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Kapitel: | 2 | |
Sätze: | 337 | |
Wörter: | 4.571 | |
Zeichen: | 26.762 |
Es war kalt im Klassenzimmer. Das Fenster stand offen und die Heizung war abgedreht. Verständlich, denn es war Hochsommer mit siebenunddreißig Grad im Schatten. Doch trotz dieser Außentemperatur, saß Damien mit Pullover neben dem offenen Fenster und fror regelrecht. Er konnte sich nur schwer auf die Worte des Geschichtsprofessors konzentrieren, der gerade über die amerikanische Situation im Zweiten Weltkrieg sprach, aber es interessierte den Jungen sowieso nicht. Viel zu sehr war er mit seinen Gedanken beschäftigt, die sich um seine Vergangenheit drehten. Er seufzte leise, legte den Kopf auf die Arme und schloss die Augen.
Sofort erschien eine alte Erinnerung in seinen Gedanken. Eine junge Frau, die auf einem alten Orientalteppich saß. Die rötlichen Haare fielen ihr in sanften Wellen über die Schulter, ihre hellbraunen Augen wirkten warm und freundlich, als ein kleiner, schwarzhaariger Wuschelkopf auf sie zugelaufen kam. Sie lachte fröhlich, als sie den Jungen, der gerade erst laufen gelernt hatte, auffing und ihn auf die Wange küsste. Der Junge grunzte vergnügt und schmiegte sich enger an die Frau, die gerade erst siebzehn Jahre alt geworden war. Plötzlich kniete sich ein Mann hinter die Frau, er lächelte ebenfalls. Der Lockenkopf quietschte auf, als der Mann ihm einen kleinen Fellball, der sich als Kätzchen entpuppte, hinhielt. Begeistert griff der Junge nach dem Tier und…
„Mr Morgan“, donnerte es plötzlich vor Damiens Tisch, weswegen er langsam und verschlafen die Augen öffnete. Er musste ein paar Mal blinzeln, um erkennen zu können, dass der alte Geschichtsprofessor, Mr Hastings, vor ihm stand, mit dem Zeigestab in der Hand. „Wenn mein Unterricht Sie so sehr langweilt, dass Sie schon auf ihrem Tisch einschlafen, dann bleiben Sie doch bitte das nächste Mal zuhause. Ich brauche niemanden in meinem Unterricht, der die amerikanische Geschichte nicht zu hundert Prozent ernst nimmt. Haben Sie das verstanden, Mr Morgan?“ „Wieso verlegen Sie den Unterricht nicht einfach zu sich nach Hause? Da stören Sie niemanden beim Schlafen“, nuschelte Damien leise, als sein Kopf wieder langsam Richtung Tisch glitt.
Im Hintergrund war leises Lachen zu hören, doch der schwarzhaarige Junge überhörte es gekonnt. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass die anderen Schüler sich über ihn lustig machten. Vor zwei Tagen erst hatte Kendrick sich über Damien ausgelassen, weil er mit einem kaputten Pullover in die Schule gekommen war. Es war derselbe Pulli, den er auch jetzt gerade trug. Der Junge war froh darüber, dass die Sticheleien von heute Morgen wieder nachgelassen hatten, denn als Kendrick in der Früh mitbekommen hatte, dass er drei Tage in Folge denselben zerschlissenen Pullover anhatte, hatte Kendrick auch die anderen Schüler dazu aufgerufen, Damien auszulachen. Und diese hatten es sich natürlich nicht nehmen lassen, wieder über ihn herzuziehen.
„Entweder Sie bleiben jetzt bei vollem Bewusstsein und hören mir zu, oder Sie können sich gleich auf den Weg zum Direktor machen. Dorthin finden Sie ja bestimmt alleine“, riss Hastings Stimme Damien wieder aus den Gedanken, woraufhin er nur müde erwiderte: „Nein, danke. Ich bleibe lieber sitzen.“ „Dann folgen Sie gefälligst auch dem Unterricht.“ Der Professor drehte sich um und Damien konnte noch ein leises ‚unhöflicher Balg‘ vernehmen, doch darüber konnte der Junge nur müde lächeln, als sein Kopf nun wieder auf dem Tisch landete und ihm die Augen langsam wieder zufielen.
***
Damien erwachte mit einem merkwürdigen Gefühl in den Knochen und einem dumpfen Brummen in seinem Schädel. Träge hob er den Kopf und öffnete die Augen, wobei er ein paar Mal blinzeln musste, damit er sich an die tiefstehende Nachmittagssonne gewöhnte. Mit einem herzhaften Gähnen sah er sich im Klassenzimmer um. Es war niemand mehr hier, wie zu erwarten. Die anderen hatten ihn einfach schlafen lassen, wie so oft. Die Uhr neben dem White Board zeigte bereits vier Uhr an, weswegen Damien mit langsamen Handgriffen die Bücher in seinem Rucksack verschwinden ließ und mit diesem auf der Schulter danach den Raum verließ.
Das Schulgebäude war ausgestorben und die Lichter waren abgedreht. Nur das leise Surren der Kehr- und Wischmaschinen, mit denen Catherine und Johan die Flure polierten, war zu hören. Damien schlurfte zu seinem Spind, der im Nordflügel stand, schlug einmal mit der Faust dagegen, damit er aufging und nahm sein Spanischbuch ‚La Pregunta sin Respuesta‘ heraus. Mit diesem in der Hand verließ er das Gebäude und machte sich auf den Weg zu Elmer’s Tacos.
Er musste eigentlich nur die Straße überqueren, schon war er an seinem Ziel angekommen. Zugegeben, Elmer’s Tacos war jetzt nicht der Treffpunkt in Chandler, doch Damien liebte die Tacovariationen, die dort angeboten wurden. Er war in dem Lokal schon sowas wie ein Stammkunde, was nicht zuletzt an Sandrino lag, Damiens bester Freund. Sandrino war der Sohn von Alejandro, der das Lokal vor vierzehn Jahren von seinem Vater übernommen hatte. Deswegen bekam Damien auch jedes Mal, wenn er vorbei kam, eine Gratisportion.
Die Glocke bimmelte, als Damien sich gegen die Tür drückte und eintrat. Sofort erschien Sandrino an seiner Seite, der ihn mit blitzenden Zähnen und einer Zahnlücke, anstrahlte. „Du bist hier.“ „Und du auch“, erwiderte Damien grinsend und ging zu seinem Stammplatz, der zwischen zwei hölzernen Trennwänden verborgen war. Er schmiss den Rucksack in die Ecke und schwang sich danach ebenfalls auf die Bank, während sein bester Freund zum Tresen gerannt war und Damiens Lieblingsgericht in Auftrag gab. Irgendwie hatte es etwas Gutes, einen besten Freund zu haben, dessen Vater ein Lokalbesitzer war, doch er würde Sandrino deswegen nicht ausnützen. Er mochte den zwölfjährigen Jungen, trotz seiner etwas eigenwilligen Art. Oder vielleicht genau wegen dieser eigenwilligen Art. Doch Damien war gar nicht so anders, als sein kleiner Freund.
„Deine Tacos kommen gleich, Damien.“ Sandrino rutschte auf die Bank gegenüber und schob ihm ein Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit darin zu. „Fanta?“ „Shokata“, erwiderte der Jüngere strahlend und legte die Arme auf den Tisch. „Wie war die Schule heute? Du bist relativ spät gekommen.“ Damien schüttete sich das Getränk in einem Zug runter. „Die haben mich nicht aufgeweckt, als Amerikanische Geschichte vorbei war“, antwortete der Schwarzhaarige wahrheitsgemäß, nachdem er das Glas wieder hingestellt hatte. „Hastings hat mich zwar im Unterricht mal aufgeweckt, als ich gerade von meiner Mutter geträumt habe, aber ich bin danach wieder eingeschlafen. Das nächste Mal muss ich wohl zum Direktor.“
„Du solltest besser nicht schlafen in der Schule, junger Freund“, ertönte Alejandros Stimme hinter ihm, als dieser einen Teller mit zwei Tacos darauf vor Damien auf den Tisch abstellte. Damien grinste und zuckte mit den Schultern. „Ich kann nichts dafür, das weißt du.“ Der Lokalbesitzer grinste.
Wie auch Sandrino, besaß auch Alejandro eine Zahnlücke, die beim Lächeln mehr als nur deutlich zu sehen war. Auch der Akzent des gebürtigen Mexikaners hatte Damien bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, dazu veranlasst, Alejandro auf Anhieb sympathisch zu finden. Er mochte die Familie Saelices. Sie ersetzten ihm seine eigene Familie, die er nur für eine kurze Zeit in seinem Leben hatte. Jedoch fand es Damien schade, dass er Señora Saelices, Sandrinos Mutter, noch nicht kennengelernt hatte, aber dieses Treffen würde wahrscheinlich auch niemals stattfinden, denn Constanza Saelices lebte nach wie vor in Mexiko.
Sandrino hatte ihm erzählt, dass sein Vater Constanza zurückgelassen hatte, als er vor vierzehn Jahren den Laden seines Vaters, Elmer Saelices, übernahm. Er wollte sich und seiner Frau zuerst eine Existenz aufbauen. Er wollte den Laden besser zum Laufen bekommen als sein Vater. Die Besuche in Mexiko waren regelmäßig, dennoch bekam Constanza ihren Mann nur alle zwei Monate für ein paar Tage zu Gesicht. Bis Constanza schwanger wurde mit Sandrinos älterem Bruder Eliseo, doch dieser kam als Totgeburt zur Welt.
Sandrino hatte Damien gestanden, dass er sich nicht schlecht fühlte deswegen. Er kannte seinen Bruder nicht, wusste nicht, wer er war. Wieso sollte er sich deswegen dann schlecht fühlen darüber, dass er am Leben war und Eliseo nicht? Jedoch bezweifelte Sandrino immer mehr, dass dieses Gefühl richtig war. Immerhin sollte er seinen Bruder dennoch lieben, obwohl er tot war. Doch er tat es nicht.
Als bei Constanza wenige Monate nach der unglücklich Geburt erneut eine Schwangerschaft diagnostiziert wurde, wollte Alejandro sie mit in die Vereinigten Staaten nehmen, doch ihr Vater, Josué, war dagegen. Er wollte seine damals erst neunzehnjährige Tochter bei sich in Sicherheit, in gewohnter Umgebung, wissen. Damit es nicht erneut zu einer Totgeburt kam. Alejandro respektierte diesen Wunsch vorerst, doch nach und nach bekam er Heimweh, weswegen er beschloss, wieder nach Mexiko zu ziehen. Den Laden hätte er seinem Neffen Raúl überlassen. Als Alejandro jedoch wieder in der Heimat war, drehte sein Schwiegervater völlig durch und warf ihn aus dem Haus, woraufhin auch Constanza ihr Elternhaus überstürzt verließ.
Was danach passierte, wusste Sandrino nicht genau, doch was er wusste, hatte er Damien ebenfalls berichtet, als sie eines Nachts zusammen im Wald waren und am Lagerfeuer saßen. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass Josué Constanza, wenige Tage nachdem sie verschwunden war, wieder gefunden und zuhause eingesperrt hatte. Und das war kurz vor der Geburt. Alejandro hatte damals die Polizei eingeschaltet, doch die konnten nicht besonders viel anstellen. Das Einzige, was sie tun konnten, war, Alejandro Zutritt zum Haus zu verschaffen, als Josué gerade nicht da war. Er fand seine Frau in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer, wo sie bereits ihren kleinen Sohn, Sandrino, auf dem Arm hatte. Sie drückte ihrem Mann das Kind in die Arme und bat ihn, mit ihm zurück in die USA zu fliehen. Dort würde ihr Vater die beiden nicht finden.
Und so geschah es dann auch. Bis heute hatte Josué weder nach Alejandro, noch nach Sandrino gesucht. Zumindest, wenn er gesucht hatte, vielleicht immer noch suchte; er hatte sie noch immer nicht gefunden. Alejandro lebte nun schon seit vierzehn Jahren in Arizona, Sandrino seit zwölf und sein Großvater war noch kein einziges Mal aufgetaucht, was Sandrino jedes Mal erleichtert aufseufzen ließ, wenn er daran dachte.
„Deine Tacos werden kalt“, riss Sandrino ihn aus den Gedanken. Der Zwölfjährige hatte ein Strohhalm zwischen seiner Zahnlücke, an dem er sog, während er seinen besten Freund neugierig musterte. „Ist nicht so schlimm“, erwiderte Damien leise und besah sich kurz nach links und nach rechts. Das Lokal war bis auf ein paar Gäste ausgestorben. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Die Stimme seines besten Freundes klang besorgt und Damien wusste, dass diese Besorgnis berechtigt war. Er hatte sein anderes Ich schon viel zu lange nicht mehr angenommen und das konnte auch tödlich enden. „Mir geht’s nicht gut. Ich hatte schon in der Schule so ein mieses Gefühl in den Knochen und dazu noch diese Kälte.“
Sandrino kannte diese Anzeichen nur selbst zu gut, weswegen er sofort aufsprang und ‚papá, papá‘ rief. Und dieser kam natürlich auch sofort angerannt. Alejandro fragte gar nicht nach, was passiert war, sondern schnappte Damien einfach am Ellbogen und zog ihn hinter sich mit in den kleinen Abschnitt, der in das Obergeschoss des Gebäudes führte. Dort durfte kein Gast hin und auch Alejandros Angestellten hatten nur beschränkt Zutritt zu diesem Teil des Lokals.
„Wie oft hast du Lix wieder eingesetzt in den letzten Tagen?“ Man konnte dem Mexikaner ansehen, wie wütend er war. Nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass Alejandro den Jungen am Kragen gepackt hatte und ihn mit seinem Blick regelrecht erdolchte. „E-ein paar Mal“, stammelte Damien und versuchte, sich aus dem Griff des Lokalbesitzers zu befreien. „Es ist doch meine Entscheidung, wie oft ich es anwende.“ „Damien, wenn du es nicht einmal in der Woche zulässt, dann wird die Kraft zu groß.“ Alejandro hatte ihn wieder losgelassen. „Ich weiß. Ich bin schon länger ein Wolf, als dein Sohn.“ „Aber noch nicht so lange, wie ich“, knurrte der Mexikaner nun gefährlich, doch Damien blieb unbeeindruckt. „Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Versteh‘ das doch.“
Der schwarzhaarige Junge seufzte. „Ich weiß, Alejandro, aber ich konnte die Verwandlung einfach nicht zulassen.“ „Je länger du sie hinauszögerst, Damien…“ „Umso schmerzhafter wird sie, ich weiß.“ Der Mexikaner nickte. „Von mir aus verwende Lix ein weiteres Mal. Aber sobald sich dieses Gefühl wieder meldet, verwandelst du dich. Klar?“ Damien nickte und verschwand mit Sandrino wieder zu seinem Stammplatz. Dort angekommen kramte Damien im Rucksack nach dem Gegenstand, den er benötigte.
Er zog einen blau-silbernen Kugelschreiber raus, an dessen anderem Ende eine kleine Kugel befestigt war, die wie eine Mini-Taschenlampe aussah. Für gewöhnliche Menschen war es auch eine Taschenlampe, doch für Damien und Sandrino war es mehr als das. Damien drückte das kleine Lämpchen auf die Innenseite seines linken Unterarms und zeichnete damit ein Zeichen auf die dunkle Haut, das Sandrino als ‚Expin‘ erkannte. Das Zeichen leuchtete für eine Sekunde blau auf und brannte sich danach in Damiens Arm ein. Zurück blieb eine kleine, feine Narbe, die weiß hervorstach.
„Merkwürdig“, nuschelte Sandrino, der das ganze gebannt verfolgt hatte. „Was denn?“ „Ich verstehe noch immer nicht, wie das funktioniert. Papá verbietet mir, Lix zu benutzen.“ Damien lächelte. „Du bist auch noch zu jung dafür. Außerdem kannst du deine Verwandlung in Ruhe vorüberziehen lassen.“ „Das kannst du doch auch“, entgegnete der Zwölfjährige und sah seinem besten Freund in die Augen. „Du könntest dich genauso in Ruhe verwandeln.“ Damien schüttelte den Kopf und stand auf. „Ich hol‘ mir schnell noch was zum Trinken.“ Sandrino nickte und wandte sich der Speisekarte zu, die auf dem Tisch stand.
Damien wandte sich ab und drehte sich um. Just in diesem Moment kam ihm ein junger Mann entgegen, der eine Tasse in der Hand hielt. Diese fiel sogleich zu Boden, als die beiden ineinander liefen und sich eine braune Flüssigkeit auf dem Shirt seines Gegenübers ausbreitete. Keine Sekunde später spürte Damien schon einen Blick auf sich, der ihn wohl umbringen sollte. „Es tut mir echt leid“, murmelte er als Entschuldigung, doch sein Gegenüber schnauzte ihn nur an. „Habt ihr hier etwa alle keine Augen im Schädel, oder was? Zuerst dieser Knirps, dann diese Göre und jetzt auch noch du. Das ist ja das Highlight meines Tages.“
Damiens Kopf ging langsam in die Höhe, als er diese tiefe und raue Stimme erkannte und zugeordnet hatte. Er hoffte dennoch inständig, dass er sich irrte und sich die Person vor ihm als eine andere herausstellte. Doch wie so oft wurde der Junge enttäuscht. Vor ihm stand genau die Person, die er seit zwei Jahren vergötterte und über die er nun auch Kaffee geschüttet hatte. Corey Crawford.
Langsam und mit zitternden Schritten bewegte sich der Junge über den alten Orientalteppich, der vom Flur bis in das kleine Wohnzimmer reichte. Die lose Wolle, die sich hier und da schon gelöst hatte, kitzelte unter seinen nackten Füßen, doch den Teenager interessierte nur das Szenario, das sich vor seinen Augen abspielte. Es kam ihm so vor, als hätte er dies schon einmal erlebt, als er ganz klein war, doch er konnte sich nicht daran erinnern. Es war, als hätte man ihm seine Erinnerungen beraubt.
„Na, wieder hier, Damien?“ Der Junge drehte sich erschrocken um und blickte sogleich in zwei braune, beinahe schwarze Augen, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten. „Du hättest nicht wieder herkommen dürfen.“ „Wer bist du“, fragte Damien an den Mann vor ihn gewandt, doch dieser grinste nur und bleckte die Zähne. „Ist die bessere Frage nicht eher, wer du bist?“ „Wer ich bin“, wiederholte der Junge nuschelnd und besah sich wieder das Szenario, das sich hinter ihm abspielte. „Sie haben dich vergessen, Damien. Das bist nicht du.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern, doch Damien hörte es, als hätte der Mann es ihm ins Ohr geschrien.
Das Geschehnis hinter ihm wandelte sich. Der kleine Junge veränderte sich, genauso wie die Frau, die gerade noch am Boden saß. Der Junge wurde größer, fast so groß wie Damien es war. Die Bewegungen wurden schneller. Bis der Junge auf der Couch saß und die Frau in der anliegenden Küche verschwunden war. Ein paar Möbelstücke hatten sich verändert. Das Regal, auf dem der Fernseher stand, war weg, genauso wie das alte Röhrengerät selbst auch. Stattdessen stand da nun ein Flachbildschirm auf dem Boden, daneben lagen zwei Konsolen. Auf der gegenüberliegenden Wand stand ein riesiges Bücherregal, welches zuvor noch nicht da war.
„Loxias, kommst du essen“, hallte die Stimme der Frau durch die Wohnung, woraufhin der Junge, der auf der Couch saß, aufsah. „Ich komme schon, Mum.“ Damien folgte dem Jungen namens Loxias in die Küche, nur um dort gegen den Türrahmen zu sinken. Vor dem kleinen Fenster saß ein Mädchen mit langen rötlichen Haaren, die ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich sah. Ihr Blick war auf das Handy gerichtet, welches sie in der Hand hielt. Neben ihr saß ein Mann, vermutlich der Vater. Er las in der Tageszeitung, sah aber auf, als der Junge den Raum betrat. Er lächelte seinen Sohn an. „Dann können wir ja jetzt essen.“
Die Vier saßen am Tisch, als Damien spürte, dass wieder jemand hinter ihn getreten war. „Siehst du? Es geht ihnen ohne dich viel besser. Sie erinnern sich kaum noch an dich. Für sie ist es, als wäre es nur in einem Film passiert. Als wäre es nie Realität gewesen.“ Damien starrte emotionslos auf den Mittagstisch, der mit seinem Lieblingsessen, Tacos und Avocado-Dip, gedeckt war. Er konnte es nicht glauben. Das musste alles ein schlimmer Alptraum sein. „Es ist kein Alptraum, Damien. Es ist die Realität.“
Der Schauplatz änderte sich und plötzlich hatte Damien nasses, kaltes Gras unter den Füßen. Er sah sich um. Die Bäume um ihn herum verrieten ihm, dass er in einem Wald war, doch es war nicht sein Wald. „Du solltest sie vergessen, Damien.“ Der junge Mann kam wieder auf ihn zu, doch im fahlen Mondschein erkannte der Teenager, dass der Fremde gar nicht so viel älter war, als er selbst. Vielleicht ein oder zwei Jahre, mehr aber bestimmt nicht. Seine blonden Haare schimmerten weißlich und seine Haut wirkte blass und eingefallen.
„Wer bist du“, sprach Damien die Worte aus, die ihm nun schon die ganze Zeit auf den Lippen brannten, doch der junge Mann gab keine Antwort. Stattdessen drehte er sich um und blickte gen Mond hinauf. „Eine schöne Nacht, nicht wahr?“ Der Blonde steckte die Hände in die Hosentaschen und seufze. „Der Mond war schon lange nicht mehr so schön und hell. Ich hatte beinahe schon vergessen, wie seine wahre Gestalt aussieht.“ Er wandte sich wieder Damien zu, der sich keinen Millimeter bewegt hatte. „Es ist traurig, weißt du? Es ist traurig, dass die Menschen denken, sie wären sicher. Sicher vor dem Tod, der ihnen bereitsteht. Sicher vor den Kreaturen, die sie nur aus Gruselgeschichten und Märchen kennen.“ „Was für einen Tod? Wovon redest du?“ Der Fremde kam ein paar Schritte auf Damien zu und streckte die Arme zur Seite aus.
„Wir sind Werwölfe, Damien. Du genauso, wie ich. Schließ‘ dich mir an und zusammen können wir diesen sentimentalen und unwürdigen Kreaturen, die sich Menschen nennen, ein Ende setzen. Wir können sie zu unseren Sklaven machen. Wir Wölfe könnten über die Welt regieren, so wie es schon vor Hunderten von Jahren vorausgesagt wurde. Das Kapitol in Alicante würde uns zu unvergessene Helden küren. Komm schon, Damien. Hilf mir und du wirst nie wieder Leid verspüren. Du kannst dich an diesen Menschen, die dich vergessen haben vor so vielen Jahren, die dich nicht mehr haben wollten, rächen. Du kannst es ihnen heimzahlen.“
„Ich will es ihnen aber nicht heimzahlen. Genauso wenig will ich auch, dass die Menschen uns Wölfen unterliegen. Wir sind eine Minderheit. Die Menschen wissen gar nicht, dass wir existieren.“ „Das ist doch der springende Punkt an dem Plan, Damien.“ Der Fremde kam auf den Teenager zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Wir sind eine Minderheit, im Gegensatz zu diesen Monstern von Menschen. Aber dennoch sind wir stärker als sie. Uns kann man mit einfachen Maschinengewehren nicht töten. Selbst Feuer kann uns nichts anhaben. Aber diese Menschen … ein einfacher Windhauch und sie fallen schon der Reihe nach um, weil sie einfach zu schwach sind.“ „Die Menschen sind nicht schwach“, entgegnete Damien und trat einen Schritt zurück. Er spürte die Gegenwart eines Baumes hinter sich, obwohl dieser noch zehn Meter weit weg war.
„Ach, Damien. Du bist noch jung, ich weiß, aber du wirst das richtige Denken schon noch lernen. Es ist alles eine Frage der Führung. Mit dem richtigen Freund an deiner Seite wirst du schon bald verstehen, wieso wir Wölfe die Menschen zu unseren Sklaven machen sollten. Wir würden die Welt regieren. Alle Wesen auf dem Planeten würden uns zu Füßen liegen.“ Damien schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Aber das ist doch dann kein Leben mehr, wenn die Menschen alles tun müssen, was wir ihnen sagen. Die Menschen sind genauso freie Kreaturen, wie wir. Und wir waren auch einst Menschen, bevor wir verwandelt wurden.“
„Wir können einen gesamten Planeten voller Werwölfe kreieren, Damien. Wenn sich alle Wölfe, die auf der Erde beheimatet sind, an einem Ort niederlassen; wir könnten eine ganze Kolonie bilden. Wir könnten uns zu Tausenden und Abertausenden vermehren, bis wir die Anzahl der Menschen überholt haben.“ „Dann wird aber der Platz eng werden, findest du nicht?“ Der Blonde verdrehte die Augen und meinte: „Die Menschen werden nach und nach gefressen und abgeschlachtet werden. Egal, ob Frau oder Kind, Mann oder Greis. Es ist unser Schicksal, es ist unsere Bestimmung, Damien.“
„Schön und gut, aber wie kommst du darauf, dass das Kapitol bei einem solchen Plan zustimmen würde? Ich dachte, das Kapitol wäre für eine intermenschliche Zusammenarbeit.“ „General Alarcón wird das alles schon regeln. Er ist von meinem Plan beeindruckt und wird Präsident Velázquez auch davon überzeugen, dass dies die richtige Entscheidung für den Erhalt unserer Spezies sei.“ Damien wich zurück, als der junge Mann wieder näher kam, doch dieses Mal folgte der Fremde ihm, anstatt wieder stehen zu bleiben.
„Aber, aber, Damien. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Wir sind doch Freunde.“ Der Teenager schüttelte den Kopf. „Ich hab dich noch nie vorher gesehen. Ich kenne dich nicht.“ Eine Reihe von strahlend weißer Zähne blitzte auf, als der Blonde grinste. Damien konnte genau die Reißzähne sehen, die sich durch die Verwandlung in einen Werwolf weiter ausgeprägt hatten. Er hatte Angst vor dem Kerl, obwohl Damien ebenfalls ein Wolf war und deswegen bei einem Kampf genauso gewinnen konnte. Seine Angriffstaktik war ausgearbeitet und seine Kraft war hervorragend, dank Alejandros Trainingseinheiten. Dennoch jagte es ihm kalt den Rücken runter.
„Wer bist du“, fragte Damien nun noch einmal, während er wieder zurückwich. Langsam ähnelte es einem Tanz von Jäger und Gejagtem und der Teenager hoffte inständig, dass das alles nur ein böser Traum war. „Wir sind Freunde, Damien. Noch kennst du mich nicht, aber du wirst mir schon bald begegnen.“ „Wann?“ Der Fremde blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Bald. Und wenn es soweit ist, wirst du mir gehorchen. Hast du mich verstanden? Du wirst meinen Befehlen Folge leisten.“ „Und wenn nicht? Was, wenn ich das nicht will?“
Damien spürte nun den Baum hinter sich, dessen Anwesenheit er vorhin wahrgenommen hatte und etwas an dem Baum kam ihm nicht richtig vor. Seine Aura war anders, als die der anderen Bäume. Der Fremde vor ihm schien das nicht zu merken. Natürlich nicht. Seine Instinkte waren noch nicht gut genug ausgebildet und da Damien den Baum berührte, konnte er es vor dem Blonden erkennen. Der Baum war auf seiner Seite. Er wollte, dass Damien diesen Kampf gewann. Doch wieso? Was wollte der Fremde von ihm? Der Teenager hoffte, dass der Baum ihm eine Antwort gab, doch er hatte noch nicht gelernt, wie man seine Gefühle auf andere Kreaturen überträgt.
Damien konnte aus seinen Augenwinkeln heraus erkennen, dass rechts neben ihm etwas glitzerte. Er konnte aber nicht erkennen, was es war. Vielleicht war es eine Waldfee. Oder ein Baumgeist. Aber vielleicht war es auch ein anderer Wolf, doch das hätte der Teenager gemerkt. Es sei denn, es war noch ein Welpe.
„Schade, dass unsere Zeit gleich um sein wird“, ertönte wieder die Stimme des Fremden, der Damien den Rücken zugekehrt hatte. „Aber es genügt. Ich habe erreicht, was ich erreichen wollte.“ Er krümmte sich leicht und der Teenager erkannte, was der Blonde vorhatte. Er nahm seine Wolfsgestalt an. Der junge Mann kam nun wieder auf Damien zu, der sich nun komplett an den Baum drückte, in der Hoffnung, dieser würde ihm im Notfall helfen.
Schon bald wirst du wissen, was es heißt, ein Sieger zu sein, Damien, vernahm er die leise Stimme in seinem Kopf, woraufhin er diesen schüttelte. „Nein“, sprach er laut aus. Ein Knurren drang durch die Stille, die im Wald herrschte, doch Damien ließ sich davon nicht einschüchtern. Du wirst meinen Befehlen Folge leisten, oder du wirst dafür bezahlen. „Es ist meine eigene Entscheidung, was ich tue. Ich mag die Menschen, wieso sollte ich sie umbringen und unterwerfen wollen?“ Weil es deine Bestimmung ist, fauchte der Wolf vor ihm, dessen Fellfarbe exakt dieselbe war, wie die Haarfarbe seines menschlichen Ichs. „Ich bilde mir meine Bestimmung selbst. Wenn ich auf jeden dahergelaufenen Idioten hören würde, der mir das und jenes erzählt, dann wäre ich schon längst tot“, konterte Damien und ließ sich zeitgleich ein paar Hundeohren wachsen. Tot? So, so. Das kannst du gerne haben.
Mit einem Mal sprang der Wolf den Teenager an, der noch fester gegen den Baum gedrückt würde, bis dieser letztendlich umfiel. Du wirst für deine Ungehorsamkeit noch büßen, das schwöre ich dir, kam es knurrend vom Fremden, der mit den Zähnen fletschte. Der Wolf stand auf Damiens Brust, doch dessen Gewicht spürte er nicht. Was er aber spürte, war das schmerzhafte Ziehen auf seiner Brust und im Lendenbereich. Der Teenager erkannte, dass der Wolf zum Angriff ansetzte. Er wollte ihm die Kehle aufreißen, doch das wollte Damien ganz bestimmt nicht zulassen. Er versuchte sich zu verwandeln, doch durch den Wolf auf ihn, schaffte er es nicht. Die Hölle wartet auf dich, war das Letzte, was er von dem Wolf hörte, der gerade den Kopf hob und das Maul auseinander riss. Damien wartete auf den Schmerz. Er wartete darauf, dass alles schwarz wurde. Doch es geschah nichts. Stattdessen verschwand der Wolf und der Wald begann sich zu drehen.
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Elenyafinwe M • Am 10.04.2017 um 17:16 Uhr
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Hallo, zugegebenermaßen ist das nur der Anfang der Geschichte und vielleicht ist es daher noch etwas früh, sich ein Urteil zu bilden. Aber ich wage mich dennoch mal so weit aus dem Fenster. Es fehlt mir hier noch ein wenig das Alleinstellungsmerkmal des Textes. Er wirkt momentan noch eher wie der Stoff an sich, nicht wie eine konkrete, individuelle Bearbeitung dessen. Es deutet sich schon jetzt eine paranormal romance an, oder zumindest einer, unser Prota, ist bereits verknallt. Hinzu kommt, dass der Prota lieb und prohuman ist, während es im zweiten Kap eine Rückblende (?) gibt, die andeutet, dass es da auch andere Fraktionen gibt, die den Menschen an den Kragen wollen. Das sind die Stoffe, die wir bereits aus Twilight kennen. Daher auch die drei Sterne: Du hast einen guten Schreibstil und aus deinem Text kann etwas gutes werden. Aber momentan kann der Text auch die genau entgegensetzte Richtung einschlagen. Es kommt halt darauf an, was du jetzt aus dem Stoff machst. lg Auctrix Mehr anzeigen |
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Kapitel: | 2 | |
Sätze: | 337 | |
Wörter: | 4.571 | |
Zeichen: | 26.762 |