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Felicitas Connoire

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02.10.17 19:09
16 Ab 16 Jahren
Homosexualität
Fertiggestellt

Autorennotiz

Diese Geschichte hat fast ne Dekade auf dem Buckel und ich würde manches heute vielleicht anders schreiben. Trotzdem dachte ich mir, ich lad sie aus Nostalgiegründen mal hoch.

Ein Herbst irgendwo in einer namenlosen Großstadt mit namenlosen Wohnblocks, namenlosen Menschen, namenlosen Geschichten. Ich stehe am Fenster meiner Altbauwohnung, öffne die Läden und blicke hinaus in die Nacht. Der gelbgoldene Oktobermond zeichnet zwischen den Häusern dunkle Schatten, die alles, was sich darin bewegt, gänzlich verschlingen. Wind wirbelt einen kleinen Haufen Blätter auf und lässt sie, von der alten Ordnung nichts mehr zurücklassend, ein paar Meter weiter wieder fallen, während sich meine Vorhänge in einem durch die undichten Ritzen des Fenster eindringenden Lufthauch leicht heben.

Ein Funken von Melancholie in dieser dunklen Nacht, die ich sonst ohne jegliches Gefühl verbringe, breitet sich in mir aus. Wie lang lebe ich schon in dieser Existenz gefangen? Ruhelos, nur von einer Nacht zur anderen, ohne Sinn und Ziel, einzig und alleine darauf hoffend, dass es irgendwann ein Ende finden möge?

Ein Ende, das nie kommen wird. Mein Leben ist irgendwo verschollen gegangen zwischen verstaubten Büchern, ein paar wild verteilten Blättern mit unleserlicher Schrift, Licht von Kerzen, die immer so gut wie niedergebrannt sind und einem alten Grammophon, das eigentlich schon längst seine Zeit überlebt hat. Zwischen umgekippten Tintenfässern, zerzausten Kissen, verstreuten Gegenständen in den Regalen und auf dem Boden, muss es irgendwo unauffindbar in eine Ritze gerutscht sein. So bin ich ausgeliefert an ein rastloses Streben, das nirgendwo hin führt, doch auch niemals zur Ruhe kommt. Immer nur auf der Suche, doch ohne jemals etwas zu finden. Viel zu lange schon warte ich auf einen Moment, der mir in alledem Hoffnung gibt, einen Funken von Lebenssinn, den offenkundig alle Menschen zu finden scheinen außer mir.

Und doch, wie komme ich dazu, so naiv sein, mich mit ihnen zu vergleichen. Ich, deren Leben doch so anders ist als das ihrige. Ich, die nicht einmal weiß, ob sie sich überhaupt noch Mensch nennen darf, oder nicht viel ehr eine Kreatur ist, die etwas Menschliches nur als Erinnerungsfetzen in sich trägt.

Draußen vor dem Fenster bedeckt prasselnder Regen mit eisigen Fingern die Dächer und Gassen. Ich sehe im Straßenlampenlicht, wie er den Staub und Dreck aufschwemmt und ihn, kleine Rinnsale bildend, die Straße hinabtreibt. Was für ein friedliches Bild und doch so trügerisch. Einen Moment halte ich inne und atme tief. In der Ferne schlägt eine Uhr zur Mitternacht und ein kalter Schauer läuft meinen Rücken hinunter. Ich beginne zu frösteln.

Es ist der Klang der Glocken, der mich an etwas erinnert, das ich eigentlich am liebsten vergessen will. Der Gedanke an mich selbst, mein Sein, lässt mich für einen Atemzug erschaudern. Dieses Etwas in mir schläft so tief, dass ich es kaum noch wahrnehmen kann. Doch ich weiß, irgendwann wird es wieder erwachen. Es wartet nur darauf. Darauf, einen Moment zu erwischen, an dem ich zu schwach sein werde, es aufzuhalten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es wieder passieren wird. Bis es, wie so oft, wieder passieren wird.

...

Ob ich in meinem Leben jemals so etwas wie Liebe empfunden habe, weiß ich nicht. Damals, als es das erste Mal passierte, war ich wohl noch zu jung, um zu wissen, was diese Worte bedeuteten und jeder Moment, der dieser unglücklichen Nacht folgen sollte, kam zu spät, um es mich zu lehren. Es ist lange her, sehr lange und die Zeit dazwischen, die flüchtigen, unbedeutenden Erinnerungen an die oberflächliche Momente zwischen dem damals und dem heute sind längst von einer grauen Nebelwand des ewigen Vergessens verschluckt.

Wann es genau war, weiß ich heute nicht mehr, irgendwann inmitten der goldenen 20ger Jahre muss es gewesen sein, als ich mich in diese unselige Stadt verirrte. Eigentlich hatte ich schon lange davon geträumt, durch die Welt zu tingeln, große Städte zu sehen und das Leben zu entdecken, Bücher zu schreiben und mich für meine Literatur inspirieren zu lassen, mich in allem Neuen selbst neu zu entdecken. Doch weil das alles zur damaligen Zeit für eine junge Frau, vor allem für eine junge Frau aus einer Fabrikarbeiterfamilie, nicht so einfach war, wie es heute ist, blieben es zunächst nur schöne Fantasien. Was mich letztendlich meine Träume in die Tat umsetzen ließ, war aber weniger der Mut, es nun doch zu wagen, denn mehr der Zwang der Dinge und die Flucht vor etwas Unheimlichen, das mein Leben über Nacht verändern und dessen Bedeutung ich erst viel später erfahren sollte.

An das, was in dieser Nacht wirklich passierte, kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Ich sehe Szenen vor mir aus den Jahren davor und aus jenen danach, doch die Ereignisse jener unheilvollen Nacht sind aus meinem Gedächtnis gelöscht. Das einzige, woran ich mich erinnern kann, sind einzelne Fragmente, wirre Fetzen an Erinnerungen, zusammenhangslos durcheinander geworfen.

Ich sehe die Kirche des Viertels in dem ich groß geworden bin, die brennenden Kerzen, die bunten Kirchenfenster, doch nirgendwo ist ein Mensch außer mir. Ich rieche die Nacht und den Regen auf der leeren Straße, fühle das seltsame Kleid, das meinen Körper bedeckt. Ich sehe die entsetzten, verzerrten Gesichter der beiden Kollegen meines Vaters, besoffen vor einer Kneipe, höre noch das Klacken ihrer Stiefel, während ihre Silhouetten rennend in der Dunkelheit verschwinden. Ich sehe vor mir das Zimmer, in dem ich und meine Schwester wohnten, ihren weißen, blanken, glänzenden Hals, dieses fremdartige und unheimliche Gefühl, das auf einmal in mir aufstieg. Ich sehe noch das Licht der aufgehenden Sonne durch die undichten Läden brechen, spüre den Schmerz, die Flucht in die ewige Dunkelheit der Kellerräume. Erinnere mich an die Angst und Panik, die mich überkam, als ich spürte, es würde etwas Schreckliches passieren, wenn ich bleiben würde, ohne zu wissen was.

...

Letztendlich war Flucht der einzige Ausweg, den ich damals noch sah, die Flucht vor etwas, von dem ich nicht annähernd wusste, was es war, doch von dem ich wie eine innere Eingebung spürte, dass etwas Unheilvolles in mein Leben eingedrungen war, dessen eisige Finger nach mir griffen und mich und alle Menschen, die mir nahe standen in einen Abgrund zerren würde, würde es mich in seine Klauen bekommen. Vor diesem Etwas wollte ich fliehen, weit weit weg. So machte ich mich auf den Weg in ein neues, unbekanntes Leben, in dem ich alle Erinnerung zurücklassen konnte. Vorbei an den Straßen des Arbeiterviertels, vorbei an den Bürgerhäusern der besseren Wohngegenden, vorbei an den Türen und Toren und der großen Uhr der Bahnhofshalle im Jugendstil, an dem schwarzen Qualm der aufpfeifenden Dahmpflock, den gepolsterten Sitzen der ersten Klasse, hin zu den kalten, überfüllten Holzbänken der dritten. Bloß über nichts nachdenken, was du hinter dir lässt, einfach nur vorwärts schauen, doch niemals zurück.

Wie es weiterging, als ich in dieser trostlosen Stadt angekommen war, weiß ich heute nicht mehr. Es war wohl viel Glück und ein bisschen Zufall, die mir schon bald eine Bleibe und eine geregelte Arbeit bescherten. Wie das Schicksal es wollte, eine, bei der ich mein Geld nachts verdienen konnte und nicht jenem grässlichen Licht ausgesetzt war, gegen das ich seit meiner Flucht eine fremdartige Abscheu empfand, die mir mit der Zeit allmählich zur Gewohnheit wurde.

Über das, was damals in jener Nacht passiert sein musste, hörte ich irgendwann auf nachzudenken. Ich wollte es nicht wissen, denn zu gruselig und zu mysteriös, zu unheimlich waren alle Bilder, die vor meinem inneren Auge auftauchten, wenn ich versuchte, mir auf all das einen Reim zu machen. Keinen Gedanken wollte ich mehr daran verschwenden und so war es das hier und heute, dem ich all meine Aufmerksamkeit zu schenken versuchte. Doch ich muss gestehen, bei allen Versuchen, zu vergessen, eines blieb seit jenem Tag tief in mir zurück: eine unerklärliche Sehnsucht nach irgendetwas, die ich nicht näher bestimmen konnte als ein vages Gefühl, dass etwas tief in mir fehlte. Ein diffuses Wissen darüber, dass ich nicht mehr wusste, wer oder was ich eigentlich war und das eine klaffende Lücke, eine tiefe Sehnsucht nach dem fehlenden Puzzleteil meiner selbst in mir zurückließ.

Meine neue Heimat war das Zentrum einer glitzernden Metropole, die niemals schlief und deren fieberndes Lebensgefühl sich in der unzähligen Vielfalt ihres ausschweifenden Nachtlebens spiegelte. Edle Automobile und noble Taxen, selten gesehene Verkehrsmittel in meiner alten Heimat, durchrauschten die nächtlichen Straßen. Nachtbars, Lichtspielhäuser, Varietetheater und Casinos reihten sich in einer unendlichen Zahl aneinander. Die feine Gesellschaft ging dorthin aus, um sich in einem der vielen Etablissements zu vergnügen. Doch auch allerlei dunkle Gestalten trafen sich in verruchten Hinterzimmern zum Glückspiel und zu illegalen Geschäften. Kokette Mädchen boten auf den Straßen ihre Liebesdienste an und blauer Rauch drang neben dem Geruch von Alkohol aus jeder Türe, hinter der die schimmernde Welt des Nachtlebens begann.

...

Meine Nächte verbrachte ich im Félicité, einer Bar, die nur in den dunklen Stunden des Tages geöffnet hatte, mit einem schiefen Neonbanner über dem Eingang an einer belebten Kreuzung nahe der Straßenbahnhaltestelle Westpark gelegen. Über der Bar befand sich ein Hotel, eine billige Absteige mit allerlei schmutzigen kleinen Zimmern, in denen allerlei ebenso schmutzige Dinge vor sich gehen konnten, für die sich niemand interessierte. So manche Dame kam in einer Nacht mehrmals mit männlicher Begleitung hier her und schloss die Türe hinter sich, nur um sich kurze Zeit später und um einiges gute Geld reicher wieder von den Herren zu verabschieden. Mein Zimmer jedoch blieb leer und sah keinen anderen Menschen außer mir.

Eine Bar, eine Bühne und viele kleine Tische, um die sich Nacht für Nacht eine Unzahl von Menschen drängten, das war mein Arbeitsplatz. In der Dunkelheit, hinter der Theke, war ich als Bardame immerzu damit beschäftigt, dem gut zahlenden Publikum eine Unzahl von Drinks mit wohlklingenden Namen zu mischen und mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich die lüsternen Blicke der Männerwelt, die meinen Körper musterten und an meiner Haut kleben blieben, ekelten. Ich wollte nicht von ihnen begehrt werden, wollte nicht von ihnen geliebt werden, ohne dass ich genau hätte sagen können, warum. Doch im blauen Dunst, der den Raum Tag für Tag erfüllte, gingen sowieso alle Fragen, die man an das Leben hätte stellen können unter in der Bedeutungslosigkeit und jeder lebte nur für den Moment.

Auf den Tischen lagen Karten, Würfel fielen, wie so manches Glas, das dank unachtsamer Bewegungen betrunkener Menschen, den Weg zum Boden fand. Die grauschwarzen und weißen Anzüge feiner Herren verschwommen mit den farbigen Kleidern ihrer Konkubinen, mit denen zusammen sie an den Tischen saßen und die über ihre lüsternen Blicke und so manche unsittliche Berührung ein aufgesetztes schrilles Lachen den Raum durchschallen ließen, ehe sie in wilden Küssen versanken oder sich in die dunklen, geheimen Welten des Separees zurückzogen. Pelzmäntel und Perlenketten, edle Hüte und funkelnde Haarnetze auf Bubiköpfen, Spitzentaschentücher und Fächer, feine Handschuhe aus Häkelspitze und Satin, wehende Federboas und klobige Ringe, schweiften, blitzen und glänzten in jeder Ecke des Raumes. Die Luft war heiß und stickig, erfüllt vom Geruch von Tabak und Alkohol.

Manchmal, wenn ich kurz Zeit hatte, um durchzuatmen, blickte ich durch die Dunkelheit nach vorne auf die Bühne, deren Vorhänge im Licht der Scheinwerfer erwartungsvoll glänzten, ehe sie sich hoben. Allerlei Künstler spielten dort ihr Spiel, Tänzerinnen in knappen roten Röcken ließen zum Takt des Klavierspiels und anderer Instrumente die Strumpfbänder um ihre sich hebenden Beine aufblitzen, Sängerinnen bewegten kokett ihre Schultern, warfen ihr Haar nach hinten und, teils hinter einem Fächer verborgen, teils direkt ins Publikum blickend den Männern aus der ersten Reihe tiefe, eindeutige Blicke zu.

....

In jenen flimmernden Nächten, im Rausch von Purpur, Gold und Rubin, von Puder, Rouge, Parfum und Tusche, waren es vor allem die Körper der Frauen, die sich elegant und kokett auf der Bühne bewegten, die meine Aufmerksamkeit besonders auf sich zogen. Wie gerne schaute ich  ihnen zu, wann immer ich es konnte, ohne mir erklären zu können, woher die Faszination, die sie auf mich ausübten, kam. Es waren ihre schlanken Körper, die sich in ästhetischen, formvollendeten Posen über die Bretter bewegten, ihre strahlende pfirsichsamtene Haut, die im Licht der unzähligen Scheinwerfer in allen erdenklichen, Weiß- Braun- und Rosatönen changierend aufglänzte. Die rot funkelnden Lippen ihrer Müder, die im Takt der Musik tanzten und ihre hypnotisierenden Blicke, die währenddessen den Raum durchschwebten, die mich, wie von magischer Hand geführt in ihren Bann zogen.

Niemals in meinem Leben, an keinem anderen Ort der Welt, hatte ich jemals so hübsche Frauen gesehen. Niemals fühlte ich mich von der Schönheit einer Frau, so sehr angezogen, wie von ihrer, obgleich ich schon immer, seit meiner Jugend, seit meinen Kindertagen, die Ästhetik der Körper meines Geschlechts auf besondere Art und Weise zu schätzen wusste. Sie waren wie perfekte Figuren, die in einem vollendeten Traum zum Leben erwachten waren: unheimlich fern und unheimlich nah, Realität und Illusion zugleich.

...

Ein Name aus dem Félicité prägte sich besonders tief in mein Gedächtnis ein. Es war der Name Felicitas Connoire, der wohl viel mehr ein Künstlername war als ihr richtiger, den in dieser namenlosen Stadt der Illusionen wohl ohnehin niemanden wirklich interessierte. Von allen Tänzerinnen, Sängerinnen und Schauspielerinnen, die im Félicité Nacht für Nacht ihr Können auf der Bühne zum Besten gaben, war Felicitas die Schönste, Faszinierendste und Geheimnisvollste zugleich. Sie umgab eine besondere Aura, die mich, wann immer ich das Glück hatte, sie auf der Bühne zu sehen, magisch in ihren Bann zog. Ein Sog ging von ihr aus, der eine noch viel größere Kraft auf mich ausübte als alle anderen Frauen des Félicité und ein Gefühl in mir weckte, dass ich noch nie in meinem Leben empfunden hatte, ohne, dass ich dem ganzen einen Namen hätte geben können.

Felicitas war der Star des Félicité, an das ihr Künstlername angelehnt war. Wann immer sie die Bühne betrat, kehrte in die sonst so mit Leben gefüllten Räume augenblicklich eine majestätische Stille ein, die ihrer ebenso majestätischer Erscheinung alle Rechnung trug. Für einen Moment wurde es dunkel auf der Bühne, ehe das sonst meist warme gelbe Scheinwerferlicht sich in ein tiefes, kühles verwandelte und den Blick frei gab auf die Silhouette einer Frau, die umgeben von Nebelschwaden auf einem Stuhl vor einem Spiegel saß. Ein elegantes, schwarzes Kleid, bedeckte ihren schlanken Körper und halb auf den Schultern, halb davon herunter hängend bekleidete sie ein ebenso schwarzer Pelzmantel unter dem elegante Handschuhe blitzen. Ihre Beine zierten feine Nylons und auf ihren dunklen, kurzen Haaren trug sie stets ein schwarzes Haarnetz. Glänzende Perlenketten und Armbänder schmückten Handgelenk und Hals.

So saß Felicitas bei jedem ihrer grandiosen Auftritte vor dem Spiegel und wartete einen verheißungsvollen Moment der absoluten Ruhe ab, ehe sie begann ihre Hand und später den Rest ihres Körper in Bewegung zu setzen und den Raum mit ihrer tiefen, doch klanggewaltigen Stimme zu durchfluten. Lange rätsele ich, was es war, was Felicitas zu etwas so Besonderem machte und ihr Publikum in ihren Bann zog. Vielleicht war es die Unnahbarkeit ihrer dunklen, mysteriösen Erscheinung, die sie geschickt einzusetzen wusste. Wie alle anderen Frauen, die auf der Bühne des Félicités sangen, tanzten und spielten, warf auch sie so manchen tiefen Blick aus ihren schwarzbraunen, mandelförmigen Augen in die Reihen ihrer Zuhörer, doch irgendetwas war anders bei ihr. Es schien, als ob sie die begehrlichen, auf sie gerichteten Blicke der Männer nur aufzusaugen schien, um sie im Moment der größten Aufmerksamkeit hart und kalt wieder zurück zu schleudern.

Niemand kam Felicitas nahe, nicht einmal verweilte ihr Blick in den Augen einer bestimmten Person länger als eine Sekunde, nicht ein Lächeln von ihren Lippen galt einem bestimmten Menschen. Es schien, als wäre sie eine unnahbare Ikone, die ewig geheimnisvoll in einem blauen Nebeldunst verborgen blieb, um sich nur in Schemen zu zeigen. Jeder, der eines dieser Schemen zu Gesicht bekam, wollte an sie herantreten, um ihr Geheimnis zu lüften, ihre Dominanz zu brechen. Doch Felicitas blieb über ihr Publikum stets erhaben und hüllte sich in Dunkelheit.

...

In vielen dieser Nächte, in denen Felicitas auf Bühne stand und ich im dürftigen Licht der Bar, umgeben vom Gestank von Alkohol und Zigarren, ihrem Spiel folgte, frage ich mich, was wohl in ihr vorgehen möge. Wer war diese geheimnisvolle Frau, deren Lächeln und Blicke alleine dem Licht und dem Rauch galten, die sie umgaben und dennoch alles um sie herum erfasste? Was mag sie wohl denken, wenn sie dort oben steht und welcher Mensch kam zum Vorschein, wenn die Lichter auf der Bühne erloschen und der Vorhang fiel?

Viele meiner Gedanken zu dieser Zeit drehten sich um sie, auch dann, wenn die Sonne noch am Himmel stand und die Türen des Félicités geschlossen waren. Eigentlich verging kaum eine Minute, in der sie mich nicht auf irgendeine Art und Weise beschäftigte. Zu gerne hätte ich gewusst, wer sie war, wie sie lebte, was sie dachte, doch auch ich war nur einer von vielen Schatten in einem grauen Publikum und hinter der Bar, so weit weg von der Bühne noch unsichtbarer als all die anderen.

...

Umso mehr wunderte es mich, was an einem jener tristen Novembertage geschah, die für diese Gegend typisch waren. Eine bittere Kälte, die den nahenden Winter ankündigte, hatte sich über die Stadt gelegt und eisigen Nordwind sowie strömenden Regen mit sich gebracht. Die alte Heizung im Félicité, die schon in den Tagen zuvor einige Macken zeigte, war aufgrund der ungünstigen Witterung kurz bevor der Club seine Pforten öffnete, endgültig ausgefallen und ich stand in meinem blauen Cocktailkleid frierend hinter der Bar.

Doch trotz des miserablen Wetters und der fröstelnden Kälte im Félicité, war der Laden voll, denn Felicitas stand auf der Bühne. Es war nicht das erste Konzert, dass sie in dieser Woche gab, doch heute war Samstag und das Wochenende zog noch mehr Publikum an. Mir schien es, als hätte sich die komplette Stadt auf den Weg ins Félicité gemacht  und der Laden war von großer Hektik erfüllt. Nur in der Zeit, in der Felicitas auf der Bühne stand und das Publikum nichts anderes als ihren Auftritt im Sinn hatte, kehrte etwas Ruhe ein, so dass ich die Zeit fand, ihr wie so oft zuzusehen und zu lauschen, während Kälte, Zigarettenqualm und unzählige Flaschen mit alkoholischem Inhalt mich umgaben.

Auch die Tage zuvor hatte ich ihre Show schon gespannt aus meiner dunklen Ecke am Ende des Raumes verfolgt. Und so seltsam es mir auch erschien, hatte ich manchmal das Gefühl, dass Sie, die geheimnisvolle, dunkle Schönheit dort vorne im Nebel und dem kühlen Licht, für den Bruchteil von Sekunden beim Schweifen lassen ihrer Blicke auch meine Richtung streifte. Doch so sehr ich mir auch vorbetete, dass es bestimmt nur Einbildung gewesen sei, dass man die dunkle Bar von der hellen Bühne aus ohnehin kaum sehen konnte und selbst wenn, Felicitas keinen Grund hätte, ausgerecht nach den Bardamen zu schauen, während vor ihr das Publikum saß, das Gefühl ließ mich einfach nicht los. Im Gegenteil, wann immer ich glaubte, in einem Moment ihre Blicke zu erhaschen, stieg meine Aufregung so an, dass ich die Bühne nur noch gebannter verfolgte, in der Hoffnung, irgendein Zeichen dafür zu finden, dass es keine Einbildung war.

Doch es blieb jedes Mal nur bei einem vagen Ahnen. So hatte ich die Hoffnung an jenem Abend schon aufgeben und verfolgte Felicitas Spiel nur mit der altvertrauten sehnsüchtigen Aufmerksamkeit, wie alle Abende, in denen ich dazu verdammt war, sie nur aus jener verlorenen Ferne zu betrachten, die mein Platz in dieser glitzernden, unwirklichen Welt des Nachtclubs war. Ich lauschte ihrer rauen, tiefen Stimme, die den Raum mit dunklem Zauber erfüllte, verfolgte ihre eleganten und erhabenen Bewegungen, während im Spiegel hinter ihr ihre Silobulette glänzte, betrachtete die schlanken Hände, die sich elegant in den schwarzen Handschuhen bewegten, den Pelzmantel, der wie zufällig von ihren Schultern glitt, ihr schwarzes kleid, das mit dem Nebel verschwamm, so wie auch sie niemals aus ihrem Nimbus herauszutreten schien.

Das Publikum war still und gebannt, lauschte und schaute ihr zu, unzählige Köpfe, die mein Sichtfeld einschränken, blickten nach vorne auf die Bühne, wo sie bis zu den letzten Noten des letzten Liedes ihr Spiel perfekt meisterte. Und dann passierte es. Zwei mandelförmige, schwarzbraune Augen trafen meinen Blick, eine Sekunde verging, zwei Sekunden vergingen. Eine leichte Bewegung auf ihren Lippen. Da fiel der Vorhang.

...

Reglos stand ich hinter der Bar und starrte gebannt und ungläubig zur Bühne, die der dunkle, schwere Samtvorhang bedeckte. War das eben wirklich geschehen? Hatte mir Felicitas grade eben tatsächlich in die Augen geschaut? Und kann es wirklich sein, dass sie, die niemals jemand bestimmten anlächelte, mir grade zulächelte, als sie mich sah? Der Moment traf mich wie ein Blitz. Zum ersten Mal seitdem ich aus meinem alten Leben geflohen und schließlich hier gestrandet war, fühlte ich plötzlich, wie sich etwas ganz tief in meiner Seele regte, an einem Ort, den ich so lange für tot gehalten hatte. Irgendetwas in mir schien aus einem langen Schlaf zu erwachen und obwohl es sich dieser Moment eigentlich gut anfühlte, spürte ich auf einmal auch noch etwas anderes, von dem ich nicht wusste, was es war und das mich verunsichert zurückließ.

Lange noch schaute ich, Raum und Zeit vergessen, auf die Bühne, als ob ich Felicitas, die längst verschwunden war, hinter her schauen könnte. Die Kälte um mich und den dünnen Stoff des blauen Cocktailkleides, das nur sehr dürftigen Schutz davor bot, nahm ich ebenso nicht mehr wahr, wie den blauen Dunst der Zigarren in Halbdunkel, das Lachen der Damen mit ihren Federboas,  der Herren in Smokings und den Gestank der sich ineinandermischenden Gerüche von Alkohol, Zigarettenqualm und verschiedenster Parfums. Es brauchte eine Weile, bis ich wieder zu mir kam und, im Geiste noch halb abwesend, ans Mischen der Cocktails und spülen der leeren Gläser zurückkehrte. Die Gedanken an jenen Moment ließen mich dennoch nicht mehr los, so dass ich meiner Arbeit nur grade so die nötige Aufmerksamkeit entgegenbringen konnte.

Immer wieder dachte ich darüber nach, ob es Absicht oder Zufall war, Wirklichkeit oder Einbildung und woher dieses unsichere Gefühl in mir kam, das diesen Moment begleitete. Es muss wohl etwa eine halbe Stunde zwischen dreckigen Gläsern, gefüllten Aschenbechern, raffinierter Drinks und lüsternen Männerblicken vergangen sein, als mich eine der Kolleginnen, die schon lange im Félicité arbeiteten, zur Seite zog. Felicitas Connoire, erzählte sie, hätte sich wohl nach ihrem Auftritt in ihren Salon zurückgezogen und sich frierend über die Eiseskälte im Raum beschwert. Damit der Star des Clubs sich nicht noch eine Erkältung hole und soweit es unter den Umständen möglich sei, auch alles zu ihrer Zufriedenheit getan werden könne, wurde die Küche beauftragt, eine der Bardamen freizustellen, die sich für den Rest des Abends außerplanmäßig nur um Felicitas Wohlergehen kümmern solle. Da ich offensichtlich heute wohl ohnehin nicht so konzentriert bei der Arbeit sei, fiel die Wahl auf mich. Nicht einmal zwei Minuten später, befand ich mich mit einem Tablett in der Hand auf dem Weg zu Felicitas privatem kleinen Salon in den Hinterräumen des Félicités.

...

Es war das erste Mal, dass ich die Räumlichkeiten hinter der Bühne zu Gesicht bekam, denn bisher kannte ich nur das an die Küche und die Hinterräume grenzende Treppenhaus mit der kaputten Hintertüre und dem kleinen Verbindungsgang, über dem die Zimmer des Hotels lagen. Der Flur war eng und schmutzig, jeder Schritt wirbelte Staub auf, als ob dieser Gang schon seit Jahren nicht mehr betreten wurde. Es war dunkel, ich konnte kaum etwas sehen und Schatten vom dürftigen, flackernden Licht, das aus irgendeiner Tür am anderen Ende des Flurs kam, huschten über die Wände. Mit jedem Schritt, den ich ging, fühlte ich die Aufregung in mir steigen. Nur noch wenige Meter und ich würde vor Felicitas Türe stehen, würde ihr Auge in Auge begegnen. Ihr, der niemand nahe kam, ihr, die immer in ihrer geheimnisvollen Aura verborgen blieb.

Ein paar mal hatte ich den Gedanken zu gehen, umzukehren und jemand anderen meinen Auftrag ausfüllen zu lassen, doch ich setzte meinen Weg fort. Da war sie auf einmal, die Türe mit dem gelben Pappstern und dem Schriftzug in silbernen Lettern „Felicitas Connoire“, von dem das zweite n heruntergefallen war und das erste i auch schon schief hing. Leise klopfte ich an die Türe.

„Ihr Tee ist da“.

Dunkel und tief, doch weitaus leiser und ruhiger als auf der Bühne, bat eine Stimme mich ins Zimmer. Ich öffnete die Türe. Mich empfing ein warmes Licht. Groß war der „Salon Felicitas“ wahrlich nicht, doch das machte nichts. Neben einem angebauten, begehbaren Kleiderschrank, in der sich die Garderobe für ihre Auftritte befanden, stand ein elegantes mit dunkelrotem Samt bezogenes Kanapee am anderen Ende des Zimmers, vor dem auf einem gläsernem ebenso elegantem Beistelltisch ein Aschenbecher und einige Weingläser mit einer leeren Flasche standen. In der Ecke stapelten sich unter ein paar Fotos vergangener Auftritte und Briefe einiger Verehrer zwei Lederkoffer, neben dem Kanapee stand ein kleiner Holztisch mit einem Grammophon und einem kleinen Hängeregal voller Schallplatten und selbst ein Klavier samt zugehörigem Hocker fanden hier im Zimmer noch Platz. Gegenüber des Pianos, an der Wand neben der Türe zum Kleiderschrank, stand Felicitas Schminktisch. Ein Fächer, ein Pinsel, Lippenstift, Rouge und Puder und ein edler Flakon mit Sprühball verteilten sich auf der Ablage. Den großen, mit 3 Postkarten verzierten Spiegel umrandeten dicke, sanftes Licht werfende Glühbirnen. Und davor saß in einen dunkel gemusterten, seidenen Kimono gekleidet - Felicitas, die sich im Spiegel betrachtend abschminkte.

Noch während ich im Türrahmen stand, wies mich die Geheimnisvolle, ohne aufzusehen an, das Tablett auf dem Beistelltisch abzustellen und ihr eine Tasse Tee einzuschenken. Schweigend trat ich hinter ihrem Rücken ans andere Ende des Zimmers und begann etwas Platz auf dem Tisch machen, um das Tablett abzustellen. Da blickte Felicitas auf einmal auf und schaute in meine Richtung. Gebannt hielt ich inne. Es war das erste Mal, das ich ihr Gesicht aus einer solchen Nähe sah und stellte erstaunt fest, dass sie wohl um einiges jünger sein musste, als ich bisher gedacht hatte. Nicht mehr als 5 Jahre älter als mich schätzte ich sie und war verblüfft, da Felicitas geheimnisvolle und unnahbare Art, eine Reife ausstrahlten, die sie mich wesentlich älter glauben ließ.

Ihre sanfte, glatte Haut in dem schlanken Gesicht glänzte im Licht und ihre schwarzbraunen Augen betrachteten mich genau, ohne dabei jedoch den selben unnahbaren Blick beizubehalten, den sie auf der Bühne pflegte.

„ein bisschen Rum hätte ich gerne noch dazu“

sprach sie in einem ungewohnt warmen Tonfall und wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Einige Minuten des Schweigens vergingen, als Felicitas, ohne aufzusehen mich erneut ansprach.

„Arbeiten Sie eigentlich gerne an der Bar?“
Auf eine solche Frage war ich nicht vorbereitet und konnte irritiert nur ein „wie meinen Sie das?“  entgegnen.
Felicitas, die sich inzwischen wohl fertig abgeschminkt hatte, drehte sich wieder zu mir um.
„Nun ja, Sie scheinen ja am Geschehen auf der Bühne sehr interessiert zu sein, zumindest, wenn ich von meinen Auftritten auch auf andere schließen darf“.
„Sie haben mich gesehen?“ fragte ich erstaunt.
„Oh ja“, antwortete Felicitas mit einem subtilen Lächeln, das mich ob ihrer Unnahbarkeit auf der Bühne überraschte, „Sie sind mir schon am ersten Abend aufgefallen. Wissen Sie, normalerweise schauen mir die Bardamen nur kurz zu, vor allem dann, wenn sie meine Show schon längst kennen“.
„Ich habe gar nicht bemerkt, dass mich beobachten“, sprach ich, während ich die Flasche Rum neben die Teekanne auf den Beistelltisch stellte.
„Ach das“, antworte Felicitas und holte sich eine Zigarette aus einer Schachtel, die auf der Ablage lag, „das ist die Kunst dabei. Sie müssen den ganzen Raum im Blick haben, doch dürfen es sich nicht anmerken lassen, dann haben sie alle Aufmerksamkeit des Publikums für sich“.

Unsere Blicke trafen sich kurz und ich spürte, wie meine Haut auf einmal anfing zu kribbeln. Felicitas stand von ihrem Stuhl auf, befestigte die Zigarette an einem dünnen Stab und trat an das Kanapee, auf das sie sich setzte, nachdem sie ihre Zigarette angezündet hatte. Der Qualm, der mir ins Gesicht stieg, roch irgendwie anders als der Zigarettenrauch im Club, ein bisschen angenehmer. Sie nahm einen tiefen Zug, während sie es sich gemütlich machte und ihre langen, schlanken, nackten Beine übereinander schlug. Wärme stieg in mir auf. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und räumte schnell die Kanne und den Rum zurück aufs Tablett.

„Wissen Sie“, fing Felicitas an zu sprechen, nachdem sie den Rauch ausgeatmet hatte, „Ich habe auch mal als Bardame angefangen. Hier im Félicité. Das muss schon an die 10 Jahre her sein, ich glaube, ich war 17“
Ein weiterer Zug folgte.
„Damals brauchte ich das Geld, wir waren sehr arm und ich musste meine Geschwister und meine Mutter unterstützen, aber Spaß gemacht hat mir diese Arbeit nicht.“
Einen kurzen Moment hielt sie inne und schaute mir zu. Ihre schwarzen Wimpern flimmerten im Licht.
„Möchten Sie sich nicht zu mir setzen? Ich denke, die Sachen können warten“.

Nervös blickte ich auf. Dass mir die Geheimnisvolle so viel Aufmerksamkeit schenken würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Leise zustimmend, stellte ich die Flasche und die Kanne beiseite und nahm am anderen Ende des Kanapees Platz. Mit ihren schlanken, eleganten Händen, die immer noch von den Handschuhen verschlossen waren, wie ihr kurzes schwarzes Haar ebenso noch unter dem Haarnetz verborgen blieb, griff Felicitas nach 2 Weingläsern und zauberte eine volle Falsche unter dem Tisch hervor. Der rote Saft sprudelte in mein Glas.

„So lässt es sich doch viel besser unterhalten, meinen Sie nicht?“
Felicitas volle rote Lippen lächelten geheimnisvoll und ein Gefühl, einerseits ihr noch näher kommen, andererseits fliehen zu wollen, breitete sich in mir aus. Ich lächelte zurück.
„Sie müssen wissen“, setzte sie fort, nachdem sie einen Schluck Rotwein getrunken hatte, „dass ich eigentlich schon immer viel lieber auf der Bühne stehen wollte. Und ich war sehr froh, als ich die Chance dazu bekam. Die Arbeit hinter der Bar hat mir nie gefallen, ich habe es nur des Geldes wegen getan“.
Sie zog erneut an der Zigarette und nahm das Glas Rotwein in die Hand
„das schlechte Licht, die schlechte Luft, die Hektik dort hinten, das war nichts für mich“.
Sie nahm einen großen Schluck und ließ die Asche der Zigarette in den Aschenbecher fallen. Ich nippte an meinem Weinglas und seufzte leise, ihr Gesicht drehte sich mir zu.
„Und Sie? Sie scheinen wohl auch nicht die Glücklichste damit zu sein. Erzählen Sie doch mal. Was stört Sie?“.
Ich setzte ab und dachte kurz nach, während Felicitas mich aufmerksam beobachtete.
„Nun ja, ich denke, es geht mir da ähnlich wie Ihnen. Doch am meisten…“ ich stockte, überlegend, ob ich es aussprechen sollte.
Felicitas wiederholte meine Worte „am meisten?“.
„Wissen Sie, ich mag die Blicke und die ständigen Bemerkungen der Männer nicht, das stört mich.“.
„Ach das!“, Felicitas lachte, „die Herren denken doch immer, wenn sie eine Frau sehen, die ihnen gefällt, muss sie sich für sie interessieren. Vor allem dann, wenn sie hinter der Bar oder auf der Bühne steht. Ein Lächeln und schon glauben sie, sie hätten Ihr Herz gewonnen und würden sich nur danach verzehren, eine kleine Liaison mit ihnen zu beginnen. Meine Liebe, sie wissen gar nicht, wie viele liebeskranke Herren schon vor meiner Türe hier standen, der festen Überzeugung, ich hätte meine Lieder nur für sie gesungen und würde nur sehnsüchtig auf sie hier warten“.

Felicitas schüttelte den Kopf, nahm noch den letzten Zug ihrer Zigarette und drückte die Überreste in den Aschenbecher. Mit einer schwungvollen Bewegung stand sie auf und lief mit eleganten Schritten zur Schminkkommode. Ich konnte den Blick von ihrem wehenden Kimono und den schlanken, langen Beinen nicht abwenden.
„Ich bin froh, dass ich den alten Andre habe, der mir die Kerle vom Leibe hält. Wer weiß, welche Gestalten sonst schon hier eingedrungen wären“
Mit diesen Worten, griff sie in ihre Handtasche, die auf der Kommode stand und holte einen kleinen Briefumschlag hervor.
„Hier, lesen Sie das mal“,  warf sie mir den Brief zu, während sie im Licht der Glühbirnen des Spiegels eine neue Zigarette aus der Packung holte.
Ich öffnete den Brief.

„Liebste, ach nein, was schreibe ich, allerliebste Felicitas. Du wirst sicher vor Sehnsucht nach mir schon vergehen. Ich weiß, dass du mich liebst, auch wenn du es mir auf der Bühne nicht zeigen kannst. Ich sehe dich jeden Abend von der ersten Reihe aus und ich weiß, auch du fühlst das selbe wie ich. Wenn du deine Lieder nur für mich singst, dann weiß ich, dass auch deine Gedanken nur bei mir sind. Ach, meine geliebte Felicitas, warum bist du nur so kalt zu mir und schaust mich nicht einmal länger an. Hast du denn Angst, man könnte es merken, dass wir uns lieben? Schämst du dich vielleicht für mich, weil ich ein wenig schmächtig bin? Liebste Felicitas, ich weiß nicht, warum du mich so ignorierst, aber lass uns das nicht länger so weiterführen. Ich habe einen Tisch für uns bestellt, im feinsten Lokal der Stadt, du weißt sicher, welches ich meine. Ich erwarte dich um Acht. In Liebe, dein Martin“.

„Das ist…“, ich machte eine Gedankenpause. Felicitas zündete sich währenddessen ihre nächste Zigarette an. „unglaublich, oder?“ beendete sie meinen Satz. „dabei weiß ich nicht mal, wer von den ganzen Herren, bei jedem Aufritt im Publikum sitzt, geschweige denn wer davon derjenige ist, der mir diesen Brief geschrieben hat. Aber so sind sie nun einmal, leicht zu beeindrucken und merken nicht, dass auf der Bühne nur mit ihnen gespielt wird“.
Ich begann den Brief noch ein zweites Mal zu lesen und wie ich auf das Papier blickte, spürte ich, wie Felicitas sich vor mich stellte und mit interessierten Augen begann, mich zu mustern. Meine kurzen, blonden Locken, die unter einem weißen, glänzendem Haarnetz verborgen waren, das alle Bardamen trugen, wie auch das dünne blaue Cocktailkleid, in dem ich immer noch fror, mein Gesicht, die blauen Augen, der rot geschminkte Mund, hinab über meine schlanke, wenn auch ein bisschen üppigere Figur, über meine Beine, zu den schlichten schwarzen Pumps, in denen meine Füße steckten.

Ich wurde nervös, begann zu schwitzen und mein Herz klopfte vor Aufregung, als sie mich so betrachtete. Felicitas Blicke ruhten auf mir und sie begann geheimnisvoll zu lächeln.
„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte sie leise und warm.
Ich blickte ein wenig irritiert auf. „Amanda, Amanda Rose“.
“Wissen Sie, Amanda”, fing Felicitas an zu sprechen, “ich glaube, Sie könnten das auch“.
„Was könnte ich auch?“, fragte ich verwundert und unsere Blicken trafen sich.
„Auf der Bühne stehen. Ich finde, sie sind eine sehr hübsche Frau“.
„Meinen Sie das ernst?“, ich spürte, wie mein Herz anfing zu schlagen.
„Natürlich meine ich das ernst. Lassen Sie es uns doch mal probieren“.
Felicitas drehte sich in einer Bewegung zum Grammophon, auf dem Holztischchen zwischen Schminkkommode und Kanapee. Die schwarze Platte setzte sich in Bewegung und Musik erfüllte den kleinen Salon.
„Kommen Sie, versuchen sie es doch mal“, forderte sie mich auf und setzte sich.

Zaghaft stand ich auf und trat vor den Tisch. Felicitas lächelte ein weiteres mal auf ihre geheimnisvolle Art und Weise und ihre dunklen, mandelförmigen Augen blickten noch um einiges tiefer in meine Blauen. Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus. Langsam versuchte ich mich zur Musik zu bewegen, wie die Damen auf der Bühne es taten. Felicitas Blicke beäugten meinen Körper genau. Ich spürte, wie sie an mir hinabglitten, vorbei an den Schultern, den Armen, den Brüsten, der Taille. Doch es war kein kritischer Blick, irgendetwas anderes lag in ihren Augen.
„Sie machen das gut“, sprach sie leise und nahm zum ersten Mal, nachdem ich ihn eingeschenkt hatte, einen Schluck vom Tee, die Zigarette mit dem länglichen Stab in der anderen Hand haltend. Aufmerksam verfolgte sie meinen Tanz, bis die Musik verklungen war. Felicitas schaltete das Grammophon aus und legte ihre Zigarette an den Aschenbecher.

„Das war für den Anfang sehr gut. Ein wenig Übung vielleicht noch“, resümierte sie und der dunkle Kimono glänzte im Licht über ihren Brüsten auf, als sie ihre Beine übereinander schlug.
Obwohl es kalt im Zimmer war, fühlte ich Hitze in mir aufsteigen. Da fiel mein Blick auf das Tablett mit dem Rum und der Kanne auf dem Beistelltischchen.
„ich denke“, sprach ich, „ich sollte dann wohl wieder an meine Arbeit gehen, es wird langsam Zeit“ und begann die Sachen zusammen zu räumen.
„Schade“, kommentierte Felicitas mein Tun, „ich fand es sehr schön mit Ihnen“.
Und während ich den Rum aufs Tablette stellte, rückte sie nahe an den Tisch heran. Ohne dass ich es wagte, aufzusehen, griff Felicitas plötzlich meine Hand. Ein Blitz durchrauschte meinen Körper, ich zuckte zusammen und mein Atem blieb für eine Sekunde stehen.
„Aber Sie kommen mich doch mal wieder besuchen, hoffe ich?“, fragte sie und unsere Augen trafen sich.
Ich sah ihren schlanken, weißen Hals dicht vor mir und ein ähnlich seltsames Gefühl, wie damals in meinem Zimmer, als ich meine Schwester so sah, breitete sich dumpf in meiner Magengrube aus. Ich hatte den Drang zu gehen und zu bleiben zugleich.
„Ich werde sehen, was sich machen lässt, falls Sie noch etwas benötigen sollten…“, entgegnete ich Felicitas, die geheimnisvoll lächelnd sich zurück aufs Kanapee lehnte.
„...werde ich sie rufen lassen“, unter ihrem Haarnetz schimmerten ihre Haare dunkel auf. Eilig griff ich das Tablett und trat aus der Türe.

...

Dieser Abend im November in Felicitas Salon war nur der erste von einer ganzen Reihe, die ihm folgen sollten. Viele Stunden verbrachte ich mit der geheimnisvollen Sängerin auf ihrem Zimmer, trank ein Gläschen Rotwein mit ihr, lauschte der Musik und schaute ihr zu. Felicitas ließ oft nach mir schicken, auch dann, wenn sie eigentlich gar nichts aus der Küche oder von der Bar benötigte und mich nur kommen ließ, um ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten und sich zu unterhalten. Wann immer wir Zeit hatten, trafen wir uns, vor ihrer Show, nach ihrer Show, manchmal auch an Abenden, an denen sie gar nicht auftrat, sondern nur zum Proben ins Félicité gekommen war. Ich hörte ihr zu und sie liebte es, zu erzählen. Sie erzählte mir ihre ganze Lebensgeschichte. Von ihrem Vater, dem Geldfälscher und Trunkenbold, der sicher in irgendeinem Gefängnis saß, wenn er noch lebte, von ihrer Mutter, die ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdiente und die Familie damit nur knapp am Leben hielt, von ihrer Kindheit in den Hinterhöfen und auf den Gassen der Großstadt, von kleinen Diebstählen und dem Schuhe putzen für die feinen Leute. Von der Suche nach einer Arbeit als junges Mädchen, mit der sie ihre Familie unterstützen konnte. Von den Zeiten als Küchengehilfin und später dann als Bardame, bis schließlich zu ihrer Entdeckung und dem Beginn ihrer Karriere als Sängerin. Wie oft saßen wir auf dem Kanapee mit dem Rotweinglas in der Hand, redeten, tranken und lachten. Ich sehe Felicitas noch vor mir. Der elegante dunkle Kimono, manchmal auch eines ihrer dunkelroten, dunkelblauen, schwarzen oder weißen Kleider, die kurzen dunklen Haare, das Haarnetz, dass sie bedeckte, ihre Zigarette an dem Stab, die feinen Handschuhe, ihre schwarzbraunen, mandelförmigen Augen, ihre vollen, roten Lippen, ihr ebenmäßiges Gesicht, die eleganten, langen Beine, ihr Gang, die schlanke Figur, der schimmernde Stoff auf ihren Brüsten, ihre Taille und der schwere Pelzmantel, der alles verdeckte. Ich sehe noch Felicitas Lachen, wenn wir uns amüsierten, Felicitas tiefe Blicke, die Art ihren Kopf zu bewegen und den Mantel von den Schultern gleichen zu lassen, wenn sie auf dem Stuhl vor dem Spiegel saß und mit dem Fächer spielte. Ich sehe sie immer noch auf dem Kanapee sitzen, die Beine übereinander geschlagen, sehe das Glas Rotwein in ihrer Hand und die gespitzten Lippen, die an ihrer Zigarette zogen.  

Die Stunden mit ihr  waren in dieser Scheinwelt des Nachtlebens, das schönste, was ich in dieser Zeit erleben durfte. Wir tanzten gemeinsam zur Musik aus dem Grammophon. Ich lauschte ihrem Gesang, wenn sie am Klavier saß und spielte und sie hörte meinen Gedichten und Memoiren zu. Ich erinnere mich noch, wie ich vor Felicitas Spiegel saß und ihre eleganten Hände mich mit Rouge und Puder, dem dicken Pinsel und dem Lippenstift verwandelten. Ich spüre noch ihren Atem in meinen Nacken und rieche den Duft ihres Parfums, das sie kurz zuvor aus dem Sprühflakon aufgetragen hatte, während die dicken Glühbirnen am Spiegel uns sanft beleuchteten.  

Die Freundschaft, die mich und Felicitas verband, war etwas ganz besonderes, was eigentlich einen anderen Namen als diesen verdient hätte. Etwas ging zwischen uns in jener Zeit vor, für das ich keinen Namen hatte. Das Innehalten, wenn sich unsere Blicke trafen, als ob etwas unausgesprochen zwischen uns stand, was uns noch auf einer viel tieferen Ebene verband. Die Wärme, die in mir aufstieg und die Nervosität, wenn Felicitas mich musterte, mich beobachtete, wie ich lachte, wie ich trank, wie ich tanzte. Die Hitze und das Kribbeln in meinem Körper, wenn sie mich zufällig berührte. All das verband mich auf eine ganz besondere Art und Weise mit ihr und ich fühlte, wie sich die Leere, die ich empfand, seitdem ich in diese Stadt gekommen war, allmählich füllte, wie ich glaubte, das Puzzleteil, das zu fehlen schien, in ihr gefunden zu haben. Doch etwas tief in mir, sagte, dass etwas an diesen Gefühl trügerisch war. Es war seltsam. Je näher ich ihr kam, je mehr ich glaubte, das Geheimnis dieses unsichtbaren Bandes zwischen uns lüften zu können, um so mehr, fühlte ich tief in mir ein Unbehagen, gleich wie eine Stimme, die mich warnen wollte, dass ich im Begriff war, eine Grenze zu übertreten, die ich niemals übertreten dürfte, ohne zu wissen warum. So blieb bei all dem schönen, das ich mit Felicitas erlebte, immer etwas Paradoxes in mir. Ein Teil meiner Seele wollte ihr immerzu noch näher kommen, das Geheimnis zwischen uns lüften, doch gleichzeitig drängte etwas anderes in mir mehr und mehr auf Flucht, besonders in jenen Momenten, in denen wir uns nahe kamen, ich ihren Duft riechen konnte, ihren Atem spürte, ihr Lippen und ihren Hals dicht vor mir sah. Was mit mir geschehen war, was zwischen uns vorging und welches noch unentdeckte Geheimnis unsere Geschichte barg, darauf fand ich keine Antwort. Bis zu jener Nacht…

Es war ein Winterabend, die Heizungen im Félicité waren inzwischen repariert worden, doch da die Einstellungen noch nicht ganz stimmten, war es viel zu warm im Club. Felicitas sollte in zwei Tagen mit ein paar neuen Liedern auftreten, und sie wollte noch nach ihrem Auftritt bis in die frühen Morgenstunden im Salon bleiben und proben. Es war spät in der Nacht und die meisten Gäste sowie viele der Bardamen, waren bereits gegangen, als mir eine Kollegin mitteilte, dass Felicitas in der Küche ein paar Pralinen bestellt hatte. Felicitas rechnete an diesem Abend nicht mit mir, da der Dienstplan es eigentlich vorsah, dass ich die ganze Zeit über im Club zu sein hätte, doch es war so wenig Betrieb, dass ich mir die Zeit dafür nehmen konnte. Leise öffnete ich die Türe zum Salon.

Felicitas, in einem leichten dunkelrotem Kleid, lag unter dem Licht der Lampe auf dem Kanapee, vor ihr ein paar Notenblätter und schaute mich erstaunt an. Unsere Blicke trafen sich, viel intensiver als jemals zuvor und die Luft schien zu knistern. Ich blieb im Türrahmen stehen, gebannt von diesem Moment und schaute auf Felicitas wunderschöne Gestalt, die vor mir lag. Ihr ganzer Körper schien zu beben, obgleich nicht eine einzige Bewegung, ein einziges Zittern ihn durchfuhr. Ein paar Sekunden Stillstand vergingen, bis ich, noch ganz gefangen von diesem Moment, die Pralinen auf den Beistelltisch stellte. Meine Augen konnte ich jedoch nicht von ihr abwenden und auch Felicitas schien nur mich zu sehen.

Schließlich setzte sie sich auf und bat mich, meine Hand ergreifend, mit einer verheißungsvollen Geste und einem tiefen Lächeln zu sich aufs Kanapee.  Ein brennender Hauch Sehnsucht durchfuhr mich, als ich mich neben ihr nieder ließ. Ein geheimnisvolles Lächeln huschte, stärker als je zuvor über ihr Gesicht. Ihre Lippen leuchteten rot auf, schienen gierig nach meinem Mund zu trachten und näherten sich langsam doch mehr und mehr den meinigen. Ich schloss die Augen, erwartungsvoll, was passieren möge. Doch anstatt mich zu küssen, nahmen sie den Weg zu meinen Ohren. Eine warme Stimme hauchte mir flüsternd entgegen.

„Es ist so warm hier, du musst doch schwitzen, möchtest du nicht etwas dagegen tun?“.

Ich öffnete die Augen und sah vor mir ihr Lächeln, wissend und geheimnisvoll. Und noch in der Bewegung ihres Kopfes meinem hinfort ließ sie mit der selben gekonnten, subtilen Geste wie auf der Bühne die Träger ihres Kleides von den Schultern rutschen und der Ansatz ihres Busens glänzte im Licht. Noch völlig gebannt blickte ich auf ihren wunderschönen Körper, dem ich so nahe war wie nie zuvor, als sie meine Hand nahm und sie mitten auf die Mulde zwischen ihren Brüsten legte, in stiller Erwartung, was nun folgen würde. Ich blickte zu meinen Händen hinunter. Sanfte Perlen schimmerten auf ihrer schneeweißen Haut und ich sah ihre Knopsen unter dem dünnen Stoff erblühen. Langsam und zögerlich streichelte ich über ihr Kleid, doch ich wagte es nicht, meine Hand darunter fahren zu lassen. Etwas in mir ließ mich stocken, warnte mich, noch weiter zu gehen, als bis zu diesem Punkt.

„Ich…“ „ich kann das nicht“, wollte ich sagen, doch noch ehe ich den Satz aussprechen konnte, legte sie ihren zarten weichen Finger auf meine Lippen, hauchte ein „schscht“ und ließ ihn langsam über meinen Hals hinab zum Dekoltee meines Kleides und über meine Brüste gleiten.
„wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet, Amanda, wie oft habe ich dich so gesehen, jetzt möchte ich dich spüren“.

Das Flüstern vibrierte in meinem Kopf. Vor meinem inneren Auge spielte die Sehnsucht mir einen Film, auch ich wollte sie spüren, ihren warmen, nackten Körper an meinem, eng umschlungen, von feuchter Hitze umgeben. Mein Herz klopfte. Ihr Finger kehrte zurück und fuhr mit dem Rest ihrer Hand hinter meinem Nacken. Langsam zog sie meinen Kopf hinunter zu ihrem. Ihre feurigen roten Lippen kamen näher, bis sie schließlich meine berührten. Mein innersten loderte lichterloh auf. In diesem Moment war meine Gier erwacht und ich ließ mich treiben, treiben in ihr Spiel. Wir versanken im innigsten gierigsten Kuss, die Kleider fielen, unsere nackten Körper drängten sich aneinander, Haut an Haut, warm und feucht, gierige Küsse, ihr Duft in der Nase, ihr Haar auf meiner Haut, ihre heißblütigen Lippen an meinen, ihre Brüste, die sich an mich schmiegten. Ich konnte nicht aufhören, ich wollte sie ganz, wieder und immer wieder. All meine Sehnsucht, seitdem ich sie das erste Mal gesehen hatte, die ich bisher nicht verstand, lag vor mir, erfüllte sich in diesem Moment. Das Geheimnis zwischen uns war gelöst. Ich ging unter, nur um völlig aufzugehen. Meine Kontrolle über mich hatte ich längst verloren, alleine mein Verlangen, meine Gier nach ihr, trieben mich, immer weiter und weiter und weiter, all die Warnungen in mir vergessend. Unser Atem ging schneller, die Berührungen wurden intensiver, die Küsse heftiger, bis es schließlich passierte. Das, was mein Leben für immer verändern sollte. Mein Blick fiel auf ihren Hals, wie damals in jener Nacht meiner Flucht mein Blick auf den Hals meiner Schwester fiel und auf einmal war es da, dieses Gefühl, was nie an die Oberfläche hätte dringen dürfen, vor dem eine leise Ahnung mich immer wieder gewarnt hatte. Ich spüre es tief in mir, klarer als je zuvor. Da war es, ein dunkles Verlangen, dass in mir aufstieg und von mir Besitz ergriff, der Drang, es zu tun, gegen den ich mich nicht mehr wehren konnte.

Ausgehungert und voller Gier biss ich zu. Augenblicklich zuckte Felicitas unter meinem Biss zusammen. Ein rotes Rinnsaal frischen Blutes floss ihre schneeweiße weiche Haut hinab, doch davon bekam ich nichts mit. Ich saugte mich fester an sie, ich drang immer tiefer in sie, betrank mich an ihr, besessen von meinem Hunger und meinem Verlangen nach ihr. Das vor Schock verzerrtes Gesicht und ihre Bewegungen erstarrten, ihr ganzer Körper wurde steif und ihre schreckgeweiteten Augen begannen sich seltsam zu verrollen. In der Seligkeit erfüllter Leidenschaft, ließ ich schließlich gesättigt von der Gier von ihr ab und genoss noch ein wenig mit geschlossenen Augen die taumelnde Erschöpfung nach dem Akt.

Was soeben passiert war, war mir nicht bewusst.
„Ich liebe dich, Felicitas“ hauchte ich ihr glückselig zu.
Doch ich bekam keine Antwort, nur Stille umgab mich. Verwundert öffnete ich die Augen und ein eiskalter Schauer des Entsetzens lief meinen Rücken hinab. Vor mir lag sie, die schöne Felicitas, die die, ich liebte, reglos auf dem Kanapee. Ein Fluss roten Blutes, der aus ihrem Hals strömte, floss über ihren Körper hinab. Die sonst so dunklen, tiefen Augen blickten mich eiskalt und leblos an, das Gesicht zu einer Fratze verzogen.

„Um Himmelswillen, Felicitas, was ist passiert!!!“ schrie ich sie an.

Doch sie rührte sich nicht. Sofort stürzte ich zu ihr und schüttelte sie auf heftigste, rüttelte und zerrte an ihr, sprach auf sie mit flehenden Bitten und heißen Tränen in meinen Augen ein. Doch nichts geschah. Verwirrt und aufgebracht irrte ich wild im Zimmer umher, um irgendetwas zu finden, dass sie wieder zurück zu den Lebenden bringen könnte. Da fiel mein Blick auf einmal in den Spiegel ihrer Schminkkommode und ich sah in mein Gesicht, das Gesicht mit dem blutverschmierten Mund. In diesem Moment wusste ich, was geschehen war. Ich wusste, was ich an jenem Abend damals in meiner alten Heimat geschehen war, ich wusste, warum ich in der Kirche alleine war und erinnerte mich wieder an den Sarg, in dem ich aufgebahrt erwachte, ich wusste, warum seit jenem Tag das Sonnenlicht in mir Schmerzen und Abscheu heraufbeschwor, ich wusste warum die wenigen Menschen, denen ich in jener Nacht nach diesem Abend begegnet bin, schreiend vor mir reiß aus genommen hatten. Vor allem aber wusste ich: Sie würde nie mehr zurückkommen. Die Frau, die ich liebte, würde mich nie wieder anlächeln, mir nie wieder etwas zuflüstern. Sie würde nie wieder singen, tanzen und mir einen ihrer tiefen Blicke zuwerfen. Denn die Frau, die ich liebte, war tot! Meine Gier, die ich nicht zu bezwingen wusste, hatte ihr das Leben gekostet.

Seit jener schicksalhaften Nacht damals im Salon des Félicité wo ich das zerstörte, was mir am liebsten auf der ganzen Welt war und ich noch viele Stunden über ihrem Leichnam wachte und bittere Tränen weinte, ehe der drohende Sonnenaufgang mich nach oben in mein Zimmer drängte, habe ich nie wieder jemanden geliebt. Es gab in meinem Leben noch viele weitere Frauen, die meisten von ihnen waren sogar recht hübsch, doch nie wieder hat jemand so mein Herz berührt wie sie. Ein flüchtiger Blick, eine gemeinsame Nacht, die hungrige Gier, der Tod am nächsten Morgen. Austauschbare Szenen. Selbst das Morden ist bedeutungslos geworden. Nur schnell weiter, den Hunger befriedigen, ohne jemals wirklich satt zu werden. Eine wie die andere, alles gleichgültig. Gleichgültig wie mein Leben, mein Leben zwischen dem Grammophon, den Tintenblättern, den Büchern und Kerzenstummeln, den verstaubten Ecken und verdreckten Wänden. Denn etwas fehlt in alle dem, die Fähigkeit zu lieben. Denn alles, was ich jemals lieben würde, müsste ich wieder verlieren, durch einen einzigen Moment der vollsten Hingabe, durch einen einzigen Biss, so wie damals in jener Nacht in Felicitas Salon .

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MisterYs Profilbild
MisterY Am 22.10.2019 um 20:16 Uhr
Es ist eine gelungene Story, in die du viel Mühe und Arbeit eingebaut hast-- das ist super. Die Geschichte an sich ist, selbst für einen nicht Liebes-Fanatiker wie mich, amüsant zu lesen. Das Ende sah ich kommen. Der verlauf war aus meiner Sicht her etwas wellenartig, zuerst Stimmung von Horror danach Stimmung von Liebesdrama und wieder zurück zu Horror-- das hat mich ein wenig gestört, denn es baute keine wirkliche Spannung des Horrors auf. Das Felicitas nicht wieder aufersteht ist richtig gemacht worden, denn nicht immer endet der Biss eines Vampirs mit Wiederauferstehung. Das mit dem Spiegel ist jedoch ein wenig nicht wirklich richtig, denn Vampire haben kein Spiegelbild und werfen keine Schatten-- eigentlich haben sie sogar Angst vor Spiegeln. Das mit dem Sonnenlicht ist jedoch auch nicht wirklich das richtige, denn Vampire können im Sonnenlicht gehen ohne dabei, dass es ihnen schadet, sie verlieren aber dabei ihre Kräfte und können sie nur beim Einbruch- oder in der Nacht verwenden. Vampire haben auch keinen Herzschlag und ihre Haut ist bleich und eiskalt. ( Das mit dem Sonnenlicht kam übrigens vom Dracula RipOff Film; Nosferatu. Denn die Deutschen produzierten.) Mehr Infos über Vampire findet man in Bram Stokers Dracula. Ansonsten eine gute Story. LG Goth. Mehr anzeigen
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Herbstblatts Profilbild
Herbstblatt Am 28.01.2018 um 11:54 Uhr
Der Aufbau des Settings empfand ich als sehr gelungen, mit wenigen Sätzen und Wörtern wurde eine Atmosphäre aufgebaut, die zwar geheimnisvoll aber nachvollziehbar ist. Gerade die benutzten Vokabeln sind nicht alltäglich und der Aufbau der Sätze ist gleichzeitig melodisch, schwungvoll zu lesen und doch nicht gewöhnlich. Die Mitte hatte für mich jedoch ihre Längen und es wurden Dinge wiederholt, die bereits beim ersten Mal deutlich wurden wie die Faszination der Hauptperson für die Frau auf der Bühne. Der Schluss führte dann wieder gut in die Atmosphäre des Anfangs zurück. Mehr anzeigen

Autor

GreenQuills Profilbild GreenQuill

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Statistik

Sätze: 378
Wörter: 9.032
Zeichen: 52.348

Kurzbeschreibung

Irgendwann in den 20ger Jahren: Eine junge Frau kehrt nach einer Nacht, an die sie sich nicht erinnern kann, zurück ins Haus ihrer Familie. Doch ein eigenartiges Gefühl sagt ihr, dass sie nicht mehr dort hingehört. Etwas Düsteres, Unfassbares scheint von ihr Besitz ergriffen zu haben. Sie flieht in die Großstadt und trifft dort auf die schöne Sängerin Felicitas Connoire. Die beiden Frauen kommen sich näher. Doch in dem Moment, als sich die wahre Natur ihrer Verbindung offenbart, reißt auch der Schleier vor dem dunklen Geheimnis...

Kategorisierung

Diese Story wird neben Horror auch im Genre Drama gelistet.