedes Fitzelchen Humor herunter und würgte heraus: "Woher -?"

"Ach, Merle, woher ich das weiß?", piesackte er und zischte dann wie die verfluchte Schlange im Baum der Erkenntnis: "Jeder in diesem Haus kennt deine Angst, du Dummkopf. Und weißt du auch, warum? Weil der ganzen Nachbarschaft grundsätzlich die Ohren bluten, sobald sich auch nur das kleinste Anzeichen eines Unwetters am Himmel abzeichnet." Er kostete den Moment in einer geschickt platzierten Pause aus, bevor er meine volle Aufmerksamkeit hatte. Ich lauschte angespannt. "Es ist immer wieder lustig, wenn du die Musik aufdrehst wie ein naives Gör, das glaubt, sich im Lärm verstecken zu können."

Erwischt, dachte ich und sagte nichts, rührte mich keinen Millimeter in der bescheuerten Hoffnung, Dorian würde meine Anwesenheit einfach vergessen. Dieser Plan scheiterte natürlich wie meine vorherigen, denn Herr Nachbar ließ mich keinen Moment aus den Augen, beobachtete mein Spiegelbild im Glas und lauerte auf eine Regung, während er mich provozierte. "So schweigsam?", griente er. "Das kenne ich gar nicht von dir." ​​​​​​

Ich fasste Plan B, drückte mich krampfhaft an der Scheibe ab und erreichte nichts, außer mich weiter in Dorians Fänge zu befördern, der weder vorhatte, den Griff um meine Gelenke zu lösen, noch sonstige Anstalten machte, mir einen Fluchtweg einzuräumen.

"Du bist gemein", hörte ich mich wimmern und hätte mich dafür am liebsten selbst aus dem fünften Stock geschubst. "Also wusstest du von Anfang an bescheid und bist hergekommen, weil du dich über mich lustig machen wolltest? Damit vertreibst du dir die Zeit?" Ich klang gekränkt. Zurecht.

Dorian atmete so tief ein, dass seine Brust meine Schulterblätter streifte, und schnaufte dann: "Jetzt hör endlich auf, auf einem Satz rumzureiten, den ich aus einer Laune heraus gesagt hab! Du packst doch sonst nicht jedes Wort auf die Goldwaage, also was soll das auf einmal?"

Als Gefangene erlag ich dem Drang, mich verteidigen zu wollen. "Nun hör mal zu", bockte ich, "ich kann ja wohl rumreiten, worauf ich will, zumal das sowieso deine Schuld ist, dass ich hier am Rad drehe! Was stimmt nicht mit dir? Hat dich beim Duschen ein Blitz erwischt, oder wieso spielst du dich so auf? Gab's einen Kurzschluss in deiner Birne, durch den du vergessen hast, wie man sich als Meister der Unnahbarkeit benimmt? Ein Tipp von mir: Andere Leute anzutatschen ist eigentlich nicht so dein Ding!" Die Worte sprudelten einfach ungefiltert aus mir heraus. Wie vom Unwetter angesteckt verschoss ich alles, was sich im Laufe des Abends in mir zusammengebraut hatte. Und es war mir schlichtweg egal, immerhin war ich im Recht!

Bis zu dem Moment, als Dorian sich näher an mich schob und meine Überzeugung mit seiner harten Brust dämpfte. Sofort vergaß ich zu atmen, aber mein Herz tat sein Bestes, um mich weiterhin mit Sauerstoff zu versorgen. Eifrig pumpte es Blut in Fasern meines Körpers, die mir bisher vollkommen fremd gewesen waren, und in meine Ohren, sodass ich kaum verstand, was Dorian gluckste: "Meister der Unnahbarkeit?" Er schüttelte den Kopf. Aus Spaß wurde Ernst. Mit eiserner Miene fixierte er mich im Fenster. "Du", kündigte er dann bedrohlich leise an, "hältst mich für unnahbar?"

Donner wälzte durch die Nacht und beschleunigte meinen Puls im Takt des prasselnden Regens. "Natürlich!", ächzte ich und versuchte stark zu bleiben, obwohl der Körper an meinem Rücken eindeutig stärker war, wenn ich den angespannten Muskeln glaubte. Konzentrier dich, Merle! "Du bist sogar der König der Unnahbarkeit! Selbst bei deinem Einzug hast du mich mit einem blöden Spruch abgewehrt und immer, wenn ich dich danach getroffen hab -" Ich rammte mir die Zähne in die Zunge.

"Was war dann?" Kristallblaue Augen musterten mich wie bei unserer ersten Begegnung und Misstrauen funkelte darin als wäre ich ein Alien in Dorians Festung der Unnahbarkeit. Sein Blick ähnelte dem von einst. Ich erinnerte mich. Seit damals war ich regelrecht besessen von der Idee, ihn zu reizen, und Gott war mein Zeuge -

Rums!

Danke. - mein Zeuge, dass ich nichts ausgelassen hatte, um Dorian regelmäßig auf die Palme zu bringen, da es schlichtweg Spaß machte und ich überzeugt gewesen war, in ihm jemanden gefunden zu haben, der eben diesen Spaß teilte. Verdammt, ich gebe es zu, vom ersten Moment an, hatte ich mir gewünscht, ihm dadurch näher zu kommen. Nicht nur körperlich.

Aus der Traum.

"Was war dann?", wiederholte er nachdrücklicher. "Hast du entschieden, deiner inneren verkappten Prinzessin nachzugeben, um mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen? Dachtest du vielleicht, mich würde eine Nachbarin reizen, die mir Paroli bietet; die mich regelmäßig fassungslos macht; von der ich nie weiß, welchen Blödsinn sie mir als nächstes präsentiert? Dachtest du, ich könnte dir so nicht widerstehen?"

Meine Zunge puckerte. Ich ließ sie los und leckte mir die Lippen, was zugegebenermaßen nicht unbedingt den Eindruck von Widerstand erweckte. Mein Bauch wurde Schauplatz eines Schlachtfelds. Hummeln schossen wild durcheinander. Verflixt, ich wusste nicht mehr, was ich fühlen sollte. Das Gewitter machte mich wahnsinnig, ebenso Dorians Oberkörper, der hinter mir die widersprüchlichsten Signale sendete. Er schmiegte sich mit einer Hitze an mich, die ihren Ursprung vielleicht in Wut fand - vielleicht auch nicht.

"Falls das deine Strategie war", fuhr er deutlich milder fort und senkte den Kopf neben meinen, bis sein Haar meine Wange kitzelte, "also falls du damit mein Interesse wecken wolltest ..." 

Die Veranstaltung in meinen Innereien übertönte alles, als Dorians Atem meine Halsbeuge streifte. Wärme schwebte über meine Haut, während er zum ultimativen Angriff hauchte: "In dem Fall ... Glückwunsch, Merle, denn hier und heut ... bei diesem unerwarteten Stromausfall hast du gewonnen."

Ein Blitz pfiff unbeachtet vorbei und irgendwo wartete ein Geständnis darauf entdeckt zu werden, doch selbst Leuchtreklame am gegenüberliegenden Gebäude wäre mir nicht aufgefallen, da ich längst von seinen Worten betäubt worden war. Ich schloss die Augen und ließ mich auch noch von Hugo Boss benebeln. Dorian verströmte plötzlich etwas, das meinen Kampfgeist weckte: "Gewonnen?" Ich atmete durch. "Und was ist der Preis?"

So leicht machte er es mir nicht. "Das kommt darauf an", säuselte er gefährlich nah an meiner Haut, "wie hoch dein Einsatz ist." Seine Lippen strichen beiläufig mein Ohrläppchen und sandten heißkalte Schauer vom Nacken in meine Mitte, die sich von dieser winzigen Berührung angesprochen fühlte.

Mein Hirn hielt blinkende Warnschilder mit der Aufschrift Der verarscht dich! in die Höhe. Mein Herz fegte sie weg, stürzte sich aufs Hirn und trudelte mit ihm davon. Zurück blieb nur ich, die entscheiden musste, ob ich das Risiko einer Blamage eingehen wollte, auf die es unweigerlich hinauslief, wenn Dorian mich erneut einfach stehen lassen würde. Ich hatte viel zu verlieren: Meinen Stolz, meine Wohnung - da ich nach einer solchen Demütigung definitiv auswandern musste - und die unverfänglichen Plänkeleien mit meinem Nachbarn.

Andererseits: Falls Dorian es diesmal tatsächlich ernst meinte und ich ihn nur aus dummer Angst endgültig vergraulte, hätte ich mir das niemals verziehen.

Ich setzte alles auf eine Karte: "Dann will ich sehen, was du zu bieten hast."

Für einen Sekundenbruchteil versteifte Dorian. Sein Kiefer war angespannt, und ich glaubte schon, gleich wieder veralbert zu werden, als er den Mund einen Spalt weit öffnete. Statt Spott traf mich ein ungewohntes Lächeln, das an meinem Hals verschwand. Weiche Lippen schlichen von meinem Ohr hinab, stupsten mich, bis ich freiwillig den Kopf neigte, um ihm ausreichend Platz zu bieten, den er gar nicht wollte. Während Küsse zu meiner Schulter wanderten, schob Dorian sich verführerisch näher. Sein Herzschlag pochte hinter meinem, raste, geriet ins Stocken wie sein Atem, der abrupt versiegte, als Dorian sich über meinem Schlüsselbein festsaugte. Ich zuckte unter dem süßen Schmerz zusammen, krallte mich ans Glas, doch Dorian besänftige mich, indem er seine Hände auf meine legte und unsere Finger miteinander verwob. Zärtlich streichelte er meine Daumen, während er den Sog erhöhte und mich gierig kostete. Ein genießendes Brummen vibrierte an meiner Schulter und säte Gänsehaut von den Zehen- zu den Fingerspitzen. Wieder krallte ich mich ans Fenster. Diesmal gab Dorian mich frei. Er folgte den aufgestellten Härchen meiner Arme bis zu meinem Nacken, strich nach einem abschließenden Kuss über den pulsierenden Fleck und raunte zufrieden: "Damit wäre es besiegelt."

Wie in Trance nickte ich. In dem Augenblick wäre ich jeden Pakt mit dem Teufel eingegangen, solang ich nur länger Dorians Nähe genießen durfte. Er erhörte mich, indem er seine Finger wieder auf Wanderschaft schickte. Zentimeter um Zentimeter schlichen sie meinen Rücken hinab, tauchten unter mein Shirt und schlängelten erneut nach oben. Dorian stoppte an meinen Schulterblättern und haspelte: "Kein BH."

Ich benötigte einen Moment, ehe ich begriff, was er meinte, und glaubte mich rechtfertigen zu müssen. "BHs sind unbequem zuhause", erklärte ich abgehackt und starrte auf mein T-Shirt, unter dem ich mir plötzlich wirklich nackt vorkam. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr viel zu verbergen hatte, und wurde nervös. "Brauche ich einen?", stotterte ich.

Dorian schluckte, um sich zu sammeln. Ich tat es ihm gleich. Seit wir uns kannten, war dies das erste Mal, dass niemand von uns wusste, was es zu sagen gab. Offensichtlich hatten wir eine Grenze erreicht, die wir nicht so einfach überschritten. Noch konnten wir aufhören und diese Situation als makaberen Spaß abtun, um uns anschließend getrennt in gewohnter Distanz zurückzuziehen. Aber ... wollte ich das? Wollte er das?

Unsere Blicke suchten einander im Fensterglas und trafen sich zur stillen Absprache. Wir sahen uns an, blinzelten nicht, wurden uns einig. Dorian nickte und fand zu seiner Selbstsicherheit zurück. Er strich unter meinen Schulterblättern entlang und folgte dem Weg des fehlenden BHs. Finger fuhren zu meinen Rippen, wanderten über jede einzelne, während ich mich der Bewegung entgegen reckte. Dorian zog mich an sich, bis ich an ihm lehnte. Sein Herzschlag rannte mit meinem um die Wette. Ich spürte ihn wie Trommelwirbel im Rücken und wartete ungeduldig auf den nächsten Schritt. Dann, endlich, erreichte er meine Brustansätze. Zaghaft kreisten seine Daumen über die Haut, schlichen quälend langsam höher, lockten meinen Körper und bescherten mir dieses angenehme Ziehen, als sich meine empfindlichen Erhebungen härteten. Ich wand mich unter heißen Händen und zuckte bei der ersten richtigen Berührung zusammen. Dorian keuchte und vergaß jegliche Zurückhaltung, massierte meine Brüste und liebkoste die erregten Spitzen, rieb sie mit den Fingerkuppen, kniff vorsichtig und jagte Stromschläge beim nächsten Blitz direkt zwischen meine Beine.

Über uns zerriss der Himmel in tausend Stücke und zum ersten Mal seit Jahren war mir das vollkommen egal. Für mich zählte Dorian, und Dorian zählte atemlos die Sekunden: "Einundzwanzig, zweiundzwanzig -"

Beim einsetzenden Donnergrollen packte er meine Hüfte und wirbelte mich zu sich herum.

Rums!

Dorians Mund krachte auf meinen. Schwindel berauschte mich, als er den Kuss sofort vertiefte. Er verlor keine Zeit, teilte meine Lippen mit seiner Zunge und küsste mich ungehalten. Ich fiel einen Schritt zurück und Dorian fing mich. Als wahrer Gentlemen hielt er mich am Hintern, zog mich an sich und presste unsere Becken gegeneinander. Ich spürte seine drängende Erregung und stöhnte auf.

Blitze zuckten. Donner grollte. Regen prasselte. In Dorians Blick braute sich etwas zusammen. Kristallklare Augen trübten sich, als er mit tiefer Stimme forderte: "Komm mit."

Ich folgte ihm. Der Boden verwandelte sich unter meinen Füßen in Wackelpudding, während ich ins diffuse Scheinwerferlicht der Taschenlampe schwankte. Vor mir ragte das Sofa wie eine Manege aus der Dunkelheit und allmählich dämmerte mir, warum Dorian so akribisch nach einem Platz für die Lampe gesucht hatte. Wäre mein Hirn noch aktiv gewesen, hätte es gewiss protestiert, aber momentan dümpelte es im Zuschauerraum und war genauso gebannt wie ich auf alles, was folgen sollte.

Dorian betrat die Bühne und zog sein Shirt aus. Definierte Muskeln präsentierten sich an genau den richtigen Stellen und ich konnte nicht widerstehen, diese mit meinen Händen nachzumalen. Von seinem straffen Bauch, über die harte Brust, bis zu den Schultern. Wie hypnotisiert strich ich seinen Hals entlang und fühlte den rasenden Puls, ehe ich meine Finger in seinen Haaren vergrub und Dorian an mich lockte. Er beugte sich vor und ich glaubte ein "Endlich" zu hören, bevor sich unsere Lippen erneut trafen. Diesmal war ich es, die den Kuss ungehemmt vertiefte. Er schmeckte nach Cola, Verlangen und unausgesprochenen Worten. Was Dorian wollte, verstand ich trotzdem, als er mich an den Hüften gerade weit genug von sich schob, um an das Bändchen meiner Hose zu kommen. Geschickt löste er die Schleife, ohne auch nur einmal den Kuss zu lösen, und zupfte den Stoff über meinen Hintern, bis er von allein nach unten fiel. Ich trat aus den Hosenbeinen und dabei wieder an Dorian heran. Er empfing mich mit einem kehligen Seufzen und glühenden Händen auf meinem Slip, knetete meine Pobacken und rieb unsere Becken wie in einem verdammt unanständigen Tanz aneinander. Seine Härte traf meine empfindlichste Stelle. Ich stöhnte erneut, verlor den Kuss, doch Dorian holte mich mit einem Knabbern an meiner Unterlippe zurück. Seine Lippen waren so weich, dass ich mich fragte, wie sich der Rest seiner Haut an meiner anfühlen würde. Daher riss ich mich kurz los, zerrte mir das Shirt über den Kopf, schleuderte es in die Dunkelheit und schlang mich sofort wieder an Dorian, um an seiner erhitzten Brust zu schmelzen.

"Das hier ist so verdammt richtig", hauchte er gegen mein Ohr und fuhr mit der Zungenspitze meinen Hals hinab.

Schauer rannten kreuz und quer über meinen Körper. Ich nickte hektisch. Dorian schnurrte zufrieden und sog sich an meiner unbefleckten Schulter fest. Überrascht streckte ich den Rücken durch, fühlte eine stützende Hand unterhalb meines Nackens und schreckte auf, als eine andere zwischen meine Beine wanderte und den Slip beiseite schob. Ungehindert dippte Dorian in mich, wartete einen Wimpernschlag, bis ich mich willig an ihn schmiegte, und tauchte mit einem zweiten Finger hinein. Tief in mir knallte eine Sicherung durch.

"Ich hab im Schlafzimmer", versuchte ich zu sagen und brach keuchend ab. Mir fehlten Sauerstoff und ungefähr zwanzig Buchstaben des Alphabets. "Nachtschrank." Worum es ging zeigte ich, indem ich nach der deutlichen Beule hinter Dorians Jeans tastete und mich dann sogleich daran machte, die Knöpfe aufzufummeln. Meine Hände zitterten, als seine zwischen meinen Beinen auftauchte, um mir den Slip vom Leib zu schieben. Hektisch half er mir beim Öffnen seiner Hose, schnappte noch schnell ein Kondom aus der Gesäßtasche und strampelte die Jeans auf den Boden, kickte sie fort und entledigte sich anschließend seiner Shorts.

Ich hielt die Luft an, als mein Blick auf seine Mitte fiel.

Dorian hob mein Kinn und sah mir fest in die Augen. "Wehe dir, du sagst jetzt was Falsches", mahnte er mit spielerischen Unterton.​​​​​​

"Mit solchen Kleinigkeiten halte ich mich jetzt sicher nicht auf", neckte ich und verschluckte mich beinahe an meinem Herzschlag, als Dorian schmunzelte.

"Dein Mundwerk macht mich wirklich wahnsinnig", raunte er. "Und jetzt küss mich gefälligst."

Meine Lippen fanden ganz selbstverständlich die seinigen, während sich etwas völlig Ungewohntes in mir ausbreitete: Das Gefühl alles richtig gemacht zu haben.

Wenn Dorian sich nicht an unangebrachten Witzen störte und meinen nackten Körper weiterhin wollte, gab es keinen Grund für irgendwelche Zweifel, oder? Nein. Gewiss nicht.

Also ließ ich mich fallen, sank in seine Arme und folgte ihm zum Sofa. Dorian drehte uns so, dass ich gegen die Polster lief und mich setzen musste. Er blieb stehen und neigte sich hinab, küsste mich fordernd und öffnete dabei meine Schenkel. Atemlos genoss ich die wachsende Gänsehaut unter seinen Fingerkuppen, lehnte mich zurück und warf den Kopf in den Nacken, als ein Daumen meine empfindlichste Stelle traf und zeitgleich zwei Finger komplett in mich glitten. Meine Hüfte verselbstständigte sich, um den Takt anzugeben, doch Dorian verlangsamte seine Bewegungen, sobald ich mich seiner Hand entgegen drängte. Folie riss und ich sah auf. 

Zwischen Dorians Zähnen hing ein Zipfel der Kondomverpackung. Er pustete ihn beiseite und grinste mich an. "Mir gehen die Hände aus."

Ohne zu zögern krabbelte ich auf die Knie und schnappte das Kondom, zupfte es aus der Hülle und stöhnte heftiger als zuvor, als die Finger in mir einen Punkt trafen, der mir den Verstand vernebelte. Das Wohnzimmer verwischte vor meinen Augen. Ich blinzelte eilig und stützte mich an Dorian, kratzte die Reste meiner Selbstbeherrschung zusammen und nahm seine einladende Erektion in die Hand. Fahrig zog ich das Kondom darüber und schwankte, als er unkontrolliert in meine Faust stieß und ich mir vorstellte von ihm ausgefüllt zu werden. 

Mit einem heiseren Laut befreite Dorian sich aus meinem Griff, packte mich an den Gelenken und drückte mich in einer fließenden Bewegung aufs Sofa, bis ich unter ihm zum Liegen kam. Sofort rückte er nach, spreizte meine Beine und kniete sich dazwischen. Sein Körper schwebte über mir wie ein weit entfernter Wunschtraum, den ich mit gierigen Blicken fesselte, um mir jedes Detail einzuprägen. Definierte Muskeln betonten seinen Bizeps, die Sehnen seiner Schultern, die maskuline Brust und den flachen Bauch, der sich aufgeregt hob und senkte. Flehend sah ich in die Augen, die mich nicht minder interessiert betrachtet hatten. Im Gegensatz zu mir schien Dorian jedoch geduldiger. Er löste den Blickkontakt und gab dabei auch meine Arme frei, die ich vor Anspannung eh nicht bewegen konnte, lehnte sich zurück und verwandelte mich in puren Wachs unter seinen Händen. Behutsam wanderten sie über meine Seiten hinauf zu meinen Brüsten, umspielten sie erst vorsichtig, dann immer fester, bis ich mich kaum noch unter Kontrolle hatte, mich aufbäumte, in der Berührung rekelte und mein Becken sehnsüchtig hob. Dorian zog scharf die Luft ein und hielt mich an der Taille, doch seine Geduld befand sich jetzt ebenfalls am Limit. Unruhig rückte er in Position, packte seine Härte und umkreiste damit meinen Eingang.

"Bereit?", fragte er mit belegter Stimme und stützte sich mit einem Arm neben meinem Kopf ab.

Der Druck an meiner Mitte wuchs mit dem Verlangen ihn endlich in mir zu spüren ins Unermessliche. Ich nickte hektisch und schlang meine Arme um Dorians Nacken, zerrte ihn in einen atemlosen Kuss, öffnete den Mund und wimmerte erregt, als seine Zunge zeitgleich mit seinem Schwanz in mich glitt.

Eine Milliarde Ampere schossen durch meinen Körper, als er mich vollständig einnahm. Meine Haut knisterte, mein Unterleib brannte auf diese wunderbare Weise und in meinem Kopf explodierte irgendwas, ehe ich ihn in den Nacken warf und stöhnte.

Dorian kämpfte um Beherrschung. Ihm entwich nur ein "Fuck!", während er wartete, bis ich vollends bereit war. Dann zog er sich zurück und stieß zu. Sein Rhythmus beschleunigte sich von ersten gezielten Bewegungen zu absoluter Zügellosigkeit und schaffte es so, uns binnen weniger Minuten in dieser Gewitternacht Sterne sehen zu lassen. Blitz und Donner waren endgültig vergessen, als die Welt in einer Orgasmuswelle an uns vorbeirauschte.

Ich erwachte als Rollmops. Eingewickelt in die Schmusedecke, von der ich gar nicht mehr wusste, wie sie um meinen Körper gelangt war, wälzte ich mich auf dem Sofa und ächzte gequält, als Sonnenstrahlen wie Nadeln in meine Augen stachen und meine Lider zusammennähten. Auf der Suche nach Schutz wühlte ich mich tiefer in die Decke und verschwand bis zum Haaransatz, in der Hoffnung mich in Ruhe meinem allmorgendlichen Weltschmerz hingeben zu können. Doch weit gefehlt. Das hämische Gelächter einiger Vögel zerpickte die Stille und irgendwo klapperte etwas. Ich spitzte die Ohren und lauschte, öffnete die Augen und vergaß schlagartig die Geräusche, da ich meinen Körper erspähte. Er war nackt.

Wie Dracula aus seinem Sarg - nur nicht so elegant, weitaus schneller und bedeutend nackter! - setzte ich mich auf und inspizierte das ganze Ausmaß meiner Entdeckung. Ich hob den Stoff vorsichtig an, blinzelte und fand immerhin ein Paar Socken an meinen Füßen. Was den Anblick nicht unbedingt verbesserte. Nackt blieb nackt. Das ließ sich nicht abstreiten, aber wenigstens durch die im Wohnzimmer verstreuten Klamotten erklären. Mein Shirt baumelte im Bücherregal, die Hose lag verknüllt unter dem Couchtisch und mein Slip schien auf der Flucht, da er es fast zur Wohnungstür geschafft hatte.

"Hm", machte ich, während ich auf den Einsatz meines Hirns wartete, das heut noch länger schlief als üblich. Ich gähnte herzhaft und übertönte dabei das allmählich lauter werdende Gezwitscher der Vögel von draußen.

In mir klickte es.

"Heilige -!" Plötzlich erreichten mich die Bilder der vergangenen Nacht als hätte man einen Projektor direkt hinter meiner Stirn platziert. Erst sah ich mich im Kampf gegen das Gewitter, dann sah ich Dorian - im Flur, in der Küche, im Wohnzimmer, vor dem Fenster, auf dem Sofa, auf dem Sofa, auf dem Sofa! Mir entwich ein Ton, den ich genauso wenig deuten konnte wie die Emotionen, die von allen Seiten auf mich einprasselten: Freude vermischte sich mit Scham, Befriedigung mit der Angst einen Fehler begangen zu haben.

"Hast du gerade einen Schlaganfall?"

Erschrocken fuhr ich zusammen. Mein Blick schoss zur Küche und traf Dorian, der im Türrahmen lehnte und behauptete: "Wenn dein Gesicht jeden Morgen solche Höchstleistungen vollbringen muss, wirst du verdammt früh faltig werden, Merle."

Dass meine Gesichtszüge tatsächlich entgleisten, merkte ich überdeutlich. Aber wen wunderte das? Immerhin hing mein blankes Fleisch auf der Couch, während Dorian sich in voller Montur im Tageslicht präsentierte. Und solang ich noch nicht wusste, was ich von der vergangenen Nacht zu halten hatte, erschien mir die momentane Kleiderordnung gleichermaßen unfair und peinlich. Daher wickelte ich die Decke schleunigst zu einer provisorischen Tunika und sortierte meine Mimik von irgendwas zu bockig. "Das F-Wort ist tabu, kapiert?", konterte ich aus reiner Gewohnheit, obwohl es definitiv Wichtigeres zu besprechen gab. "Einer Frau in der Früh mit Falten zu drohen, geht gar nicht!"

Dorians Miene wackelte ebenfalls. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig, doch zum ersten Mal seit wir uns kannten, wirkte sein Grinsen überhaupt nicht provokant, sondern ungewohnt zufrieden. "Alles beim Alten, hm?", sagte er so entspannt, dass ich überlegte, ob er versehentlich an einem der Reinigungsmittel aus dem Küchenschrank geschnüffelt hatte.

In mir wuchs der Wunsch das auch zu tun, da ich mich nicht ansatzweise entspannt fühlte. Meine Nerven dehnten sich wie Drahtseile, bis ich es nicht mehr aushielt und die Frage aller Fragen direkt in den Raum feuerte: "Was war das hier letzte Nacht?"

"Sex", lautete die umfangreiche Antwort.

"Danke, Doktor Sommer", murrte ich. "Ich meinte eigentlich: War das so ein Ich-hab-meine-Nachbarin-flachgelegt-Ding? Muss ich jetzt immer rot werden, sobald ich dich auf dem Flur sehe? Oder machen wir eine Tradition daraus und wiederholen das bei Stromausfällen und Unwettern? Dann sollten wir allerdings festlegen, ob beides gleichzeitig zutreffen muss. Falls eines reicht -"

"Merle ..."

"- könnten wir uns im Hochsommer recht häufig über den Weg laufen, zwecks Gewittersaison, aber -"

"Merle ..."

"- im Winter herrscht dann tote Hose. Zumindest bis so ein Schneechaos wie im letzten Jahr ausbricht und die Stromleitungen lahmlegt. Vielleicht war das Ganze -"

"Merle ..."

"- auch nur eine spontane Sache, was vollkommen okay wäre, denke ich, also einerseits, aber andererseits -"

"Merle!", stoppte mich Dorian endlich.

Mein Mund schnappte zu und hätte fast gestaubt, so trocken war er. Vor Nervosität? Natürlich! Schließlich hatte ich bis vor einigen Stunden noch angenommen, Dorian niemals näher zu kommen. Erst recht nicht so nah. Was wenn das eine einmalige Angelegenheit gewesen war? Hätte ich klarstellen sollen, dass ich mehr als nur ein kleines Stelldichein wollte? Hätte ich widerstehen müssen, um für ihn interessant zu werden? Hätte ich -?

"Ich hör die Zahnräder in deinem Kopf bis hierhin rattern", seufzte Dorian theatralisch und fuhr sich übers Haar. Sein Blick schweifte ziellos durchs Wohnzimmer, streifte mich und wurde abrupt ernst. "Komm runter, okay? Falls du unbedingt Details besprechen willst, haben wir dafür noch genug Zeit. Werd erstmal richtig wach."

Oh, ich war wach. Meine Gedanken joggten ja bereits in alle möglichen Richtungen, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen sollte. Sie stolperten bei Dorians Worten: "Für mich gibt es nichts mehr zu klären." Er zuckte mit den Achseln. "Was passiert ist, ist passiert."

Obwohl das Gewitter längst vorüber war, fühlte ich mich wie vom Blitz erschlagen. Hatte der Mistkerl gerade die letzte Nacht als Nichtigkeit abgehakt? Einfach so? 

Fassungslos starrte ich ihm hinterher, während er zum Fenster schlenderte und es in aller Seelenruhe öffnete, um mich wahrscheinlich komplett schockzufrosten. Kalte Morgenluft flutete das Wohnzimmer. Straßenlärm rauschte in der Ferne. Vögel pfiffen mich aus. Dorian hingegen streckte sich ausgiebig im Sonnenschein, ehe er sich wieder in Bewegung setzte, am Sofa vorbei wanderte und hinter mir verschwand.

Da ich den Nacken nicht wie eine Eule verdrehen konnte, stierte ich bloß weiterhin zum Fenster und überlegte, ob ich mich oder Dorian rausstürzen sollte, bevor die Situation richtig unangenehm wurde. Die Idee tauchte jedoch in Dunkelheit, als das Shirt vom Regal auf meinen Schädel flatterte.

"Zieh dich an, sonst holst du dir noch was weg", hörte ich den Fürsten der Finsternis fordern.

Ich zerrte mir das Shirt vom Kopf und schlüpfte tatsächlich hinein, weil ich mir einbildete, dadurch gegen Dorian gerüstet zu sein, der wie ein Schatten im Hintergrund lauerte. Schritte näherten sich. Die Rückenlehne der Couch knarzte, als er sich darauf stützte.

Eilig schnappte ich die Hose vom Boden und zog auch diese an. Dennoch fühlte ich mich nackt - und wehrlos meinem Nachbarn ausgesetzt, der mir soeben verdeutlicht hatte, was er über unsere gemeinsame Nacht dachte. Scheiße. Wie dämlich war ich eigentlich, mich einfach gehen zu lassen, ohne zu wissen, wo das alles endete?

Ich ertrug mich, meine Dummheit und vor allem Dorian nicht länger, der mich undefinierbar musterte und scheinbar irgendetwas sagen wollte. Die Chance für Spott bot ich ihm aber nicht und flüchtete stattdessen direkt ins Badezimmer. Hinter mir knallte ich die Tür ins Schloss. Laut Sprichwort öffnete sich derweil eine andere. Toll. Dorian verließ die Wohnung. Damit hätte ich wohl rechnen müssen, nur der optimistische Teil in mir hatte sich offensichtlich mehr erhofft.

Mit hängenden Schultern schlurfte ich zum Waschbecken und angelte die Zahnbürste aus dem Spiegelschrank, den ich gar nicht erst wieder zumachte, um mir meine blöde Enttäuschung nicht ansehen zu müssen. Jedem anderen hätte ich ins Gesicht gelacht, er solle sich nicht so anstellen, aber mich verschonte ich gnädigerweise mit besserwisserischen Ratschlägen. Dafür folterte ich mich mit der Zahnbürste, scheuchte sie von Backenzahn zu Backenzahn und fragte mich, ob ich mir mit einem gezielten Treffer durch den Gaumen eventuell die Hirnzellen zerschmettern könnte, in denen gewisse Momente gespeichert waren. Wahrscheinlich nicht.

Seufzend spülte ich den Mund aus, doch mein Kopf blieb voll von Gedanken, die sich um das Was nun? drehten. Früher oder später würde ich Dorian schließlich über den Weg laufen, also sollte ich mir überlegen, wie ich damit umgehen wollte. Konfrontation oder Resignation?, lautete die Frage, obwohl ich die Antwort bereits kannte. Aufzugeben stand überhaupt nicht zur Debatte, da ich - verdammt nochmal - von diesem Mistkerl angezogen wurde wie die Motte vom Licht. Aber wie kam ich an ihn ran, ohne mir wieder die Finger zu verbrennen? Definitiv mit Topfhandschuhen! Im übertragenen Sinne, versteht sich, was bedeutete: Meine Klamotten würde ich anbehalten, bis Dorian bereit war, mir nicht nur körperlich nahe zu kommen.

Der Entschluss war gefasst, also straffte ich die Schultern, steuerte die Badezimmertür an und riss sie mit frischer Motivation fast aus dem Rahmen.

"Mach Kaffee!"

Ich schlug die Tür wieder zu und glotzte von innen auf Holz. Hatte ich mir die Zahnbürste eventuell wirklich zu tief in den Rachen gerammt? Weitere Möglichkeiten gab es nicht. Zumindest keine, die erklärte, warum Dorian noch in meiner Wohnung stand. Er war bereits vor Minuten gegangen. Ganz gewiss. Das hatte ich gehört. Trotzdem war er da. Oder?

Nach Sekunden des Glotzens musste ich einsehen, dass ich das nicht via Röntgenblick überprüfen konnte, also blieb mir nur eine Wahl. Erneut öffnete ich die Tür. Tatsächlich. Dorian erwartete mich mit verschränkten Armen und einem tippelnden Fuß im Wohnzimmer.

"Du wirst doch in der Lage sein, Kaffee zu machen, oder was?", motzte er auf diese Weise, die mich in Versuchung führte, ihm eine zu kleben und dann zu küssen. "Ist das etwa zu viel verlangt? Ich glaube wohl kaum, nachdem ich extra nach unten zum Bäcker gestiefelt bin."

Was?, dachte ich und zischte perplex: "Was?"

Dorians Fuß beschleunigte auf Kolibriniveau. Sein Arm ruckte voran und deutete auf den Couchtisch. "Ich hab Brötchen geholt. Vom Bäcker nebenan. Zum Frühstück. Noch Fragen?"

Mein Blick folgte seinem Fingerzeig und fand eine Papiertüte, aus der es verführerisch nach warmen Brötchen roch. Ich war so benebelt vom süßen Duft und Dorians unerwarteter Anwesenheit, dass ich gar nicht anders konnte, als in die Küche zu staksen. Direkt auf die Kaffeemaschine zu, verfolgt von einer frischen Briese Hugo Boss. Ich linste zur Seite und beobachtete Dorian, der sich gerade an den Hängeschränken zu schaffen machte. "Wo hast du deine Teller?", wollte er wissen.

"Da", meinte ich und nickte in die Richtung des Schranks zu meiner Rechten. Ich lief auf Autopilot und befüllte die Maschine mit Wasser. Bevor ich zum Kaffeepulver griff, kniff ich mir in den Handrücken, um sicherzugehen, dass ich nicht träumte. Tat ich nicht. Ich war eindeutig wach, werkelte in der Küche, bereitete Jacobs Krönung und verstand die Welt nicht mehr, als Dorian eine Hand nach mir ausstreckte und zärtlich mein Schlüsselbein nachfuhr. Sofort kribbelte meine Haut unter seinen Fingern und verlangte nach mehr, was meinem Plan, die Klamotten anzulassen, natürlich widersprach.

Doch ehe ich mich wie ein hormongesteuerter Teenager benehmen konnte, ging Dorian glücklicherweise auf Abstand . "Sie sind gut zu sehen", sagte er und holte dabei zwei Teller aus dem Schrank. 

Worauf er anspielte, wurde mir schlagartig bewusst. Aus Reflex betastete ich die von ihm berührte Stelle und bereute, die Knutschflecken nicht im Badezimmerspiegel inspiziert zu haben. Unmissverständliche Beweise dafür, dass seine Lippen vor Stunden erst über meinen Hals gewandert waren, seine Hände über meinen gesamten Körper, bis ich es nicht mehr ausgehalten hatte und ...

Hektisch hämmerte ich auf den Knopf der Kaffeemaschine, in der albernen Vorstellung, die Hitze meiner Wangen auf das Gerät umleiten zu können. Das klappte nicht. Mein Kopf glühte vermutlich wie eine Rotlichtbirne, doch das Lämpchen der Maschine blieb aus.

Da erinnerte ich mich an ein nicht ganz unwichtiges Detail. "Der Strom ist ja ausgefallen."

Teller klapperten neben mir. "Stimmt", sagte Dorian in einem Tonfall, der Hunden nicht bekommen wäre, fand aber seine maskulinen Stimmbänder wieder: "Ach, das Problem wird sich wahrscheinlich bald erledigen." Er war einen Hauch zu überzeugt, daher lauschte ich ihm mit erhobener Augenbraue. "Der Hausmeister ist da garantiert schon bei. Bis dahin solltest du auf die Kaffeemaschine aufpassen, um sicherzugehen, dass kein Wasser ausläuft. Ich decke solang den Tisch. Im Wohnzimmer isst es sich gemütlicher als in der Küche, oder? Denke ich auch."

Nach dieser Rede rauschte er aus der Küche und ließ mich stehen, weil er offensichtlich glaubte, ich sei hirnamputiert. Okay, meine Denkfähigkeit mochte vielleicht in den letzten Stunden versagt haben, aber noch lag mein IQ über dem einer Toastscheibe. Daher wollte ich wissen, was los war, und folgte meinem Lieblingsnachbarn. Im Wohnzimmer rotierten hektisch abgestellte Teller auf dem Couchtisch. Von Dorian keine Spur. Die Wohnungstür klappte zu, meine Kinnlade herunter. Er hat doch nicht etwa ...?

Ich flitzte hinterher, riss die Tür auf und erwischte ihn im Hausflur vor einer in der Wand eingelassenen Klappe. Nun wurde es absurd.

"Hast du etwa -?", begann ich.

"Nein", endete Dorian und öffnete das Metalltürchen.

"Doch, du hast -"

"Nein." Sein Blick versuchte meinen zu fesseln, damit ich seine Hand ignorierte.

Netter Versuch. Ich ließ seine Finger nicht aus den Augen. "Ohne Scheiß, hast du wirklich gestern Abend -?"

Er legte einen Kippschalter um. Klack. "Nein."

Hinter mir erwachten sämtliche Lichter zu neuem Leben und das CD-Laufwerk schnarrte einsatzbereit. Damit war der Verdacht bestätigt. "Du!", klagte ich langgezogen an und stampfte auf Dorian zu. "Du hast die Hauptsicherung meiner Wohnung rausgemacht! Mal abgesehen davon, dass es schon laut Mietvertrag verboten ist, daran rumzupfuschen", ich holte Luft, "hast du sie noch alle? Was soll das? Warum tust du mir das an, wenn du doch wusstest, dass ich vor Angst fast durchdrehen würde?"

Auch Dorian holte Luft. Um anschließend wie ein sadistischer Mistkerl zu glucksen, während er den Sicherungskasten schloss. Ein metallenes Echo hallte durch den Flur, begleitet von quietschenden Sohlen, als er den letzten Schritt zwischen uns überwand und sich vor mir aufbaute. Ich wich zurück, wurde jedoch an der Taille festgehalten. Natürlich wehrte ich mich, indem ich meine Hände gegen seine Brust drückte. Sie war hart wie eine menschliche Mauer, Dorians Herzschlag wummerte spürbar dahinter. Wärme kroch von seinem Körper in meine Fingerkuppen. Mein Widerstand schmolz und ich erwischte mich bei dem Gedanken, ihm das Shirt vom Leib zu reißen, um mich an ihn zu schmiegen wie eine Katze an eine Heizung. Stopp, stopp, stopp! Konzentration! Ich war wütend und das sollte er gefälligst auch merken. Daher aktivierte ich jegliche Kraftreserven und erhöhte den Druck, bis ich es fast schaffte, mich von Dorian zu schieben. Aber nur fast. Er zog mich mit Leichtigkeit wieder an sich und senkte den Kopf. Lippen schwebten hinab und hauchten vor meinen: "Reg dich ab, Gewitterziege. Wie hätte ich denn sonst in deine Wohnung kommen sollen?"

Ich wollte etwas sagen. Zumindest öffnete ich den Mund, aber Dorian versiegelte ihn noch vor der ersten Silbe mit einem Kuss, der keine Widerrede duldete. Ohne Rücksicht auf Verluste raubte er mir den Atem und ich konnte gar nicht anders, als mich darauf einzulassen, da sich mein Verstand wie eine Rakete ins Orbit verabschiedete.

Möglicherweise brannte das Haus, denn mir wurde verdammt heiß und der Ärger verpuffte im Nirgendwo. Der Boden verwandelte sich in Lava. Meine Knie waren wie weichgekocht und gaben nach, doch Dorians Hände retteten mich, glitten von meiner Taille zum Hintern, packten zu und hoben mich so hoch, dass ich die Beine um seine Hüften schlingen musste. In einer fließenden Bewegung wirbelte er mich an die Wand und fixierte meinen Körper mit seinem. Er presste sich an mich, ließ mich nicht nur die kalte Tapete im Rücken spüren, sondern vor allem die wachsende Hitze in seiner Leistengegend. Dunkel erinnerte ich mich an irgendwelche Vorsätze, die ich kürzlich noch gehabt hatte, von denen ich nun aber mit Fug und Recht behauptet hätte, sie wären vollkommen schnurzegal. Was jetzt zählte, waren Dorian, ich, dieser schier endlose Kuss und der Wunsch die letzte Nacht zu wiederholen. 

"Mama, was machen die da?" Die Stimme des sechsjährigen Elias aus dem oberen Stock war wie ein Wassereimer für unsere heißen Gemüter. Erschrocken biss ich Dorian auf die Lippe und riss die Augen auf. Er glotzte mir nicht minder überrascht entgegen. Abrupt stoppten wir die Knutscherei und entbrezelten unsere Gliedmaßen, bis wir schwer atmend dem Störenfried und seiner Mutter Maria ein "Guten Morgen" entgegenbringen konnten. Maria lächelte eines dieser unheimlichen allwissenden Lächeln, sagte aber nichts und stieg mit dem Sohnemann an der Hand die Treppen weiter hinab.

Während ihre Schritte im Flur verhallten, sammelte ich die Fetzen meiner eben zerplatzten Vorsätze zusammen und schlüpfte an Dorian vorbei, um mich vor seiner Aura in Sicherheit zu bringen. Wie verführerisch der Kerl war, hatte ich immerhin gerade am gesamten Leib erfahren. Ein bloßer Kuss genügte, um mir den Verstand aus dem Kopf zu saugen, was ehrlich unpraktisch war, da ich verflixt noch mal wütend zu sein hatte!

"Also hast du das gestern alles geplant, um in meine Wohnung zu kommen?", zickte ich, nachdem unsere Nachbarn endgültig außer Hörweite waren. Ich spähte über das Treppengeländer, um sicherzugehen, dass uns auch sonst niemand ausspionierte, ehe ich mich wieder Dorian zuwandte. "Was ist das denn für eine dämliche Masche? Du hättest mich auch einfach mal so besuchen können, Blödmann!"

Er hob eine Augenbraue. "Wirklich?", spöttelte er. "Und du hättest mich dann reingelassen, weil wir bis dahin ja so normal miteinander umgegangen sind?"

Die Gegenfrage war nicht schlecht. Spontan fiel mir keine Antwort ein.

Dorian übernahm das Reden. "Merle", sagte er versöhnlich, "sei ehrlich: Du hättest mich abgeschmettert wie damals, als deine gesamten Einkäufe im Flur verstreut lagen und ich dir angeboten hab, dir dabei zu helfen den ungesunden Mist in deine Wohnung zu schleppen." Kurz blitzte ein Vorwurf auf. Dorian blinzelte ihn weg. "Madame Unnahbar fand es aber angemessener, eine Diskussion über falsche Freundlichkeit vom Zaun zu brechen, die in einem Vergleich mit dem Gefallen bei der Mafia geendet hatte. Ich zitiere:" Er räusperte sich und schluckte eindeutig ein Lachen herunter. "Wenn ich mir von dir helfen lasse, verlangst du von mir auch irgendwann etwas, bis wir schließlich in einem Teufelskreis aus geheuchelten Nettigkeiten feststecken. Also stoppen wir das gleich hier und jetzt, um uns später Verlegenheiten zu ersparen."

Ich wich Dorian aus und starrte in die Vergangenheit zu besagtem Tag. "Oh." Nervös rieb ich mir die Stirn, hinter der sich der Gedanke breitmachte, dass ich rein theoretisch nicht ganz unschuldig an unserem distanzierten Verhältnis war. "Das ... ähm ..."

Dorian machte eine wegwerfende Handbewegung. "Das", betonte er, "war der Moment, ab dem ich wusste, dass ich definitiv keine Lust auf ein gewöhnliches Nachbarschaftsverhältnis habe."

Ich traute mich kaum zu fragen und nuschelte daher bloß: "Sondern?"

Ein Finger unter meinem Kinn lenkte meine Aufmerksamkeit zu Dorian, bis sich unsere Blicke ineinander verhakten. Er sah mir vollkommen unverholen in die Augen und gestand nach einem nervenaufreibend tiefen Atemzug: "Keine Ahnung. Aber ich bin dafür, es noch vor dem nächsten Gewitter herauszufinden."

Zwischen uns breitete sich dieses peinliche Schweigen wie in einer kitschigen Schnulze aus, in der die Charaktere abwägten, was sie als nächstes tun sollten. Allerdings brauchte ich keinerlei Bedenkzeit, weil ich mir eh sicher war, was ich von Dorian wollte, und war deshalb dankbar für das Gluckern aus der Küche, das die Stille durchschnitt und mich davon abhielt, mich zu eilig zu verplappern.

"Kaffee ist fertig", lenkte ich ab und schob mich in Richtung Wohnungstür.

Da sich hinter mir nichts rührte, linste ich über eine Schulter zu Dorian, der mich erwartungsvoll und mit einer zuckenden Braue beobachtete. Seufzend trat ich beiseite und machte eine einladende Geste. "Möchtest du hereinkommen und mit mir frühstücken? Rein zufällig habe ich frische Brötchen im Haus."

Endlich schlich sich wieder das überhebliche Grinsen auf seine Lippen, als er sich in Bewegung setzte und an mir vorbei schlenderte. "Wenn du unbedingt willst. Aber nur unter einer Bedingung."

Ich ballte die Faust um die Türklinke und zweifelte an meinem gesunden Denkvermögen. Warum tat ich mir diesen Blödmann eigentlich an? Ach ja. Der Blödmann war genau das, was ich brauchte - der, bei dem ich sein konnte wie ich war.

"Welche Bedingung?", blaffte ich.

Dorian wirbelte herum und packte mich erneut an der Taille. "Wir frühstücken im Bett", raunte er hungrig an meinem Ohr. Ich schluckte - und donnerte die Tür hinter uns zu.

Rums!

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Yuki Am 18.05.2019 um 1:28 Uhr Mit 4. Kapitel verknüpft
Das warten hat sich wirklich gelohnt.

Ich LIEBE es. ❤

Fühlte mit, musste so oft lachen, das ich schon tränen in den Augen hatte. Das Ende, war feurig und spannen.

Ich kann nur sagen, so ein Schlingel. ;-)

Hoffe du schreibst noch mehr, solcher Storys.

Ich würde sie lesen.
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Sour (Autor)Am 19.05.2019 um 16:01 Uhr
Freut mich sehr, dass du bis zum Schluss dabeigeblieben bist! *^* Und auch, dass du Spaß an der kleinen Geschichte hattest. Das motiviert doch sehr, sich noch einmal an sowas zu probieren ;)
Liebe Grüße
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Yukis Profilbild
Yuki Am 18.04.2019 um 21:13 Uhr
Du willst mich strafen. :-( Das zweite Kapitel ist toll und hört leider einfach auf.
:-~
Warum sollte mich das verjagen? Ich mag dein schreibstil. Weiter so. ;-^ Warte gebannt auf das nächste :-))
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Yukis Profilbild
Yuki Am 12.04.2019 um 19:24 Uhr
Mehr, ich will mehr!!!
Ich bin total gefesselt und fühlte mit. Hoffe du schreibst bald weiter. Total toll.
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Sour (Autor)Am 18.04.2019 um 18:36 Uhr
Hey :) Danke für deine Rückmeldung!
Freut mich, dass dir das erste Kapitel gefallen hat. Hoffentlich verjagt dich das zweite nicht ;)

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Kapitel: 4
Sätze: 952
Wörter: 13.730
Zeichen: 82.404

Kurzbeschreibung

Merle bringt so schnell nichts aus der Fassung. Denkt sie. Bis sie sich eines Nachts mit ihren größten Schwächen auseinandersetzen muss: Einem Gewitter und ihrem Nachbarn Dorian.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Humor auch in den Genres Vermischtes, Erotik und gelistet.

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