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Kapitel: | 12 | |
Sätze: | 1.385 | |
Wörter: | 20.009 | |
Zeichen: | 119.079 |
Ada ist fünfzehn und der Inbegriff einer rebellischen Jugendlichen. Sie respektiert keine Autorität, ist ständig in Ärger verwickelt, streitet mit ihrer alleinerziehenden Mutter – und sie verspürt einen unwiderstehlichen Drang zum Jagen, egal was. Oder wen. Und sie liebt Fleisch. Auch roh. Und blutig.
Ihre Lehrer haben es längst geahnt: In Ada fließt das Blut eines Drachen. Damit droht ihr das Schlimmste, wie ihre verzweifelte Mutter weiß, denn Drachenblütige werden von der Regierung gejagt.
Eris ist fünfzehn und ein Außenseiter mit ungewöhnlichen Vorlieben, unverstanden von seinen Eltern und Gleichaltrigen. Als er sich eines Tages selbst an die Drachenbehörden ausliefert, gerät sein Leben völlig aus den Fugen – und verbindet sich mit dem von Ada und anderen Jugendlichen und Erwachsenen, die in einer ganz ähnlichen Situation waren wie er. Welche Zukunft haben sie in einer Welt, die allen Drachen feindlich gesinnt ist? Und was sind sie eigentlich? Menschen oder Drachen?
*
Über das Wesen der Drachen (Auszüge)
Drachenwandler – Bezeichnung für einen Menschen, der die Gestalt eines Drachen annehmen kann.
Drachenblütiger – Bezeichnung für einen Menschen, der nachweislich mit mindestens einem Drachenwandler blutsverwandt ist, ohne bisher selbst Drachengestalt angenommen zu haben.
Drachenblütige werden, entgegen der weitverbreiteten Meinung, nicht unweigerlich zu Drachenwandlern, selbst dann nicht, wenn sie typische Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Sie können allerdings die entsprechenden Veranlagungen weitervererben und ein wandlungsfähiges Individuum hervorbringen, teils erst viele Generationen später.
Aus: Biologie – Lernen und Verstehen, Ausgabe für Mittelschulen, 11. Auflage
[…] Die Inzidenz für Drachenwandler ist in den meisten Ländern der Welt sehr gering. In Europa liegt sie mit am Niedrigsten aufgrund der starken Bejagung von Drachen im Mittelalter und der frühen Neuzeit.
In afrikanischen Ländern ist sie aufgrund neuzeitlicher Bejagung für den illegalen Handel mit Schuppen, Zähnen und Krallen ähnlich gering, die Gene in der Bevölkerung stammen hauptsächlich aus der Vermischung mit anderen ansässigen Ethnien, allerdings wurden im Lauf der Geschichte auch indigene Drachen beschrieben, über deren Zahl sich keinerlei Auskunft geben lässt.
Australien besitzt keine bekannte indigene Drachenpopulation, die entsprechenden Gene wurden von britischen Siedlern eingeschleppt.
Die höchste Inzidenz für Drachenwandler weltweit haben die Vereinigten Staaten von Amerika, weshalb große Teile von Nationalparks in den Ozarks, Appalachen und Rocky Mountains zu Drachenreservaten umgewandelt wurden. Die enorme Zahl liegt einerseits darin begründet, dass sich die Bevölkerung aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammensetzt, andererseits, dass aufgrund fehlender Eindämmungsmaßnahmen Drachengene über viele Generationen hinweg unbemerkt weitergegeben werden konnten und es keine derartigen Ausrottungsfeldzüge gegen Drachen gab wie in Europa.
In den meisten Ländern des europäischen Festlands wird Personen, die einen bekannten Drachenwandler im Familienstammbaum aufweisen, von einer Schwangerschaft abgeraten. Bestimmte Gensequenzen gelten in einigen Ländern Osteuropas und Russlands als Ausschlusskriterium bei der embryonalen Auslese im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik. Diese Sequenzen sind hinsichtlich ihres Vorhersagewertes allerdings stark umstritten.
In vielen asiatischen Ländern gilt das gesellschaftliche Kastensystem, das es Drachenwandlern streng untersagt, Nachkommen mit Nichtwandlern zu zeugen. Betroffene Kinder werden, trotz gesetzlichen Verbots, immer wieder getötet. Erwachsene Abkömmlinge dieser Verbindung werden von der Gesellschaft ausgeschlossen und in weiten Teilen noch heute zwangssterilisiert. Reinblütige Drachenwandler haben in diesen Ländern einen deutlich höheren Stand als in der westlichen Welt und werden als gottgleich betrachtet. Sie zu sehen gilt als Glücksverheißung in der gewöhnlichen Bevölkerung. In China leben alle reinen Drachenwandler in der Verbotenen Stadt, einem mehrere Quadratkilometer umfassenden Stadtstaat mit eigener Rechtsprechung, dessen Zutritt nur ihnen selbst gestattet ist. […]
Aus: Die Welt der Drachen, 5. Auflage
[…] Drachentöter haben in vielen Ländern der Welt Tradition, zum Teil bis in die Neuzeit hinein, wodurch sich erklärt, warum Drachen heute vergleichsweise selten geworden sind, während sie noch vor tausenden von Jahren die Länder der Erde als geschuppte Tyrannen beherrschten. […]
Aus: Geschichte – Lernen und Verstehen, Ausgabe für Mittelschulen, 12. Auflage
[…] Die wohl gefürchtetste Fähigkeit unter Drachen, das Feuerspeien, gilt heute glücklicherweise als verlorengegangen. Das letzte Exemplar, ein Biest von dreißig Metern Länge, wurde um 1860 in Texas getötet. Leider gilt das Skelett heute als verloren gegangen. […]
Aus: Biologie, Wissenschaftsbuchreihe 6, 9. Auflage
[…] Die der Wandlung zugrundeliegende Gensequenz ist derzeit noch unbekannt. Die Wissenschaft geht von einer epigenetischen Grundkomponente aus. Die meisten bisher vermuteten Genkomponenten treten nachweislich sowohl bei Wandlern als auch Blütigen und sogar Nichtblütigen auf. […]
[…] Drachenwandler nehmen ihre Drachengestalt erstmalig meist zwischen dem vierzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr an. Ein pubertärer Stimulus wird vermutet. Ist bis zum vollendeten dreißigsten Lebensjahr keine Wandlung erfolgt, kann trotz drachenpositiven Stammbaums davon ausgegangen werden, dass keine Wandlung mehr erfolgen wird und das Individuum als sicher einzustufen ist. Eine weitere Verbringung in einen Sperrdistrikt ist dann nicht mehr obligat. […]
Aus: Humangenetik – Drachengenetik
[…] Nicht alle Drachenwandler und Drachenblütigen werden auffällig, auch wenn gewisse Verhaltensweisen bei ihnen häufiger auftreten. Sehr oft beobachtet werden ein unwiderstehlicher Zwang, rennenden oder fliegenden Tieren hinterherzujagen sowie eine Abneigung gegen Gemüse bei einer deutlichen Vorliebe für Fleisch, auch ungegartem. Weiterhin sind ein wildes Temperament mit rebellischem Verhalten und Launenhaftigkeit beschrieben worden, insbesondere bei weiblichen Individuen. Einen verlässlichen Prädiktionstest gibt es derzeit nicht. Diskutierte Triggerfaktoren des Gestaltwandels sind vor allem Stress, aber auch Angst und andere starke Erregungszustände. […]
Aus: Zentrale für Drachenaufklärung
[…] Drachenwandler können vollsymptomatisch am Herefordt-Prenson-Syndrom erkranken, einer Krankheit, die umgangssprachlich auch als »Drachenwut« bezeichnet und durch das Herefordt-Virus verursacht wird. Es zeigt sich eine milde Symptomatik bei Drachenblütigen ohne Fähigkeit des Gestaltwechsels mit spontaner Ausheilung bei symptomatischer Therapie der typischen Prodromi Fieber, Gliederschmerzen und Sehstörungen, jedoch eine verheerende bei jenen, die den Wandel mindestens einmal vollzogen haben: Der Gestaltwechsel wird unwiderstehlich getriggert und eine Rückverwandlung unmöglich gemacht, wahnhafte Zustände und der Zwang zur Zerstörung und Tötung sind typisch. Diese schwere Form der Krankheit ist unheilbar und führte vermutlich zu den besonders eindrucksvollen Fällen, in denen einzelne Drachen ganze Menschensiedlungen angriffen. Der Tod tritt nach wenigen Tagen bis Wochen durch Multiorganversagen ein. Es existiert ein Impfstoff seit den 1950er Jahren, der heute eine Schutzrate von bis zu 100% erreicht. Die Durchimpfung von Drachenwandlern ist verpflichtend in allen Teilen des Landes, die von Drachenblütigen ohne erfolgten Wechsel obliegt den einzelnen Staaten. […]
Aus: Infektiologie für Studierende der Human- und Drachenmedizin
[…] Sie vermuten, dass Ihr Kind ein Drache sein könnte? Sie wissen nicht, wie Sie damit umgehen sollen? Sie fürchten sich vor dem, was passieren kann? Rufen Sie uns an! Unter unserer kostenlosen Nummer erhalten Sie die passende Beratung. Wir verweisen Sie an die richtigen Stellen, sollte sich der Verdacht erhärten, denn sämtliche Drachenwandler müssen zu ihrem eigenen Schutz und dem der Bevölkerung in eigens dafür eingerichtete Zonen unter der Leitung von erfahrenem Personal verbracht werden. Fürchten Sie sich nicht vor diesem Schritt – es ist die beste Entscheidung für Ihr Kind! […]
Aus: Hilfetelefon für Eltern von potentiellen Drachenwandlern
Als sie sich an diesem frühlingshaften Morgen aus ihrem Bett kämpfte, hatte Ada noch nicht einmal geahnt, was für eine irrsinnige Wende ihr gesamtes Leben an eben diesem Tag vollziehen würde.
Zunächst schien es ein Tag wie jeder andere zu sein: Gähnende Langeweile versprechend. Ein Donnerstag, kurz vorm Wochenende also, aber immer noch einen ganzen Tag davon entfernt. Der Wecker hatte viel zu früh geklingelt, und doch war sie beinahe zu spät in der Schule angekommen. Noch dazu hatten sie in den ersten zwei Stunden ausgerechnet Mathe. Wer dachte sich bitte so etwas aus, Mathe frühmorgens und dann auch noch zweimal hintereinander?
Jetzt, etliche Stunden später, war Ada auf der Flucht. Sie rannte durch das Gestrüpp und Unterholz des Waldes, der ihre verdammte Kleinstadt einschloss, ohne zu wissen wohin. Es interessierte sie auch nicht, Hauptsache weg. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh darüber, in einem so verschlafenen Nest zu leben: In einer Großstadt hätte sie keine Chance gehabt, unbemerkt zu verschwinden. Hier draußen dagegen gab es so einige Versteckmöglichkeiten, und der Gedanke daran, ihnen allen davonzurennen, beflügelte sie im ersten Moment – bis er vom nächsten verdrängt wurde: Sie konnte nicht für immer im Wald bleiben.
Egal, dachte sie grimmig und schob alle Bedenken beiseite. Ich werde rennen, so lange ich kann. Bis ich geschnappt werde oder tot bin. Was blieb ihr schon anderes übrig?
Sie hatte nie ein Problem damit gehabt, erst zu handeln und dann zu überlegen. Nicht immer war sie stolz darauf, das musste sie zugeben, denn meist machte das die Dinge eher schlimmer als besser. Und Ada dachte durchaus nach, über sehr viele Dinge, egal, was die anderen über sie sagten. Die verstanden ohnehin nicht, was in ihr vorging. Nicht einmal sie selbst tat es.
Ada hatte schon früh bemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. So richtig nicht stimmte. Dass sie irgendwie anders war als alle anderen, obwohl das alle Jugendlichen von sich selbst dachten. Aber bei ihr war es tatsächlich so, eine gesteigerte Form des Andersseins. Sie mochte kein Gemüse. So überhaupt nicht. Als Kind war das noch in Ordnung gewesen – kein Kind mochte Gemüse. Sie aber aß stattdessen ganze Mahlzeiten, die nur aus Fleisch bestanden, und das am Liebsten mehrfach täglich. Ihr Fleischappetit hatte schon als Kind seltsame Blüten getrieben, die nicht mehr erklärlich waren. Manchmal kaufte sie sich im Supermarkt an der Straßenecke Koteletts und aß sie heimlich – roh. Die ganze Packung. Auch das Mark von Suppenknochen mochte sie, und den Suppenknochen selbst, an dem sie nagte, ohne ihn wirklich essen zu können. Und dann war da noch die Sache mit dem Sportunterricht. Der war ihr schon immer schwergefallen – nicht, weil sie dick war wie so viele ihrer Klassenkameraden, sondern weil sie die vielen herum rennenden Schüler verrückt machten. Ada begriff selbst nicht wieso. Irgendwie war sie ständig davon abgelenkt, ihre sich schnell bewegenden Körper zu betrachten. Es war wie ein Zwang, den sie nicht unterdrücken konnte und der dazu führte, dass sie dauerhaft unkonzentriert war, so als ob sich in ihrem Hirn Blitze entluden und ihre Schädeldecke zum Kribbeln brachten. Über diese Dinge hatte sie nie offen mit jemandem gesprochen, nicht einmal mit ihrer einzigen Freundin Sue. Ada wusste nur zu gut, wie das gewirkt hätte, und sie wollte nicht, dass falsche Schlüsse gezogen wurden – doch nun sah es tatsächlich ganz danach aus.
Es war Gordons Schuld. Alles. Er sollte jetzt gejagt werden und nicht sie! Dieser kleine Mistkerl hatte sie bloßgestellt vor allen anderen. Wegen ihres Verschlafens war sie nicht zum Frühstücken gekommen, hatte hungrig in den zwei Stunden Matheunterricht gesessen und Gordon musste in der Pause ausgerechnet vor ihrer Nase herumrennen. Er hatte sein Mathebuch im Klassenraum liegenlassen, sein verdammtes Mathebuch. Ada hatte sich nicht beherrschen können, die einzelnen Blitze in ihrem Hirn hatten vor lauter Hunger und Gerenne einen Gewittersturm erzeugt – sie war ihm plötzlich nachgerannt, schneller als er, und dann hatte sie ihn zu Boden geworfen und sich so fest in seinem Nacken verbissen, dass er blutete.
Gordon hatte geschrien, und natürlich hatten alle im Raum sofort auf sie gestarrt und ihre Essenstabletts fallengelassen. Aber Ada war unfähig gewesen, sich von ihm zu lösen. Die ganze Welt schrumpfte zu einem schmalen Tunnel zusammen, in dem nur noch Platz für Gordon und sie war. Sein entsetztes Geschrei und Gezappel machte sie nur noch wilder und hatte sogar ihren Speichelfluss angeregt. Für einen Augenblick war Gordon ihre Beute gewesen, dazu bestimmt, ihren leeren Magen zu füllen.
Ada erinnerte sich nicht mehr daran, wie die Situation ausgegangen war. Sie hatte sich das Hirn zermartert auf der Suche nach irgendeiner Erinnerung, von der sie wusste, dass sie da sein musste. Stattdessen fand sie nur zusammenhanglose Fetzen; die entsetzten Gesichter von Jennifer und Elizabeth; der fassungslose Ausdruck von Miss Hemsworth, die der Ohnmacht nahe schien. Der angeekelte Blick in den Augen von Brian, dem Footballspieler, der plötzlich gar nicht mehr so tough aussah wie sonst. Dann weitere Gesichter, von Lehrern und Schülern, älter und jünger als sie, die ineinander überzugehen schienen. Entsetzen, Fassungslosigkeit, Abscheu, Angst. Das Erste, an das sie sich wieder ganz klar erinnern konnte, war das erschütterte Wort aus dem Mund eines Schülers, den sie nicht sah, sondern nur hörte: »Drache!«
Dann gab es furchtbares Geschrei, in welchem Ada von irgendjemandem gepackt und weggezogen wurde. Sie blickte auf Gordons blutigen Nacken, der sich aufrappelte, und bemerkte den metallischen Geschmack auf ihrer Zunge. Ruhe kehrte ein, als sich plötzlich die Tür zum nächstbesten Raum hinter ihr schloss, in dem sie allein zurückblieb.
Ada atmete tief durch, sowohl ihr vergangenes Ich als auch ihr gegenwärtiges. Sie war plötzlich wieder im Wald und stand vor einer Grotte, umgeben von hohen Sträuchern und Bäumen. Der Boden wirkte trocken und steinig und bot ihr ein annehmbares Versteck, auch wenn es sie davor graute, die Nacht hier draußen verbringen zu müssen. Auch egal, das ist besser, als geschnappt zu werden.
Sie schob sich hinein, stellte fest, dass das Innere größer war als es von außen den Anschein hatte, und verbarg sich vor den Augen ungebetener Gäste.
Der Strudel aus Erinnerungen und Emotionen entwirrte sich, sowie sie sich sicher und unbeobachtet fühlte, und ließ den ersten klaren Gedanken zu, seit sie aus der Schule getürmt war: Sue. Und dann: Lance.
Ada hatte Sue nicht auf ihrem Platz im Pausenraum gesehen, wusste nicht einmal, ob sie heute überhaupt in der Schule gewesen war. Vielleicht war sie ja krank und hatte nichts von all dem mitbekommen. Aber Ada verwarf den Gedanken sofort wieder. Die Nachricht würde sich in ihrer Kleinstadt ganz gewiss ausbreiten wie ein Lauffeuer.
Ada Grayson, der Drache. Das ist doch völlig verrückt…
Wie konnte irgendjemand allen Ernstes glauben, dass sie ein Drache war? Ja, sie liebte Fleisch, auch rohes, sehr sogar, und sie hatte das Bedürfnis, ihren rennenden Mitschülern hinterherzujagen, aber das allein bedeutete doch noch gar nichts.
Oder?
Andererseits: Wie konnte ein vernunftbegabter Mensch glauben, dass Lance ein Drache war? Trotzdem hatten sie ihn weggeholt, aus ihrem Leben herausgerissen und an einen unbekannten Ort gebracht. Ihren besten Freund neben Sue, der beinahe wie der Bruder war, den Ada nie gehabt hatte.
Wut und Trauer ergriffen sie bei der Erinnerung. Sie hatte sich vor der Sache mit ihm nie wirklich mit dem Thema Drachen befasst. Diese gehörten in den Geschichtsunterricht, der sogar noch langweiliger war als Mathe. Drachen waren Menschen, so hieß es jedenfalls, mit dem Unterschied, dass sie die Gestalt einer großen, schuppigen Bestie annehmen konnten – und das ohne es zu wollen oder kontrollieren zu können. Im Mittelalter existierten ganze Clans von Drachen, die die Dörfer und Städte Europas terrorisierten, und Drachentöter hatten sie zu abertausenden hingeschlachtet, mal, um die Menschen zu schützen, mal, um Ruhm und Ehre zu erlangen und mal, weil sie glaubten, Drachen seien die Brut des Teufels, die im Namen Gottes vernichtet werden musste. Es gab Hexenverbrennungen von Frauen, die im Verdacht standen, mit Drachen im Bunde zu sein, und Enthauptungen von Männern, die angeblich unschuldige Menschen mittels schwarzer Magie in Drachen verwandeln konnten. Noch heute war sich die christliche Gemeinschaft nicht einig, ob Drachen nun Menschen waren oder nicht. Und wenn sie keine waren, was waren sie dann? Dämonen? Monster? Auch, wenn ihre Tötung in den meisten Teilen der Welt mittlerweile verboten war, wusste man noch immer nicht, wie man mit ihnen umgehen sollte. Drachenblütigen wurde der Zutritt zu christlichen Gotteshäusern oft verweigert, und erst kürzlich war irgendwo ein Priester in die Schlagzeilen geraten, weil er beinahe die dreizehnjährige Tochter einer Familie bei einer Dämonenaustreibung getötet hätte – sie alle glaubten, das Mädchen trüge den Drachen in sich.
Die Meinungen zu Drachen gingen auch auf der weltlichen Seite auseinander. Manche sagten, es war schon damals ganz und gar falsch, Drachen einfach zu töten, ganz egal, ob sie Menschen getötet hatten oder nicht. Andere beharrten darauf, dass Drachen gefährlich waren und die Menschheit bedrohten, solange sie existierten. Und dann gab es noch jene, die hofften, alle Drachen würden eines Tages einfach aussterben durch das konsequente Wegsperren von Blütigen in Reservate fernab der Zivilisation. Zumindest das würde vermutlich nie eintreten: Drachen hatten nicht zuletzt deshalb bis in die heutige Zeit hinein überlebt, weil die Gene mehrere Generationen überspringen konnten, bevor sich ein Wandler zeigte, vor allem dann, wenn sich gewöhnliche Menschen in den Stammbaum mischten. Es konnten viele unauffällige Generationen kommen und gehen, bevor einer auftauchte, der zum Drachen wurde.
Lance war einer von jenen, die Zeichen der Drachenblütigkeit aufwiesen, als einziger in seiner Familie. Auf keinen Fall aber würde er jemals zu einem Drachen werden, das wusste Ada. Der schüchterne, unsichere Lance, der früher so oft geweint hatte, konnte unmöglich ein solches Monster sein. Er war zu unrecht eingesperrt worden, während die Autoritäten darauf warteten, dass er sich verwandelte. Wenn sie dann irgendwann merkten, dass sie einen Fehler begangen hatten, würde Lance freikommen in eine ungewisse Zukunft, ohne Schulabschluss und Ausbildung, um am Rand der Gesellschaft vor sich hin zu vegetieren. Es war ein furchtbares Los, egal, wie es ausging. Das Leben war danach verwirkt.
Ada wusste nicht einmal, wohin sie ihn gebracht hatten. Sie hoffte einfach, dass er an einen halbwegs guten Ort gekommen war, wo die echten Wandler von den harmlosen Blütigen getrennt wurden. Diese Reservate gab es überall in den Vereinigten Staaten. Drachenblütige wurden dort eingesperrt, bis sie alt genug waren, um sicher ausschließen zu können, dass sie Drachengestalt annahmen und der Bevölkerung gefährlich wurden. Aber niemand wusste, ob die, die nicht zurückkehrten, wirklich weiter in den Reservaten lebten. Man sagte, in anderen Ländern, insbesondere Asien, herrsche reger Handel mit Körperteilen von Drachen: Schuppen, Knochen, Zähne, sogar ganze Organe wie das Herz. Aus ihnen konnten angeblich traditionelle Arzneimittel oder Schnaps hergestellt werden, welche Heilkräfte besaßen. Auch Sues Vater hatte davon gesprochen und gemeint, dass man schon sehr naiv sein müsste zu glauben, Drachen würden auf Kosten des Staates ihr Leben lang in den Reservaten durchgefüttert werden, bis sie irgendwann im hohen Alter starben – zumal die Reservate auch irgendwann voll wären. Das klang ganz schlüssig, wie Ada zugeben musste. Sie war damals erst sieben Jahre alt gewesen und hatte tatsächlich geglaubt, Drachen würden frei in den Reservaten leben, so, wie man es ihnen in der Schule erklärte, aber sie hatte es natürlich nicht zugegeben vor Mr. Lincoln – sie wollte nicht naiv sein, was auch immer das bedeutete. Es klang zumindest wie etwas, die man lieber nicht sein wollte.
Jetzt, da sie in der kühlen Grotte mitten im Wald saß, empfand Ada eine irrationale Wut auf Mr. Lincoln und hoffte inständig, er würde doch unrecht haben. Sie wollte nicht in so einem Reservat verschwinden. Niemand sollte das.
Ihre Schule hatte zweifellos längst die Behörden informiert, die für Drachenangelegenheiten zuständig waren. Diese würden zu ihrem Elternhaus fahren, ihre Mutter und die Lehrer befragen, wohin sie geflüchtet sein könnte. Und dann würden sie nach ihr suchen, um sie ebenfalls einzusperren.
Ich bin kein Drache. Ich kann keine Drachengestalt annehmen. Niemand in meiner Familie kann oder konnte das.
Sie versuchte, gedanklich ihren Stammbaum zu rekonstruieren. Die erste Generation waren ihre Eltern, die zweite ihre Großeltern – da stockte sie schon. Ihre Großeltern waren gestorben, als sie noch klein war. Sie hatte sie nie wirklich gekannt, geschweigedenn die dritte und vierte oder fünfte Generation vor ihnen. Was, wenn ihre Großeltern, Urgroßeltern oder Ururgroßeltern wirklich Drachen gewesen waren? Oder vielleicht ihr früh verstorbener Vater, über den ihre Mutter nie sprach? Aber hätte ihre Mutter es ihr nicht gesagt, wenn irgendjemand in ihrer Familie ein Drache gewesen wäre? Dann fiel ihr ein, dass jeder von ihnen blütig gewesen sein könnte, ohne es selbst zu wissen.
Vor dem Reservat würde sie ein makelloser Stammbaum gewiss auch nicht retten. Erst, wenn sie dreißig Jahre alt wurde, ohne sich verwandelt zu haben, würde sie in die Gesellschaft zurückkehren können. Das war noch einmal so lange, wie sie bisher gelebt hatte. So lange konnte sich nicht einmal Ada Grayson im Wald in einer Grotte verstecken.
Wenn ich wirklich ein Drache wäre, dann könnte ich im Wald leben, dachte sie, und für einen Moment gab sie sich wilden Ideen hin. Sie richtete sich auf und versuchte, sich Kraft ihrer Gedanken Flügel wachsen zu lassen, sich lebhaft vorzustellen, wie sie aus ihrem Rücken aufstiegen, lange, ledrige Schwingen, fähig, sie in die Lüfte zu tragen, fort von denen, die sie einfangen wollten, vielleicht in ein einsames Gebirge. Doch natürlich passierte nichts. Es war seltsam und absurd, sich vorzustellen, einfach eine andere Gestalt anzunehmen als die, die man schon immer gehabt hatte.
Ada überlegte. Sie konnte vielleicht auf der Straße leben. Viele Jugendliche waren Straßenkinder, ob nun drachenblütig oder einfach so abgehauen. Bestimmt würde sie sich irgendwie durchschlagen können, und vielleicht war das ja sogar ganz cool, so ein Leben ohne Erwachsene. Allerdings brauchte sie dazu erst etwas Zuessen, woran sie ihr knurrender Magen unweigerlich erinnerte.
Essen. Ich muss etwas essen.
Sue hatte den bisherigen Tag im Bett verbracht, ehe sie trotz ihres übel verstauchten Knöchels aufsprang, als sie über Social Medin von den jüngsten Ereignissen in ihrer Schule erfuhr. Da ist man einmal nicht da und die ganze Welt dreht durch.
Ihre Mutter war noch an der Arbeit, ihr Vater saß unten in seinem Büro beim Home Office. Sie humpelte die Treppe hinunter und riss die Tür auf. »Dad! Ada ist aus der Schule geflüchtet! Jen hat gerade geschrieben, sie hätte Gordon attackiert und blutig gebissen. Jetzt glauben alle, dass sie ein Drache ist!«
»Was?« Ihr Vater nahm die Brille ab, die er stets zum Schreiben trug, und drückte seinen Drehstuhl vom Tisch weg. »Wo ist sie jetzt?«
»Keiner hat sie seit dem Vorfall gesehen, aber die Schule hat die Behörden eingeschaltet. Ich schätze, sie suchen bereits nach ihr.« Sue war völlig außer sich, fühlte sich hilflos und verzweifelt. Was, wenn sie sie fanden?
Ihr Dad rieb sich übers Gesicht. »Hast du sie schon angerufen?«
»Sie geht nicht ran und reagiert nicht auf Nachrichten. Sicher hat sie das Handy weggeworfen, um nicht geortet zu werden.«
»Vermutlich. Allerdings können wir nichts für sie tun, wenn wir nicht wissen, wo sie ist.«
»Vielleicht kommt sie ja hier her«, meinte Sue nach einem Augenblick und warf ihrem Vater dabei einen verstohlenen Blick zu. Wie würde er reagieren, wenn ein gesuchter mutmaßlicher Drachenwandler bei ihnen auftauchte? Sie wusste es nicht, obwohl sie ihren Vater gut kannte.
»Glaubst du das?«, fragte er völlig neutral, als würden sie sich über etwas so Triviales wie das Wetter unterhalten.
»Ich bin Adas beste Freundin. Wohin sollte sie sonst gehen?«
»Zu ihrer Mutter«, erwiderte ihr Dad, aber er klang selbst nicht überzeugt davon.
»Du weißt, was sie damals mit Lance gemacht hat«, gab Sue zu bedenken, und ihr Vater schwieg, sah sie einfach nur an. Jeder wusste es, aber niemand sprach darüber. So, wie man üblicherweise auch nicht über Drachen sprach.
Lance Carmichael war wie ein Bruder für Ada gewesen. Sie waren zusammen aufgewachsen, seit Ada fünf und Lance sieben Jahre alt waren. Er hatte in der Nachbarschaft gewohnt, das einzige und ungewollte Kind seiner alleinerziehenden, überforderten, alkoholabhängigen Mutter. Wann immer sie sich betrank, war Lance zu Ada und ihrer Mutter gekommen, hatte bei ihnen geschlafen und etwas Zuessen bekommen, ganz selbstverständlich, als ob er zu ihrer Familie gehörte. Sie hatten für ihn sogar Schulutensilien gekauft und waren mit ihm zum Arzt gegangen. Mrs. Grayson hatte stets Mitleid mit dem alleingelassenen Jungen gehabt. Aus irgendeinem Grund war es nie dazu gekommen, dass man ihn seiner leiblichen Mutter wegnahm. Vielleicht hatte Lance das nicht gewollt und versucht, die Vernachlässigung zu verheimlichen. Kinder hingen oft unerklärlicherweise an ihren Eltern, selbst wenn diese es nicht gut mit ihnen meinten.
Er war vierzehn, als es schließlich geschah. Bei der Schuluntersuchung hatte er die Ärztin gebissen, vorgeblich, weil diese eine frische Wunde an der Hand gehabt hatte. Die Schüler dagegen hatten getuschelt, dass die Frau ihre Periode hatte und Lance das Blut roch. Der Bursche besaß eine ausgesprochen beunruhigende Affinität zu Blut: Wann immer seine Mutter eins ihrer Hühner schlachtete, fing er an zu geifern. Wie alles andere auch, was ihren Sohn betraf, hatte sie das nie wirklich interessiert. Wenn er sich dagegen an dem rohen Fleisch vergriff, prügelte sie ihn, und zwar heftig. Lance hatte irgendwann angefangen, sich selbst zu beißen und seine Gelüste zu verheimlichen. Aber das sorgte bekanntermaßen nicht dafür, dass sie verschwanden.
Der Auftritt bei der Schuluntersuchung hatte Lance’ Schicksal schließlich besiegelt: Die Schule wollte ihn noch vor Ort durch die Behörden abholen lassen. Ada war zusammen mit ihm Nachhause geflüchtet, sie hatten sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, verzweifelt und überfordert mit der Frage, was sie jetzt tun sollten. Dann hatte Ada ihre Mutter angerufen, die bestimmt wusste, was zu tun war. Aber statt ihnen zu helfen, hatte sie Lance ausgeliefert.
Sue war sich bis heute nicht sicher, ob Ada zu recht wütend auf ihre Mutter sein durfte. Lance stellte vielleicht wirklich eine Gefahr dar, wo er sich doch nicht unter Kontrolle hatte, und er hätte sich immerhin nicht ewig in ihrem Zimmer verstecken können. Zudem schien Ada zu dem Zeitpunkt völlig zu verdrängen, dass Lance wirklich ein Drache sein könnte. Und Drachen frei herumlaufen zu lassen ging ja nun wirklich nicht. Sie selbst hatte es erst auch nicht glauben wollen, dass Lance ein Drachenwandler sein sollte – aber wer konnte das schon so genau sagen?
Andererseits hätte es vielleicht mehr Möglichkeiten gegeben. Sue wusste, dass in Kanada weniger strikte Maßnahmen gegen Drachenblütige und sogar Wandler verhängt wurden. Vielleicht hätten sie Lance zur Flucht über die Grenze verhelfen können. Aber Adas Mutter war mit der Situation wohl nicht weniger überfordert gewesen. Vermutlich hatte sie keinen Ausweg gesehen und die Konsequenzen einer Beihilfe zur Flucht gefürchtet. Oder sie hatte wirklich geglaubt, das Richtige zu tun.
Nun war Lance schon seit drei Jahren fort, verschluckt von irgendeinem Reservat im Nirgendwo, und niemand wusste, wie es ihm seit her ergangen war oder ob er überhaupt noch lebte.
Sue wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es plötzlich an der Tür klopfte – klopfte, nicht klingelte, und zwar an der Hintertür. Sie war trotz ihrer Verletzung schneller als ihr Vater, öffnete und stand unvermittelt Ada gegenüber.
»Sue! Du musst mir helfen! Ich… ich…!«, begann sie aufgewühlt, schrie dabei fast.
Ihre Freundin zog sie bereits nach drinnen, bevor sie jemand sah oder hörte. »Ada! Ich weiß, ich weiß!«, unterbrach sie sie hektisch, und Ada verstummte, als Mr. Lincoln an sie beide herantrat.
»Kind, ist es wahr? Hast du diesen Jungen… gebissen?«
Ada leckte sich über die Lippen, nickte und sah dabei aus, als wolle sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. So verletzlich hatte Sue sie schon lange nicht mehr gesehen – zuletzt, als sie Lance weggebracht hatten.
»Verdammt, ich wollte das doch nicht! Es… ist einfach passiert!«, platzte es aus ihr heraus. »Ich hatte solchen Hunger!«
»Gütiger…« Mr. Lincoln rieb sich mit der Hand übers Gesicht. So verunsichert hatte Sue ihren Vater noch nie erlebt, und das machte ihr noch mehr Angst, als sie ohnehin schon hatte. Es machte ihr bewusst, wie schlecht es um Ada stand.
»Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«, fragte er Ada nach einem Moment.
»Natürlich nicht! Die würde mich doch sofort den Behörden übergeben!«
»Sie ist deine Mutter«, erwiderte Mr. Lincoln und sah sie ernst an. »Auch, wenn ihr eure Differenzen habt, die völlig normal in deinem Alter sind…«
»Sie hat Lance wegbringen lassen!«, schrie Ada völlig verzweifelt. »Sie haben selbst gesagt, wie in den Reservaten mit Drachen umgegangen wird! Wer weiß, was sie mit Lance getan haben! Und was sie mit mir tun, wenn sie mich schnappen!« Nun brach Ada tatsächlich in Tränen aus – all die Emotionen, Wut, Angst und Verzweiflung, gemischt mit dem üblichen Cocktail an Hormonen, brachen aus ihr heraus wie eine unaufhaltsame Flutwelle.
Mr. Lincoln war da, um sie zu stützen, und er begleitete beide Mädchen nach oben ins Wohnzimmer, wo sie sich alle drei auf die Couch setzten. »Ruhig, Liebes. Wir wissen nicht, was mit Lance geschehen ist. Er wäre… ich meine, er ist jetzt wie alt? Siebzehn? Ja, siebzehn. Vielleicht hat er noch keine Gestalt angenommen und kommt wieder frei.«
In dreizehn Jahren, wenn ihn hier niemand mehr kennt und er keine Zukunft mehr hat, dachte Sue unweigerlich.
Es waren leere Worte, und das machte sie selbst wütend. Wenn es jemals einen Jugendlichen in ihrem Ort gegeben hatte, der sich wirklich auffällig drachenhaft verhielt, dann war es wohl Lance, so schwer es ihr auch fiel, das zuzugeben. Wer sollte zum Leibwechsler werden wenn nicht er? Und in der Pubertät verwandelten sich immerhin bis zu fünfundsiebzig Prozent aller Drachen.
Jetzt sollte das, was ihm widerfahren war, auch Ada zustoßen? Ihrer Kindheitsfreundin, die immer mit ihr gespielt hatte? Das konnte sie nicht zulassen. Sie würde es nicht zulassen.
»Du bleibst erst einmal hier, bis uns etwas eingefallen ist. Bestimmt hast du Hunger«, sagte Mr. Lincoln, und Sue liebte ihren Vater dafür, ihnen beizustehen. Es war alles, was sie im Moment für sie tun konnten. Tatsächlich hatte Sue keine Ahnung, wie sie sie den Behörden vorenthalten sollte. Sie würden in der ganzen Nachbarschaft nach ihr suchen, bei all ihren Klassenkameraden und Lehrern. Aber anfangen würden sie gewiss bei ihrer Mutter, und diese wusste glücklicherweise nichts von ihrem derzeitigen Aufenthaltsort. Auch sie konnten einfach so tun, als wüssten sie von nichts, wenn sie zu ihnen kamen. Und dann mussten sie abwarten, bis die Behörden die Suche auf die weitere Umgebung ausweiteten.
Sue brachte Ada die Reste ihres Mittagessens: Nudeln in Tomatensauce ohne Fleischeinlage. Ada war so hungrig, dass sie alles hinunterschlang, ohne zu zögern. Sue entging nicht das leise Knurren, das dabei aus ihrem Körperinnern heraufwallte und leicht für Magenknurren gehalten werden konnte. Man hörte es nur, wenn man genau darauf achtete. Sue schluckte schwer. Mit einem Mal fragte sie sich beklommen, was sie tun sollten, wenn Ada wirklich zum Drachen wurde. Mitten in ihrem Haus. Würde sie ihre Freundin noch erkennen? Oder sie für den Nachtisch halten?
Sue hatte sich seit dem Vorfall mit Lance auch abseits der Schule ein bisschen mit Drachen beschäftigt. So wie die meisten Menschen hatte sie noch nie einen echten gesehen. Die Wandler blieben weiterhin Menschen, irgendwo tief in ihrem Innern, und sie konnten auch wieder Menschengestalt annehmen, aber in ihrer Drachengestalt verloren sie die Fähigkeit zu sprechen und zu denken. Es war umstritten, ob sie sich in diesem Zustand überhaupt noch ans Menschsein erinnerten oder voll und ganz zur wilden Bestie mutierten, die alles angriff, was sich bewegte. Sie erinnerte sich unweigerlich an den Spruch, der in ihrer Kirche direkt über dem Altar zu lesen war: »Der Drache ist die personifizierte Erbsünde, ein gottloses und menschenfeindliches Ungeheuer, der Verschlinger der Welt und Diener des Teufels.« Die Rückverwandlung zu einem Menschen setzte ebenso unwillkürlich ein wie die Verwandlung zum Drachen und ließ den menschlichen Körper nackt und ohne Erinnerung an alles, was dazwischen lag, zurück. Der eigentliche Prozess, über den nicht viel in Erfahrung zu bringen war, war Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, faszinierend und verstörend zugleich.
Sue bemerkte, dass Ada ihr Mahl beendet hatte und sie anstarrte. Damit kehrten ihre Gedanken in die Realität zurück. »Was soll ich jetzt tun?«, fragte Ada und klang so kindlich, dass Sue alle Furcht verwarf, die plötzlich über sie gekommen war.
»Ich weiß es nicht, Ada. Du bleibst heute Nacht erst einmal hier, und dann… sehen wir weiter.«
»Gibt es keinen Ort, zu dem ich gehen und bleiben könnte? Irgendeine… Absteige?«, fragte sie.
»Was meinst du damit?«
»Ich weiß auch nicht… könnte ich nicht einfach auf der Straße leben? Mich irgendwie allein durchschlagen? Wir haben in der Schule doch mal so einen Film gesehen: In Nepal leben Kinder auf den Straßen und keinen interessiert es. Vielleicht könnte ich auch in so einem baufälligen Hochhaus wohnen. Wer würde mich dort schon finden? Ich brauche nur Hilfe dabei, an so einen Ort zu kommen.«
Sue schüttelte den Kopf. »Was soll das für ein Leben sein? Verwahrlost in einem Hochhaus… was tust du im Winter?«
Ada stützte das Gesicht in die Handfläche. »Ich weiß es doch auch nicht! Ich weiß nur eins: Dass ich auf keinen Fall in so ein Reservat gehe. Auf gar keinen Fall! Lieber sterbe ich!«
Sue schluckte, dann sagte sie aus voller Überzeugung: »Wir finden eine Lösung. Das verspreche ich dir.« Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie diese aussehen sollte.
Hannah Grayson zitterte, als es schließlich an der Tür klingelte.
Sie hatte die Behörden erwartet, nicht erst, nachdem die Schule angerufen und sie über den Vorfall mit Ada in Kenntnis gesetzt hatte. Schon lange vermutete sie es, lebte in ständiger Angst davor, dass es jeden Tag so weit sein konnte. Trotzdem erschrak sie nun, als der Moment gekommen war, fühlte sich völlig unvorbereitet, und war zum wohl ersten Mal in ihrem Leben glücklich darüber, nicht zu wissen, wo Ada steckte. Lauf, dachte sie grimmig und unterdrückte ein Schluchzen, lauf weg und versteck dich. Komm nicht raus, zeig dich niemandem.
Ada hätte wohl eher geglaubt, dass ihre Mutter eine vom Himmel herabgestiegene Gottheit in Menschengestalt war, als dass sie auf ihrer Seite stand, und genau diese Gewissheit schmerzte Hannah. So sollte es nicht sein zwischen Mutter und Kind. Wann hatte sie sie verloren?
Du weißt genau wann und wie, schalt sie sich selbst und schluckte schwer.
Der Gang zur Tür kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Ihre Gedanken rasten, probten alle möglichen Schreckensszenarien durch, wie die Begegnung ablaufen und was sie sagen würde. So wie damals, als sie Lance holten. Sie erinnerte sich unweigerlich daran, was für ein niedlicher, unschuldiger Junge er gewesen war. Wie er ihr einmal Blumen gebracht hatte und sich freute, wenn er umarmt wurde. Wie er sie anlächelte. Wie er weinte und sich schutzsuchend an sie schmiegte. Seine eigene Mutter hatte ihm nie die Zuwendung geschenkt, die er gebraucht hätte.
Und dann war ausgerechnet sie es gewesen, die ihn ausgeliefert hatte. Weil sie glaubte, das Richtige zu tun. Sie hatte ihn verraten. Das durfte kein zweites Mal geschehen. Sie würde Ada beschützen, ganz gleich, was es sie kostete. Niemand würde ihr ihre Tochter wegnehmen. Ich hasse mich selbst für das, was ich getan habe, Ada. Ich würde es rückgängig machen, wenn ich könnte. Wir würden Lance irgendwo verstecken, den Behörden sagen, dass er in die Wälder geflüchtet ist.
Hannah öffnete nicht, sondern fragte an der Freisprechanlage: »Wer ist da?« Ihre Stimme klang fest, und das verlieh ihr unverhoffte Kraft.
»Guten Tag, Mrs. Grayson. Ich wurde von der Behörde für Drachenangelegenheiten zu Ihnen geschickt«, meldete sich eine männliche Stimme, erstickend freundlich. Hannah kam die Galle hoch.
»Und was wollen Sie? Ich bin beschäftigt.«
»Ich denke Sie wissen, was ich will.« Fast war Hannah, als könne sie das Lächeln dieses Mistkerls durch die Freisprechanlage hindurch sehen. »Die Drachenbehörde klingelt nur aus einem Grund bei Anwohnern: Wenn es um Drachen geht.«
»Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.«
»Deshalb stehe ja auch ich hier und nicht die Polizei. Sie werden sich freuen, mich zu sehen. Hoffe ich zumindest.«
Das verwunderte sie nun doch. Seit wann hatten die Behördenmitarbeiter Humor? Und warum kam ihr diese Stimme so vage bekannt vor?
»Hören Sie, ich habe keine Zeit für ein Gespräch mit den Behörden. Versuchen Sie es morgen noch einmal, so gegen vier Uhr nachmittags.« Das sollte ihr ausreichend Zeit verschaffen, nach einer Lösung zu suchen – und nach Ada.
»Und wie wäre es mit einem Gespräch zwischen Familienmitgliedern? Hast du dafür Zeit?«
Nun hielt sie inne, schaltete die Freisprechanlage aus und öffnete die Tür.
Hannah blinzelte verblüfft. Konnte dieser absolut gewöhnlich aussehende, dunkelhaarige Mann mit den runden Brillengläsern wirklich der sein, für den sie ihn hielt? »Hank? Bist du das?«
Er lächelte äußerst einnehmend. »Hannah Grayson. Es ist so schön, dich wiederzusehen.«
»Hank!« Sie fiel ihm um den Hals, während ihr tausend Fragen gleichzeitig durch den Kopf schossen. Sie alle verbanden sich zu einem einzigen atemlosen Wort: »Wie?«
»Ein Drache in dieser Gegend und dann fiel auch noch der Name Grayson. Wie hätte ich da zögern können?«
Sie ließ von ihm ab, um ihn anzusehen. »Hank, ich… ich weiß nicht, was ich tun soll…!« Nun kam doch das Schluchzen aus ihr heraus, das sie seit dem Klingeln unterdrückt hatte.
»Hey«, er hob ihr Kinn mit dem Finger an und blickte ihr in die Augen, welche sich mit Tränen füllten. »Dafür bin ich ja jetzt da, und ich habe dir sogar noch jemanden mitgebracht.« Ein zweiter Mann stieg aus dem grünen Geländewagen ohne Schriftzug, der vor dem Haus parkte. Sie erkannte den dunkelhäutigen jungen Burschen nicht, bis er nähergekommen war und schließlich direkt vor ihr stand. Ein schüchternes »Hallo, Mrs. Grayson« kam über seine Lippen – und nun brach sie endgültig in Tränen aus.
»… Lance!«
*
»Ich tue jetzt mal so, als würde ich dich streng darüber ausfragen, wo deine Tochter abgeblieben ist«, begann Hank gelassen, derweil er sich auf der Couch zurücklehnte. Lance trank von dem Kakao, den Hannah ihm gemacht hatte – er mochte ihn immernoch so gern wie früher.
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht. Sie ist aus der Schule geflüchtet und seitdem nicht mehr aufgetaucht, das ist mein letzter Stand. Zu mir wird sie wohl auch nicht kommen. Sie hat mir nie verziehen, was ich damals getan habe.« Ihre Augen fielen auf Lance, der den Blick verwirrt erwiderte.
»Hm?«
»Dass ich dich den Behörden übergeben habe«, sagte sie leise. »Ich habe es so sehr bereut… ich dachte… manchmal dachte ich… vielleicht…«
Lance wirkte immer verwirrter. »Was dachten Sie?«
»Dass wir schlimme Dinge mit dir tun«, kam Hank ihr zuvor und trank von seinem Tee. »Es tut mir sehr Leid, dass du so lange in dieser Angst leben musstest. Ich habe dir geschrieben, aber anscheinend wurde der Brief nicht zugestellt. Das passiert immer wieder, ich habe den Grund nicht eruieren können, gehe aber von Vorsatz aus. Man will die Kommunikation mit den Reservaten unterbinden, denn Briefe, die ans Reservat adressiert sind und von der Drachenbehörde stammen, kommen immer an.«
»Warum sollten sie schlimme Dinge mit mir tun? Was für schlimme Dinge?«, hakte Lance nach.
Seine Naivität ließ ihr das Herz noch schwerer werden.
»Es herrscht vielerorts der Glaube, in allen Reservaten würde es brutal zugehen«, erklärte Hank. »Deshalb hat wohl auch Ada Angst davor, gefunden und dorthin gebracht zu werden.«
»Also ich finde es sehr schön«, versicherte Lance. »Ich liebe die Berge und Wälder. Dort fühle ich mich richtig frei, anders als hier, wo alles so… beengt ist. Auch wenn ich natürlich die meiste Zeit über studieren muss.«
»Du studierst?«, fragte Hannah ungläubig. »Im Reservat?«
»Wir haben keine Hochschulen, aber Fachlektüre über so ziemlich alles, was die Schüler interessiert. Bildung darf schließlich nicht zu kurz kommen, sie sind ja eine lange Zeit bei uns, manche ihr Leben lang. Und gerade Drachen lieben es zu lernen. Ihr Geist muss ebenso gefordert werden wie ihr Körper«, sagte Hank. Hannah erinnerte sich, dass das Reservat inmitten der Great Smoky Mountains lag. Endlose Wälder und Berge, Flüsse zum Baden und Tiere zum Jagen. Es war der perfekte Ort für Drachen, sie entwickelten sich prächtig in dieser Umgebung. So hatte es ihr zumindest Samuel beschrieben, Adas Vater. Der Mann, den sie nie kennengelernt hatte und über den Hannah niemals sprach. »Ada wird es an nichts fehlen. Ich würde nicht immer noch dort sein, wenn es mir nicht gefiele«, erwiderte Hank.
Hannah zögerte. »Warum erzählt man sich dann diese Dinge über die Reservate?«
Hank zuckte mit den Schultern. »Die Leute erzählen sich über alles mögliche schreckliche Dinge. Die größte Angst des Menschen ist die Angst vor dem Unbekannten, und kaum jemand weiß, wie es in den Reservaten zugeht, weil sie von der Öffentlichkeit abgeschottet sind.«
»Und du glaubst, das ist das Richtige für Ada?«, fragte sie.
»Ja.«
»Gib mir keine einsilbige Antwort!«, fauchte Hannah und ließ ihn damit überrascht aufsehen. »Du verlangst von mir, dass ich mein einziges Kind weggebe, ins Ungewisse, vielleicht für immer! Was geschieht dort mit ihr?«
Hank sammelte sich für die Antwort. »Sie wird einer privaten Unterkunft zugeteilt, in die sie sich zurückziehen und die sie nach Belieben einrichten kann. Die Schlafplätze teilen sich mehrere Drachen – erfahrungsgemäß schlafen sie in Gesellschaft am Besten. Sie kann an gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen oder sich eigenständig versorgen, denn es gibt einzelgängerische Exemplare, auch wenn die meisten sehr sozial sind. Sie wird in ihrem Alter noch unterrichtet, später wird sie dabei helfen, die Gemeinschaft zu unterhalten. Diesen Auftrag übernehmen die erwachsenen Drachen gemeinsam. Eine angemessene medizinische Versorgung wird selbstredend auch sichergestellt.«
»Kann ich sie dort besuchen?«, stellte Hannah schließlich die Frage, die sie am Meisten umtrieb.
»Ich werde dich so gut es geht auf dem Laufenden halten. Mittlerweile haben wir Satellitentelefone und Satelliteninternet, auch, wenn es nicht immer funktioniert.«
Hannah zögerte, einen Stein im Magen fühlend. Hank beugte sich vor. »Kannst du uns zumindest einen Anhaltspunkt geben, wo sie sein könnte?«
»Vielleicht, nur vielleicht, bei Sue, ihrer Freundin.«
Hank nickte, und Lance erhob sich mit ihm. »Dann sehen wir zuerst dort nach.«
Eris atmete tief durch, als er seinen Laptop an diesem Abend zuklappte. Er war sich sicher, an alles gedacht zu haben – bis auf den Teil von ihm, der davon überzeugt war, dass er etwas übersehen hatte. Wahrscheinlich das Wichtigste. Aber es hatte keinen Sinn, seine Reisetasche noch ein weiteres Mal durchzugehen – ihr Inhalt würde sich genauso wenig verändert haben wie beim vorangegangenen Mal.
Eris überlegte, was er bis zur Abreise tun sollte. Am Besten die letzten Stunden genießen, all die Dinge tun, die er vielleicht nie wieder tun konnte – immerhin würde er frühestens im Alter von dreißig Jahren zurückkommen, und bis dahin würde sich einfach alles verändert haben. Vermutlich gab es bis dahin sein Zimmer überhaupt nicht mehr. Ein flaues Gefühl breitete sich bei dem Gedanken in seinem Magen aus, und er lenkte sich sofort damit ab zu überlegen, was ihm Spaß machte. Aber an diesem Abend gab es nichts, worauf er Lust hatte. Das war… gut so, oder? Dann würde er zumindest nichts vermissen.
Sollte er einfach schon schlafen gehen? Sich noch mehr informieren? Damit er sich nicht dem Vorwurf aussetzte, zu wenig recherchiert zu haben? Aber den Laptop hatte er gerade ausgeschaltet. Er kam zum Schluss, dass er am Liebsten allein sein wollte, und so zog er sich auf sein Bett zurück und hüllte sich in die Decken, genoss ihre Wärme und den kuscheligen Stoff, ehe er sich fragte, ob er diese Empfindung zulassen sollte. Seinen Kuschelfisch hatte er immerhin längst unters Bett verbannt, obwohl er ihn erst wegwerfen wollte, aber das hatte er dann doch nicht über sich gebracht. Kuscheltiere waren was für kleine Kinder, und er war jetzt ein Mann. Immerhin würde er morgen von Zuhause ausziehen, und das war es doch, was Erwachsene taten.
Eris war von seinen Gefühlen noch niemals so hin- und hergerissen gewesen wie jetzt. Das galt wohl auch für seine Eltern, die sich zum ersten Mal nicht um alles und nichts stritten, sondern zusammensaßen, beide im gleichen Maße fassungslos vom Vorhaben ihres Sohnes. Das hatte ihm gefallen. Eris hatte immer das Gefühl gehabt, dass vorallem sein Vater sich für ihn schämte. Er war fünfzehn und hatte immer noch diesen Kuschelfisch, wollte immer noch im Arm seiner Mutter liegen und spielte immer noch gern die Spiele seiner Kindheit. Seine Eltern sprachen ihn selten darauf an; es war eher ein genervter Blick oder eine Bemerkung dann und wann, die ihm zu verstehen gaben, dass ihnen sein Verhalten unangenehm auffiel.
Umso heftiger hatte sie seine eigenmächtige Entscheidung getroffen, in ein Drachen-Reservat zu gehen. Sein Vater hatte ihn nur ungläubig angestarrt und gestammelt. Eris fand es nach der ersten Freude darüber, ihn sprachlos gemacht zu haben, beschämend, in welchem Ausmaß er entsetzt war – als ob sein Sohn nicht zu eigenständigen Handlungen fähig wäre. Seine Mutter hatte gar nichts gesagt, und ihr Starren wirkte weniger auf ihn gerichtet als in ihr eigenes Inneres.
Die Idee hatte in der Schule zu keimen begonnen, vor über einem Monat, als sie erstmals richtig über Drachen gesprochen hatten. Ihr neuer Biologielehrer, Mr. Haverlock, war selbst drachenblütig – etwas, das sich noch nie jemand zu sagen getraut hatte. Die Schüler hatten immer heimlich ihre Witze gerissen, welcher ihrer Lehrer wohl drachenblütig und aus welchen Gründen dem Reservat entgangen war. Mr. Haverlock hatte ein Interesse in ihm und den anderen Schülern geweckt wie kaum ein anderes Schulthema zuvor – immerhin war er ein Erwachsener, der gegen das verstieß, was alle anderen Erwachsenen so hoch hielten. Jemand, der ansprach, was niemand ansprach. Mr. Haverlock hatte tatsächlich den Großteil seiner Jugend und seines jungen Erwachsenenlebens in einem Drachenreservat verbracht und berichtete ohne Scheu und Zurückhaltung von den Dingen, die sich dort zugetragen hatten. In vielem von dem, was er erzählte, fand Eris sich wieder. Menschen spürten, dass Drachenblütige anders waren, und so wurden sie oft schon in ihrer Kindheit zu Außenseitern. Als Kind hatte er nie gern Gemüse gegessen, interessierte sich für Dinge, die keinen seiner Klassenkameraden interessierten, wie Wissenschaftsthemen. Und er mochte es, seinen Kuschelfisch und viele Kissen um sich herum zu haben – wie viele Drachenblütige, die gern in Gruppen ruhten und die Nähe anderer suchten.
Sie bekamen Informationsbroschüren im Unterricht und recherchierten im Internet, sowohl über die Anzeichen einer möglicherweise bevorstehenden Wandlung als auch über die Reservate. Eines lag sogar ganz in seiner Nähe: Das Great-Smoky-Mountains-Reservat. Die Suche brachte wunderschöne Landschaftsbilder hervor, die sein Herz klopfen ließen. Er hatte es immer sehr gemocht, in der Natur zu sein, und schon beim Anblick der Wälder, Flüsse und Berge fühlte er sich glücklicher. Nach Mr. Haverlocks Berichten stellte er sich die Reservate ein bisschen wie Sommercamps vor, nur, dass sie länger als einen Sommer gingen. Man lebte dort für eine lange Zeit, vielleicht für immer. Aber war es denn so schlimm, für immer an einem solchen Ort zu leben? Und vielleicht, ganz sicher sogar, kam er ja auch wieder zurück – verändert und im Reinen mit sich, wie Mr. Haverlock.
Nicht alle Schüler glaubten ihm seine Geschichten, und einer hatte Mr. Haverlock unverblümt gefragt, warum er denn nicht in seinem Reservat geblieben wäre, wenn es dort so schön sei. Daraufhin hatte er ihnen erklärt, dass jedes Reservat nur eine begrenzte Kapazität hatte und die festen Plätze Wandlern vorbehalten blieben – er selbst sei kein Wandler, und zumindest das glaubten ihm alle, denn sonst wäre er niemals als Lehrer an einer Schule zugelassen worden. Überhaupt war es seltsam, dass er die ganze Laufbahn zum Lehrer nach seiner Entlassung abgeschlossen hatte, aber er erklärte, dass es durch die Unterstützung seiner Familie und einer privaten Universität möglich wurde – etwas, auf das nicht viele bauen konnten, weshalb er gemeinnützige Organisationen zur Unterstützung entlassener Blütiger mitfinanzierte. Echte Drachen hatte aber auch er nur von Weitem zu Gesicht bekommen, da sie wie in den meisten Reservaten von den Nicht-Wandlern getrennt wurden. Keiner von ihnen war hausgroß oder spie Feuer wie die dämonischen, pechschwarzen Monster aus bekannten Kinoproduktionen; sie trugen die neutralen, tarnenden Farben des Waldes und waren im Durchschnitt so groß wie ein Schulbus.
Eris würde laut der Broschüre des Smoky-Reservats sogar einen Beruf lernen können. Er würde für eine Gemeinschaft arbeiten, in die er vielleicht besser passte als in seine Schule oder das Umfeld seiner Eltern. Einmal hatte er einer alten Dame dabei geholfen, ihren weggelaufenen Hund zu finden, und sich unglaublich gut dabei gefühlt. Auch, wenn er die Regung stets unterdrückte, hatte er manchmal Neid empfunden, wenn er Sanitäter zu einem Verletzten eilen sah. Die Bewunderung, die ihnen entgegengebracht wurde, hätte er auch gern gehabt. Aber er war nur ein fünfzehnjähriger Junge, nicht ausgebildet, zu schüchtern, sich irgendwo einzubringen, und wenn er es doch tat, ging meistens alles schief. Zu oft schon hatten andere über seine Bemühungen in den verschiedenen Workshops der Schule gelacht. Er hatte manchmal nachts geweint, weil er glaubte, zu nichts zu taugen, vor allem nicht zu den herausragenden Leistungen, die ihm die erhoffte Bewunderung einbrachten. Aber vielleicht waren andere Drachenblütige ja auch tollpatschig. Vielleicht fand sich dort eine Aufgabe, die perfekt zu ihm passte und für deren Ausübung ihm die Gemeinschaft dankbar sein würde?
Vorallem aber gefiel ihm, dass sein Vater ihn plötzlich ganz anders behandelte. Wie den Jugendlichen, der er inzwischen war, und nicht mehr wie ein begriffsstutziges Kind. Seine Eltern hatten, das wusste er, für sein seltsames Verhalten immer andere Begründungen vorgeschoben, die allesamt beschämend waren: Zu kindisch für sein Alter, irgendwie zurückgeblieben, nicht so schnell in der Entwicklung. Aber jetzt hatte er seine eigene Erklärung.
Es hatte ihn dennoch große Überwindung gekostet, die Nummer zu wählen, die ihn mit der Drachenbehörde verband, um anzufragen, ob er in das Smoky-Reservat kommen könne und was er dafür tun müsste. Man erklärte ihm freundlich, dass man sich darum kümmern werde, aber nicht sicher sagen könne, in welches Reservat er käme. Die Stimme und das Gespräch selbst hatten ihn beruhigt und sich stolz fühlen lassen. Wenig später hatte man sich bei seinen Eltern mit der Nachricht gemeldet, dass es tatsächlich einen Platz im Smoky-Reservat für ihn gab, und sie bekamen ein Datum mitgeteilt, an dem er dort eintreffen sollte.
Dieses Datum war morgen.
Eris war nach dem Anruf noch nicht sicher gewesen, ob er das wirklich durchziehen konnte. Das war wohl das berüchtigte Lampenfieber. Der Gedanke erschien ihm noch immer vollkommen unwirklich. Dreißig Jahre. Das waren noch einmal fünfzehn Jahre, so lange, wie er lebte! Vielleicht sollte er es sich wie eine Karriere bei der Army vorstellen. Auch da gingen die jungen Menschen lange von Zuhause weg, und die meisten fanden es gut, wenn sich jemand dafür entschied. Drachenblütige gehörten zu ihresgleichen, und sie brauchten besondere Zuwendung und Erziehung. Und die Leute am Telefon hatten ja auch gesagt, dass es das Beste für ihn war. Die mussten sich doch auskennen, oder?
Eris war zufrieden mit seiner Entscheidung, auch wenn ihn ein flaues Gefühl beim Gedanken an den morgigen Tag überkam. Er fragte sich, ob die im Reservat wohl nett zu ihm sein würden. Nichts konnte wohl schlimmer sein, als sich fünfzehn Jahre lang unwohl zu fühlen und den Ort nicht verlassen zu können.
Das Klingeln an der Tür ließ ihn verwundert aufsehen, genau wie die fremden Stimmen im Flur. Er schlug nach kurzem Zögern die Decke zurück und stand auf, schlich zur Tür, um besser hören zu können.
Seine Mutter sprach mit jemandem. »Aber wir wollten ihn zu Ihnen fahren, morgen.«
»Die Drachenbehörde regelt die Abholung selbst, das hätte Ihnen mitgeteilt werden müssen. Eine Eigenanreise ist nicht vorgesehen und auch nicht gestattet.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Sonst wären wir nicht hier. Wo ist der Drache?«
»Er ist kein Drache«, gab seine Mutter zurück. »Er hat nur… ein paar Anzeichen. Und er will ja auch freiwillig mitkommen, aber erst morgen.«
»Wo ist er?«, wiederholte die Stimme mit mehr Nachdruck.
Eris schluckte. Die Behörden kamen zu ihm Nachhause? Und sie wollten ihn mitnehmen, jetzt sofort? Ohne Vorwarnung? Aber dann würde er ja gar nicht mehr den kommenden Morgen und die Fahrt haben, um sich von seinen Eltern zu verabschieden und sich vorzubereiten. Das war Zeit, die er fest eingeplant hatte, um sein flaues Gefühl verarbeiten zu können. Das war so nicht richtig!
Er wich zurück, als die Tür zu seinem Zimmer aufging. Ein Mann und eine Frau standen vor ihm, gekleidet in die dunklen Uniformen der Drachenbehörde mit dem weißen, schwarzumrandeten Zeichen des Ouroboros, der sich auf einer Seite der Brust in den eigenen Schwanz biss. Eris stellte zu seinem Entsetzen fest, dass sie Waffen trugen, wie Polizisten. Als ob er ein Verbrecher wäre.
»Guten Abend, Eris. Wir sind von der Drachenbehörde und kommen wegen deiner Überführung ins Reservat«, sagte die Frau kühl.
»Ich soll morgen erst ins Reservat kommen«, erwiderte er kleinlaut. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und das Ziehen in seinem Magen verstärkte sich.
»Du kommst jetzt ins Reservat«, befand die Frau, und ihre Stimme duldete keinerlei Widerworte.
»Aber ich will mich noch verabschieden, und es ist auch noch gar nicht alles gepackt…!« Panik ergriff ihn, sein Herz begann, beunruhigend zu vibrieren. In seinem Magen bildete sich ein Knoten.
»Nun seien Sie doch vernünftig! Morgen bringen wir ihn zu Ihnen«, war da plötzlich die tiefere Stimme seines Vaters zu hören, und Eris war schockiert, dass sie ähnlich angstvoll klang wie seine eigene, auch wenn etliche Schichten Autorität darüber lagen.
»Wir haben unsere Anweisungen, und wenn Sie uns bei der Ausübung unserer Arbeit behindern…«, begann der Mann drohend, doch sein Vater, plötzlich mehr wütend als ängstlich, entgegnete sogleich: »Sie werden nicht mein Kind hier rausschaffen! Er wird nicht in dieses Reservat gehen! Wir haben keine Erlaubnis dazu gegeben!«
»Das obliegt nicht Ihrer Entscheidung!«
Der Mann griff nach Eris, welcher einen ganz und gar nicht toughen Schrei ausstieß. Dann war da plötzlich sein Vater zwischen ihnen, und die Fäuste flogen. Eris wich zurück, als der Mann mit blutendem Gesicht zu Boden ging, und plötzlich sah er wie in Zeitlupe, dass die Frau ihre Waffe zog und auf seinen Vater richtete. Seine Mutter schrie im Hintergrund, das Blut stach in seine Nase und Augen – er hatte noch nie einen so intensiven Farbton gesehen und einen so starken Metallgeruch wahrgenommen.
Das Ziehen in seinem Magen wurde zu einem Reißen, das Pochen seines Herzens zu einem Schwirren, bis es vor lauter Schnelligkeit stillzustehen schien – dann war ihm, als zerreiße sein Pullover am Rücken, der Stoff seiner Jeans an den Oberschenkeln, sein Kopf wurde in die Höhe gerissen und stieß gegen die Decke. Er begriff nicht, was los war, ehe der Schuss aus der Waffe die Geräuschkulisse durchschnitt und anstelle seines Vaters ihn in die schuppige Schulter traf.
Ada öffnete das Fenster und kletterte hinaus aufs Vordach, als es unten an der Tür klingelte. Dort hockte sie einen Moment lang unschlüssig, ehe sie die Regenrinne entdeckte. Diese verlief hinter dem Haus, niemand würde es bemerken, wenn sie daran hinunterkletterte und in den Wald zurücklief. Sobald die Leute von der Behörde weg waren, konnte sie zu Sue zurückkehren und wie geplant die Nacht bei ihr verbringen. So rutschte sie an dem Rohr hinab, fürchtete, sich beim Aufprall im Gras die Knochen zu brechen, rappelte sich aber unversehrt wieder auf und rannte.
Tatsächlich fühlte sie sich überraschend erleichtert darüber, wieder Bäume um sich herum zu haben und den freien Himmel über ihr. Wäre es denn angesichts dieses Wohlbehagens wirklich so schlecht, ein echter Drache zu sein? Draußen zu leben? Kaum ein Raubtier durfte ihr gewachsen sein, und rohes Fleisch hatte sie schon immer gemocht. Es wäre zumindest deutlich würdevoller, als sich auf der Straße durchzuschlagen, und sie konnte immer davonfliegen, wenn sie entdeckt wurde. Machte Drachen Kälte, Regen und Schnee etwas aus? Sie wusste es nicht. Aber die ersten Drachen waren zumindest in Europa heimisch gewesen, und dort gab es kalte Winter mit Schnee. Leider wollten ihr auch bei dieser neuerlichen Flucht keine Flügel wachsen, und so rannte sie, bis sie zu ihrer eigenen Überraschung die Grotte wiederfand. War das Zufall? Oder irgendein Instinkt, der sie hier her zurückgeführt hatte?
Sie versteckte sich, wünschte, sie hätte ein paar Decken mitgenommen, denn es war kalt und würde bald noch viel kälter werden; die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen, malte einen orangeroten Feuerschein in die Umgebung. Der Sommer war noch zu weit entfernt.
Sie machte es sich so bequem wie möglich und ruhte sich aus nach all der Aufregung. Hier, mitten im nirgendwo, war sie zumindest sicherer als irgendwo sonst.
Ada musste für kurze Zeit eingenickt sein. Ihr war fürchterlich kalt, als sie aufwachte, und es war stockdunkel um sie herum. Eilig setzte sie sich auf. Ihre Jacke hatte ihren Oberkörper warmgehalten, nicht aber die Beine, die mittlerweile taub geworden waren. Die Dunkelheit machte ihr Angst – gab es hier draußen nachts Wölfe?
Plötzlich hörte sie etwas in der Ferne, aber es waren keine Wölfe: Jemand rief ihren Namen. Eine männliche Stimme, die sie nicht kannte. Das musste ein Mitarbeiter der Behörde sein! Sie suchten sie allen Ernstes hier, um diese Uhrzeit?
Ada verzog sich tiefer in die Grotte. Beim nächsten Ruf klang die Stimme schon beängstigend nah. Irgendjemand kam direkt auf ihr Versteck zu. Wie konnte er wissen, dass sie hier war? Oder war es Zufall, dass er sich ausgerechnet in diese Richtung bewegte?
Dann war da plötzlich noch eine andere Stimme zu hören, die ihr seltsam bekannt vorkam. »Ada? Ada, ich bin es, Lance! Du kannst ruhig rauskommen, es ist alles in Ordnung!«
Sie weitete die Augen und hörte kurz auf zu atmen, ehe sie sich fasste. Nein, das war nur ein mieser Trick, damit sie sich zeigte. Lance konnte doch gar nicht hier sein, und das war auch nicht seine Stimme, sie ähnelte ihr nur. Die wussten bestimmt, dass Ada Lance kannte und glaubten, dass sie darauf hereinfiel. Ada rührte sich nicht in der Hoffnung, dass sie verschwanden, ohne sie zu bemerken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie fürchtete, die Fremden würden es hören.
Schritte, Rascheln. Die Grotte hatte nur einen schmalen Eingang, von dem sie so weit es ging weggerückt war. Geht vorbei, ich bin gar nicht hier. Plötzlich zeigte sich eine dunkle Gestalt mit Taschenlampe in ihrem Sichtfeld und leuchtete sie einen Augenblick später direkt an.
Sie wollte instinktiv aufspringen und losrennen, doch ihre tauben Beine versagten ihr den Dienst.
»Ada!« Der Fremde war plötzlich ganz nah bei ihr und umarmte sie ohne Vorwarnung. Sie wollte ihn angewidert von sich stoßen, doch er ließ bereits wieder von ihr ab und schaute sie an. Adas Herz sackte in tiefere Regionen, als sie ihn erkannte.
Er war älter, aber ohne jeden Zweifel Lance.
»Lance? Du bist es wirklich!« Sie schrie fast und erwiderte die Umarmung.
»Ada?« Hinter ihm folgten zwei weitere Personen – ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, und ihre Mutter, die sofort zu ihr stolperte und sie ebenfalls umarmte. »Ada, ich hatte solche Angst um dich… ich dachte, sie hätten dich… oder du wärst weg…« Sie begann völlig unerwartet damit, heftig zu weinen, und vielleicht war es genau das, was Ada davon abhielt, sich ihr zu entziehen. Erst einen Augenblick später siegte die Verwirrung über ihre Wiedersehensfreude. »Was geht hier vor?«, wollte sie wissen, dann dachte sie noch einmal über den letzten Satz ihrer Mutter nach. Hatte sie wirklich Angst gehabt, die Behörden könnten sie schnappen? War das nicht genau das, was sie wollte?
Der Mann trat zu ihr, und sie wich argwöhnisch vor ihm zurück. »Hallo, Ada. Ich bin Henry Gilfordt, aber du kannst mich Hank nennen, wie alle anderen«, stellte er sich freundlich vor. »Deine Mutter und ich haben dir einiges zu erklären, fürchte ich. Beginnen wir mit dem Wichtigsten: Ich bin dein Onkel, der Bruder deines Vaters. Es ist eine lange Geschichte, und hier ist nicht der richtige Ort, sie zu erzählen.«
Ada starrte erst ihn, dann ihre Mutter, dann Lance und schließlich wieder ihn fassungslos an. Mein Onkel? Ich habe einen Onkel? Und er ist der Bruder meines Vaters?
»Deine Mutter hat dir nie von mir erzählt, weil sie dich schützen wollte. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass du es nicht geerbt hast. Aber heute ist wohl der Tag gekommen, an dem du gewisse Dinge erfahren musst, egal, wie belastend sie sind. Ich bin der Vorsteher eines Drachen-Reservats, und ich bin gekommen, um dir zu helfen, so, wie ich damals Lance geholfen habe. Er befindet sich in meiner Obhut. Heute kommst auch du in meine Obhut.«
Ada ging das alles viel zu schnell, ihre Gedanken rasten. »Aber ich bin kein Drache«, sagte sie, weil es das erste Vernünftige war, was ihr in den Sinn kam.
»Du bist zumindest blütig, und das mit absoluter Gewissheit: Dein Vater war ein Drachenwandler.«
Diese Worte ließen einen Abgrund in Adas Magen entstehen, gefolgt von grimmiger Bestätigung. Also doch. Oder log er sie gerade an? Nein. Dass Lance hier war, würde Ada beinahe dazu bringen, alles zu glauben, was sie jetzt erfuhr, immerhin hatte sie ihn für vom Erdboden verschluckt gehalten.
»Warum hast du mir nie von ihm oder meinem Vater erzählt?«, fragte sie ihre Mutter unwirsch.
Es war Hank, der an ihrer statt antwortete: »Hannah hat es gut gemeint. Niemand sollte in der ständigen Angst leben, plötzlich zum Drachen werden zu können. Nun hast du allerdings immer mehr Symptome ausgebrütet, sodass es einen Grund gibt, dich aufzuklären. Ich würde vorschlagen, wir gehen erstmal zu dir Nachhause und reden dort ganz in Ruhe über alles.«
»Ich gehe nirgendwohin!«, fauchte sie. »Wir reden hier! Wie kann mein Vater ein Drachenwandler sein? Und wenn du sein Bruder bist…« Mit dieser Erkenntnis weiteten sich ihre Augen. »Dann bist du auch einer, richtig?«
»Nicht richtig«, widersprach Hank. »In Biologie nicht aufgepasst, hm? Nicht jeder Verwandte eines Wandlers ist ebenfalls ein Wandler, auch dann nicht, wenn sie erstgradig verwandt sind. Ich habe trotz meiner Symptome nie Drachengestalt angenommen, und ich bin längst über das Alter hinaus, in dem das noch zu erwarten ist. Du dagegen könntest in die Schwingen deines Vaters schlüpfen, daher ist es sehr wichtig, dass sich jemand um dich kümmert, der weiß, was er tut.«
Sie zögerte.
»Lance vertraust du, nicht wahr? Dann folge ihm und nicht mir. Ihr habt euch sicher so einiges zu erzählen nach der langen Zeit.«
Sie schluckte, fühlte sich plötzlich gar nicht mehr in Streitlaune, war müde und ausgelaugt von einem ganzen Tag auf der Flucht und in der Kälte. Sie sah Lance an, dann erhob sie sich widerstrebend. »Na also.« Hank lächelte, und sie fand, dass es ein aufrichtiges Lächeln war.
Sie mussten quer durch den Wald laufen, um zu seinem Wagen zu gelangen – das gab ihr Zeit, um die Fragen in ihrem Kopf ein wenig zu sortieren. »Mein Vater war also ein echter Drache? So richtig…?«
»So richtig«, antwortete Hank, als würden sie über das Wetter sprechen. »Mit Schuppen und Flügeln.«
»Und… wie kam er mit meiner Mutter zusammen?«
»Das sollte sie dir vielleicht lieber selbst erzählen. Ich für meinen Teil wusste die ganze Zeit von dir, und als ich hörte, dass die Behörden nach dir suchen, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht.«
Dann hatte ihre Mutter Lance gar nicht ausgeliefert, sie hatte ihn zu Hank gegeben, damit er in Sicherheit war! Und jetzt hatte sie Angst gehabt, dass die Behörden Ada schnappten könnten, bevor Hank bei ihr war. »Wieso hast du mir nie etwas gesagt? Wieso hast du mich im Glauben gelassen, dass es Lance schlecht geht, wenn du es besser wusstest?«, fragte sie ihre Mutter stattdessen.
»Ada… ich habe es nicht gewusst. Damals hoffte ich, Hank würde kommen und Lance zu sich nehmen. Aber nicht er war es, der kam. Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht, weil ich selbst nicht wusste, wo er hingeraten ist.«
»Jemand von der Behörde hat ihn damals geholt, weil ich beschäftigt war«, sagte Hank. »Das tut mir Leid.«
»Verstehe… warum bist du noch im Reservat, wenn du gar kein Wandler bist?«, fragte Ada ihn.
»Weil die jungen Drachen jemanden brauchen, der sie unterstützt, und ich könnte mir keinen schöneren Beruf vorstellen.«
»Dann… sind die Reservate gar nicht so schrecklich, wie alle sagen?«
Sie erhielt keine Antwort, denn plötzlich brach ein unbeschreibliches Getöse um sie herum aus. Hank riss Lance, Ada und ihre Mutter zu Boden, als der brüllende Schatten über sie hinwegfegte. Ada erhaschte einen Blick auf grüngelbe Schuppen im Taschenlampenlicht, gewaltige, flappende Schwingen und einen herumschnellenden Schwanz, der einen Sturm aus Ästen und Blättern erzeugte, ehe er tiefer im Wald verschwand.
»Um Himmels Willen! Zum Wagen, schnell! Bleibt dort und rührt euch nicht vom Fleck! Lance, du kommst nach und bringst mir meine Tasche!« Damit drehte Hank sich um und rannte los, dem Drachen hinterher, während ihm Ada und ihre Mutter fassungslos nachsahen.
Junge Drachen hinterließen eine Spur im Wald, der ein Blinder folgen konnte – glücklicherweise. Hank hatte keinerlei Schwierigkeiten damit, die Höhle zu finden, in die der unglückselige Wandler geflüchtet war. Dort versteckte er sich nun, und Hank wartete wohlweislich vor dem Eingang, bis Lance neben ihm gelandet war.
Der schlanke, braungescheckte Drache von der Größe eines Kleinbusses ließ sich beinahe lautlos zwischen den Baumkronen auf die Erde sinken. Hank nahm ihm die Tasche aus seinem Maul, die er dabei hatte. »Danke dir, Jungchen. Du hättest gar nicht deine Gestalt annehmen müssen. Offenbar ist unser Kleiner hier nicht erpicht auf eine Verfolgungsjagd.«
Lance brummte, ein Geräusch, das aus den Tiefen seiner Kehle aufstieg und die weiche Haut darüber vibrieren ließ. Drachen waren nicht in der Lage, auf menschliche Weise zu kommunizieren, aber sie verstanden die gesprochenen Worte.
Hank stieg langsam hinab in die feuchte, kühle Höhle. Das war ganz eindeutig kein Versteck, welches der Drache sich vor längerer Zeit ausgesucht hatte, sondern eine Spontanwahl aus der Not heraus – Drachen bevorzugten Trockenheit und Wärme. Vielleicht war es sogar seine erste Verwandlung überhaupt. Hank zögerte, horchte in die Stille hinein. Es war wirklich stockfinster. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, ganz langsam – dann vernahm er aggressives Zischen. Ein schnappendes Drachenmaul schoss aus der Dunkelheit hervor und verfehlte ihn knapp. Ein Scheinangriff; der Drache hatte mehr Angst als Tötungsabsicht. Seine hellen Zähne blitzten, als er die Lefzen zurückzog, die grünen Augen verengten sich in der Dunkelheit, in die er den Kopf zurückzog, bis nur noch ihr Leuchten zu sehen war.
»Ruhig mein Kleiner, oder Kleines. Ich bin ein Freund. Sieh mal, da draußen ist noch ein Drache.« Lance steckte den Kopf zu ihnen hinein und stieß das Gurren aus, das Hank noch nie zufriedenstellend hatte imitieren können und welches Sicherheit signalisierte. Der grüne Drache knurrte als Antwort darauf leise und unsicher.
»Das ist Lance, und ich bin Hank. Wir wollen dir nur helfen. Schau mal, du hast bestimmt Hunger.« Er öffnete die Tasche und holte die Taschenlampe sowie die Tüte mit Trockenfleisch heraus. Der Drache beobachtete ihn dabei argwöhnisch. Hank nahm ein Stück und warf es ihm im Lichtkegel zu. Der Drache fing es instinktiv mit dem Maul auf und schlang es ohne zu zögern hinunter. Seine Haltung entspannte sich, und er betrachtete ihn mit aufkeimender Neugier. Hank fütterte ihm noch mehr Trockenfleisch, das er bereitwillig annahm.
»Na also. Wir bringen dich jetzt ins Reservat, wo du sicher bist. Du musst dich nicht mehr fürchten, ganz gleich, wovor du geflüchtet bist. Ich beschütze dich.«
Wie aufs Stichwort hörte er von draußen plötzlich Stimmengewirr und warf Lance einen alarmierten Blick zu – der Drache verstellte sofort den Eingang und knurrte drohend. Er würde nicht zulassen, dass sich jemand der Höhle näherte. Das konnte für alle Beteiligten gefährlich werden.
Hank wandte sich wieder dem anderen Drachen zu. »So, jetzt atmest du tief ein und aus, so wie ich. Gut machst du das. Stell dir vor, du wärst wieder ein Mensch. Das mag dir unmöglich erscheinen, aber es war ja auch nicht unmöglich, zum Drachen zu werden. Es ist nur ein Atemzug, mit dem du alles rückgängig machen kannst. Lass den Drachen mit dem Ausatmen verschwinden.«
Er befürchtete, dass es in dieser Stresssituation nicht funktionieren würde. Die Stimmen von draußen wurden lauter – doch dann sank der Drache in sich zusammen, verformte sich auf jene groteske Weise, die mit jeder Verwandlung einherging und die Hank an eine Verpuppung erinnerte, bei der die einzelnen Fetzen vom Körper selbst resorbiert und neu verwertet wurden. Übrig blieb ein nackter, blonder Junge von vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahren, der ihn aus großen, ängstlichen Augen ansah. Dann hustete er und spuckte etwas silbern Glitzerndes auf seine Hand.
Hank lächelte. »Zahnfüllungen gehören jetzt der Vergangenheit an – etwas, das ich mir auch wünschen würde. Mit jeder Verwandlung entsteht neues Zellmaterial, um den Körper in die jeweilige Form umzubauen. Die Schäden in deinen Zähnen und an anderen Stellen des Körpers werden damit aufgefüllt.«
Der Junge blinzelte, dann kippte er vornüber und blieb reglos liegen.
Als Hank hinaustrat, den in weiche Decken gewickelten Jungen auf dem Arm, empfingen ihn zu seiner maßlosen Überraschung zwei Mitarbeiter der Drachenbehörde in Begleitung derer, die er eigentlich erwartet hätte: Einen Mann und eine Frau, welche er für die Eltern des Jungen hielt. »Was ist hier los?«, fragte Hank die beiden Uniformierten.
»Ich bin Agent Hudson«, stellte sich die Frau vor. »Der Drache hat Widerstand gegen die Vollstreckung seiner Überführung in einen Sperrdistrikt geleistet.«
»Und Sie sind?«, wollte er von ihrem Begleiter wissen.
»Agent Milner. Dürften wir auch Ihren Namen erfahren?«
»Henry Gilfordt, Vorsteher des Drachenreservats in den Great Smoky Mountains«, antwortete er und genoss die überraschten Blicke der beiden, als er mit einer Hand seinen Ausweis aus der Hosentasche nahm. »Ich kümmere mich gern selbst um die mir zugeteilten Drachenblütigen. Sie beide haben also zugelassen, dass dieser Wandler in die Wälder flüchtet, wo er sich selbst und andere hätte verletzen können in seiner Verwirrung? Das ist außerordentlich fahrlässig und weit unter dem, was ich von ausgebildeten Mitarbeitern der Drachenbehörde erwarte.«
»Sie haben auf unseren Sohn geschossen!«, rief da plötzlich die Frau, die anscheinend seine Mutter war. »Und meinen Mann niedergeschlagen!«
Hank starrte die beiden Agents an. »Sie haben was?«
»Sie alle haben Widerstand geleistet«, hielt Hudson dagegen, ohne es abzustreiten.
»Die wollten unseren Sohn mitnehmen, obwohl er erst morgen ins Reservat kommen sollte – und das ganz freiwillig!«, erwiderte der Vater. »Als wir uns weigerten, ihn freizugeben, haben sie mich geschlagen und auf meinen Sohn geschossen! Dabei ist er… nun ja…« Er rang sichtlich um Fassung.
»Es waren nur Gummigeschosse«, verteidigte sich Milner.
Hank schüttelte den Kopf. »Ich hoffe Sie wissen, dass Sie beide tot sein könnten. Und die Eltern des Jungen ebenfalls. Das ist Ihre Schuld, nicht seine«, sagte er und veränderte die Position des Bündels auf seinem Arm, das langsam schwer wurde. Dabei verrutschte eine Falte der Decke und gab den Blick auf sein Gesicht frei. Die Mutter schnappte nach Luft und drängte sich an den Agents vorbei.
»Eris!«
»Es geht ihm gut, er ist nur sehr schwach. Ich nehme an, er sollte in die Smokys?«, fragte Hank sie.
»Ja… nein…«, schluchzte seine Mutter. »Ich meine, ja. Aber doch nicht jetzt… ich weiß gar nichts im Moment…«
»Wir lassen ihn uns nicht wegnehmen!«, stellte sein Vater klar.
»Natürlich darf er diese Nacht bei Ihnen bleiben. Aber er braucht professionelle Unterstützung, wenn er aufwacht. Ich schlage Ihnen vor, dass wir erst einmal zu meinem Wagen gehen. Ich fahre Sie zurück Nachhause.« Er blickte die beiden betreten dastehenden Agents an. »Ich übernehme ab jetzt diesen Fall. Ein Drache mehr macht keinen Unterschied, wenn ich schon einmal auf dem Weg bin, und Ihnen fehlt es offenkundig zu sehr an Sachkenntnis, um Sie mit der Überführung zu betrauen. Ein marodierender, seinen Häschern entkommener Drache ist das letzte, was diese Kleinstadt braucht. Ihre Behörde hört von mir.«
Ihre langjährige Freundin wirkte an diesem Tag viel jünger, als sie war, beinahe wie eine Jugendliche vor ihrer ersten einschneidenden Entscheidung. Sie hatten immer über alles sprechen können, jedes Thema – nur nicht über Kinder. Diese waren etwas Berufliches, das zu Elternsprechtagen angeschnitten wurde, nicht aber auf einem privaten Besuch.
»Ich kann doch nicht einfach… ich werde das nicht…« Sara stand kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Sara«, sagte Irena sanft und reichte ihr ein Papiertaschentuch, mit dem sie sich die Augen abwischte. Sie zögerte, spürte den Drang, offener zu sein als die Klassenlehrerin, die sie war, mehr wie die Freundin, die sie sein sollte. Konnte es denn irgendwie schaden, wenn Sara diese Sache über sie erfuhr?
»Du verstehst das nicht!«, brauste sie auf, und nun flossen die Tränen umso heftiger. »Niemand versteht das! Alle sehen nur das schuppige Monster und nicht das Kind, das eine Mutter neun Monate lang in ihrem Bauch herumgetragen hat! Das Baby, das sie gestillt hat! Dieses kleine Kind, das herumgerannt ist, so fröhlich…«
»Sara!«, sagte Irena schärfer, nun tatsächlich ärgerlich, und ihre Freundin verstummte, um sie verletzt anzusehen. Irena fuhr mit ruhigerer Stimme fort: »Sara, ich weiß sehr wohl, wie sich all das anfühlt. Ich habe damals meine geliebte Tochter in ein Reservat gegeben.«
Nun wich Saras Verletztheit tiefer, ungläubiger Überraschung. »Deine… Tochter? Aber du hast doch gar keine Kinder.«
»Man verheimlicht es, wo es nur möglich ist«, sagte Irena ausweichend. »Und das klappt erstaunlich gut, wie man sieht. Es ist eine Sache, über die man in unserer Gesellschaft einfach nicht spricht. Aber heute habe ich einen Grund darüber zu sprechen, und dieser Grund bist du. Meine Tochter war vierzehn, als mein Mann und ich uns entschieden, sie in die Hände eines Spezialisten zu geben. Ein großes Reservat kam nicht infrage, dort wäre sie untergegangen. Und sie war so ein schlaues Kind. Kessoka hat mir nur Freude bereitet, eine glatte Einserschülerin. Aber es wurde irgendwann… offenkundig, dass da etwas in ihr schlummert, das wir nicht handhaben können.« Irena schluckte, wappnete sich für das Gespräch, dem sie so oft ausgewichen war. »Sie hatte die typischen Anzeichen, die sie immer in den Broschüren erwähnen: Gelüste nach rohem Fleisch, Abneigung gegenüber Gemüse, Jagdtrieb… ich glaube, es gab keinen Punkt, der nicht zutraf. Jeder für sich betrachtet kann anderweitig erklärt werden, und wir haben es lange nicht wahrhaben wollen, bis die Dinge immer unübersehbarer wurden. Irgendwann standen wir vor einem Bild, das sich über die Jahre hinweg selbst zusammengesetzt hatte und eindeutig war. Niemand in meiner oder Eliasʼ Familie war vom Leibwechsel betroffen, zumindest nicht, so weit uns bekannt. Elias hat als Erster davon gesprochen, ein Reservat für sie zu finden. Ein kleines in den Bergen entsprach schließlich unseren Vorstellungen, und wir brachten sie an einem Ferientag hin. Ich habe mir danach viele Vorwürfe gemacht, hatte sogar Suizidgedanken. Mein kleines Mädchen, allein unter Drachen! Aber es kam ganz anders, als ich befürchtet hatte. Weitere Jugendliche waren dort, die die gleichen Probleme hatten wie meine Kessoka. Sie musste sich nicht mehr länger verstellen, und die Probleme, die sie hatte, gehörten der Vergangenheit an. Es sind die Gesellschaft und das ständige Unterdrücken ihrer Natur, die sie zu dem werden lassen, was die Leute in Drachen sehen: Ein aggressives, unbeherrschtes Monster. Im Reservat konnte meine Tochter endlich aufatmen. Es ist uns beiden nicht leichtgefallen, sie wegzugeben, aber wir sind heute überzeugt, dass es die einzig richtige Entscheidung für alle Beteiligten war. Einen Drachen aufzuziehen ist etwas, das nur Drachen können. Es wäre nicht gerecht gewesen, ihr das Leben eines Menschen aufzuzwingen.« Irena lächelte, atmete tief durch, wartete darauf, dass Sara etwas sagte, doch sie war verstummt, blickte Irena nur an. Vielleicht gab es auch nichts dazu zu sagen.
»Aber Drachen… sind doch Drachen. Mein Ilon ist keiner von ihnen. Keins dieser…«
»Monster?«, fragte sie tonlos.
»Das habe ich nicht sagen wollen.«
»Dann sprich auch nicht so«, erwiderte Irena streng. »Die meisten Menschen wissen rein gar nichts über Drachen, und das, was in den Schulen gelehrt wird, ist schlimmer als nichts. Der Wandel ist so natürlich wie das Wachstum. Raupen verwandeln sich in Schmetterlinge. Sind sie deshalb Monster? Oder eher ein Wunder der Natur?«
»Aber wenn all diese Dinge, die man hört, nicht wahr sind, warum werden sie dann eingesperrt?«, wandte Sara ganz vernünftig ein.
Irena seufzte. »Das, meine Teure, ist die Frage, die ich mir schon sehr lange stelle. Die Menschen haben längst nicht mehr Angst vor Drachen, weil sie gefährlich sind, sondern, weil man sie einsperrt wie etwas Gefährliches. Irgendwann wird es vielleicht endlich ein Miteinander geben und die Reservate werden abgeschafft.«
Sara schluckte unbehaglich. Sie für ihren Teil war sich plötzlich nicht sicher, ob man das, was Irena da sagte, einfach so sagen durfte. Es war, als ob jemand die Öffnung eines Höllenportals herbeisehnte, sodass Dämonen Seite an Seite mit Menschen leben konnten. Andererseits verstand sie wirklich nicht viel von Drachen, das musste sie zugeben. Sie erinnerte sich an ihren eigenen Geschichtsunterricht, als sie das Mittelalter durchgenommen hatten. Drachen verwüsteten damals ganze Dörfer mit ihrem Feuer, zerfleischten Jungfrauen und fielen über das Vieh her, bis sie von mutigen Drachentötern in strahlender Rüstung erschlagen wurden. Sie waren einmal im Smithsonian Museum gewesen, in dem das fast vollständig erhaltene Skelett des größten Drachen stand, der je erlegt wurde – ein Biest wie ein Haus, das die gesamte Halle ausfüllte und dessen Abbild die Decke als Gemälde zierte: Glutrot mit Flügeln, die die Sonne verdunkelten, und einem Schwall Feuer aus seinem Maul, der menschliche Schemen verzehrte. In den Wanddrucken versetzte eben jener Drache die Menschen eines mittelalterlichen Dorfes in Angst und Schrecken. Die Zähne waren separat in einem Glaskasten ausgestellt, selbst die kleinsten fingerlang und gesägt. Ein einzelner Mensch hätte von ihm problemlos im Ganzen verschluckt werden können. Eines der Wandbilder zeigte schließlich seinen Fall – ein Drachentöter rammte ihm einen Speer durchs Auge ins Gehirn, welches wie das Maul eine ihrer wenigen Schwachstellen war. Neben dem Kadaver posierte er dann, und das Dorf feierte ihn als Helden mit einem großen Fest.
Sara hatte sich als Kind so sehr davor gefürchtet, dass Drachen kämen und sie und ihre Eltern fressen oder verbrennen würden, dass sie nachts nicht schlafen konnte. Sie hatte nach dem Besuch im Museum Albträume gehabt, wollte, dass alle Drachen getötet wurden, damit diese Albträume niemals wahr wurden. Noch heute schluckte sie bei der Vorstellung, diese Wesen könnten aus den Reservaten entkommen und über arglose Städte herfallen – ein Szenario, das diverse Horrorbuchautoren und Filmemacher bereits unzählige Male aufgegriffen hatten: Mörderdrachen, Angriff der geflügelten Monster, Drachen – Die Brut des Teufels, Die Terrorherrschaft des Feuers, Der letzte Krieg der Menschheit… sie konnte nicht sagen, wie viele Bücher und Blockbuster mit ähnlich reißerischen Titeln in den letzten Jahren Millionen Leser und Zuschauer angelockt hatten. Die Bevölkerung besaß eine morbide Faszination für Drachen und die Schreckensszenarien, die mit ihnen einher gingen.
Nun war sie selbst Mutter eines Kindes, das im Verdacht stand, ein Drache zu sein. In ihrer Familie waren keine Wandler bekannt, auch nicht in der seines Erzeugers. Aber wenn Irenas Stammbaum unauffällig und ihre Tochter trotzdem zum Drachen geworden war, konnte das dann nicht genauso auch mit Ilon geschehen?
Und dann war da noch Irena selbst. Sara hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, wie es den Eltern von Drachen erging. Sie hatte die Vorstellung stets von sich geschoben, weil sie sich sicher war, niemals betroffen zu sein. Was für ein dummer Gedanke bei dem Durchseuchungsgrad der amerikanischen Bevölkerung mit Drachengenen.
»Sara… verstehst du, was ich sage? Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Du wirst noch lange darüber nachdenken, aber du wirst ebenso irgendwann feststellen, dass es das Beste für ihn war. Und dass er für immer dein Sohn bleibt. Ich sehe meine Kess öfter, als ich für möglich gehalten hätte. Wir machen jedes Jahr in den Smokys Urlaub. Das bleibt bitte zwischen uns – es ist offiziell ein Sperrgebiet. Wenn Ilon in die Smokys kommt, kannst du ihn auch sehen. Der Reservatsvorsteher vertritt eine sehr liberale Haltung gegenüber Drachen und der Öffentlichkeit. Er ist selbst ein Blütiger, musst du wissen, und steht den Drachen nahe.«
»Du sprichst darüber, als wäre es das Normalste der Welt«, sagte Sara verzweifelt. »Aber das ist es nicht. Ich kann mich nicht mit einem Mal gegen all das sperren, was ich Zeit meines Lebens über Drachen gelernt habe. Sie sind Menschheitsgeißeln, gefürchtet und gehasst.«
»In der Geschichte der Menschheit sind weit mehr Menschen durch andere Menschen gestorben als durch Drachen«, gab Irena zu bedenken. »Drachen sind keine Bestien, sie haben nur ein anderes Sozialverhalten, das uns fremdartig erscheint. Aber sie können jederzeit wieder zu Menschen mit dem uns gewohnten Sozialverhalten werden. Denk darüber nach, was für Ilon das Beste ist.«
Sara schüttelte den Kopf. »Wie sagt man einem Kind soetwas? Aber ich kann ihn doch nicht einfach abholen lassen, ohne ihn vorzuwarnen…«
»Deine Frau und du könnt als einzige wissen, welcher Weg der Schonendste für euer Kind ist. Unsere Kess ist geflüchtet, als wir es ihr mitteilten. Ihre vermeintlich letzten Worte an mich waren, dass sie mich hasst. Das war eine verständliche Reaktion. Ich kam sie gleich zwei Wochen später besuchen, hatte vor, sie wieder mitzunehmen, wie auch immer ich das bewerkstelligen wollte – doch sie hatte sich bereits verwandelt, gelernt zu fliegen und verbrachte viel Zeit in ihrem neuen Körper. Mich verabschiedete sie mit den Worten, dass sie mich liebt. In dem Moment wusste ich, dass es gut so war, wie wir entschieden hatten.«
»Ilon! Ilon, wach auf!«
Ilon blinzelte genervt in die Dunkelheit seines Zimmers. Was wollte seine kleine Schwester denn bitte jetzt von ihm, mitten in der Nacht? Er rieb sich die Augen und sah auf die Digitaluhr, die auf dem Nachttisch stand – es war fast 23 Uhr. »Suri, was machst du denn für einen Aufriss?« Er gab sich keine Mühe, seinen Frust zu verbergen. »Weißt du, wie spät es ist? Warum schläfst du nicht?«
»Ich hab Mama belauscht. Sie hat sich mit ihrer Freundin unterhalten, Irena«, sagte Suri.
»Schläft in diesem Haus eigentlich keiner außer mir?« Er drückte sich demonstrativ das Kissen mit beiden Händen über den Kopf.
»Sie haben über dich gesprochen«, setzte Suri nach.
»Sie reden doch immer über mich«, gab er gelangweilt zurück. Wen interessierte, was er jetzt schon wieder verbockt hatte.
»Aber diesmal war es anders! Irena hat von ihrer Tochter erzählt. Sie ist ein Drache! Und jetzt glauben beide, dass du auch einer wärst. Sie wollen dich in ein Reservat stecken!« Suri klang völlig verzweifelt.
Er nahm das Kissen runter und sah sie an, zumindest da hin, wo er ihr Gesicht in der Dunkelheit zu erkennen glaubte. Suri hatte sich ja schon einiges an Unfug ausgedacht, aber das war nun wirklich absurd. »Du bist manchmal so durchschaubar. Irena hat doch gar keine Kinder. Und niemand, dessen Kind ein Drache ist, würde einfach so mit jemand anderem darüber sprechen. Das weiß doch jeder.«
»Aber es ist wahr!«, begehrte sie auf. »Wenn sie dich nun wirklich in ein Reservat sperren? Zu Drachen?« Sie klang vollkommen verzweifelt. War das noch gespielt? Er wusste es nicht mit Sicherheit zu sagen. Ilon setzte sich auf.
»Also gut, hör zu. Mom und Mama lieben mich, auch, wenn ich mich immer wieder daneben benehme. Das sagst du doch selbst dauernd. Sowas würden sie also nie tun. Und überhaupt bin ich kein Drache, oder sehe ich für dich so aus? Hab ich Schuppen und Flügel?«
»Aber du liebst blutiges Steak«, warf Suri ein.
»Jeder mag blutiges Steak, es gibt nur niemand zu, weil alle Angst haben, dass man sie dann für Drachen hält. Wenn man jeden, der blutiges Steak mag, einsperren würde, wäre bald kein Platz mehr in den Reservaten. Und ich bin auch nicht der einzige in meiner Klasse, der keinen Bock auf Schule hat und in Streitereien gerät. Deshalb bin ich noch lange kein Drache. Mama sagt, in unserer Blutlinie gibt es keine Drachen, und das Zeug wird vererbt.«
»Irena hat gesagt, in ihrer auch nicht. Trotzdem hat ihre Tochter…«
»Irena hat keine Kinder!«, beharrte er nun lauter und hatte gute Lust, sie aus dem Zimmer zu werfen, damit endlich Ruhe war. »Und Mom und Mama würden mir sagen, wenn sie mich in ein Reservat stecken wollen. Sie haben sich immerhin auch nie damit zurückgehalten, mir damit zu drohen, mich in eine Besserungsanstalt zu schicken.«
Suri zögerte. »Ich will nicht, dass du weggehst«, sagte sie nun tieftraurig.
»Ich gehe doch gar nicht weg. Abgesehen davon dachte ich, du hasst mich?«
»Aber doch nicht so, dass du weggehen sollst. Nur, wenn du mir meine Lieblingsmuffins wegfutterst.«
Er lächelte, auch wenn sie es wohl nicht sehen konnte. »Geh schlafen, Suri. Ich werde nicht weggehen. Versprochen.«
Sie verließ sein Zimmer, und er drehte sich um, kuschelte sich wieder in seine Decke. In ein Reservat schicken, sowas Dummes. Aber einfallsreich war seine kleine Schwester schon, das musste er ihr lassen.
Ada und ihre Mutter saßen in der Stille und Enge des Wagens beisammen. Das Gespräch, das daraufhin wie von selbst in Gang kam, entlastete Hannah so stark, dass sie glaubte, schweben zu müssen.
»Das Verhältnis zwischen deinem Vater und seinen Eltern war schwer belastet. Hank war der Ältere von ihnen beiden und in allem, was er tat, erfolgreicher. Er schrieb immer gute Noten, arbeitete für die Schülerzeitung und ging nach dem Abschluss als Klassenbester an eine renommierte Universität zum Medizinstudium, ein Vorzeigesohn wie aus dem Bilderbuch. Samuel aber sank in den Augen seiner Eltern immer tiefer. Er war das komplette Gegenteil seines Bruders, ein mittelmäßiger bis schlechter Schüler, und fand nach der Schule keine Ausbildung. Seine Eltern gaben ihn mit sechzehn in ein Reservat, obwohl er damals nur wenige Anzeichen für Blütigkeit hatte, weniger sogar als Hank. Seine Eltern wollten ihn loswerden, nicht mehr für ihn sorgen und über ihn sprechen müssen. Eines Morgens stand plötzlich die Behörde vor ihrer Tür und hat ihn mitgenommen, einfach so, ohne Erklärung und ohne Vorwarnung. Seine Eltern fragten nicht einmal nach ihm. Sie taten danach, als würde er nicht mehr existieren, belogen Hank, indem sie behaupteten, dass Samuel sie über Nacht ohne ein Wort verlassen hätte. Doch Hank konnten sie nicht täuschen. Sie beide standen sich immer sehr nahe. Durch Nachforschungen stieß er schließlich auf die Wahrheit und holte seinen Bruder eigenhändig aus dem Reservat, um mit ihm ein eigenes aufzubauen. Er hat den Kontakt zu seinen Eltern daraufhin abgebrochen. Sein Bruder war ihm wichtiger als sie, ebenso sein Beruf. Drachen sind sein Leben. Das waren sie schon immer.«
Ada schluckte. »Aber wie kam mein Vater zu dir? Ich meine, wenn er schon vor seinem Wandel in ein Reservat gebracht wurde, wie konnte er dich dann jemals treffen?«
»Er hat mich auf einer ihrer gemeinsamen… Unternehmungen kennengelernt, mit denen sie den Menschen Drachen näherbringen wollten. Das ist noch einmal eine ganz eigene Geschichte. Du… warst nicht geplant, das gebe ich offen zu, aber ich wollte in meinem Leben nichts mehr als dich und ihn. Eine Familie. Mir war egal was er ist, und was du werden würdest. Ich sah uns als die drei Menschen, die untrennbar zusammengehören. Meine Welt brach auseinander, als ich von seinem Tod erfuhr – auch, wenn wir aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen zur Drachenunterbringung ohnehin nie die Beziehung führen konnten, die ich mir gewünscht habe. Zwischen uns stand immer das Reservat. Er war als Drache daran gebunden und ich an die Gesellschaft außerhalb. Aber zwischen uns war noch mehr als nur das. Samuel hatte immer das Gefühl, dass das Reservat seine einzige Chance wäre, sich zu beweisen. Etwas im Leben zu erreichen, zu verändern. Für Seinesgleichen, die keinen Platz in der Welt der Menschen haben.«
»Wie geschah mit ihm?«, fragte Ada und wusste gleichzeitig nicht, ob sie das wirklich wissen wollte. Ihre Mutter wich ihrem Blick aus, als sie ein einziges Wort sagte.
»Drachentöter.«
Ada wollte gerade etwas erwidern, als Hank und Lance zurückkehrten, in Begleitung eines vollkommen aufgelösten Paares. Hank trug etwas auf dem Arm, das wie eine zusammengeknüllte Decke aussah, und ging damit zum Kofferraum. Als er das Bündel hineinlegte erkannte Ada, dass es ein unglaublich süßer Junge war, der etwa ihr Alter haben musste. Hank streichelte ihm über den Hinterkopf und deckte ihn sorgfältiger zu; anscheinend war er bewusstlos. »Es geht ihm gut, er braucht jetzt nur viel Ruhe. Sein Körper muss zwei Verwandlungen innerhalb kurzer Zeit kompensieren, die ihm alle Kraft geraubt haben.«
»Besteht nicht die Gefahr, dass er… erneut zum Drachen wird?«, fragte der Mann besorgt.
»Nein, nein, nicht in dem Zustand. Natürlich könnten wir ihn auch gleich ins Reservat bringen. Dort können wir ihm auf jeden Fall besser helfen als hier und ihn sicher unterbringen. Sie könnten uns begleiten.«
Die Frau und der Mann, die offenbar seine Eltern waren, starrten ihn daraufhin fassungslos an. »Ist das denn möglich?«, fragte seine Mutter. »Reservate sind Sperrgebiete, unzugänglich für die Bevölkerung.«
»Die Eltern von Drachen stehen bei mir immer im Verdacht, etwas vorzuenthalten, das wir dringend wissen müssen, weshalb ich sie gern in Gewahrsam nehme.« Er zwinkerte ihnen zu. »Steigen Sie ein, wir holen Ihre Sachen.«
»Haben Sie denn genug Plätze in dem Wagen?«, fragte sein Vater zweifelnd mit Blick in das Innere – es gab nur vier Sitze.
»Das haben wir – Ada passt im Kofferraum auf unseren Neuzugang auf, und Lance findet den Weg zurück per Luftlinie.«
Ada konnte sich ohnehin nicht viel länger wachhalten – sie zog sich in den überraschend geräumigen Kofferraum zurück und schlief bald genauso tief und fest wie Eris. Nur die Erwachsenen waren noch hellwach und füllten sämtliche Sitze im Wagen.
»Wir hatten nie zuvor mit soetwas zu tun«, äußerte Claire, Eris’ Mutter, während die dichten Wälder der Great Smoky Mountains gleichförmig an den Autofenstern vorbeizogen. Sie klang dabei, als müsse sie sich zum Sprechen überwinden. Vermutlich war das Thema wie so oft Zuhause totgeschwiegen worden. »Es wäre uns nie in den Sinn gekommen, dass Eris ein echter Drache sein könnte. Wir dachten… naja, wer denkt denn an sowas? Als er uns mit diesem Vorhaben kam, in ein Reservat zu gehen, da glaubten wir, es wäre eine Phase. Sie wissen schon, wie Jugendliche eben so sind, sie wollen sich doch immer von allen anderen abheben und Dinge tun, die Aufmerksamkeit erregen. Aber jetzt… er wird für immer dort bleiben müssen und wir werden ihn nie wiedersehen, richtig?«
Sie stand noch immer unter Schock über das Erlebte, weshalb es ihr wohl möglich war, mit einer gewissen Distanz darüber zu sprechen, das erkannte Hank.
»Eltern sollten nicht von ihren Kindern abgeschnitten werden, die Angst davor bringt sie nur dazu, ihren Nachwuchs vor den Behörden zu verstecken. In den Bergen nahe meinem Reservat befindet sich ein Naturerholungsgebiet. Eris wird also nicht aus der Welt für Sie sein. Und Ada auch nicht für dich.« Hank warf bei diesen Worten Hannah auf dem Beifahrersitz einen Blick zu, den sie auffing, aber nichts dazu sagte.
»Was geschieht jetzt mit ihm?«, wollte Eris’ Vater John angespannt wissen.
»Ich schaue ihn mir erstmal genau an, um sicherzugehen, dass mit der Verwandlung alles gutgegangen ist. Später kriegt er seine vorgeschriebene Impfung und wir beurteilen, wie gut er seine andere Gestalt unter Kontrolle hat. Manche Drachen sind wie Menschen, andere vergessen das Menschsein zeitweise völlig und agieren instinktgesteuert. Wir bringen ihnen bei, sich selbst zu kontrollieren und zu akzeptieren, was sie sind. Im Fachjargon nennt sich das Synchronisation – der menschliche Geist wird mit dem des Drachen vereint, anstatt neben ihm zu existieren und zwischen zwei Extremen zu wechseln. Das ist etwas, das Sie nicht können – die Erziehung von Drachen ist Aufgabe von ihresgleichen. Sie schlafen, fliegen und jagen zusammen und brauchen die Struktur der Gruppe mit ihrer ganz eigenen Hierarchie.«
Er bremste hart ab, und Hannah schnappte nach Luft, als auf der geraden Straße vor ihnen plötzlich ein brauner Drache wie ein Pfeil niederging und ins Unterholz brach. »Keine Sorge, das ist nur Lance. Hat vermutlich Wild entdeckt.«
Hannah starrte ihn an. »Was?« In dem Moment erhob sich Lance wieder, einen jungen Hirsch im Maul. Seine bernsteinfarbenen Augen leuchteten hohl im Licht der Scheinwerfer, dann breitete er die Flügel aus und glitt mit der Beute in den Himmel davon, wo ihn die Nacht verschluckte.
»Lance ist in seiner Drachengestalt sehr ausgeglichen, deshalb darf er mich auf meinen Außeneinsätzen begleiten. Einsame Wandler fassen zu anderen Drachen eher Vertrauen als zu Menschen. Aber wenn ihn der Hunger auf einem längeren Flug übermannt kann er nicht anders, als ihn mit dem Erstbesten zu stillen. Das ist seine Natur. Noch dazu ist es recht kühl, da verbraucht er mehr Energie.«
»Er isst das Fleisch roh? Mit Fell und allem?«, fragte Claire fassungslos.
»Er ist ein Drache«, sagte Hank, als wäre damit alles erklärt – denn das war es in seinen Augen tatsächlich.
Auf dem Rücksitz warf sich das Paar einen erschütterten Blick zu, und Claire wurde weiß im Gesicht, während sie die Hand vor den Mund nahm.
»Es ist interessant, wie viele Menschen damit ein Problem haben. Es ist dasselbe Fleisch, das wir uns im Restaurant auf dem Teller servieren«, äußerte Hank.
John wechselte rasch das Thema. »Ich dachte immer, Eris ist… naja, irgendwie langsam in der Entwicklung. Irgendwie… eigen.«
Claire warf ihm einen empörten Blick zu.
»Das höre ich sehr oft von Eltern«, erwiderte Hank. »Das zumindest haben sie alle gemeinsam.«
Claire schüttelte den Kopf. »Warum passiert uns das? In meiner Familie gab es keine Drachen, und in der meines Mannes auch nicht.«
John wandte das Gesicht ab, und sie bemerkte es. »John?«
Er seufzte. »Schatz, ich… ich hätte es dir früher sagen sollen, aber es gab irgendwie nie den richtigen Moment dazu. Ich hatte mütterlicherseits einen Onkel, oder Großonkel, ich bin mir gar nicht mehr so sicher, den sie eines Tages weggeholt haben. Ich erfuhr erst als Erwachsener davon, als mein Vater betrunken war. Meine Familie hat nie zuvor oder danach jemals über ihn gesprochen und getan, als gäbe es ihn nicht.«
Claire setzte ein fassungsloses Gesicht auf, derweil sich Hanks Hände um das Lenkrad verkrampften. »Die Gene können mehrere Generationen überspringen. Meist findet sich irgendjemand in der Ahnenlinie, der zumindest Anzeichen für Blütigkeit hatte. Es ist nicht gut, darüber zu schweigen, auch wenn es diesbezüglich einen gewissen Konsens in der Bevölkerung gibt. Drachen sind nichts Unnatürliches, sondern Teil unserer Spezies. Sie brauchen Akzeptanz und Aufklärung. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, der Bevölkerung Drachen näherzubringen, um Vorurteile auszuräumen und eines Tages ein Miteinander zu ermöglichen.«
»Kann es soetwas denn geben? Drachen sind gefährlich, sobald sie Gestalt annehmen«, erwiderte Claire sichtbar unbehaglich.
»Genau diese Art Vorurteil meine ich.« Hank bog um die Kurve, und plötzlich standen sie vor einem hohen, dicken Stahlbetonzaun. Er hupte, dann öffnete sich ein breites, hohes Tor, indem es sich seitlich zurückzog. Der Wagen setzte seinen Weg hindurch fort, bis sie an einem schmalen, irdenen Parkstreifen angelangt waren. Eine große, rustikale Blockhütte thronte dort mitten auf der Anhöhe.
Sie alle stiegen aus und blickten sich mit einer Mischung aus Neugier und Furcht um. Die Hütte war umgeben von Wald, doch von der Anhöhe aus öffnete sich der Blick auf ein freies Feld, das offenbar landwirtschaftlich genutzt wurde – Äcker waren dort angelegt, und rundherum reihten sich weitere Blockhütten im Schutz der Bäume aneinander. Es war ein beinahe idyllisches Örtchen – bis plötzlich ein bedrohlicher Schatten über sie hinwegglitt. Claire trat näher zu ihrem Mann, als der Drache in ihrer Nähe niederging. Hank reagierte nicht darauf, sondern nahm Eris aus dem Kofferraum und weckte Ada dabei. Sie war sichtlich erschrocken darüber, die ganze Fahrt verschlafen zu haben, und blickte sich nervös um. »Keine Sorge Liebes, erst kümmern wir uns um unseren unverhofften Neuzugang, dann bist du dran. Du hast also noch Zeit, aufzuwachen.« Er lächelte beruhigend.
Ada zog sich instinktiv in eine Ecke des Kofferraums zurück und fletschte leicht die Zähne.
Hank lachte. »Meinetwegen bleib noch im Auto, aber halte dich warm, es ist kühl hier draußen. Sie kommen mit.« Er machte eine Kopfbewegung zu Claire und John, dann trat er mit Eris im Arm auf die Tenne der Hütte, während Hannah bei Ada blieb.
Hank trug den noch immer bewusstlosen Jungen ins Haus, dicht gefolgt von dessen Eltern. Sie wirkten noch immer wie betäubt von den jüngsten Ereignissen, aber sie wichen ihrem Kind nicht von der Seite. Ein gutes Zeichen.
Er schaltete das Licht ein; die Wände waren in warmen Pastellfarben gehalten. Das schuf eine beruhigende Atmosphäre für seine nicht immer ganz freiwilligen Patienten. Hank ging nach rechts und hielt auf die Tür zu, die etwas verborgen neben der Treppe ins Obergeschoss lag. Dahinter befand sich sein Untersuchungsraum, in dem auch Patienten in Drachengestalt Platz hatten und dessen verhängte Panoramafenster auf den Wald dahinter blickten.
Er legte Eris auf den gepolsterten Untersuchungstisch und wies seine unsicheren Eltern an, auf der Bank neben der Tür Platz zu nehmen. Bevor er sich Eris zuwandte, versorgte er Johns geschwollenes Gesicht mit einem in Desinfektionsmittel getränkten Tupfer. »Sie sind so eine Art Arzt?«, fragte John, nachdem er sich geräuspert hatte.
»Als Vorsteher eines Reservats ist man so ziemlich alles: Hausmeister, Lehrer, Seelsorger, IT-Spezialist… aber hauptberuflich bin ich approbierter Facharzt für Drachenmedizin. Ich war nebenbei bemerkt der einzige Absolvent dieses Faches in meinem Jahrgang. So, das dürfte es tun. Sagen sie Bescheid, wenn es sich verschlimmert.« Er ging zu Eris hinüber. »Dann schauen wir dich doch mal genauer an.« Er hörte mit dem Stethoskop an Eris’ Brust und Rücken, fühlte den Puls, schaute ihm in Mund und Augen, bewegte seine Gelenke durch und tastete Bauch und Rücken ab. »Sehr schön, alles wieder so, wie es sein sollte. Sie müssen wissen, dass die Verwandlung nicht immer regelrecht vonstatten geht – vorallem nicht beim ersten Mal. Dann bilden sich Körperteile und Organe nicht richtig um und bereiten Probleme. Aber in seinem Fall scheint alles gut verlaufen zu sein.«
Beide sahen alles andere als beruhigt bei dieser Erklärung aus, und er nahm vor seinem Schreibtisch Platz, um das Gespräch zu führen, das er schon so viele Male geführt hatte. Es war gut, dass seine einzige wirklich drachenblütige Eigenschaft war, dass er kaum Schlaf benötigte. »Nun erzählen Sie mir bitte Ihre Geschichte.«
Sie zögerten, und schließlich fragte Claire: »Unsere Geschichte? Sie meinen, mit Eris?«
Hank nickte. »Fangen Sie von vorn an, mit der Schwangerschaft, und enden sie an dem Punkt, an dem wir jetzt sind.«
Er schrieb auf seinem Laptop, während sie sprach, dann und wann von ihrem Mann unterbrochen, der etwas hinzufügte. Es war eine unauffällige Schwangerschaft gewesen und Eris ein Wunschkind, auf das sich die ganze Familie freute, auch wenn beide Eltern sich ein Mädchen gewünscht hatten. Seine Kindheit war ebenso unauffällig verlaufen, mit dem Unterschied, dass er stets jünger wirkte, als er war – sowohl körperlich als auch seelisch. Er liebte es, sich zu verstecken, hatte eine Vorliebe für bunte Flummis und Steine, brauchte sein Kuscheltier zum Einschlafen und wirkte nicht wie die anderen Fünfzehnjährigen, die bereits mit Mädchen ausgingen und denen man ansah, dass sie langsam zu Männern wurden.
»Schämen Sie sich für ihn?«, fragte Hank unvermittelt.
John blinzelte. »Was?«
»Ob Sie sich für Ihren Sohn schämen.« Er wandte den Blick nicht von seiner digitalen Akte ab.
John antwortete nicht sofort. »Ich… nein, ich meine… er war immer schon anders. Ich habe das hingenommen, aber ich habe mir Sorgen gemacht, verstehen Sie?« Er wirkte ratlos.
»Das verstehe ich. Drachen entwickeln sich oft anders als ihre nicht-blütigen Altersgenossen, manche schneller, manche langsamer. Es ist typisch, dass sie sich gern zurückziehen, auch, dass sie die Nähe zu ihresgleichen suchen, welche sie mit Kuscheltieren kompensieren. Das wirkt auf Außenstehende merkwürdig. Es gibt so einige Besonderheiten, die Ihnen als Nichtdrachen schleierhaft erscheinen dürften. Zum Beispiel, wie man mit seinem Jagdinstinkt umgeht. Hat er sowas?«
»Jagdinstinkt?«, fragte Claire verständnislos.
»Rennt er plötzlich los, wenn sich jemand oder etwas in seiner Nähe schnell bewegt, und wirkt er verwirrt, wenn der Reiz verschwunden ist? Verläuft er sich dabei?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht, dass ich das jemals beobachtet hätte.«
»Nicht, dass wir wüssten«, bestätigte John.
»Will er vorrangig Fleisch essen und verschmäht sein Gemüse?«
»Nein. Als Kind wollte er kein Gemüse, wirklich so gar keins, aber das wollen doch alle Kinder nicht.« John sah abermals unsicher aus. »Jetzt isst er sogar sehr viel davon. Fast schon zu viel.«
Hank hob eine Augenbraue. »Wie sieht es aus mit Wasser? Hat er eine starke Zuneigung?«
»Er badet gern im Sommer, wie andere Kinder.«
Claire warf ihrem Mann einen strengen Blick zu, der sagte Hör auf, ihn mit anderen Kindern zu vergleichen.
»Dann ist er tatsächlich ein recht atypischer Vertreter seiner Art. Und heute? Was genau ist passiert, bevor ich dazu kam? Unter welchen Umständen wurde er zum Drachen?«
John war es, der mit mühsam unterdrückter Wut antwortete: »Am Abend standen plötzlich diese beiden Mitarbeiter der Drachenbehörde vor unserer Tür und wollten ihn mitnehmen. Wir haben uns geweigert, und dann ist irgendwie... alles eskaliert. In den Wirren hat er Drachengestalt angenommen und nach ihnen und sogar uns geschnappt, ehe er durch die Tür nach draußen in den Wald geflüchtet ist. Wir waren völlig geschockt und sind zurückgewichen, anstatt etwas zu tun. Ich habe noch nie zuvor einen Drachen gesehen oder hätten gedacht, dass ausgerechnet er einer werden könnte.« John wandte das Gesicht ab und stützte es hilflos in die Hand. »Ich hatte Angst in diesem Moment. Ich dachte, wir wären alle gleich tot.«
»Wenn Sie nicht geglaubt haben, dass er ein Drache werden könnte, wieso haben Sie dann zugelassen, dass Ihr Sohn im Vorfeld die Drachenbehörde einschaltet?«, wollte Hank wissen.
»Er war plötzlich so… sicher und selbstbewusst, dass wir dachten, lassen wir ihn«, gestand Claire. »Wir hatten erwartet, dass man dort, wo er hinkommt, feststellt, dass er kein Drache ist, und ihn zurückschickt. Ich meine, die Ärzte müssen sowas doch erkennen. Oder?«
Hank seufzte. Diese Form der Gutgläubigkeit hatte er schon zur Genüge erlebt. »Mrs. Tyrrell, wenn es so einfach wäre, wandelbare Drachen zu erkennen, warum, denken Sie, werden Verdächtige bis sie dreißig sind in ein Reservat gesperrt? Auch wir können nur abschätzen, wie hoch das Risiko ist. Drachenblütige gibt es viele, aber nicht jeder zeigt überhaupt irgendwelche Verhaltensauffälligkeiten, und nicht jeder, der sie zeigt, verwandelt sich auch. Man vermutet eine Dunkelziffer von hunderten, vielleicht tausenden Wandlern und noch weit mehr Blütigen, die frei und unerkannt in den Staaten leben. Ihr Nachbar vielleicht, oder ein Lehrer ihrer Kinder. Bei Ihrem Sohn war der Auslöser vermutlich der immense Stress und die Angst um Sie beide, dem er plötzlich ausgesetzt wurde. Es ist unverantwortlich, wie die beiden Mitarbeiter gehandelt haben – leider krankt auch die Drachenbehörde an einem Fachkräftemangel, und zu unerfahrene Leute werden zu früh auf zu heikle Missionen geschickt, bevor sie ausreichend Fachkenntnisse sammeln konnten. Drachen verändern sich nicht nur körperlich bei der Verwandlung. Das Gehirn verwächst zu einem neuen Organ und bildet Windungen aus, die die menschlichen überwuchern. Sie verstehen am Anfang nur bedingt Sprache. Bei ihrer ersten Verwandlung zeigen sie oft reinen Instinkt: Flucht oder Kampf, letzteres nur dann, wenn es keinen Ausweg gibt.«
»Also sind sie unkontrollierbar«, stellte Claire mit belegter Stimme fest.
»Nein. Die jungen Drachen müssen ihren neuen Körper erst gut genug kennenlernen und die Veränderung akzeptieren, um sich kontrollieren zu können. Es ist wie mit der Pubertät. Der veränderte Neurotransmittercocktail im Gehirn, die neuen körrperlichen Merkmale, die neuen Empfindungen, alles muss sich fügen. Mit der richtigen Behandlung kann man ihre menschliche Seite ansprechen, so wie bei Lance, meinem Begleiter. Das ist das Ziel dieses Reservats. Ich möchte Menschen in Drachengestalt formen, damit Kinder wie Eris zu ihrer Familie zurückkehren können.«
Claire sah ihren Mann an und legte ihm eine Hand auf den Arm, doch er ignorierte sie. »Wir lassen unseren Jungen nicht hier.« Johns Stimme duldete keinerlei Widerspruch. »Ich werde nicht ohne ihn zurückfahren. Wir hätten gar nicht erlauben sollen, dass er sich bei der Behörde meldet, und ihm diesen ganzen Unfug ausreden müssen! Wäre die Behörde nicht gekommen, dann wäre das alles nicht passiert und wir könnten unbehelligt weiterleben als einer von den hundert, die keiner bemerkt!« Er griff sich völlig verzweifelt ins Gesicht und begann plötzlich zu zittern. Claire legte die Arme um ihn und sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Auch das kannte Hank. »Mr. und Mrs. Tyrrell, ich verstehe, was in Ihnen vorgeht. Aber ich erinnere Sie gern daran, dass Sie ihm nicht die besondere Zuwendung geben können, die er braucht. Hier ist er in guten Händen. Sie dürfen ihn sehen, wann Sie wollen, solange das niemand erfährt. Sagen Sie einfach, dass Sie in die Smokys fahren, um sich zu erholen. Ich nehme niemandem sein Kind weg. Ich bin derjenige, der all die Kinder zurückgeben will, die über die Jahre weggenommen wurden. Schlafen Sie heute Nacht hier, zusammen mit ihm. Morgen werden wir alles weitere in Ruhe besprechen.«
Ada saß noch immer im Kofferraum, die Knie eng an den Körper gezogen. Obwohl sie in die Decke gehüllt war, unter der sie geschlafen hatte, zitterte sie in der kühlen Nachtluft.
Hannah setzte sich zu ihr, ohne ein Wort zu sagen. Es brauchte auch keine Worte; dies war das erste Mal seit Jahren, dass sie das Gefühl hatte, wieder auf einer Wellenlänge mit ihrer Tochter zu sein. Seit Lance fort war hatte es nur noch Streit und Misstrauen zwischen ihnen gegeben, und sie konnte es ihr nicht ernstlich verübeln. »Schatz, komm her.« Sie legte die Arme um sie, und Ada erwiderte die Zuwendung.
»Sind wir wirklich schon da? Im Reservat?«, flüsterte sie und beobachtete die Umgebung, als fürchte sie, jeden Moment aus der Dunkelheit heraus angegriffen zu werden.
»Ja. Aber du musst nicht hierbleiben, wenn du nicht willst. Ich lasse dich mir nicht wegnehmen.« Jetzt, wo ich dich endlich zurück habe. Sie sagte es mit solcher Entschlossenheit, dass Ada verblüfft zu ihr aufblickte. Tränen schimmerten in Hannahs Augen, doch im spärlichen Licht der Außenbeleuchtung waren sie kaum zu sehen. »Mir ist egal, wie die Gesetze unseres Landes lauten. Du bist alles was ich habe, alles, was mir von Samuel geblieben ist. Und du hast nie Drachengestalt angenommen.« Für einen Moment gab sie sich wilden Fluchtfantasien hin – in Kanada war es Drachen erlaubt, sich frei zu bewegen, solange sie sich weit genug von den nächsten Siedlungen entfernt aufhielten und regelmäßig bei den Behörden meldeten. Es gab Drachen, die dort ein eigenständiges Dasein als Farmer und Viehzüchter führten. Ada und sie konnten das auch, wenn es nötig wurde. Das und nichts anderes würde sie Hank morgen sagen.
Ada für ihren Teil war verwundert von den Worten ihrer Mutter. Diese hatte noch nie so… unvernünftig gesprochen, klang jetzt beinahe wie sie selbst manchmal. Dass sie Ada nicht hergeben wollte, gab ihr Kraft. Und sie hatte noch immer viel zu viele unbeantwortete Fragen.
Sie löste sich aus den Armen ihrer Mutter und sah sich etwas neugieriger um. Alles lag in Dunkelheit getaucht. Hier draußen in den wilden Wäldern der Smokys waren Farben und Sterne am Nachthimmel zu sehen, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass sie existierten. Alles wurde von den schwarzen Wipfeln der Berge in irgendwie beruhigende Grenzen gefasst. Sie hörte das Rauschen des Windes in den Bäumen und sah die Silhouetten von Häusern am Rand eines großen Felds. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich plötzlich gar nicht mehr so unwohl wie noch vor wenigen Minuten. Vielleicht, weil sie im Wald waren. Sie hatte tatsächlich noch keine Drachengestalt angenommen, aber möglicherweise war es nur eine Frage der Zeit. Sie spürte immerhin schon seit Jahren etwas in sich, das nach draußen wollte, lauerte, drängte. War es der Drache? Das Erbe ihres Vaters?
»Hank ist noch mit dem Jungen da drin, oder? Weißt du, wer er ist?«, fragte sie. Sie erinnerte sich nicht daran, ihn jemals in der Schule gesehen zu haben. Vielleicht ging er gar nicht auf dieselbe Schule, oder er hatte sich gut vor ihr verborgen. Ada gab zwar nicht viel darauf, ihre Mitschüler zu kennen, aber sie glaubte, dass er ihr aufgefallen wäre.
»Sein Name ist Eris Tyrrell, und seine Eltern sind völlig überfordert mit der Situation.«
»Bist du auch völlig überfordert?«
Sie ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort. »Nein. Ich hatte Jahre, um mich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich wusste immerhin genau, was Samuel ist. Dennoch glaubt und hofft man als Mutter stets, dass der Kelch an einem vorübergeht.«
Sie sahen beide auf, als sich jemand näherte: Hank, eine Laterne in der Hand, die ihr spärliches Licht auf sie warf. »Wie siehtʼs aus? Wollt ihr die Nacht im Auto verbringen oder lieber drinnen schlafen?« Er zwinkerte ihnen zu. »Kommt mit. Ich habe eine angenehme Bleibe für Ada vorbereitet.«
Sie stiegen aus, gingen einen steinigen Weg entlang und gelangten schließlich an ein weiteres kleines Holzhaus. »Alle Häuser hier sind aus dem Holz errichtet, das aus den umliegenden Wäldern stammt. Wir sind relativ autark für ein Reservat, bauen das meiste, was wir benötigen, selbst an oder holen es uns aus der Natur. Das müssen wir auch, denn nur ein- bis zweimal im Monat dürfen wir das Reservat verlassen, um Dinge einzukaufen, die wir nicht selbst herstellen können. Allerdings umgehen wir das Gesetz, wann immer es uns unnütz erscheint und niemand uns nachweisen kann, dass wir es getan haben. Immerhin sind wir keine Verbrecher. Uns wie welche zu behandeln ist falsch.«
»Du klingst wie dein Bruder«, sagte Hannah und rieb sich rasch über die Augen. »Er hat immer davon gesprochen, dass Drachen und Menschen zusammenleben sollten. Ohne Reservate. Er verglich es mit der Rassentrennung, die auch abgeschafft wurde, weil die Leute erkannt hatten, dass es ein Unrecht war.«
»Die Haltung der Menschen gegenüber Drachen ist ein seit Jahrhunderten währendes Unrecht, das sie wie Bestien darstellt und aussondert. Das gleiche gilt für die Drachenjagd, die immer noch praktiziert wird, auch wenn sie offiziell verboten ist.«
»Was ist diese Drachenjagd?«, fragte Ada unvermittelt. »Mom hat etwas von Drachentötern gesagt…?«
»Darüber werden wir jetzt nicht sprechen«, wiegelte Hank überraschend hart ab, ohne sie dabei anzusehen.
Ada blieb stehen und verzog wütend das Gesicht. »Wieso? Glaubt ihr, ich vertrage die Wahrheit nicht? Aber mich meiner Mutter wegzunehmen und einzusperren, bis ich ein Erwachsener bin, ist weniger schlimm? Ich habe ein Recht auf Antworten!«
Hank wandte sich zu ihr um, sah Hannah an, die keinerlei Einwände erhob. »Ada, hör zu. Es gibt Menschen dort draußen, die in Drachen das personifizierte Böse sehen. Das liegt zum Teil im christlichen Glauben begründet, der sie als Dämonen und Handlanger des Teufels darstellt. Aber es sind nicht nur christliche Fanatiker, die es auf Drachen abgesehen haben. Ebenso existieren Menschen, die von Geldgier getrieben werden. Die Schuppen, Krallen und andere Körperteile von Drachen sind auf Schwarzmärkten gefragt. In manchen Gegenden der Welt, insbesondere Asien, macht man aus ihnen traditionelle Arzneimittel.«
Ada schluckte mit geweiteten Augen. »Aber… ich dachte, in Asien wären Drachen heilig?«
»Das gilt für ihre eigenen Drachen. In westlichen Drachen sehen sie nicht mehr als niedere Schlangen – Tiere, die dort zu Schnaps verarbeitet werden.« Er war plötzlich so ernst, dass sie ihn nur anstarren konnte. Seine leichte, unbeschwerte Art war verschwunden, und das stand ihm gar nicht. Er erinnerte sie unweigerlich an Mr. Lincoln. Plötzlich bekam sie einen unerwartet heftigen Anflug von Heimweh.
»Das sind Dinge, die dir nicht grundlos vorenthalten wurden. Du solltest eine Jugendliche sein und dich noch nicht mit den Grausamkeiten dieser Welt befassen. Vor allem nicht solchen Perversitäten.«
»Ich bin kein Kind mehr«, gab sie trotzig zurück, in Wahrheit aber bereute sie es bereits, gefragt zu haben. In ihrem Magen wallte eine Übelkeit auf, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. Sues Vater hatte also Recht gehabt – Drachenteile wurden auf dem Schwarzmarkt verkauft, bestimmt auch von einigen Reservaten.
»Nein«, sagte Hank zu ihrer Überraschung. »Das in der Tat nicht. Aber diese Dinge bereiten auch sehr viel Älteren Magengeschwüre. Unsere Welt ist ein schrecklicher Ort. Umso wichtiger ist es, Oasen der Zuflucht zu schaffen.« Er wandte sich wieder ab und ging weiter, öffnete die Tür der Hütte und schaltete das Licht ein.
Das Holz hatte einen warmen und hellen Farbton, als Ada und Hannah hinter ihm eintraten. Sie fanden sich in einem kleinen Vorraum mit Haken für Kleidung an der Wand neben der Tür und langen Regalen mit quadratischen Fächern wieder. Rechts führte eine steile Treppe anscheinend zum Dachboden hinauf, der durch eine nicht komplett eingezogene Decke offen lag. »Rechts geht es zur Küche, links ins Badezimmer und geradeaus in den Wohnbereich. Unter dem Dach liegt der Schlafraum. Das Haus ist den Bedürfnissen von Drachen angepasst: Sie schlafen am Liebsten erhöht und gleichzeitig geschützt. Es gibt auch eine Anflugpforte und ein großes Dachfenster, damit sie ständig den Himmel im Blick haben. Erkundet die Unterkunft ruhig ein bisschen, ich wünsche euch eine gute Nacht.«
Ihre Mutter umarmte ihn zum Abschied, und Ada sah ihm nach, als er das Haus verließ.
Im Wohnbereich gab es neben dem hölzernen Schrank eine Couch mit dunklem Bezug, einen orangeroten Teppich auf dem Holzboden und einen Glastisch. Es war bieder eingerichtet, aber Ada mochte es. Sie hatte sich Zuhause oft von dem ganzen Kram erdrückt gefühlt, der sich in ihrem Haus angehäuft hatte, auch wenn sie sich in ihrem Zimmer zwischen ihrem eigenen Kram immer sehr wohl gefühlt hatte. Während ihre Mutter die Taschen auspackte, erkundete sie das Haus – die Küche mit ihrer langen Arbeitsplatte, die den Raum einmal längs teilte; das Bad, dessen Wände Naturstein nachempfunden waren und eine breite Regendusche aufwies; zu guter Letzt folgte der atemberaubendste Raum: Der Dachboden, dessen ganzer Bodenbelag eine Art Matratze war. Unter der einen Dachschräge lagen Kissen und erfreulich wärmende Decken, die andere bestand zur Hälfte aus einem breiten Fenster, durch das man den Sternenhimmel sehen konnte. Adas Herz schlug schneller bei dem Anblick. Am gegenüberliegenden Ende fand sie eine verschlossene Öffnung in der Wand, die mit Riegeln gesichert und ringsum mit Gummi abgedichtet war. Das musste die Anflugpforte sein, von der Hank gesprochen hatte. Sie öffnete die Tür probehalber und starrte auf eine Art Balkon hinaus, aber ohne Geländer. Eilig schloss sie die Flügel wieder. Dort wollte man gewiss nicht runterfallen.
Wie sie so auf dem weichen Boden saß, fühlte sie sich plötzlich wieder sehr müde. Bald schon würde es wieder Morgen sein. Freitag, dachte sie, und sie würde nicht in der Schule erscheinen. Normalerweise hätte sie sich darüber gefreut, stattdessen machte sie sich ernsthafte Sorgen. Was sollte jetzt aus ihr werden? Wie sollte sie mit all dem klarkommen, was sie über ihren Vater und sich selbst erfahren hatte? Alles an diesem einen Tag.
Sie stieg wieder hinunter und beschloss, eine Dusche zu nehmen. Der Stein unter ihren Füßen war so angenehm wie das warme Wasser und die Matratze im Obergeschoss, und als sie sich schließlich mit ihrer Mutter unter die weiche Decke kuschelte und zu den Sternen aufsah schlief sie ein, ohne es zu merken.
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Sabienchen • Vor einem Tag, 3 Stunden und 47 Minuten • Mit 12. Kapitel verknüpft | |
Ich fand, den Schluss schön ^^ Ich mag hier in der Geschichte, die Welt Ansichten und den Moralischen Ansatz, es Spiegel meinen auch wieder :) :) Ada ist einfach überfordert und hat zu viel neues Erfahren, das mit den Drachentöter kann ich mir auch vorstellen, das sie es wissen wollte. Da es ihren Vater betrifft und auch was es auf sich hat, halt kindliche Neugier und ich glaube, sie wird es nächste mal nicht mehr, auf eine Antwort bestehen. Aber ich glaube, für Hank war auch alles etwas zu viel und er muss bestimmt noch einige Sachen regeln, also er wird jetzt bestimmt auch keine ruhe haben. Außerdem es betrifft auch seinem Bruder und es schmerz ihm bestimmt auch, daher kann ich verstehen, warum er es vermeiden wollte :/ Aber ich freue mich für Hannah, das es mit ihre Tochter besser läuft und ich denke, mit Lance wird es auch wieder ^^ Mehr anzeigen |
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Sabienchen • Vor 2 Tagen, 15 Stunden und 24 Minuten • Mit 11. Kapitel verknüpft | |||
Es war gut, das die Eltern ehrlich und offen waren, aber Hank strahl auch eine gute Ausstrahlung. Und er ist es auch, daher ist er auch der richtige dafür ^^ Ich denke, der nächste morgen sieht schonmal besser aus und wenn die Eltern Eris mal den Tag, in den Reservate beobachten können. Wird bestimmt alles gut, da sie sehen werden, wie wohl er sich da fühlt :) |
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Sabienchen • Vor 5 Tagen, 5 Stunden und 27 Minuten • Mit 10. Kapitel verknüpft | |||
Es ist traurig zu hören, das Samuel gestorben ist und nicht die Möglichkeit zu haben, seine Tochter kennen zu lernen :( Ich bin mal gespannt, ob Hank, die Unsicherheit von Eris Eltern zu vertreiben ^^ Aber das Projekt von Hank und Samuel ist was schönes und Hank Einstellung :) Auch das Lance gut geht und ich finde, Ada Reaktion zum Schluss süß und hat sich Ada, in Eris etwas verguckt? ^^ |
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Sabienchen • Am 23.09.2025 um 20:04 Uhr • Mit 9. Kapitel verknüpft | |||
Mom und Mama, ist es ein Lesbenpaar? Was ok ist, nur ich bin gerade etwas verwirrt :O Geschwistern hassen und lieben sich, es kommt immer auf die Situation an ^^ Mal schauen, ob IIon sich da nicht vertut. Aber ich denke, sie haben auch die Horrormärchen mitbekommen, was man über die Reservate sagt. Kein wunder, da sie es nicht genau wissen ;) |
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Sabienchen • Am 22.09.2025 um 13:56 Uhr • Mit 8. Kapitel verknüpft | |||
Hier merkt man auch wie es mit zwei verschiedene Meinungen und Erfahrung ist, was man leider überall hat :/ Ich mag Irena Einstellung, aber auch da sie sich selber nicht belügt und soweit ist Sara noch lange nicht. Aber ich hoffe, sie unterhalten sich öfters und Irena kann sie überreden ^^ Da Sara leider sich noch versperrt, besonders wegen angst um ihr Kind. Jetzt bin ich auch gespannt, was eine Rolle sie noch spielen oder ihre Kinder ^^ |
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Sabienchen • Am 22.09.2025 um 13:41 Uhr • Mit 7. Kapitel verknüpft | |||
Zum Glück konnte Hank, das schlimmste verhindern und meldet auch den Vorfall, der andere Behörde :) Ich sage mal selbst schuld, für die beiden anderen Agenten, Hochmut ist selten gut und besonders, wenn man Feingefühl sein muss ^^ Hank hat es und er wird jetzt Eris und seine Eltern wieder beruhigen und morgen Eris mitnehmen ^^ |
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Sabienchen • Am 19.09.2025 um 21:42 Uhr • Mit 6. Kapitel verknüpft | |||
Ok, damit habe ich jetzt nicht gerechnet, mit den Onkel ^^ Aber es ist auch schön zu wissen, dass einer da mit Feingefühl ist usw. :) Da haben sie alle, einiges aufzuholen und ich denke, Ada vertraut Hank. Aber sie erfährt jetzt einiges, was auch gut ist und ich bin auch sehr Gespannt, was eine Geschichte hinter ihren Vater steckt :) Aber Hank muss sich erstmals um Eris kümmern und ich hoffe, er schafft es auch alles rechtzeitig. Ich bin jetzt auch sehr gespannt, was mit Eris Eltern ist, da sie ihn jetzt nur gesehen haben. Also er konnte flüchten, was schonmal gut ist und Hank in gesehen hat :) Mehr anzeigen |
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Sabienchen • Am 18.09.2025 um 10:22 Uhr • Mit 5. Kapitel verknüpft | |||
Das Ende ist sehr spannend und wirft Fragen auf ^^ Eris hat nicht leicht, zuerst dachte ich, es wäre seine Charakterzüge und Persönlichkeit, aber wenig aggressives. Was die Drachblütige oder Drachen haben, aber so kann man sich Täuschen ;) Ich bin mal gespannt, ob er noch etwas sein eigenes ich hat und seine Eltern beschützt, aber die Behörde Leute waren auch sehr unsensibel gewesen ( Daher haben sie die Situation, verursacht und weiter verschlimmert ). Anscheinend kommt es sehr stark drauf an, welche Behörde es ist und welche Leute. Ich bin mal gespannt, ob Hank noch dazukommt und vorher seine Sachen erledigt hat. Oder wie es jetzt weiter geht und hoffe, es geht Eris gut und seine Eltern :/ Mehr anzeigen |
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Sabienchen • Am 15.09.2025 um 20:58 Uhr • Mit 4. Kapitel verknüpft | |||
Die Geschichte, wird langsam interessant ^^ Irgendwo bin ich gespannt, ob man noch mehr von Ada Vater erfahren werden :) Kann es sein, das Hank ein ehemaliger guter Freund von Hannah war oder waren sie mal zusammen? Aber es ist schön zu lesen, das Hannah es bereut hatte mit Lance und sie es nicht mit ihre Tochter es zu gelassen hätte :) Aber Hank mag ich etwas, nur ich muss von ihm noch was erfahren, für ein Bild zubekommen. Es ist auch schön, das Ada wieder mit Lance in Kontakt kommt ^^ Ich denke, es wird interessant, wie der Besuch bei Sue wird. Ich denke, zu erst Ablehnung, außer wenn sie Lance zu fort sehen :) Mehr anzeigen |
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Sabienchen • Am 15.09.2025 um 0:50 Uhr • Mit 3. Kapitel verknüpft | |||
Ich mag Mr. Lincoln :) nur ob er am Ende mit Sue eine Lösung finden oder er Ada ehrlich nicht als Gefahr ansieht. Aber ihre Mutter ist ja eigentlich kein schlechter Mensch, ich denke, sie war mit der Situation mit Lance überfordert gewesen oder hatte einfach nur angst gehabt. Daher bin ich auch gespannt, wie Ada Mutter jetzt Handelt, besonders da es um ihre Tochter handelt :/ Aber ich glaube, sie müssen jetzt schnell Handeln oder eine Lösung finden, da die Behörde auch nicht dumm sind :/ |
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Sabienchen • Am 12.09.2025 um 22:16 Uhr • Mit 2. Kapitel verknüpft | |||
Ada Situation ist alles andere als rosig, besonders da sie die Situation nicht ganz versteht und auch nicht ganz versteht warum sie jetzt weglaufen muss :/ Mit Lance hört sich auch nicht schön an, da bin ich gespannt, ob sie sich vielleicht wieder sehen werden. Ich kann auch Ada Gedankengänge verstehen, besonders an ihre Freunde und ob sie, sie wieder sieht. Ich glaube, der Hunger ist alles andere als gut, da sie in nicht Kontrollieren kann :/ Dann hoffe ich, das sie jetzt nur Tiere Jagt und dadurch etwas sicher ist. Bis sie weiß, was sie jetzt machen soll. Mehr anzeigen |
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Sabienchen • Am 12.09.2025 um 21:45 Uhr • Mit 1. Kapitel verknüpft | |||
Hallo Abiogladius Ich finde, den Anfang schonmal interessant gestaltet und bekommt dadurch auch einige gute Informationen ^^ |
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Kapitel: | 12 | |
Sätze: | 1.385 | |
Wörter: | 20.009 | |
Zeichen: | 119.079 |