Autor
|
Bewertung
Statistik
Kapitel: | 80 | |
Sätze: | 12.957 | |
Wörter: | 237.877 | |
Zeichen: | 1.452.141 |
Kapitel 1 Ein Unglück kommt selten allein…
Bahe rannte geduckt in einer dunklen Sackgasse durch den strömenden Regen. Am Ende der Gasse stapelte er ein paar alte Plastikkisten auf die halb verrosteten Müllcontainer und ermöglichte es sich so, an das vier Meter hohe Ende der Betonmauer zu kommen. Er zog sich mit einem Ruck nach oben und stieß sich gleichzeitig mit den Füßen an der Mauer ab, ehe er sich auf der anderen Seite, vorsichtig auf das Dach eines Bungalows hinunter gleiten ließ. Mit leisen Schritten lief Bahe weiter über die Dächer verschiedener Bungalows und provisorischer Hütten, die gerade in den äußeren Bereichen der Slums zum Alltag geworden waren.
Nach einiger Zeit ging es über den Boden weiter, wo er darauf achtete, den wenigen Menschen auf den vor Matsch triefenden Wegen nie zu nahe zu kommen. Zu dieser Uhrzeit konnte sonst was passieren und es würde niemanden interessieren. Nicht, dass er etwas von Wert bei sich getragen hätte.
Wobei der Begriff Wert relativ war, denn vielleicht gefielen dem ein oder anderen Obdachlosen ja seine Schuhe. Bei dem Gedanken beschleunigte Bahe seine Schritte nochmal und legte die letzten zwei Kilometer, regelrecht um sein Leben rennend, zurück.
Inzwischen waren die provisorischen Hütten und Bungalows verschwunden und hatten Platz für alte, runtergekommene Betonbauten gemacht, die in zahllosen Varianten ineinander verschachtelt dastanden und Zeugnis über vergangene Bausünden ablegten. Bahe lief immer noch durch Seitengassen und hielt sich von den beleuchteten Wegen fern. Er wagte es nicht mehr, sich seinem zu Hause über die von Leuchtreklamen und blinkenden Verkaufsschildern strotzenden Straßen zu nähern.
Mit Anlauf sprang er an eine Mauer und kletterte die letzten Meter auf das Dach eines eingestürzten Gebäudes, das sich direkt gegenüber vom Grundstück seiner momentanen Bleibe befand.
So leise wie möglich hob er einen langen Balken an und wuchtete ein Ende über die dunkle Gasse hinweg auf die Grundstücksmauer der gegenüber liegenden Seite. Der Moment des dumpfen Aufpralls hallte unnatürlich laut durch die Nacht und ließ Bahe in Gedanken an mögliche Folgen erzittern. So schnell er es wagte, huschte Bahe hinüber, kletterte auf einen alten, metallenen Schuppen hinab und zog den Balken zu sich herüber.
Nachdem er den Balken am oberen Ende des Schuppens festgeklemmt hatte, schlich er zum Rand des Schuppens und ließ sich leise zum Boden herab fallen.
Wie der Blitz huschte Bahe anschließend zur Hintertür der Erdgeschosswohnung, öffnete sie langsam, um bloß kein Quietschen zu erzeugen und schloss sie auf die gleiche quälend, langsame Art wieder.
Ein kurzes Rappeln war zu vernehmen als die Tür ins Schloss fiel und Bahe ließ sich vor Schreck instinktiv in die Hocke fallen. Einen Augenblick später hörte er schon hektische Schritte im Matsch und im nächsten Moment schlug jemand hart und laut brüllend an die Tür: „Hey! Ich weiß, dass du da bist! Du weißt, wer wir sind! Mach die Tür auf, sonst wird es nur unangenehmer für dich! Hey! Mach auf!“
Bahe hielt die Luft an und duckte sich noch näher an die Wand, um vom Fenster aus nicht ausgemacht werden zu können. Die Tür musste noch einen Augenblick länger den Schlägen des Mannes standhalten, ehe kurzzeitig Ruhe einkehrte.
„Bist du sicher, dass du was gehört hast?“, fragte eine andere Männerstimme mit starkem Akzent.
„Was soll’s denn sonst gewesen sein?“, blaffte der Mann an der Tür.
„Vielleicht war’s nur ne Ratte.“
„Ach was, ne Ratte?!“, meinte der Mann an der Tür herablassend.
„Man, ich habe doch auch Augen im Kopf. Schau dich doch mal um, wo zum Henker soll der Junge bitte schön hergekommen sein? Wir beobachten das Haus seit Tagen. Es gibt nur die Vordertür und den Weg, den wir gerade genommen haben, um in diesen Hinterhof zu kommen. Beides hatten wir immer im Blick. Hier hinten hat die Oma, der diese Ruine gehört, doch tatsächlich diese drei bis vier Meter hohe Mauer um das Grundstück errichten lassen. Der Junge kommt vielleicht über den alten Schuppen von hier hinüber, aber nicht wieder zurück. Draußen ist überall nur die kahle Wand, das Stück sind wir extra abgelaufen!“
„Fuck! Könnte sein… Der Bastard ist uns nur schon zu lange entwischt. Ich habe kein Bock mehr so ner Rotznase hinterher zu rennen.“, fluchte der Mann an der Tür und Bahe meinte sich entfernende Schritte zu vernehmen. „Lass uns zum Wagen zurück gehen. Ich habe kein Bock bei dem Wetter noch länger im Regen rumzustehen.“
Angespannt blieb Bahe zunächst an der Wand sitzen und lauschte nach draußen. Nachdem er mehrere Atemzüge nichts vernahm, tastete er vorsichtig nach einer Taschenlampe an der Garderobe und machte sich auf den Weg ins Bad. Die Deckenbeleuchtung wagte er auch hier nicht einzuschalten. Im Halbdunkeln entledigte er sich seiner durchnässten Kleidung und machte sich auf ins Schlafzimmer, als er am Spiegel hängen blieb.
Die letzten Monate hatten ihn zunehmend gezeichnet. Im bleichen Schein der Taschenlampe fiel sein abgemagerter Körper noch stärker ins Auge. Die eingefallenen Wangen und wenigen Muskeln ließen ihn immer knochiger und zerbrechlicher wirken. Zudem war Bahe für seine achtzehn Jahre noch immer recht klein und konnte mit 1,68m gerade mit den Mädchen seines Alters mithalten. Um Geld einzusparen, hatte er zunehmend auf regelmäßige Mahlzeiten verzichtet. Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass sein momentaner Lebensstil alles andere als vorteilhaft in dieser Hinsicht war.
Mit hängenden Schultern ging er ins Schlafzimmer und suchte sich frische Kleidung raus. Angezogen sank er erschöpft am Bettrand zusammen und tastete unter der Matratze nach seinem wertvollstem Schatz. Es war ein altes Foto, dass ihn und seine, damals noch vollständige, Familie zeigte. Das Foto war vor vier Jahren im Wulingyuan Nationalpark aufgenommen worden.
Bahe erinnerte sich noch genau an die ersten Jahre, als er 2046 mit seinem Vater nach China zog, weil dieser hier ein lukratives Jobangebot bekommen hatte. Seine Mutter war ein Jahr zuvor in einem Autounfall gestorben und Bahes Großeltern mütterlicherseits machten ihn und seinen Vater für den Unfalltod ihrer Tochter verantwortlich und hatten jeglichen Kontakt mit ihnen abgebrochen.
Damals war Bahe froh gewesen von all den Dingen fortzukommen, die ihn stets an seine Mutter erinnerten. Sicher, er hatte zunächst seine Freunde vermisst, aber so nach und nach war er damit zu Recht gekommen. Etwa ein Jahr später stellte ihm sein Vater eine neue Frau vor, Sulin Ma, eine warmherzige Chinesin, die er schneller als er sich vorstellen konnte als Mutter akzeptierte. Bahe konnte bisher nicht sagen, woran es gelegen hatte, er fühlte sich einfach wohl in ihrer Gegenwart.
Sie kam aus einer armen Familie und ihre sehr traditionellen Eltern waren durch die hier immer noch als normal geltenden Regeln der Mitgift schrecklich verunsichert, dass ein wohlhabender Ausländer ihre Tochter ohne jeglichen Nutzen ehelichen wollte. Nach zwei Jahren in China war es dann so weit und die Hochzeit lief diesmal nach chinesischen Riten ab. Es war eine besondere Erfahrung gewesen und Bahe erinnerte sich noch immer gern daran. Kurze Zeit später kamen seine beiden kleinen Geschwister, Liana Xue und Leo Xiao, zur Welt. Der Zwillingszuwachs hatte alle überrascht und Bahes Großeltern väterlicherseits kamen an jedem Geburtstag der Kinder extra nach China geflogen. Zwei Jahre später, zu Bahes Geburtstag, dann jedoch zum letzten Mal. Bahe verbrachte eine wundervolle Zeit mit seiner Familie auf einer Rundreise durch China, an deren Ende eine Tour durch den Wulingyuan Nationalpark stand. Tränen standen ihm in den Augen als er an die letzten schönen Momente seines Lebens dachte.
Nach diesen Tagen nahm das Unglück seinen Lauf.
Sein Vater hatte Bahes Großeltern zurück nach Deutschland begleiten wollen, weil er dort Verhandlungen für seine gut laufende, aber neu gegründete Firma führen musste. Der Flug startete ohne irgendwelche Komplikationen, doch irgendwann brachen die Kommunikationssysteme zusammen und letzten Endes verschwand das Flugzeug vom Radar.
Die nachfolgenden Wochen der Ungewissheit waren die schlimmste Zeit gewesen. Irgendwann fand man jedoch das Wrack und nach und nach wurden die Leichen freigegeben.
Letztlich blieb Bahe mit seinen beiden kleinen Geschwistern, seiner Mutter und ihrer Familie zurück.
Seine Mutter tat damals alles Menschenmögliche, um die Firma seines Vaters zu retten, doch zu keinem Erfolg. Bahe musste erkennen, dass im Gegensatz zu Deutschland, hier noch viel größerer Wert auf Beziehungen und Bekanntschaften gelegt wurde. Es ging nicht um Bestechung, mit unbekannten Leuten wurden schlicht weg keine Geschäfte getätigt. Dass die Firma obendrein auch noch von einer Frau geführt wurde, deren Rolle in China in gewissen Positionen noch immer nicht wirklich anerkannt war, sorgte für den Ruin des noch so jungen Unternehmens. Nach und nach gingen die Profite zurück und am Ende musste Sulin Konkurs anmelden. Sulin konnte gerade noch alle Angestellten ausbezahlen und suchte sich einen einfachen Job als Sekretärin, der gerade genug einbrachte, um ihre kleine Familie über Wasser zu halten. Das große Anwesen, in dem sie zu der Zeit lebten, war die einzige Erinnerung an die glücklicheren Tage.
Als ob alles noch nicht schlimm genug gewesen sei, folgte dann der nächste Schicksalsschlag, den sich Bahe bis heute nicht verzeihen konnte. In einem Moment der Unaufmerksamkeit, als er gerade mit ein paar Freunden auf dem Rückweg von der Schule war, wurde er von einem Motorrollerfahrer gestreift, mitgerissen und dadurch auf die Straße geschleudert, wo er schließlich von einem Auto angefahren wurde.
Durch Glück im Unglück hatte er nur einen gebrochenen Arm, unzählige Prellungen und blaue Flecken davongetragen. Doch der teure Krankenhausaufenthalt war mehr als seine Familie aufbringen konnte. Sulin hatte die Zahlungen an die Krankenversicherung vor einigen Monaten einstellen müssen und keine seriöse Bank wollte einen Kredit für seine Behandlung an eine bankrotte Familie genehmigen. Der Verkauf ihres großen Hauses hätte zu lange gedauert und so blieb Sulin letztlich nur übrig sich an einen Kredithai zu wenden, der wuchernde Zinsen verlangte.
Bahe war gesund geworden und tat in der Folge alles, um im Alltag zu helfen. Als er eines Tages seine dreijährigen Geschwister aus dem Kindergarten abgeholt hatte, sah er wie sich seine Mutter gerade gegen drei vierschrötige Kerle erwehrte. Von Weitem hörte er nur, wie sie das Geld verlangten, dass sie ihnen schuldete und wenn sie nicht dazu in der Lage wäre, sollte sie entweder diesen Palast verkaufen, in dem sie lebten oder eben sich selbst.
Als Bahe hörte, wie einer der Männer abschätzig meinte, dass Huren und Organe immer gesucht werden würden, hatte er zu viel bekommen und war seiner Mutter zu Hilfe geeilt. Natürlich war die folgende Auseinandersetzung nicht glimpflich für ihn ausgegangen. Ein Auge, das bereits am Anschwellen war und mehrere Prellungen zeugten von seiner tatkräftigen Unterstützung, die im Grunde darin bestanden hatte, zusammen geschlagen zu werden.
Nachdem er wieder zu Sinnen gekommen war, hatte sich Sulin um Bahes weinende Geschwister gekümmert, die eine solche Gewalt mit angesehen hatten, während er unter Schmerzen die Einkäufe seiner Mutter eingesammelt und in der Küche deponiert hatte. Bahe wollte seine Mutter schließlich zur Rede stellen, wieso sie nicht einfach das Haus verkaufen wollte, um das Geld zurück zu zahlen, als er sie bewusstlos auf dem Fußboden im Flur vorfand.
Es dauerte drei Tage, von denen Sulin zwei bewusstlos zubrachte, ehe die Ärzte feststellten, was ihr fehlte. Bahe erinnerte sich noch zu gut an den Tag als der Arzt mit ernster Miene vor sie trat und die Ursache verkündete…
Die Diagnose: Gehirntumor!
Kapitel 2 Atempause und Hoffnung
Damals war eine Welt für ihn zusammengebrochen. Zusammen mit seinem Großvater hatte er jeden Gegenstand, den man zu Geld machen konnte, verkauft, um seiner Mutter wenigstens die nötigste Behandlung in einer Spezialklinik zukommen lassen zu können. Das Haus stand wenig später letztlich auch zum Verkauf.
Vorübergehend war er zu seinen Großeltern gezogen. Doch die Beiden waren so arm, dass sie gerade seine beiden jüngeren Geschwister mit durchfüttern konnten. Bahe hatte daraufhin die Schule abgebrochen, die billigste Wohnung gesucht, die er finden konnte und sich mit einfachen Gelegenheitsjobs durchgeschlagen.
Während er anfangs guter Hoffnung gewesen war sich selbst versorgen zu können, musste er schließlich einsehen, dass kaum jemand einen achtzehnjährigen, jugendlichen Ausländer ohne Schulabschluss anstellen wollte. Bahe konnte froh sein, wenn er Arbeit auf einer Baustelle fand. Wobei ihm auch dort nur die größte Drecksarbeit zugeteilt wurde, die sonst keiner machen wollte.
Mit seiner Vermieterin hatte er Glück. Sie war eine der wenigen guten Menschen, denen er in seinem kurzen Leben begegnet war und sie erlaubte ihm hier zu leben, auch wenn er mal wieder in Rückstand mit der Miete geraten war. Es war leider schon oft vorgekommen, dass er die Miete nicht pünktlich bezahlen konnte, geschweige denn eine anständige Mahlzeit. Auch heute musste er mal wieder ohne Abendessen auskommen.
Bahe wusste, wenn es so weitergehen würde, könnte er vor Erschöpfung irgendwann nicht mal mehr arbeiten und ohne Arbeit gab es kein Geld, um die wöchentlichen Rechnungen der Klinik für seine Mutter zu bezahlen.
Bahe lachte bitter bei dem Gedanken wie makaber das Gesundheitswesen hier in China war… Sobald die Krankenhäuser Wind davon bekamen, dass die Patienten kein Geld für eine Behandlung hatten, wurden sie vor die Tür gesetzt und zum Sterben zurück gelassen…
Der Verkauf des Hauses brauchte Zeit, um einen vernünftigen Preis zu erzielen, der die notwendige Operation ermöglichen würde.
Bahe hatte sogar schon mal daran gedacht nach Deutschland zurück zu ziehen. Er besaß noch immer die deutsche Staatsbürgerschaft und Sulin und seine Geschwister durch die Heirat ebenfalls. Allerdings hatte er die Idee genauso schnell auch wieder verworfen. Wovon sollte er allein die Flugtickets bezahlen?
Langsam näherten sich seine Gedanken, dem einzig anderen Schatz den er außer dem Foto noch besaß. Im Halbdunkeln schob er das Bett einen halben Meter zur Seite und lockerte mit einem Messer aus der Küche vorsichtig zwei Bretter in der Bodenverkleidung. Anschließend hob er die Balken vorsichtig aus ihrer Verankerung und griff nach der metallenen Box, die unter dem Holzboden versteckt war.
Die Box selbst enthielt nicht viel. Nur einen einzigen Zettel, der Bahe sehr ans Herz gewachsen war. Auf dem Zettel standen die Login-Daten für einen besonderen Charakter im Online-Computer-Spiel Dreamworld. So bescheiden der Titel des Spiels auch in Gamer-Kreisen aufgenommen wurde, umso stärker hatte schließlich das Gameplay überzeugt und sich eine unfassbar große Fanbase in China und anderen Teilen der Welt erarbeitet. Vor sieben Monaten hatte es sogar noch den Titel des beliebtesten Online-Rollenspiels der Welt erlangt, als die aktive Spielerzahl die 3 Milliarden-Marke geknackt hatte.
Zwei Wochen später machte plötzlich der TNL-Konzern Schlagzeilen mit Ankündigung für sein neustes Produkt. TNL stand für The Next Level, einer Ideenschmiede mit enormen finanziellen Ressourcen, die sich in verschiedensten technologischen Bereichen spezialisierte. TNL kündigte das Ende sämtlicher Computer- oder Konsolenspiele der alten Generation an. Der Konzern versprach Raoie, eine neue, einzigartige Welt und ein völlig revolutionäres System, das sämtliche Computer und Konsolen überflüssig machen sollte.
Bahe hatte gehört, dass die Menschen kurz nach der Jahrtausendwende noch vor Bildschirmen gesessen hatten. Eine wirklich merkwürdige Art Computerspiele zu spielen. Heutzutage hatten Kopfinterface und Helme mit eingebauten Displays solche antiken Visualisierungsmethoden längst abgelöst. Kommandos oder Bewegungen wurden durch Gewichtsverlagerungen des Kopfes und dem Einsatz spezieller einhändiger Tastaturmodulen bzw. Handkonsolen ausgelöst.
Die enorme Entwicklung war an dieser Stelle aber schließlich ins Stocken geraten. Und genau dann war TNL aufgetaucht. Zunächst blieb die Gesellschaft natürlich skeptisch, vor allem aufgrund der Art der Weiterentwicklung. War es bislang darum gegangen, die nötigen Bestandteile zur Auseinandersetzung mit virtuellen Spielen jeglicher Art weitestgehend zu reduzieren, ging TNL plötzlich umgekehrt an die Sache heran und stellte ein großes und teures System vor.
Im Grunde glich es einem zylinderförmigen Bett, das eine aufklappbare Funktion aufwies. Man musste sich hinein legen und eine Art Helm anlegen. Der Helm sorgte für eine Synchronisation des Systems mit den Gehirnwellen des jeweiligen Individuums und erlaubte es so, den Spieler, in einen traumähnlichen Zustand, in eine synthetisierte Welt zu versetzen. Vereinfacht ausgedrückt, das neue System projizierte das Bewusstsein des Spielers direkt in die Onlinespielwelt Raoie! Nur durch seine Gedanken sollte der Spieler in der Lage sein, seinen Charakter im Spiel zu lenken und zu bewegen. Von innen war die Apparatur daher zu allen Seiten hin stark gepolstert, um unbewusste Bewegungen abzufangen und ungewollte Verletzungen zu vermeiden.
Gerade in der Gamer-Gemeinschaft wurde die sargähnliche Funktion zunächst nur spöttisch aufgenommen.
– TNL die neuen Sargmacher! –
– Vampirismus und TNL, wann bringt ihr den „neuesten“ Horrorfilm ins Kino?! –
– Vorsicht Gamer, zockt nicht mehr so lange, sonst wird euch das Sonnenlicht rösten! –
Die Medien und digitalen Plattformen waren voll von abschätzigen Kommentaren über das neue Produkt gewesen.
Als dann auch noch der Startpreis des einfachsten Systems mit 15000 Yuan veröffentlicht wurde, glaubten die meisten Leute an einen schlechten Scherz. Der Untergang von TNL und ihrer Entwicklung schien vorprogrammiert zu sein.
Doch das System funktionierte. Es funktionierte nicht nur einfach gut, die Welt Raoie schaffte es doch tatsächlich einen Realitätsgrad von 98-99% zu erreichen und überzeugte damit sämtliche Beta-Spieler[i] dermaßen, dass die kritischen Stimmen bald der Vergangenheit angehörten.
Gerade die zahlreichen Internetcafés investierten zu Beginn in die teuren neuen Systeme und konnten sich vor dem Ansturm begeisterter Spieler schon bald nicht mehr retten. Innerhalb weniger Wochen schossen die Verkaufszahlen der auf den Namen Dimensional Leap getauften Systeme in ungeahnte Höhen.
Mittlerweile war das Spiel Raoie auf einem unaufhaltbaren Siegeszug und TNL hatte umgesetzt was sie versprochen hatten.
Bahe blickte immer noch auf den zerknitterten Zettel mit den Login-Daten zu dem langsam an Beliebtheit verlierenden Spiel Dreamworld. Zusammen mit seinem Vater hatte er vor Jahren einen Charakter erspielt und mit legendärer Rüstung versehen, die den Gipfel der damaligen Zeit darstellte. Bahe hoffte das die Charakterfigur trotz der Zeit nicht zu sehr an Wert verloren hatte, da die Rüstung aus einer bestimmten Storyline hervorgegangen war, die gerade für Sammler von besonderem Interesse sein könnte. Gerade in Asien herrschte ein reger Markt für die verschiedensten Onlinespiele, Ausrüstung einzelner Charaktere oder gar komplette Gamer-Accounts.
Bisher hatte Bahe es einfach nicht übers Herz gebracht, den Charakter zu verkaufen, den er zusammen mit seinem Vater erspielt hatte. Irgendwie war es für ihn lange Zeit die letzte Verbindung zu seinem Vater gewesen.
Doch wenn er noch länger zögern würde und Raoie weiterhin so stark an Beliebtheit gewann, würde er bald wahrscheinlich keinen einzigen Yuan mehr für die geliebte Onlinerollenspielfigur bekommen.
Es war ja nicht so, dass er ein Vermögen erwartete. Wenn genug Geld raussprang um wenigstens eine Woche länger die Klinikrechnungen seiner Mutter zu bezahlen, war er zuversichtlich, dass er das Geld für die letzte Woche zusammenkratzen könnte, ehe das Haus verkauft war und seine Mutter endlich operiert werden könnte.
Vorsichtig verstaute er Zettel und Box wieder unter den Holzbalken, schob das Bett zurück und legte sich Schlafen. Es gab kein Mittel gegen den Hunger, der ihn quälte und umso schneller ihn der Schlaf einholte, desto besser. In Gedanken an die schönen Erinnerungen seiner Familie schlief er schließlich ein.
Mit dem Entschluss, seine letzte Erinnerung an seinen Vater zu opfern, kletterte er am nächsten Morgen mit Hilfe des Metallschuppens wieder über die Mauer und machte sich zu einem Internetcafe auf. Dort angekommen, bezahlte er gequält mit seinen letzten Ersparnissen die Gebühren und loggte sich sofort mit seinen Daten ein.
Zunächst landete Bahe im Menübereich, in dem auch sein Charakter Anael visuell dargestellt wurde. Einen kurzen Moment musste er daran zurückdenken, wie Bahe und sein Vater den Namen damals in Gedenken an seine leibliche Mutter ausgewählt hatten. Anael… Rückwärts gelesen ergab der Name Leana, den Namen seiner leiblichen Mutter.
In Gedanken entschuldigte er sich bei seinen verstorbenen Eltern, aber wenn dieser Charakter helfen konnte, Sulins Leben zu retten, musste er sich von dieser Erinnerung trennen.
Im Menü ignorierte er die Felder zur Änderung seiner Ausrüstung oder der Serverwahl und klickte stattdessen auf das spielinterne Auktionshaus.
Gegen eine Gebühr der spieleigenen Währung, konnte man so ziemlich jeden Spielgegenstand zur Versteigerung anbieten, auch ganze Accounts fanden sich in zahlreichen Varianten. Viele Profispieler verdienten ihr Geld damit, Charaktere für Onlinerollenspiele auf höhere Level hoch zu spielen und boten diese im Anschluss zum Verkauf an.
Auch wenn Bahes Charakter in dieser Masse unterzugehen drohte, setzte er Anael mitsamt seiner ganzen Ausrüstung und einer kurzen Beschreibung ins Auktionshaus, stellte unter den Bedingungen der Gebote die Option auf chinesischen Yuan und legte den Auktionszeitraum auf vierundzwanzig Stunden fest. Anschließend hinterließ er nur noch seine Kontaktdaten und loggte er sich aus.
Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung kaufte er noch schnell die Zutaten für ein einfaches Frühstück und bog rechtzeitig wieder in die Seitenstraßen ab, um nicht länger aufzufallen.
Unbemerkt von Bahe spielte sich jedoch hektisches Treiben in den Online-Foren von Dreamworld ab.
- Hey, der Avatar heißt Anael.
- Was, Anael?!
- Das ist doch nicht etwa der Anael, der vor vier Jahren das Phönixfeuerrüstungs-Set im Kampf
gegen Odragon erkämpft hat?
- Er ist es! Seht doch selbst! Es steht in der Beschreibung im Auktionshaus!
- Der verlorene Held ist wieder aufgetaucht! Anael aus der Schlacht um Telrien ist zu ersteigern!
- Ernsthaft? Ich muss bieten!
- Was? Du quatscht doch Blödsinn!
- Er hat Recht! Es ist ganz klar das Phönixemblem am unteren Rand der Rüstung zu erkennen.
- Seht euch nur die Gebote an! Seit der Veröffentlichung von Raoie hat es keine solche
Gebotsschlacht mehr gegeben!
- Nr. 14.567: Das ist meiner! 15000 Yuan!
- Nr. 18.365: Du träumst wohl! 16000 Yuan!
- Nr. 11.984 18000 Yuan!
- Nr. 40.345: Mal schauen wie lange ihr
mithalten könnt 21000 Yuan!
- Nr.14.567: ARG!! Hört auf zu bieten! 25000 Yuan!
- ………… ……………
Ohne von dem Sturm zu wissen, den er ausgelöst hatte, lief der Rest des Tages für Bahe in dem gewohnten Trott ab. Vom Mittag bis zum späten Abend arbeitete er auf einer Baustelle an den Randbezirken der Stadt und schleifte sich im Anschluss völlig erschöpft zurück nach Hause. Zumindest hatte Bahe diesmal insofern Glück, dass er unbemerkt blieb und es nicht regnete als er sich von der U-Bahn in den Slum schleppte.
Noch erschöpfter als am Tag zuvor, putze er sich nicht mal mehr die Zähne und schaffte es gerade noch seine Kleidung zu wechseln, ehe er geschafft auf seinem Bett zusammenbrach.
Am nächsten Morgen wurde Bahe von dem Klingelton seines Smartphones aus dem Schlaf gerissen und brauchte zunächst einen Moment, um zu verstehen, dass es nicht der übliche Klingelton seines Weckers war.
Noch immer etwas benommen, nahm er den Anruf entgegen.
„Hallo?“
„Hallo, Herr Dragon?! Ist da der Spieler, dem der Anael-Account gehört? Die Auktion ist vorbei und ich habe die Hälfte des Betrags bereits überwiesen! Wann bekomme ich endlich die Zugangsdaten?!“, Bahe hielt das Telefon von dem lauten Redeschwall überrumpelt etwas weiter von seinem Ohr weg. „Hallo? Ist da überhaupt jemand?! Herr Dragon?!“
Mit Mühe brachte er schließlich ein paar Worte heraus: „Geben Sie mir 15 Minuten… Ich muss das kurz checken. Kann ich Sie gleich zurückrufen?“
„Ah, da sind Sie ja, Herr Dragon! Aber natürlich, natürlich, ich erwarte Ihren Rückruf! –“, Bahe legte schnell auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, um etwas mehr zu sich zu kommen. Die chinesischen Einheimischen sprachen seinen Nachnamen meistens wie Drache aus und brachten ihn mit ihrer Brüstung, dass sie des Englischen mächtig waren, an den Rand des Wahnsinns… Sein Vater hatte sich immer köstlich darüber amüsiert und gemeint, dass es für die Geschäfte in China durchaus zuträglich wäre einen bedeutungsschweren Nachnamen zu führen. Bahe ging dieses blöde Missverständnis jedoch stets nur auf die Nerven.
Nachdem er wieder vollständig bei Sinnen war, zog er sich schnell an, warf sich eine Jacke über und entfernte sich erneut über die Mauer des Hinterhofs von seinem Zuhause. Im schnellstmöglichen Tempo bewegte er sich durch den Slum, der sein zweites Zuhause geworden war und kam nach gut acht Minuten endlich an einem Geldautomaten an. Fieberhaft steckte er seine Karte ein und tippte seine Geheimzahlen. Als endlich der Betrag zu sehen war, schnappte er hörbar nach Luft.
Das konnte doch unmöglich wahr sein! Benommen fuhr er sich mit der Hand über die Augen und lugte schließlich zwischen seinen Fingern hindurch auf die Anzeige. Der Betrag war gleich geblieben!
Ihr momentaner Kontostand: – 200 000 Yuan –
Bahes Gedanken rasten. Hatte der Mann am Telefon nicht etwas von der Hälfte des Betrags erzählt?
Jetzt wo er darüber nachdachte, kamen ihm wieder die Geschäftsbedingungen des Auktionshauses ins Gedächtnis. Die Gewinner der Auktionen überwiesen zunächst stets die Hälfte des Betrags. Danach findet dann die Übergabe der Objekte statt und die zweite Hälfte des Geldes wurde nach Erhalt der ersteigerten Objekte gezahlt.
Wie zum Henker, war dieser absurd hohe Betrag zustande gekommen?
Bahe überlegte nicht lange und ließ sich erst mal eintausend Yuan auszahlen. Anschließend rannte er zum nächsten Internetcafe und loggte sich in Dreamworld ein. Sein Avatar war bereits aus dem Menüfenster entfernt worden. Bahe schielte sofort auf sein Postfach und entdeckte mehrere ungelesene Nachrichten. Eine war vom Auktionshaus und etwa zweiundzwanzig weitere Nachrichten vom Gewinner der Versteigerung, einem gewissen Alucard.
Bahe schüttelte den Kopf, der Typ musste wirklich Dreamworld versessen sein, um sich so aufzuführen.
Die Nachrichten von Alucard ignorierte er gepflegt und klickte stattdessen auf die Nachricht des Auktionshauses. Er wollte gerade zu lesen beginnen, als ein wiederholtes „DING!“-Geräusch und permanentes Blinken seine Aufmerksamkeit wieder auf das Postfach lenkte. Durch das kurze Streifen des Postfaches mit dem Cursor erfuhr er, dass Alucard scheinbar mitbekommen hatte, dass er online war und ihn seitdem mit Nachrichten bombardierte.
„Der Typ muss wirklich ein völliger Fanatiker sein…“, murmelte Bahe vor sich hin, als er die Nachricht des Auktionshauses überflog.
Die Auktion war in Bahes Augen mehr als erfolgreich gewesen. Er musste mehrmals stutzen als er sich den Verlauf der Gebote ansah. Die Sprünge waren zwischendurch immer mal wieder größer geworden. Scheinbar hatten ein paar ganz besondere Enthusiasten gehofft, so der Versteigerung ein frühes Ende bescheren zu können.
Letztlich blieb Bahes Blick bei dem Endergebnis der Auktion hängen:
- Gewinner Nr. 66.686 400 000 Yuan!
Charakterinformationen für den Auftraggeber:
Alucard
Kontaktcode: 056411
Telefon: ***** *********
E-Mail-Adresse Alucard**********
Ohne noch länger zu zögern schickte er Alucard die Zugangsdaten und entschuldigte sich für sein spätes Reagieren auf Alucards Anfragen. Danach rief er den Onlinedienst seines Konto-Anbieters auf und wartete auf die zweite Zahlung, die wenige Minuten später bereits bei ihm ankam. Eins musste er Alucard lassen, egal was für ein Hardcore-Fan er auch war, er verstand es Geschäfte zu machen.
Bahe lehnte sich zurück und betrachtete versonnen den Bildschirm.
Ihr momentaner Kontostand: – 399 000 Yuan –
Er musste an all die Monate denken, in denen er nicht mal darüber nachgedacht hatte seinen Kontostand zu checken und jetzt das.
Auch wenn viele seiner Probleme damit noch nicht gelöst waren – zum ersten Mal seit Wochen stahl sich ein echtes Lächeln auf sein Gesicht.
Beta-Spieler (auch: Beta-Tester): Unter dem Begriff sind (Test-)Spieler eines Computerspiels zu verstehen, die das jeweilige Spiel vor der eigentlichen Veröffentlichung bereits anspielen dürfen. Die Spielentwickler erhoffen sich so Rückschlüsse über die Funktionalität ihres Spiels und können ggf. noch Fehler korrigieren.[i]
Kapitel 3 Pläne und die Realität
Nach einem Moment der Glückseligkeit, beschäftigte sich Bahe ein Wenig mit den Dreamworld-Foren und stellte zu seinem Erstaunen fest, welch eine Nachrichtenflut seine Versteigerung unter den Fans des Spiels ausgelöst hatte.
Bahe konnte sich noch genau an die Zeit mit seinem Vater erinnern, als sie abwechselnd mit ihrem Charakter ein Verließ oder Labyrinth nach dem Nächsten klärten und am Ende siegreich aus einer unmöglich geglaubten Quest[i] hervor gingen. Er musste immer noch schmunzeln, wie sie sich nach jedem Gegner in der Abschlussphase der Quest abgewechselt hatten und sogar den Boss am Ende abwechselnd bekämpft hatten, weil jeder von ihnen andere Stärken im Spiel hatte.
Scheinbar war der Avatar Anael zur Legende geworden, nachdem er aus dem Nichts gekommen war, den als unbezwingbar geltenden Boss Odragon besiegt hatte und anschließend wieder verschwunden war.
Als auch Monate später immer noch nichts Neues von dem Avatar Anael zu hören war, galt das Phönixfeuerrüstungs-Set als verschollen. Die meisten Spieler fürchteten, dass der Besitzer des Anael-Accounts das Interesse an Dreamworld verloren hatte und es nie wieder eine Möglichkeit geben würde, dass Phönixfeuerrüstungs-Set zu erwerben, das Teil einer fünfteiligen, seltenen Rüstungs-Serie war.
Umso größer war die Aufregung beim plötzlichen wieder Auftauchen des Avatars, zu einer Zeit, als die Rüstung nur noch als Sammlerstück von Nutzen war, da sich ihre Attribute längst nicht mehr gegen die Werte von Rüstungen höherer Ränge durchsetzen konnten.
Bahe konnte von Glück reden, dass die Rüstung ein paar Sammlern so viel Geld wert gewesen war. Andere Rüstungen mit den gleichen Attributen wurden mittlerweile nur noch für wenige hundert Yuan gehandelt. Und sein früherer Avatar Anael hatte mit dem Level 288 nur noch im unteren Mittelfeld gelegen.
Zutiefst zufrieden mit seinem Erfolg löschte Bahe noch schnell seine Benutzerkonten für die Dreamworld-Portale und gönnte sich anschließend zum ersten Mal seit Monaten ein umfangreiches Frühstück in einem Restaurant. Es war ein wunderbares Gefühl sich endlich wieder richtig satt essen zu können.
Danach lief er über die üblichen Umwege durch den slumartigen Vorort schnell nach Hause, wusch sich und machte sich präsentabel, um seine Mutter besuchen zu können. Auch wenn er etwas früher als sonst dran war, konnte er es nicht abwarten die frohen Neuigkeiten zu verkünden.
Zwei Stunden später befand sich Bahe auf dem letzten Stück des Weges zum Krankenhaus seiner Mutter. Er stieg gerade aus der U-Bahn und machte sich schwungvollen Schrittes daran, die Treppen zu erklimmen.
Auf dem Weg hatte er im Geiste bereits Berechnungen angestellt. Die knapp 400 000 Yuan sollten mehr als ausreichen, um die nächsten zwei Wochen vor der Operation und die anschließenden vier Wochen zur Reha im Krankenhaus finanzieren zu können. Außerdem sollte noch ein Teil übrig bleiben, um den Kindergarten seiner Geschwister wieder finanzieren zu können und mehrere Mieten im Voraus zu bezahlen. Er wagte es nicht über zu viel Geld zu verfügen, solange die Schulden bei dem Kredithai noch nicht getilgt waren.
Nach ein paar Gehminuten kam er am Krankenhaus an und fuhr mit dem Fahrstuhl ins vierte Stockwerk zur Abteilung in der seine Mutter untergebracht war. Zweimal musste er noch abbiegen und im letzten Moment einem kleinen Mädchen ausweichen, das ihn mit großen Augen anstarrte.
Natürlich fiel er mal wieder durch sein Aussehen auf. Die Kleine hatte wahrscheinlich noch nie einen Ausländer gesehen, geschweige denn Einen, europäischer Herkunft.
Blind griff er nach der Klinke zum Zimmer seiner Mutter und trat ein, nachdem er das kleine Mädchen umrundet hatte.
„Hallo, Mama!“, rief er leise, um andere Patienten nicht zu stören.
Nachdem er sich von der Tür abwandte, musste er jedoch zu seiner Verblüffung feststellen, dass das Zimmer leer war. Bahe wollte gerade an der Badezimmertür anklopfen als er durch die Verbindungstür zum nächsten Zimmer die gedämpfte Stimme seines Großvaters vernahm.
„Sulin, wir müssen reden!“
Ah, dachte Bahe. Er musste durch das kleine Mädchen abgelenkt gewesen sein und eine Tür zu früh genommen haben.
Mit zwei Schritten war er an der Tür und wollte sie gerade öffnen, als der nächste Satz seines Großvaters ihn innehalten ließ.
„Es kann mit Bahe nicht länger so weiter gehen!“
„Tian, beherrsche dich solange die Kleinen mit im Zimmer sind!“, schimpfte Bahes Großmutter und fuhr an Sulin gewandt fort: „Sulin, ich gehe mit den Kleinen einmal durch den Gang und ihr redet in Ruhe.“
Kurz darauf vernahm Bahe Schritte und ein leises Klacken als die Tür wohl ins Schloss fiel. Bahe überlegte, ob er einfach eintreten sollte. Seine Familie zu belauschen war eigentlich nicht seine Art. Aber die Dringlichkeit im Tonfall seines Großvaters machte ihn stutzig.
„Was willst du mit mir besprechen, Bà?“, hörte Bahe seine Mutter fragen.
„Das weißt du genau! Hast du dir Bahe in den letzten Wochen überhaupt mal angesehen?! Er ist nur noch Haut und Knochen! Die Götter wissen, ob er überhaupt was isst, bei dem ganzen Geld, das er in den letzten Wochen für dich angeschleppt hat.“
„Glaubst du, ich sehe das nicht, Bà?“
„Wieso tust du denn nichts dagegen? Wir waren nie vermögende Leute, aber ich fühle mich beschämt von meinem Enkel Geld annehmen zu müssen, um meine Tochter im Krankenhaus behandeln zu lassen!“
Bahe musste über das Gehörte schlucken. Seine Kehle fühlte sich plötzlich ganz klamm an.
„Was soll ich denn tun, Bà?“, rief Bahes Mutter aufgebracht und steigerte sich zunehmend in eine Redeschwall hinein. „Ich weiß, dass ich keine gute Mutter bin! Erst setze ich die Firma in den Sand, dann mache ich Schulden, weil ich dachte, vorübergehend ohne Krankenversicherung auskommen zu können und kippe am Ende sogar noch bewusstlos um, wenn mich meine Kinder am meisten brauchen! Mir zerreißt es das Herz Bahe so zu sehen! Aber weißt du was noch viel schlimmer ist? Ich weiß nicht mal wo er wohnt! Mein Sohn, der eigentlich noch zur Schule gehen sollte, hat mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen! Er würde arbeiten und genug Geld auftreiben! Obwohl es eigentlich umgekehrt ablaufen sollte! Und ich sitze hier… und…“
Die ersten Schluchzer ließen seine Mutter stocken und Bahe traten die Tränen in die Augen.
„Und ich sitze hier, Bà… und kann nichts tun… um ihm zu helfen. Außer Sterben vielleicht…“
„Sulin…“
Es waren ein paar Schritte zu hören und Bettdeckengeraschell. Dann wurde es still, bis auf die immer wiederkehrenden Schluchzer seiner Mutter. Bahe hatte inzwischen von der Klinke abgelassen und ließ sich unter Tränen an der Wand daneben nieder.
„Sulin…“, war sein Großvater erneut zu hören. „Bitte rege dich nicht mehr so auf, das ist nicht gut für dich. Ich habe einen Fehler gemacht. Es ist nicht deine Schuld und bitte denke nie wieder daran deinem Leben ein Ende zu setzen!“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Es ist nur… ich bin so frustriert. Wir haben Bahe mit Fragen durchlöchert, wo er wohnt und ob er anständig isst. Aber er weicht uns immer nur aus…“
„Mir hat er mal erzählt, dass er am Stadtrand eine kleine Wohnung gefunden hat, Bà…“
„Am nordwestlichen Stadtrand?“
„Dazu hat er nichts gesagt, aber wo sonst?“, schluchzte Bahes Mutter verzweifelt.
„Sich vorzustellen, dass er ausgerechnet in dem Betonlabyrinth lebt…“, brachte sein Großvater mit brüchiger Stimme hervor. „Wusstest du… wusstest du, dass er jedes Mal, bevor und nachdem er uns besuchen kommt, eine Stunde mit Bussen und U-Bahnen durch die Gegend fährt? Ich habe zwei Mal versucht ihm zu folgen. Beide Male hat er mich abgeschüttelt. Wieso macht er das wohl? Er will seine Geschwister und uns vor den Schuldeneintreibern schützen… Bisher wissen die den Göttern sei Dank noch nicht wo wir wohnen…“
„Bà, du meinst sie sind hinter ihm her?!“, schreckte seine Mutter hoch.
„Ich weiß es nicht, Sulin“, erklärte Bahes Großvater. „Er kann eigentlich kaum Geld verdienen und schafft es trotzdem jeden Monat mindestens 7500 Yuan aufzutreiben. Ihn alle zwei Wochen abgemagerter zu sehen und dann auch noch Geld von ihm annehmen zu müssen, um die Klinikkosten zu bezahlen… Deine Mutter und ich ertragen das nicht länger…“
Es kehrte kurz Ruhe ein und Bahe musste sich zunehmend beherrschen, nicht laut los zu schniefen.
„Es gibt noch ein weiteres Problem, Sulin. Deine Mutter und ich hatten einige Ersparnisse als die Sache mit deiner Krankheit begann. Damals haben wir Bahe einmal beiläufig erzählt, dass, wenn er sich einen Nebenjob suchen würde, allein schon 7500 Yuan pro Monat reichen würden, damit wir genug Geld zusammen hätten und die andere Hälfte der Kosten für deinen Klinikaufenthalt zahlen könnten. Wir hätten uns nie träumen lassen, dass er doch tatsächlich die Schule abbrechen und verschwinden würde, um das Geld aufzutreiben. Bis heute glaubt er, dass wir wirklich nur die Hälfte dazu geben. Ich will mir nicht vorstellen, wie er reagiert, wenn wir ihm nächste Woche die Wahrheit eröffnen müssen.“
Nein! Das konnte nicht sein! Bahe traute seinen Ohren nicht.
„Diese Fachklinik ist die beste auf ihrem Gebiet, kostet uns aber wöchentlich 45 000 Yuan. Dazu kommen noch die neuartigen Medikamente für 30 000 Yuan. Unsere ganzen Ersparnisse sind mit dieser Woche aufgebraucht…“
Bei den Worten seines Großvaters sackte Bahe endgültig in sich zusammen und begann leise vor sich hin zu schluchzen.
„Dann werde ich eben zwei Wochen ohne Behandlung auskommen müssen.“
„Es tut mir so unglaublich Leid, Sulin. Der Verkauf des Hauses sollte spätestens in zwei Wochen abgeschlossen sein und sobald wir das Geld haben, können wir endlich deine Operation finanzieren. Wenn du anfangs doch bloß nicht so gegen den Verkauf des Hauses gewesen wärst…“
„Ich fühle mich immer noch schrecklich damit. Das Haus war das Einzige, das Bahe noch an seinen Vater erinnern konnte. Wie konnte ich zustimmen, es einfach so zu verkaufen?“
Bahe unterdrückte ein Stöhnen. Die Worte seiner Mutter brannten wie Peitschenhiebe auf seiner Seele. Ihm zu Liebe hatte seine Mutter solange gelitten und sich sogar noch gegen den Verkauf gesträubt, als sie mit ihrem möglichen Tod konfrontiert wurde.
„In zwei Tagen, am Montag, werden wir dich abholen. Bis dahin-“, Den Rest verstand Bahe nicht mehr als sich die Tür zum Flur plötzlich öffnete und eine Krankenschwester ihn verdutzt anstarrte. Bahe rappelte sich schnell auf und rannte in den Gang hinaus. Nach den zwei Biegungen lief er diesmal an den Aufzügen vorbei und rannte die Treppen hinunter. Er konnte jetzt einfach nicht seiner Mutter unter die Augen treten.
Wie vom Wahnsinn angetrieben preschte er schließlich aus dem Haupteingang und flüchtete sich in die Zulieferungsstraße des Krankenhauses. Zwischen den Müllcontainern blieb er stehen und reagierte sich ab, indem er auf pralle Müllsäcke und die Container einschlug.
Wie konnte er bloß glauben, dass es einen Unterschied machte, ob er arbeitete oder nicht?! 7500 Yuan! 7500 Yuan, auf die er so stolz gewesen war! Und was kostete der Klinikaufenthalt eigentlich pro Woche? 75 000 Yuan! Verdammte 75 000Yuan!
Bahe schrie ein letztes Mal seine Wut heraus und sackte danach geschafft zusammen. Tränen liefen ihm noch immer übers Gesicht. Wieso musste immer irgendwas schief gehen?!
Er besaß knapp 400 000 Yuan. Das Geld würde nun nicht mal für den Krankenhausaufenthalt seiner Mutter reichen! Hatte sich denn wirklich alles gegen ihn verschworen?
Verzweifelt schluchzte er vor sich hin und schlug zwischendurch immer mal wieder auf die umgebenden Container ein. Die ersten Regentropfen spürte er gar nicht. Erst als der leichte Nieselregen zunehmend vom Himmel prasselte, bekam Bahe wieder einen halbwegs klaren Kopf und bewegte sich zur nächsten Bushaltestelle, um sich unterzustellen.
Es brachte nichts, vor sich hin zu trauern. Bahe zwang sich nach vorne zu schauen. Er konnte etwa fünf Wochen des Klinikaufenthaltes seiner Mutter bezahlen. Das Geld für die letzte Woche würde er noch irgendwie auftreiben. Nur wie?
Bahe zermarterte sich den Kopf darüber, kam aber zu keinem Ergebnis.
Währenddessen nahm der Regen nach und nach an Stärke zu und das erste Donnern war in der Ferne zu vernehmen. Der Regen braute sich offenbar zu einem ausgewachsenen Gewitter zusammen.
Bahes Gedanken rasten noch immer. Verzweiflung spornte ihn an, weiter fieberhaft nach einer Lösung zu suchen. Rein rechnerisch, könnte er fünf Wochen des Klinikaufenthaltes seiner Mutter bezahlen. Danach würden ihm noch etwa 25 000 Yuan bleiben, minus seiner Miete und Lebenshaltungskosten, wären es aber höchstens noch 20 000 Yuan.
Selbst wenn er die nächsten Wochen durchhalten könnte, würde er höchstens 10 000 Yuan erwirtschaften. Auch mit den 20 000 Yuan, die er bereits besaß, war es immer noch zu wenig. Um auf die 75 000 Yuan für die letzte Woche zu kommen, fehlten ihm dann noch 45 000 Yuan. Ein schier unerreichbarer Betrag für ihn.
Gedankenverloren raufte er sich die Haare als ein Blitz vom Himmel zuckte und Bahes Aufmerksamkeit auf sich zog. Für einen kurzen Moment sah er noch das helle Leuchten, ehe es welche im Regelfall von computergesteuerten Figuren (NPC) erteilt werden. Unterschieden wird zwischen Haupt- bzw. Mainquests und Neben- bzw. Sidequests, wobei die Hauptquests in der Regel die Geschichte vorantreiben und die Nebenquests eher dazu dienen, die Charakterwerte des Spielers zu erhöhen, Schätze zu finden und seine Ausrüstung zu verbessern (Mehr Details dazu in den folgenden Kapiteln).verschwand und einem ohrenbetäubenden Donnern Platz machte. Als Bahe seinen Blick wieder senkte, blieb er an einem Bus hängen, der auf der anderen Straßenseite vor einer roten Ampel stand.
Die Längsseite des Busses war mit Werbung zum neuen Onlinespiel Raoie überzogen. Nicht das er sich jemals die 15 000 Yuan für das teure Dimensional Leap-System leisten können würde, dachte er resigniert. Bahe wollte seinen Blick gerade weiter schweifen lassen, als ihm ein absurder Gedanke durch den Kopf schoss!
[i] In Computerspielen sind Quests annehmbare Aufträge, welche im Regelfall von computergesteuerten Figuren (NPC) erteilt werden. Unterschieden wird zwischen Haupt- bzw. Mainquests und Neben- bzw. Sidequests, wobei die Hauptquests in der Regel die Geschichte vorantreiben und die Nebenquests eher dazu dienen, die Charakterwerte des Spielers zu erhöhen, Schätze zu finden und seine Ausrüstung zu verbessern (Mehr Details dazu in den folgenden Kapiteln).
Er hatte es schon einmal geschafft! Wieso sollte es nicht ein weiteres Mal möglich sein? Erst heute, hatte er einen Avatar für 400 000 Yuan verkaufen können! Ihm war klar, dass er einen solchen Betrag kaum ein zweites Mal erreichen würde. Aber dennoch! Nach langer Zeit, sah er endlich eine Möglichkeit dem quälenden Kreislauf der Geldnot zu entkommen.
Zu der Anschaffung eines kompletten Dimensional Leap-Systems gab es noch eine Alternative, die zumindest für den Anfang wesentlich kostengünstiger war. Eifrig kalkulierte er in Gedanken den Kostenaufwand und rannte danach durch den strömenden Regen zu dem Internetcafe, das sich gegenüber vom Krankenhaus befand.
Drinnen angekommen, ging er direkt zum Thekenbereich, an dem die Dimensional Leap-Systeme zu mieten waren. Ein junger Chinese, wahrscheinlich Anfang zwanzig, stand hinter der Theke und stützte sich gelangweilt auf die Oberfläche des Ladentisches ab.
„Ich möchte gerne mit Raoie anfangen und eins der Dimensional Leap-Systeme mieten“, richtete Bahe sich an die gelangweilte Bedienung.
„Einen Account hast du also auch noch nicht, wenn ich das richtig verstehe? Und bist du überhaupt schon sechzehn?“, fragte der junge Chinese genervt.
„Nein, einen Account habe ich nicht und ja, ich bin achtzehn“, antwortete Bahe und musterte die mürrische Bedienung ein Bisschen genauer, während er seinen Ausweis vorlegte. Dem Typen fielen seine fettigen Haare arg ins Gesicht und er schien sich definitiv für etwas Besseres zu halten, wenn Bahe den abschätzigen Blick der Bedienung richtig deutete, als dieser seinen Ausweis begutachtete. Ein kleines Ansteckschild verriet, dass er wohl Ying mit Vornamen hieß.
„Also wären es einmal 400 Yuan für einen neuen Account, 300 Yuan für den 3D-Scan und dann nochmal 18 000 Yuan für die Miete des Systems. Insgesamt macht das 18 700 Yuan. Zahlst du Bar oder mit Karte?“, fragte Ying belustigt.
„Wieso ist die Miete für das System denn so teuer?“, fragte Bahe schockiert. „Und was ist das für ein 3D-Scan?“
Bei Bahes Kommentar fiel Ying vor Erstaunen doch glatt die Kinnlade herab, ehe er ihn lautstark anblaffte: „Lebst du hinter dem Mond oder was? Du weißt nicht, dass du einen 3D-Scan brauchst, um Raoie zu spielen?“
Bahe konnte nur die Schultern zucken.
„Oh man, nicht genug damit, dass es ein Ausländer ist. Er hat nicht mal Ahnung von dem Spiel, das er zocken will. Wieso immer ich…“, fluchte Ying vor sich hin.
Soweit es ging, ignorierte Bahe das abschätzige Gelaber der Bedienung und versuchte stattdessen weiterzukommen: „Lassen wir das mit dem 3D-Scanner erst Mal. Wieso sind denn die Mietkosten so hoch? 18 000 Yuan? Der Kaufpreis eines kompletten Dimensional Leap-Systems liegt doch gerade mal bei 15 000 Yuan…“
„Deswegen sage ich, dass du keine Ahnung von dem Spiel hast, Junge. Der Preis von 15 000 Yuan gilt nur für die billigste Komplettvariante. Das, was du hier mieten würdest, ist ein System mit Luxusausstattung! Der Kaufpreis liegt bei 500 000 Yuan! Wenn wir noch weniger nehmen würden, wäre der Laden bald bankrott.“
Bahe machte große Augen, als er den Preis vernahm.
„Ich brauche nicht die Luxusvariante. Ein einfaches System reicht völlig aus“, versuchte er sich zu erklären.
„Tja, dann kann ich dir nicht weiterhelfen. Davon haben wir keine mehr.“
„Aber ich sehe doch hier überall die einfachen Systeme rumstehen!“
„Schau mal genau hin, siehst du hier noch irgendwo ein offenes System? Nein?! Das liegt daran, dass die Alle bereits belegt sind, du Idiot!“, fuhr Ying ihn an und verdrehte genervt die Augen. „Also, willst du die Luxusvariante?“
Bahe schüttelte nur den Kopf: „Die kann ich mir nicht leisten.“
„Habe ich mir gedacht“, schnaubte Ying und widmete sich einer Zeitschrift auf der Ladentheke.
Mit dem plötzlichen Desinteresse konfrontiert, wandte sich Bahe zum gehen. Scheinbar blieb ihm nur übrig in einem anderen Laden nachzufragen.
Er war gerade auf halben Weg zur Tür als er plötzlich Yings Stimme vernahm: „Hey, du bist knapp bei Kasse, oder?“
„Ja…?“, antwortete Bahe fragend, während er sich umdrehte.
„Komm mal her, vielleicht können wir da was machen“, wurde er von Ying herangewinkt, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.
Bahe folgte ihm zu einem kleinen Raum im hinteren Bereich des Ladens. Dort angekommen, sah er ein allein stehendes System an der Wand stehen.
„Dieses Dimensional Leap-System, könnte etwas für dich sein“, meinte Ying.
Doch Bahe war skeptisch, der Raum glich eher einer Abstellkammer und dann war da auch noch die Frage, weshalb Ying nicht gleich dieses Gerät in Betracht gezogen hatte. Bahes Unsicherheit musste Ying aufgefallen sein als dieser sich beeilte zu erklären: „Kein Grund mich so anzuschauen. Das Ding funktioniert einwandfrei. Na ja, bis auf eine Sache, irgendwas soll mit der Grafik oder so nicht in Ordnung sein, meinte mein Boss. Die vollen 98-99% der Realitätsnähe erreicht das Ding wohl nicht. Ist ja nicht so, als ob ich es dir jetzt nicht gesagt hätte, oder?“, fügte Ying mit einen Achselzucken hinzu, ehe er fortfuhr. „Eigentlich soll das System nicht mehr vermietet werden. Könnte dem Geschäft schaden, wenn sich ein Kunde beschwert. Aber es ist noch angeschlossen und alles. Für die üblichen Systeme nehmen wir 540 Yuan pro Zyklus. Ich könnte dir das hier für 300 Yuan anbieten. Was sagst du?“
„Nur damit ich das richtig verstehe. Du bietest mir ein defektes System an, was eigentlich nicht mehr vermietet werden darf. Dein Boss scheint nicht da zu sein, sonst würden wir nicht hier stehen und wahrscheinlich wird dieses Dimensional Leap-System nicht mehr im Verwaltungsprogramm der anderen Systeme geführt, was wiederum bedeutet, dass dein Boss keine Ahnung hat, was du hier treibst. Sehe ich das richtig?“
„Hör auf zu labern und sag endlich, ob du es nimmst oder nicht?“, überging Ying Bahes Ausführungen. Die Verärgerung darüber, dass er entlarvt worden war, war ihm jedoch deutlich anzusehen.
„200 Yuan“, antwortete Bahe schlicht.
„Was?“, fragte Ying verwirrt.
„Ich nehme das System für 200 Yuan. Zudem verspreche ich dir, dass dein Boss nichts von mir erfährt.“
„Na gut“, stimmte Ying zähneknirschend zu.
„Hat das System auch wirklich nur einen Grafikfehler?“, verlangte Bahe noch zu wissen. Ihm war immer noch etwas mulmig zu Mute, schließlich nahm das Gerät in irgendeiner Hinsicht Einfluss auf seinen Verstand.
„Keine Sorge, es läuft einwandfrei. Mein Boss hat selbst schon damit gezockt. Ein paar wenige Systeme hatten wohl in der Herstellung eine falsche Konfigurierung, wodurch irgendwas an der Grafik oder so nicht richtig funktioniert. Seitdem zieht TNL diese Dimensional Leap-Systeme nach und nach wieder ein“, tat Ying seine Frage ab und machte sich zurück auf den Weg zur Theke.
Bahe folgte ihm, wenn auch noch immer nicht gänzlich überzeugt. Sofern er allerdings Geld sparen konnte, in diesem Fall sogar mehr als die Hälfte des üblichen Mietpreises, war er bereit das Risiko einzugehen. Ying sah weder ansprechend aus noch war er allzu freundlich, aber Bahe konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er ihm gefährliche Ware vermieten würde. Dafür schien ihm der Reiz, ein Bisschen Geld nebenbei zu verdienen, viel zu sehr zuzusagen.
„Die Preise für den Account und den 3D-Scan bleiben, zusammen mit dem System macht das Ganze dann 900 Yuan. Und bevor du wieder fragst, den 3D-Scan erkläre ich dir gleich“, stoppte Ying jegliche Frage, die Bahe auf der Zunge brannte.
Schweren Herzens trennte sich Bahe von dem Geld und erhielt im Gegenzug von Ying ein eingeschweißtes Heftchen, das seine Account-Nr. beinhaltete.
Anschließend führte Ying ihn erneut in den Raum und schloss die Tür, ehe er zu erklären begann: „Die Account-Nr. musst du gleich erst im Dimensional Leap-System eingeben. Doch dazu kommen wir später. Da du ein totaler Anfänger bist, gebe ich dir jetzt eine kurze Einführung. Alle Einstellungen des Systems, und damit meine ich wirklich Alle, werden über diesen Helm ausgeführt. Für den Anfang gibt es genau zwei Optionen, beide werden über die 3D-Projektion des Helms dargestellt. Zum Einen wäre das der 3D-Scan und dann gibt es natürlich noch den Start des Systems. Privatsysteme unterscheiden sich hier von Verleihsystemen, ihnen steht der 3D-Scan erst nach dem Start des Systems zur Verfügung. Für dich ist Folgendes wichtig; für den 3D-Scan musst du dich mindestens bis auf deine Unterwäsche ausziehen. Anschließend legst du dich ins System und legst den Helm an. Der Helm läuft solange das System noch nicht gestartet ist über Spracherkennung. Du wählst also 3D-Scan, bleibst ruhig liegen und wartest bis die Meldung kommt, dass der Scan abgeschlossen ist. Danach kannst du deine Klamotten wieder anziehen und wählst beim zweiten Mal im Helm den Start des Systems. Der 3D-Scan ist Pflicht, weil er die Grundlage für die Gestalt deines Avatars im Spiel darstellt. Sobald das System hochgefahren ist, läuft die Bedienung nur noch über die Kraft deiner Gedanken ab. Wunder dich nicht, am Anfang fühlt man sich immer ein Bisschen neben sich. Du wirst dann deine Account-Nr. eingeben müssen und kannst anschließend den Instruktionen folgen. Noch Fragen?“
Bahe schüttelte angesichts der Informationsflut den Kopf. Er hatte schon gehört, dass man seine Avatar-Gestalt nicht mehr so frei wählen konnte, wie in anderen bekannten Online-Rollenspielen. Das allerdings der eigene Körper als Vorbild für die Avatare dienen würde, war ihm neu.
„Gut“, sagte Ying und gab die letzten Anweisungen. „Ich mache die Tür hinter mir zu, solange du mit dem 3D-Scan beschäftigt bist. Sobald du deine Klamotten wieder an hast, mach die Tür wieder auf, damit ich hier ein Auge reinwerfen kann. Wenn es das dann gewesen ist, bin ich wieder vorne an der Theke. Viel Erfolg beim zocken, Newbie!“
Abfällig lachend, ließ Ying Bahe allein im Raum zurück und zog die Tür hinter sich zu. Scheinbar hielt Ying nicht viel von Spielanfängern, wahrscheinlich zockte er schon seit der Veröffentlichung des Spiels.
Bahe schüttelte kurz den Kopf und machte sich sofort daran Yings Anweisungen zu folgen. Schließlich hatte er keine Zeit zu verlieren. Jede Minute die er hier verbrachte, hatte er teuer bezahlt.
Im Nu hatte er sich entkleidet und machte sich daran in das Dimensional Leap-System einzusteigen. Aus näherer Sicht betrachtet, konnte Bahe feststellen, dass es tatsächlich wie ein aufklappbarer Zylinder aufgebaut war. Kopf- und Fußende waren flach, während der Rest des Systems einer Röhre ähnelte. Eine weiche Polsterung hieß ihn willkommen als er sich daran machte hinein zu klettern. Allerdings konnte sich Bahe beim besten Willen nicht erklären, aus welchem Material die Polsterung bestand. Es wirkte fast schon ein Bisschen glitschig und durchsichtig, wie Silikon unter einer Gummischicht, fühlte sich dabei aber dennoch geschmeidig und warm auf der Haut an.
Nachdem er eingestiegen war, stieß Bahe zunächst auf ein Problem. Er fand keinen Hebel, um das offen stehende Oberteil zu sich herunter zu ziehen. Bevor er sich abmühte das Oberteil irgendwie manuell herunter zu ziehen, beschloss Bahe zuerst den Helm auszuprobieren. Und tatsächlich war seine Eingebung richtig gewesen. Sobald er den Helm komplett angelegt hatte, aktivierte sich das Projektionsdisplay und eine Stimme kündigte das Zuklappen des Deckenstücks an.
Bahe verfolgte wie sich der Deckel des Systems langsam absenkte und konnte nicht umhin daran zu denken, dass diese Apparatur definitiv nichts, für unter Klaustrophobie leidende, Menschen sei.
Kaum war das System geschlossen, begann die Polsterung irgendwie von innen heraus zu leuchten und nahm der ganzen Apparatur so die bedrohliche Atmosphäre. In seinem Display erschienen zudem die zwei Funktionen, von denen Ying gesprochen hatte.
Willkommen bei Dimensional Leap!
Bitte wählen Sie Ihre gewünschte Funktion
3D-Scan
Start des Systems zur Verbindung mit Raoie
Bahe suchte unterbewusst zunächst nach Tasten, ehe er sich erinnerte, dass der Helm sprachgesteuert war.
„3D-Scan“, sprach er deutlich und das System reagierte auch prompt, indem es ihm die nächste Nachricht anzeigte.
Dimensional Leap wird nun mit Ihrem 3D-Scan fortfahren.
Bitte bleiben Sie ruhig liegen und entspannen Sie sich. Sobald der Scan abgeschlossen ist, werden Sie benachrichtigt.
Bahe konnte nicht umhin, ein Wenig nervös zu sein und versuchte möglichst still liegen zu bleiben, als das Licht im System sich plötzlich abschaltete, um von einem Leuchten an seinem Fußende ersetzt zu werden.
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Bahe, wie ein Ring aus Licht im System langsam nach oben wanderte, kurz auf Bahes Augenhöhe zum Stehen kam und schließlich über seinen Kopf hinweg glitt. Für einen kleinen Moment verweilte das Licht über seinen Kopf, ehe es ein weiteres Mal an seinem Körper vorbei fuhr und sich hinter seinen Füßen abschaltete.
Daraufhin wurde es kurz dunkel im System, bis plötzlich der Helm mehrere Sekunden, pulsierend, von innen heraus zu Leuchten begann. Nach diesem Prozess senkte sich erneut Dunkelheit über Bahe, ehe sich der Projektionsdisplay aktivierte und ihm den erfolgreichen Abschluss des 3D-Scans mitteilte.
Bahe legte schnell den Helm ab und das Dimensional Leap-System begann automatisch sich zu öffnen. Zwei Minuten später lag er angezogen bereits wieder im System und wählte die zweite Funktion aus.
Willkommen in den Vorbereitungen zum Dimensional Leap!
Bitte entspannen Sie sich, schließen Sie die Augen und zählen im Geiste von 1-10.
Überrascht über die merkwürdige Anweisung, schloss Bahe schnell die Augen und begann bis zehn zu zählen.
1
2
3
4
…
Weiter kam Bahe nicht als er plötzlich mit dem Gefühl konfrontiert wurde, dass der Boden unter seinen Füßen verschwand. Es wurde pechschwarz um ihn herum und er hatte den Eindruck frei im Raum zu schweben. Keinen Augenblick später veränderte sich die Umgebung auch schon und nahm Gestalt eines Raums mit kahlen Wänden an. Bahe selbst, schien noch immer in der Mitte des Raumes, einen Meter über dem Boden, zu schweben. Sein Körper schien eins zu eins der Realität entnommen zu sein. Zumindest konnte er mit bloßem Auge keinen Unterschied erkennen.
Nachdem sich die Umgebung materialisiert hatte, öffnete sich vor ihm ein Dialogfenster, wie man es aus jeder Art von Onlinespielen kannte. Es wirkte seltsam durchsichtig und doch materiell genug, um es klar erkennen zu können.
Ihr 3D-Scan und Irisabgleich ergab, dass Sie noch keinen Account oder Benutzerprofil erstellt haben. Wollen Sie einen neuen Account erstellen?
Ja / Nein
Irisabgleich? Bahe staunte nicht schlecht. Das TNL dermaßen viele persönliche Daten erheben würde, war ihm nicht wirklich klar gewesen. Dennoch, er war nicht umsonst so weit gekommen und konzentrierte sich auf die Antwort Ja.
Zehn Sekunden später passierte immer noch nichts…
Bahe war baff… Was zum Henker, machte er falsch? Sobald das System gestartet war, sollte er doch Kraft seiner Gedanken voran kommen…
Einen Moment später bemerkte er seinen Fehler und lachte über sich selbst, bevor er diesmal die Antwort mündlich gab: „Ja!“
Kopfschüttelnd belächelte er seine eigene Dummheit. Das System arbeitete schon längst und somit war jedes Wort, das er von sich gab, nur Ausdruck seiner Gedanken.
Ehe er sich jedoch länger mit diesen philosophischen Fragen auseinandersetzen konnte, erschien das nächste Fenster.
Wählen Sie den Namen für Ihren Avatar und geben Sie Ihre Account-Nr. ein.
Nickname: _____________ Acount-Nr.: _____________
Beachten Sie bitte, dass es keinerlei Einschränkungen bezüglich eines Nickname gibt. Auch Mehrfachbelegungen des gleichen Nickname sind in Raoie erlaubt. Es empfiehlt sich daher einen individuell angepassten Nickname zu wählen, anstatt gängiger Formate wie z. B.: „Ace“, „Shadow“ oder „Muhaha!“
Bahe hatte sich noch keine Gedanken zu seinem Nickname gemacht. Nach kurzem Überlegen entschied er sich dazu, den Namen seines alten Avaters erneut zu verwenden und den Nachnamen seinem Vater zu widmen. Anschließend nannte er noch seine Accountnummer.
Registrierungsprozess abgeschlossen!
Charaktername: Anael
Geschlechtserkennung: Männlich
Alter: 18 Jahre (der Account-Nr. entnommen)
Körperbau: Schmächtig / Abgemagert (Mögliche Ursache: Unterernährung -- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> TNL empfiehlt eine Ernährungsumstellung (Für weitere Informationen sagen Sie: HILFE))
Anpassung der Startattribute entsprechend der körperlichen Verfassung
Volkszugehörigkeit: Mensch
Bahe fiel aus allen Wolken, als er den Kommentar zu seinem Körperbau zu Gesicht bekam. Würde das bedeuten, dass seine Startattribute unter seiner körperlichen Verfassung im realen Leben leiden würden?!
Wäre das nicht die reinste Diskriminierung sämtlicher, körperlich, in irgendeiner Hinsicht benachteiligter, Menschen?
Bevor Bahe sich jedoch in einen regelrechten Wutanfall hinein steigern konnte, klappte bereits das nächste Fenster auf
Wählen Sie Ihren Ausgangspunkt:
Trachtenburg, Müllersdorf oder Waldenstadt
und überprüfen Sie Ihre Spieleinstellungen.
Wählen Sie OK, wenn Sie nichts verändern wollen.
Realitätsgrad der Grafik: 98-99%
Realitätsgrad des Sounds: 98-99%
Uhrfunktion im Spiel: Aus
… …
„Ausgangspunkt: Waldenstadt.“
„Spieleinstellungen: OK.“
Bahe hatte inzwischen genug von dem ganzen Registrierungsprozess und wollte nur noch ins Spiel. Die drei Startpunkte wurden auf einer Kartenansicht veranschaulicht und er wählte mit Waldenstadt kurzerhand den nordöstlichsten Bereich aus.
Da die Spieleinstellungen scheinbar im Standardmodus voreingestellt waren, machte er sich nicht die Mühe, die ganze Liste durchzugehen.
Ausgangspunkt festgelegt!
Avatar wird materialisiert und Attribute werden berechnet!
Endlich!
Bahe konnte nicht umhin, eine gewisse Aufregung zu verspüren, als sich seine Umgebung auflöste. Im Hintergrund vernahm er noch die Meldung, dass seine Spieleinstellungen übernommen wurden und im nächsten Moment tauchte er in die Welt Raoie ein.
–
–
–
–
–
Spieleinstellungen werden übernommen!
Realitätsgrad der Grafik: 98-99%
Realitätsgrad des Sounds: 98-99%
Uhrfunktion im Spiel: Aus
… …
… …
… …
Schmerzempfinden: 100% (Empfohlen: maximal 20%)
Nach einer ersten Orientierungsphase begann er die Gegend zu erkunden und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alles wirkte so realistisch, dass er zunehmend Probleme bekam, die Umgebung als ein künstlich synthetisiertes Spiel anzusehen.
Während er sich über den Marktplatz bewegte, fielen ihm vor allem die unterschiedlich gekleideten Menschen ins Auge. Egal ob Schmied, Bäcker oder andere Handwerke, die verschiedenen Aufmachungen nahmen kein Ende. Um einen Zierbrunnen in der Mitte des Marktplatzes tummelten sich zudem Ritter und andere Gestalten in den unterschiedlichsten Rüstungen und Gewändern.
Bahe fragte sich nur langsam, wie er die Spieler jemals von den NPCs[i] unterscheiden können sollte, als sich ein Fenster des Systems vor seinen Augen öffnete.
Willkommen in der Welt Raoie!
Ihren Avatar und seine Statistiken können Sie über das Menü-Feld aufrufen. Sagen Sie dazu „Menü“ und wählen Sie die entsprechende Option aus oder nennen Sie den Kurzbefehl „Charakterprofil“.
Eine Kartenfunktion gibt es nicht. Sie müssen sich selbst zurechtfinden. Es gibt allerdings Landkarten für einen gewissen Betrag der spieleigenen Währung zu erwerben.
Die wichtigsten Informationen zum Gesundheitsstatus und Ihrem Energielevel können Sie durch im Spiel erwerbliche Ausrüstungsgegenstände visualisieren. Eine kostenlose Alternative ist das Aufrufen Ihres Charakterprofils.
Sagen Sie „Überprüfen“, während Sie ein Monster oder eine Person im Blick behalten, um Informationen über andere Spieler, NPCs oder andere Wesen zu erhalten, sofern sie dazu berechtigt sind. Es handelt sich hierbei um eine beschränkte Funktion, die ausschließlich in Ihrer Anfangsstadt + 1 KM Umgebungsradius aktiviert werden kann. Die Fähigkeit wird deaktiviert sobald Sie Level 5 erreicht haben!
TNL empfiehlt dringend die Durchführung der Tutorials, um sich mit dem Gameplay vertraut zu machen!
Fortfahren mit den Tutorials
Tutorials später durchführen und Fenster schließen
Ohne zu Zögern schloss Bahe das Fenster und schaute sich seinen Körper und Kleidung genauer an. Er trug nur einfache Kleidung aus Leinen und Wolle, die in Erdfarbtönen gehalten waren. Wenigstens hatte er eine Hose an, die von einem Gürtel gehalten wurde und keine für das Mittelalter typischen Strumpfbeine. Andererseits fehlten auch jegliche Taschen oder Verzierungen an seiner Kleidung. Einzig ein zweischneidiger Dolch hing lose in seinem Gürtel und seine Füße steckten in alten und gebraucht aussehenden Lederstiefeln. Bei dem Zustand seiner Kleidung sollten andere Spieler ihn wohl leicht als Spielanfänger ausmachen können.
Wahrscheinlich handelte es sich bei der Menschenansammlung am Brunnen, um andere Spieler, wenn er die Kleidungsvielfalt der Personen in Betracht zog.
Durch seine Kleidungsmusterung kam Bahe nicht umhin, verstärkt auf seine Bewegungen zu achten. Es war wirklich verblüffend wie lebensecht sich jede seiner Bewegungen anfühlte. Voller Enthusiasmus führte er ein paar einfache Schlag- und Trittkombinationen in der Luft aus, ehe ihn abschätziges Gelächter wieder zur Besinnung brachte.
„Schau dir mal den Newbie an.“
„Haha, er ist bestimmt zum ersten Mal online. Hast du gesehen, wie er in der Luft rum boxt?“
„Ja, genau! Ist jedes Mal das Gleiche mit denen.“
„Schaut ihn euch mal genauer an, seht ihr wie klein der Typ ist? Er hat bestimmt Abzüge in seinen Statistiken bekommen!“
Die abfälligen Bemerkungen und das schadenfrohe Gelächter in der Nähe des Brunnens ließ Bahe so gut es ging von sich abprallen. Auch wenn der letzte Sprecher genau seinen wunden Punkt getroffen hatte.
Um sich nicht länger zum Affen zu machen, beschloss Bahe sich einen Bereich mit weniger Spielern zu suchen und rannte zum nördlichen Rand der Stadt.
Auf dem Weg dorthin, lief er durch Gassen mit Essensständen, bei deren Gerüchen ihm das Wasser im Munde zusammen lief. Eine Straße weiter musizierten Spielleute auf den unterschiedlichsten Instrumenten und umso schneller er rannte, umso mehr spürte Bahe den Zugwind auf seiner Haut. Es war ein unglaubliches Gefühl sich in solch einer Welt zu bewegen, die sich so sehr von allem Bekannten unterschied. Im Grunde hatte er das Gefühl durch einen mittelalterlichen Fantasy-Film zu laufen.
Am Rande der Stadt angekommen, lief er noch ein paar Schritte in den Wald hinein und besah sich zum ersten Mal sein Charakterprofil.
Charakter: Anael Level: 0
Beruf: – Erfahrungspunkte: 0/1000
Titel: – Gesundheit / HP[ii]: 100/100
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 0/0
Volkszugehörigkeit: Mensch Ruhm: 0
__________________________________________________________________________________
Spielerstatistiken:
Kraft: 02/10 Physische Konstitution / Statur: 01/10
Intelligenz: 10/10 Gelehrtheit: 10/10
Schnelligkeit: 06/10 Geschicklichkeit: 10/10
Ausdauer: 10/10 Widerstandsfähigkeit: 05/10
__________________________________________________________________________________
Willensstärke: 10/10 Konzentration: 10/10
Reflexe: 10/10 Glück: 05/05
Charisma: 05/05
__________________________________________________________________________________
Angriff: 1 Energietoleranz: 0
Verteidigung / Rüstung: 1 Energieresistenz: 0
___________________________________________________________________________
Weitere Charakterinformationen:
Attribute wurden den Ergebnissen des 3D-Scans angepasst.
Bahe hätte kotzen können, angesichts der Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen. Mit einem Kraftwert von 2 und der Degradierung in Schnelligkeit, konnte er froh sein, dass sein Angriffswert nicht auf 0,5 gesunken war, dachte er resigniert. Mit dem schwachen Wert seines Angriffs, war er in PvP-Situationen[iii] arg im Nachteil und was noch viel schlimmer war: Er würde zu Beginn nur wesentlich langsamer Erfahrungspunkte sammeln können. Inwieweit seine physische Konstitution eine Rolle spielte war ihm schleierhaft. Schlechter konnte sie allerdings kaum sein.
Das seine Ausdauer als einziger Wert durchschnittlich ausgeprägt war, versöhnte ihn angesichts der übrigen starken Defizite in keinster Weise.
„Fuck! Wie soll man mit solchen Stats[iv] zocken können…“, machte Bahe seiner Wut Luft.
Tief ein- und ausatmend schloss er sein Charakterprofil und widmete sich wieder seiner Umgebung. Sein Jammern brachte ihn nicht weiter. Er musste schlicht weg nach vorne blicken und sich an die Arbeit machen.
Als erstes musste er ein Gespür für seine körperlichen Fähigkeiten entwickeln. Er wurde aber von den Details eines Baumes abgelenkt und strich voller Bewunderung über die Rinde.
„Selbst an solch kleine Einzelheiten hat TNL gedacht…“
Irgendwann hatte er die Genialität von TNL genug bewundert und entschloss sich einen einfachen Schlag gegen den Baum auszuführen. Irgendwie musste er ja schließlich seine Stärke testen.
Bahe trat einen Schritt zurück und schlug dann mit aller Kraft seine Faust gegen den Baumstamm.
„Oh, scheiße! Ahhh… verdammt!“, fluchte Bahe vor Schmerzen, während er sich seine rechte Hand hielt.
Törichtes Verhalten: -1 HP
„Ernsthaft?!“
Die Meldung des Systems brachte für Bahe das Fass zum überlaufen und resultierte darin, dass er wahllos auf nahestehende Bäume eintrat und sich in einen Schreianfall hinein steigerte.
Als er sich einige Augenblicke später wieder beruhigt hatte, schaute er sich seinen in Mitleidenschaft gezogenen Handrücken an. Er blutete leicht und hatte sich ordentlich die Haut aufgeschürft. So viel zum Realitätsgrad von Raoie… Hätte TNL nicht wenigstens das Schmerzempfinden etwas absenken können?!
Na gut, seine Idee war bescheuert gewesen, musste Bahe sich eingestehen. Er hatte schlicht weg nicht nachgedacht. Bei dem Level an Perfektion von dem Raoie nur so strotzte, hätte er sich denken können, dass 10/10 Punkte in Kraft wohl dem normalen Durchschnittsmenschen in der Realität entsprach.
Seine lächerlichen 2 Punkte konnte er sich vorläufig sonst wohin stecken. Da er mit seinen bloßen Fäusten nicht weiterkommen würde, widmete er sich im Folgenden seiner Startwaffe.
Soweit Bahe wusste, erhielt jeder Spieler zu Beginn des Spiels eine Waffe nach dem Zufallsprinzip. Er war der Meinung, dass er mit seinem zweischneidigen Dolch zufrieden sein konnte.
Nachdem Bahe den Dolch in die Hand nahm, öffnete sich ein Benachrichtigungsfenster und wies einen Angriff von 6-7 für den Dolch aus. Bahes Angriffspotenzial hatte sich somit auf maximal 7 gesteigert.
Bahe konnte nur den Kopf schütteln.
Nicht drüber nachdenken… Nicht drüber nachdenken… Dachte er im Stillen.
Ein paar Minuten probierte Bahe verschiedene Angriffsbewegungen aus und musste sich schließlich eingestehen, dass er ohne einen Gegner wohl nicht weiter kommen würde. Da ihm nichts anderes übrig blieb, entfernte sich mit raschen Schritten weiter von der Stadt, auf der Suche nach den ersten Monstern, gegen die er kämpfen könnte.
Wenige Augenblicke später trat er auf eine Lichtung und sah in gut fünfzig Metern zwei Spieler sich gegen eine Horde von kleinen, pelzigen Gestalten erwehren, die ziemlich stark an zu groß gewachsene Kaninchen erinnerten.
„Überprüfen!“, gab Bahe das Kommando und vor ihm öffnete sich auf halber Höhe ein Fenster mit den Informationen der Kreaturen.
Wildwurzelkaninchen
Beschreibung: Wildwurzelkaninchen, die Plagegeister einfacher Bauern, sind relativ harmlose Geschöpfe, die allerdings in ihrer Zahllosigkeit an Kraft gewinnen. Wird nicht regelmäßig Jagd auf sie gemacht, können sie ganze Landstriche verwüsten.
Level: 0 HP: 40/40
Angriff: 4 Verteidigung: 3
Intelligenz: 1 Schnelligkeit: 10
Besondere Fähigkeiten: Blutrausch à Sterben zu vieler ihrer Artgenossen, kommt ihre blutrünstige Natur zum Vorschein à Angriff und Verteidigung +1
Bahe leckte sich die Lippen. Vor ihm befanden sich genau die richtigen Monster, um sich auszuprobieren.
Im Laufschritt lief er auf die Monster zu, die bisher ihren Focus auf die anderen beiden Spieler gelegt hatten. Ohne viel Zeit zu verlieren näherte er sich den ersten Kreaturen von hinten und stach mit seinem Dolch auf das erste Monster ein, das ihm etwas über die Knie reichte. Eine -3 materialisierte sich unmittelbar über der Kreatur als Bahe seinen Dolch zurück zog und gab Bahe die Bestätigung, dass sein Angriff erfolgreich gewesen war.
Die Kreatur sprang mit einem Fauchen herum und entblößte zu Bahes Schrecken ein verdammt furchteinflößendes Gebiss. Im Anbetracht der Tatsache, wie realistisch Raoie gestaltet war, lief Bahe ein Schauer über den Rücken und er stolperte instinktiv ein paar Schritte rückwärts.
Das Wildwurzelkaninchen ließ sich davon aber nicht abhalten auf ihn zu zustürmen. Mit zwei schnellen Sätzen hatte es ihn eingeholt und schnappte mit einem Sprung nach seinem Schienenbein. Noch immer nicht wieder ganz bei sich, taumelte Bahe noch weiter nach hinten, wich zur Seite aus und atmete einmal konzentriert aus. Er konnte es sich ja wohl kaum erlauben, direkt in seinem ersten Kampf zu verrecken. Als das Monster landete und zum Sprung in seine Richtung ansetzte, bewegte er sich diesmal auf die Kreatur zu und stieß ihr seinen Dolch entgegen. Mit etwas Glück fand der Dolch sein Ziel und fraß sich bis zum Griff in das rechte Auge des Monsters.
Kritischer Treffer! -21 HP
Du hast ein Wildwurzelkaninchen erfolgreich erlegt! Exp[v] +1
Bahe atmete erleichtert aus. So kurz der Kampf gewesen war, so nervenaufreibend war er definitiv auch. Scheinbar hatte das Wildwurzelkaninchen bereits vorher schon ein paar Verletzungen durch die beiden Spieler in der Nähe erlitten. Andernfalls wäre er in seiner Panik vielleicht nicht so glimpflich davon gekommen.
Und was war das bitte mit dem lächerlichen Erfahrungsgewinn im Vergleich zum Aufwand? Nur +1 Exp pro Wildwurzelkaninchen? Er würde Stunden brauchen, um auch nur hundert der Kreaturen zu erlegen, ganz zu schweigen von eintausend…
Nachdem er sich vollends beruhigt und seine Gedanken geordnet hatte, zog er etwas angewidert seinen Dolch aus der nun erloschenen Augenhöhle der Kreatur und wischte die eklige Mischung aus Blut und Augensekreten am Fell des Monsters ab. Die entsprechenden Gerüche sorgten dafür, dass Bahe stark mit seinem Würgereiz zu kämpfen hatte.
Raoie war wirklich etwas völlig anderes als jedes Spiel, das er bisher gespielt hatte. Die Gewalt die er hier selbst zu spüren bekam, schockierte ihn. Er konnte sich gut vorstellen, dass viele Leute Probleme damit hatten, einen solch echt wirkenden Kampf aufzunehmen. Trotzdem, er musste sich zusammen reißen, schließlich hatte er Geld hierfür ausgegeben. Er konnte nicht mit leeren Händen nach Hause gehen.
Mit neuer Entschlossenheit rannte er erneut auf die Kreaturen zu, deren Aufmerksamkeit noch immer auf den beiden Spielern lag, die ein Monster nach dem Nächsten nieder metzelten. Diesmal tat er es den Spielern nach und kämpfte sich ein gutes Stück zwischen einige der Kreaturen und hielt sie durch Tritte und schnelle Dolchvorstöße von sich fern, während nach und nach ihre HP-Werte abnahmen. Er musste dieses Risiko eingehen, wenn er weiterhin nur jedes Monster einzeln erledigen würde, wäre er Jahre damit beschäftigt sein Level zu erhöhen. Die beiden anderen Spieler schauten nur kurz zu ihm hinüber, ließen sich aber ansonsten nicht von ihm stören. Die Wildwurzelkaninchen waren nur Level 0 Monster und damit nun wirklich keine Seltenheit.
Nach fünf Minuten hatte Bahe seine ersten Erfolgserlebnisse als zwei Kreaturen unter seinen Dolchhieben zusammensackten und Bahe ließ den Dolch gleich noch eifriger auf seine Gegner niederfahren.
Was zunehmend zu einem Problem für ihn wurde, war seine schlechte Angriffsgeschwindigkeit. Bahe hatte feststellen müssen, dass sein schlechter Schnelligkeitswert durchaus relevant war. Die Wildwurzelkaninchen machten ihm mit ihrer Geschwindigkeit das Leben von Sekunde zu Sekunde schwerer.
Durch den Tod zwei ihrer Artgenossen, waren fünf weitere Wildwurzelkaninchen dazu gestoßen und Bahe geriet zunehmend aus der Puste und entging nur noch um Haaresbreite einigen ihrer Angriffe.
Bahe beschloss sich nach und nach in die nördliche Richtung aus der Menge der Kreaturen zu kämpfen, da dort ihre Konzentration am Niedrigsten war. Die beiden anderen Spieler, die etwas weiter südlich standen, schlugen sich bei weitem besser und zogen so einen Großteil der Aufmerksamkeit der Wildwurzelkaninchen sich.
Nach ein paar Minuten war er nur noch zwei, drei Schritte vom Rand der Meute entfernt und in seinem Eifer sich aus der Menge zu lösen, bemerkte er ein Monster zu spät. Mit einem Satz schnappte es nach seinem Bein und verbiss sich regelrecht in seinem unteren Schienenbein.
„Ahhh, fuck!“, vor Schmerz aufschreiend ignorierte Bahe kurzzeitig die anderen Kreaturen und hieb mit seinem Dolch mehrmals auf das Monster ein, das sich durch bloßes Schütteln des Beines nicht von seinem Schienenbein lösen wollte.
Schwerer Treffer: -14 HP
Schwerer Treffer: -14 HP
.
.
.
Du hast ein Wildwurzelkaninchen erfolgreich erlegt! Exp +1
Dadurch, dass er vorübergehend mit einem einzelnen Monster zu kämpfen hatte, schaffte er es jedoch nicht mehr sich der übrigen Kreaturen zu erwehren. Kaum war er das erste Monster losgeworden, bissen sich bereits Weitere an seinen Beinen und seinem linken Arm fest und sorgten dafür, dass er das Gleichgewicht verlor.
Zu seinem Entsetzen stellte Bahe fest, wie er mitten in die Meute fiel und im nächsten Moment blendete der aufkommende Schmerz jeglichen Gedanken aus. Zwölf Wildwurzelkaninchen verbissen sich in seinem Fleisch und rissen an seinen Extremitäten.
„Aaaaaaargghhhhh!“
[i] NPC = non-player charakter à Der Begriff fasst prinzipiell alle in einer Geschichte vorkommenden Figuren zusammen, die nicht direkt von einem Spieler, sondern vom Computer, geführt werden. Im Bereich der Computerspiele werden vor allem diejenigen Figuren als NPCs bezeichnet, die sich dem Spieler gegenüber freundlich oder neutral verhalten, in Unterscheidung zu den vom Computer gesteuerten Gegnern oder Monstern.
[ii] HP = Health Points à englische Kurzform der Lebenspunkte oder Gesundheit à Computerspieljargon
[iii] PvP / PvsP = Player versus Player à Computerspieljargon
[iv]Stats = Player Stats à Kurzform für den englischen Begriff der Spielerstatistiken à Computerspieljargon
[v] Exp = Experience Points à englische Kurzform für Erfahrungspunkte à Computerspieljargon
„Aaaaaaargghhhhh!“
Bahe schrie vor Schmerzen und schlug verzweifelt mit seinem Dolch um sich. Seine Arme und Beine brannten unter den immer wieder kehrenden Attacken der Monster, während er um sich schlug und trat und dabei noch versuchte wichtige Stellen seines Körpers zu schützen. Zwischen den Attacken sah er beständig negative Werte über seinen Verletzungen aufleuchten. Mit jedem Biss der Monster verlor er -3 HP und Bahe wusste auch ohne auf seine Gesundheitsanzeige zu schauen, dass er nicht mehr lange durchhalten würde.
Das Fauchen der Kreaturen verschwamm mit seinen Schmerzensschreien und mit einer letzten Mobilisierung seiner Kraftreserven rappelte er sich auf, sprang über zwei Wildwurzelkaninchen hinweg und rannte so schnell er konnte Richtung Norden. Der Horror, lebendig gefressen zu werden, verlieh ihm ungeahnte Kräfte als er durch das hohe Gras voran preschte und auf den nahen Waldrand zu lief.
Die beiden anderen Spieler, schauten Bahe einen Augenblick lang hinterher, wie er von einigen der Wildwurzelkaninchen verfolgt wurde und schüttelten entgeistert die Köpfe.
„Was für ein Looser!“
„So ein Noob[i]…“
Damit war für sie die Angelegenheit erledigt und sie widmeten ihre volle Aufmerksamkeit wieder dem Gemetzel der Level 0 Monster.
Zehn Minuten später hockte Bahe auf einem Baum und wagte es nicht sein Versteck zu verlassen. Wie ein Wahnsinniger war er vor den Monstern geflohen, hatte aber zu seiner Bestürzung feststellen müssen, dass sie ihn verfolgten. Hinzu kam noch, dass die Viecher schneller als er waren und ihn in regelmäßigen Abständen einholten, egal wie viele Haken er schlug.
Mit dem Dolch hatte er zwischenzeitlich einzelne Kreaturen abgewehrt, während er nach einem sicheren Versteck Ausschau gehalten hatte. Letzten Endes hatte er diesen leicht zu erklimmenden Baum gefunden und sich in ausreichender Höhe vor den Monstern in Sicherheit gebracht.
Anfangs hatten die Wesen noch böse gefaucht und versucht den Stamm empor zu springen. Nur mit der Zeit legte sich langsam das aggressive Verhalten der Kreaturen und vor zwei Minuten waren sie endlich weiter gezogen.
Bahe wartete noch weitere zehn Minuten und lauschte angestrengt in den Wald hinein, ehe er sich vorsichtig daran machte den Baum hinunter zu klettern. Jede Bewegung schmerzte seinen geschundenen Körper und ließ ihn umso vorsichtiger agieren. Durch den Adrenalinschub auf seiner Flucht, hatte er die Schmerzen größtenteils ausblenden können. Inzwischen musste Bahe jedoch die Zähne zusammen beißen und er fragte sich, wie zum Henker er es trotz seiner Verletzungen geschafft hatte, diesen Baum zu erklimmen.
Die Attacken der Wildwurzelkaninchen waren nicht ohne Folgen geblieben. Insgesamt war seine Gesundheit mit 53 auf knapp über die Hälfte gesunken und seine Bewegungsgeschwindigkeit war durch ein verletzungsbedingtes Hinken noch weiter reduziert worden.
Zu allem Überfluss regenerierten sich seine HP nur unglaublich langsam. In den ganzen zwanzig Minuten, die er auf den Baum verbracht hatte, stieg seine Gesundheit lediglich um einen Punkt.
Unten angekommen, besah er sich seine Wunden das erste Mal etwas genauer. Seine Arme und Beine waren übersät von Kratzern und Bissen, die höllisch brannten. An manchen Stellen, glaubte Bahe doch tatsächlich fehlendes Fleisch auszumachen und wandte schnell seinen Blick ab. Je länger er darüber nachdachte, desto mulmiger wurde ihm. Dann gab es noch die Fetzen seiner Kleidung, die lose an ihm herab hingen und vor Blut trieften. Allein der Gedanke damit nach Waldenstadt zurückkehren zu müssen… Er konnte nur hoffen, dass ihn niemand bemerkte.
Bahe wollte lieber nicht den gleichen Weg zurück nehmen, den er gekommen war und entschied sich, ein kurzes Stück weiter Richtung Norden zu gehen, ehe er sich östlich wenden würde, um später in einem großen Bogen zurück nach Waldenstadt zu laufen. Vor ihm wurde das Dickicht aber zunehmend dichter und Bahe hatte in seinem geschundenen Zustand arge Mühe, sich hindurch zu kämpfen.
Ein unheimliches Rascheln in seinem Rücken ließ ihn vor Schreck herum fahren, während er sich nervös ein paar Schritte rückwärts durch die Büsche drängte. Zu seiner Erleichterung fand er jedoch kein Monster vor. Beruhigt wandte er sich wieder um und machte einen Schritt nach vorne, als er plötzlich ins Leere trat und hektisch um sich griff. Die dünnen Zweige zerbrachen jedoch unter seiner Last und mit einem Schreckensschrei stürzte er in die Tiefe.
Dünne Zweige und Blätterwerk begrenzten seine Sicht bis er sich unverhofft, drei oder vier Meter über einem kleinen See wiederfand. Schnell die Arme und Beine anlegend, platschte er im nächsten Augenblick ins Wasser.
Wenig später kroch er prustend und mit schmerzverzehrtem Gesicht an den Rand des Sees. Das Wasser war in seine Wunden eingedrungen und abgesehen von der Reizung, die das Seewasser mit sich brachte, hatte es auch die erste Schorfbildung wieder aufgeweicht. Mürrisch ließ er sich am Rand des Sees nieder und betrachtete erstaunt seine Umgebung.
Vor ihm eröffnete sich regelrecht ein kleines Paradies, dessen Mittelpunkt der See darstellte. Auf der gegenüber liegenden Seite befand sich ein kleiner Wasserfall, der über eine natürliche Treppe aus Felsen prasselte. Vereinzelte Sonnenstrahlen schienen durch das dichte Blätterdach der Bäume und ein Lichtstrahl brach sich im Sprühnebel des Wasserfalls. Ein kleiner Regenbogen war die Folge, der sich knapp über den See erstreckte.
An anderer Stelle plantschten ein paar Enten im Wasser und zwanzig Meter zu seiner Rechten, dort wo ein kleiner Bach dem See entsprang, erhaschte Bahe noch einen kurzen Blick auf ein Reh, ehe es im angrenzenden Wald verschwand. Mit den blühenden Blumen am Seeufer entstand so eine wundervolle, friedliche Atmosphäre, die Bahe mit großen Augen in sich aufnahm.
Du hast ein verborgenes Stück unberührter Natur entdeckt!
Ruhm +10
Du hast den ersten Kathar-See entdeckt!
Ruhm +100
Beschreibung: Der Kathar-See läutert die Seele von allen irdischen Zwängen und befreit einen von psychisch-seelischen Konflikten jeder Art.
Auswirkungen des Sees:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Ein Bad im See beruhigt das Gemüt und schafft klare Gedanken.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Jegliche, geistige Beeinflussung kann durch das Wasser des Kathar-Sees bereinigt oder unterbunden werden!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Ein Bad im Wasser des Kathar-Sees reinigt die Seele von allen irdischen Zwängen. Jegliche Berufszugehörigkeit wird aufgehoben!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Ein Bad im Wasser des Kathar-Sees reinigt den Körper von allen Unreinheiten, stärkt so die physische Konstitution und bringt dich vorüber gehend der Natur ein Stück näher!
Dein Körper wurde gereinigt und deine körperliche Konstitution hat sich verbessert!
Physische Konstitution +1
Kraft +1
Max. HP +10
Bahe machte beinahe Luftsprünge vor Freude über den unerwarteten Glücksfall! Seine physische Konstitution hatte sich verbessert! Und scheinbar hatte der Prozess positive Auswirkungen auf seine Muskelkraft und seine Gesundheit! Mit einem schnellen Blick in sein Charakterprofil, stellte er zufrieden fest, dass sich sein Angriff damit sogar bereits auf 2 erhöht hatte.
Die übrigen Funktionen des Sees waren für ihn nicht weiter von Bedeutung. Er hatte leider noch keine Fläschchen, in denen er etwas Wasser hätte abfüllen können. Ein Mittel gegen eine geistige Beeinflussung zu besitzen konnte irgendwann bestimmt nützlich werden.
Bahe war froh, dass er so früh im Spiel auf den See gestoßen war. Denn die Wirkungen des Sees waren im Grunde ein zweischneidiges Schwert. Hatte man mit seinem Charakter schon einen Beruf gewählt und dessen Fähigkeiten ausgebildet, konnte die Wirkung des Sees verheerend sein. Wirklich nutzen, konnten ihn im Grunde nur Spielanfänger oder vielleicht hochrangige Spieler mit besonderen Artefakten.
Kaum hatte die erste Begeisterung nachgelassen, öffnete sich das nächste Fenster.
Willst du diesen Ort geheim halten?
Wählst du ja, wird vorläufig niemand von diesem Ort erfahren. Auf diese Weise wirst du auch keinen Ruhm erlangen. Die erhaltenen 110 Punkte Ruhm werden negiert.
Wählst du nein, wird die Position des Sees unter allen Menschen Raoies bekannt werden. Die erhaltenen 110 Punkte Ruhm bleiben.
„Nein“, Bahe brauchte gar nicht darüber nachzudenken. Sämtliche Punkte, egal in welchem Bereich seiner Statistiken, stellten so früh im Spiel einen Schatz dar, den er nicht bereit war aufzugeben.
Du hast dich dafür entschieden ein Geheimnis nicht für dich zu behalten und der Allgemeinheit einen Dienst erwiesen, indem du ein neues Pilgerziel zur Reinigung der Seele entdeckt hast.
Deine Entdeckungen werden sich rumsprechen und dafür sorgen, dass dein Name mit Ehrfurcht ausgesprochen wird, wenn das einfache Volk vor deinen Taten hört.
Bahe schloss das Benachrichtigungsfenster und begann sich in Ruhe das Blut vom Körper zu waschen. Er legte die Fetzen seiner Oberbekleidung ab und schwamm ein paar Meter in den See hinaus, so dass er gerade noch stehen konnte. Danach begann er vorsichtig seine Haut zu schrubben und entfernte nach und nach sämtlichen Schmutz und angetrocknetes Blut von seinem Körper.
Es dauerte nicht lange und er war gerade dabei wieder ans Ufer zurück zu schwimmen, als ihm ein Funkeln auf dem Grund des Sees ins Auge fiel. Er tauchte kurz unter und erkannte, dass er sich tatsächlich nicht geirrt hatte. Mitten im See war eindeutig ein metallisches Schimmern zu erkennen! Aufregung packte ihn, denn ein solches Schimmern konnte nur eins bedeuten: Ein Schatz war hier tief unten am Grund des Sees verborgen!
Wieder auftauchend atmete er tief ein und wollte sich gerade dazu aufmachen mitten auf den See hinaus zu schwimmen, als er einen merkwürdigen Schatten auf der Seeoberfläche wahrnahm. Sein Blick folgte dem Schatten und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
„Oh, Scheiße…“
[i] Noob -- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> wird je nach Kontext mehr oder weniger abwertend im Sinne von „blutiger Anfänger mit absolut keiner Ahnung“ gebraucht. In Online-Computerspielen wird dem Adressaten damit oftmals die Kenntnis grundlegender Spielregeln oder die Befähigung zum hilfreichen Mitspielen abgesprochen.
In anfängerfreundlichen Umgebungen wird der Terminus Noob in der Regel zugunsten des neutraleren Newbie vermieden.
Ganz langsam, begann er rückwärts auf das Ufer zu zugehen, während er sein Gegenüber musterte.
Nahe dem Wasserfall, auf der anderen Seite des Sees, stand eine wolfsähnliche Kreatur am Seeufer und fixierte Bahe mit ihrem Blick. Die Kreatur war gigantisch in ihren Ausmaßen. Selbst ein ausgewachsener Löwe würde nur als Zwischenmalzeit für dieses Monstrum enden. Ein robuster Körperbau in blaugrauem Fell, thronte mit kräftigen Pranken auf einem Felsen am Seeufer und ließ das Monster so noch imposanter erscheinen als es eh schon war.
Doch was Bahe die Haare zu Berge stehen ließ, waren nicht etwa die vor Kraft strotzenden Muskeln oder das außergewöhnlich anmutende Horn mitten auf der Stirn des Wesens, sondern die Augen, die von einer Intelligenz geprägt zu sein schienen, die ihm das Fürchten lehrte.
Bahes Kopfbewegung war der Kreatur nicht entgangen und sobald die Kreatur Bahes Aufmerksamkeit spürte, verlagerte sie sich in eine Kampfstellung und ließ ein Ohren betäubendes Brüllen vernehmen, dass über den See hinweg hallte.
In diesem Moment ließ Bahe alle Vorsicht fallen und kämpfte sich aus dem Wasser auf das Ufer zu. Ein schneller Blick über seine Schulter, ließ sein Herz einen Schlag aussetzen! Das Monster hetzte bereits hinter ihm her! Ohne anzuhalten, rannte Bahe in den Wald hinein und ließ die Fetzen seiner Kleidung am Ufer zurück.
Haken schlagend, raste er durch das Dickicht des Waldes, sprang über umgefallene Baumstämme und änderte immer wieder die Richtung, in der Hoffnung die Monstrosität hinter ihm abzuhängen. Kurz bevor ihm die Puste ausging, entschloss er sich es zu riskieren und versteckte sich oben auf einem Baum, hoch im Baumwipfel.
Keine Sekunde später, krachte die wolfsähnliche Kreatur aus dem Unterholz hervor und hetzte an Bahes Versteck vorbei. Das Krachen und Bersten von Ästen und Gestrüpp war noch einen kurzen Moment zu hören, ehe es in der Ferne verschwand.
Bahe überlegte nicht länger, ignorierte seine Schmerzen und stürmte den Baum regelrecht hinab. In Windeseile schlug er sich nach links durch Büsche und weiteres Dickicht und kratze sich seine eh schon geschundenen Extremitäten noch weiter auf. Nach knapp fünfzig Metern stieß er auf einen kleinen Bach, den er sich direkt zu Nutze machte und nach rechts mit der Strömung durch das Wasser hechtete.
Nach gut zweihundert Metern, die Bahe wie eine Ewigkeit vorkamen, verließ er den Bach zur linken Seite und versuchte so einen größeren Abstand zwischen sich und die Kreatur zu bringen. Es begann erneut das mühselige Vorankommen durch dichtes Buschwerk und unwegsames Gelände. Das Blut pochte Bahe in den Ohren, während er sich in seiner Hektik keine Pause gönnte und sich stetig weiter kämpfte.
Eine viertel Stunde später lichtete sich die umgebende Vegetation zunehmend. Bäume und Sträucher fanden sich nur noch vereinzelt, als felsiger Untergrund den weichen Waldboden ablöste. Die spärliche Deckung nutzend, schlich sich Bahe weiter vorwärts, anstatt zu einer Seite auszuweichen. Die Angst vor dem Monster saß ihm noch zu tief in den Knochen, er konnte einfach noch nicht weiter im Waldgebiet verweilen.
Nachdem er über einen weiteren Felsvorsprung geklettert war, kam Bahe in seinen Bewegungen plötzlich ins Stocken. Er traute seinen Augen nicht… Vor ihm eröffnete sich eine gigantische Schlucht, deren Ende er von seinem Standort noch nicht ausmachen konnte. Wie in Trance lief er zum Rande des Abgrunds und kam dort völlig verblüfft zum Stehen.
Die Schlucht erstreckte sich soweit das Auge reichte nach rechts und links und schien kein Ende zu nehmen. Die Felswand auf der gegenüberliegenden Seite war mindestens mehrere Hundert Meter entfernt und beraubte Bahe jeglicher Hoffnung einen Weg hinüber zu finden. Als Bahe hinunter blickte, taumelte er kurz und zog sich dann lieber schnell einen Schritt von dem unmittelbaren Abgrund zurück. Die Tiefe der Schlucht war beängstigend und ließ sich nicht klar erkennen. Nebel und Dunkelheit verschluckten die Felswände in der Tiefe und ließen nur Vermutungen zu, wie weit die Schlucht wohl in das Erdreich reichen konnte.
Bahe schreckte plötzlich aus seinen Gedanken und duckte sich sofort hinter einen Baum, als er in der Ferne ein Fauchen vernahm. Panisch blickte er hin und her und suchte nach einem Ausweg. Er befand sich nur wenige Meter von der Schlucht entfernt, die Felswände hinunter zu klettern, war unmöglich für ihn. Er glaubte nicht, dass er mehrere hundert Meter in die Tiefe klettern konnte, ohne dass ihm die Kräfte ausgingen. Abgesehen davon hatte er keine Erfahrung in Felskletterei. In den Wald zurück konnte er nicht. Das Fauchen und Brüllen der Kreatur kam aus dieser Richtung und wurde stetig lauter. Es blieben ihm also nur zwei Möglichkeiten, entweder links oder rechts über das felsige Terrain an der Schlucht entlang. Mit der geringen Deckung standen seine Chancen aber mehr als schlecht lebend zu entkommen.
Als Bahe seinen Blick an der Schlucht links entlang wandern ließ, entdeckte er in hundert Metern Entfernung plötzlich einen schmalen Pfad, am unteren Ende einer sechs Meter hohen Felsformation. Zwischen Schlucht und Felsformation befand sich ein winziger Felsvorsprung, gerade breit genug für einen schmalen Menschen. Die Kreatur würde ihm dorthin nicht folgen können. Doch das Problem bestand darin, überhaupt erst dorthin zu kommen.
Wie um diesen Gedanken zu untermauern, krachte es in plötzlich im nahe gelegenen Wald und mit einem Brüllen erschien das Monster auf einem weit entfernten Felsen. Bahes Atem beschleunigte sich, als er sah, wie die Kreatur versuchte seine Witterung aufzunehmen.
Ohne noch länger zu zögern schnappte er sich einen am Boden liegenden Stein und schleuderte ihn soweit er konnte hinter sich. Beim Klacken des Steins auf dem Felsboden zuckten die Ohren des Monsters und es preschte in die entsprechende Richtung.
Bahe nutzte seine kreierte Chance und lief im Zickzack von einer Deckung zur Nächsten. Er nutzte all sein Wissen zum erfolgreichen unbemerkt bleiben, dass er sich über die letzten Monate angeeignet hatte, um den Geldeintreibern zu entfliehen. Er verschmolz mit den Schatten der Bäume und Felsen und achtete sogar auf die Windrichtung, um es der Kreatur zu erschweren, seine Witterung aufzunehmen.
Wie erwartet, blieb das Monster nicht lange verschwunden und machte sich anschließend sofort daran Bahes ursprünglicher Fährte zu folgen.
Die Zähne zusammen beißend, entschied sich Bahe lieber einen Umweg in Kauf zu nehmen, ehe die Kreatur zu schnell seiner Fährte folgen könnte. Die folgenden Minuten wurden zu einem nervenzerrenden Katz-und-Maus-Spiel, indem Bahe jeden Schritt sorgsam wählen musste, um seinen Vorteil zu bewahren. Trotzdem verringerte sich sein Vorsprung zunehmend und befeuerte seine unterdrückte Panik gefressen zu werden.
Am Ende kam er schließlich zwanzig Meter von dem Felsvorsprung entfernt hinter einem Baum zum Stehen. Vor ihm gab es keine Deckung mehr. Das letzte Stück würde er nur im Rennen zurück legen können. Das Monster lief schräg hinter ihm noch immer erregt seiner Fährte nach und würde ihn bald einholen. Trotzdem musste er den Zeitpunkt genau wählen und noch ein wenig abwarten. Sobald die Kreatur mit ihrem Kopf hinter einem Felsen verschwand, sprintete er auf Zehenspitzen so leise wie möglich auf den Felsvorsprung zu.
Doch das Glück sollte ihm nicht treu bleiben. Bahe hatte gerade zwei Schritte gemacht, als der Wind seine Richtung änderte.
„Fuck!“
Ein Windzug kam plötzlich von der Schlucht und trug seinen Geruch in die Richtung des Monsters! Panisch beschleunigte Bahe seine Schritte und bemühte sich nicht länger leise zu sein.
Er vernahm ein ohrenbetäubendes Brüllen in seinem Nacken und rannte ohne sich umzublicken auf den Felsvorsprung zu. Zehn Meter, fünf Meter… Das dumpfe Aufsetzen schwerer Pfoten wurde zunehmend deutlicher… vier Meter, drei Meter… Er war fast da! Zwei Schritte noch! Feuerte Bahe sich gedanklich an, während er seine letzten Kräfte mobilisierte.
Bahe war gerade dabei den letzten Schritt zu machen, als eine gewaltige Pfote seine linke Schulter rammte. Durch die Wucht des Stoßes verlor er sein Gleichgewicht und drohte in den Abgrund hinab zu stürzen. In einem Ansatz verzweifelter Wut, stieß er sich noch mehr vom Boden ab und nutze den Schwung, um eine Drehung in der Luft durchzuführen.
Vor ihm erschien die Kreatur, die mit aufgerissenem Maul nach ihm schnappte. Durch einen reflexartigen Ellbogenstoß zur Seite des Kiefers, wehrte er die scharfen Zähne ab. Die nachfolgende Pranke des Monsters war jedoch zu schnell und erwischte ihn an der linken Seite unterhalb der Rippen. Sämtliche Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst, während er voller Zorn die Pranke des Monsters mit seinen Armen umschlang und mit sich riss.
Er hatte einen Entschluss getroffen. Wenn er schon nicht entkommen konnte, dann sollte diese verfluchte Monstrosität wenigstens mit ihm untergehen!
Die plötzliche Last seines Gewichts erwischte die Kreatur unerwartet und unter einem wütenden Fauchen wurde sie von Bahe mit in den Abgrund gerissen!
Im freien Fall kämpfte Bahe weiterhin darum zumindest nicht gefressen zu werden und erwehrte sich gegen das Monster, das wütend nach ihm schnappte. Es wurde zu einem tödlichen Spiel, bei dem der kleinste Fehler sein Verderben bedeuten würde. Die Kreatur versuchte mit allen Mitteln an ihn heran zu kommen und Bahe mühte sich verzweifelt ab, so gut es ging den tödlichen Krallen und Zähnen auszuweichen. Unkontrolliert überschlugen sie sich dabei immer wieder, während sie tiefer in den Abgrund stürzten.
Der Zugwind pfiff ihm in den Ohren, als er ein ums andere Mal die Vorstöße der gefährlichen Krallen des Monsters abwehrte. Nach wenigen Sekunden trübte plötzlich Nebel Bahes Blick. Durch die eingeschränkte Sicht konnte er eine Pranke nicht mehr rechtzeitig parieren und sein Versuch, ihr durch eine Körperdrehung auszuweichen, scheiterte kläglich. Ein Schmerzensschrei löste sich aus seiner Kehle, als sich die Krallen von hinten in seine linke Schulter bohrten!
Bahe verlor die Kontrolle über seinen Körper, als die Kreatur ihre Krallen dazu nutze ihn an sich heran zu ziehen. Kopfüber wurde er durch die Luft gewirbelt.
Im gleichen Moment lichtete sich der Nebel und ermöglichte Bahe, einen Blick in den Abgrund zu werfen.
Wenige Meter unter ihm entdeckte er zwei Felsvorsprünge!
Blitzschnell fasste er einen Entschluss, griff nach der Pranke an seiner Schulter und riss sich in einem Kraftakt los. Die Schmerzen ignorierend, zog er sich mit einem Ruck zur Schulter der Kreatur heran, wich dem schnappenden Maul aus und wuchtete sich hockend auf den oberen Rücken des Monstrums. Mit aller Kraft drückte er sich daraufhin ab und sprang nach oben!
Die Kreatur wurde indes im freien Fall herum gewirbelt und schlug senkrecht, mit dem Kopf voran, auf den ersten Felsvorsprung auf!
Kaum eine Sekunde später prallte Bahe mit den Füßen voran auf den weichen Unterleib des Monsters, dessen Körper sich gerade im Umkippen befand. Sämtliche Luft wurde ihm beim Aufschlag aus den Lungen gepresst und sein Versuch sich abzurollen scheiterte an der schieren Gewalt des bisherigen freien Falls. Er schaffte es gerade noch seine Arme vor seinem Gesicht zu positionieren, um wenigstens noch einen Teil des Schwungs abzufangen, ehe er mit seinem Oberkörper und Kopf gegen den Rumpf der Kreatur prallte.
Benommen verlor Bahe für einen kurzen Moment sämtliche Orientierung. Zwischenzeitlich glaubte er sich zu überschlagen, knallte dann aber abrupt mit dem Rücken auf einen harten Untergrund, der ihn Sterne sehen ließ.
Irgendwo erfolgte ein dumpfer Aufschlag von etwas großem, Bahe konnte in seinem benebelten Zustand allerdings zunächst nichts damit anfangen.
Nach ein paar Atemzügen, die er nur unter schmerzverzehrtem Stöhnen zu Stande brachte, klappten plötzlich mehrere Benachrichtigungsfenster auf:
Du hast eine dir unbekannte Kreatur auf unkonventionelle Art und Weise erlegt!
Der Erfahrungsgewinn ist 200% höher, da es sich um eine geheime Lebensform mit großem Level-Unterschied handelt!
Exp +1500
Du bist auf Level 1 aufgestiegen!
Verfügbare Attributpunkte: +2
HP-Maximum durch Level-Aufstieg auf 110 erhöht!
HP +10/10
HP-Regenerationsgeschwindigkeit durch Level-Aufstieg erhöht!
HP-Regenerationsgeschwindigkeit für 10 Sekunden bei 200%!
Bahe schloss die Fenster und nach und nach schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht. Er war zu Level 1 aufgestiegen!
Eifrig öffnete er sein Charakterprofil und schaute sich seine veränderten Gesundheitswerte an. Schock war die erste Reaktion, als er die geringe HP-Zahl registrierte.
Charakter: Anael Lerua Level: 1
Beruf: – Erfahrungspunkte: 1503/2050
Titel: – Gesundheit / HP: 19/120
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 0/0
Volkszugehörigkeit: Mensch Ruhm: 110
__________________________________________________________________________________
Spielerstatistiken:
Kraft: 03/11 Physische Konstitution / Statur: 02/11
Intelligenz: 10/10 Gelehrtheit: 10/10
Schnelligkeit: 06/10 Geschicklichkeit: 10/10
Ausdauer: 10/10 Widerstandsfähigkeit: 05/10
__________________________________________________________________________________
Willensstärke: 10/10 Konzentration: 10/10
Reflexe: 10/10 Glück: 05/05
Charisma: 05/05
__________________________________________________________________________________
Angriff: 1 Energietoleranz: 0
Verteidigung / Rüstung: 1 Energieresistenz: 0
_________________________________________________________________________________
Bedürfnisse:
Hunger gestillt: 000/100 Durst gestillt: 030/100
_________________________________________________________________________________
Weitere Charakterinformationen:
19 HP?!
Ohne die zusätzlichen 10 HP die er soeben durch den Level-Aufstieg erlangt hatte, wären es nur 9 HP gewesen! Verdammt, er wäre fast verreckt!
Er brauchte einen Moment um den Schrecken zu verarbeiten, ehe er sich aufsetzte und sein Profil gründlicher musterte. Unter seinen weiteren Charakterinformationen waren die Attributpunkte verfügbar, die er auf seine Stats aufteilen konnte und blinkten in regelmäßigen Abständen immer wieder auf. Was ihn jedoch stutzig machte, war ein neuer Bereich zu seinen Bedürfnissen, der bisher noch nicht da gewesen war, sowie die dazu passende Mitteilung über seinen verfügbaren Attributpunkten.
Hunger gestillt: 0/100
Ihm schwante Böses…
Prompt erschienen auch schon die nächsten Fenster:
Der lange Verletzungsstatus und der hohe Regernationsprozess deines Körpers haben die körpereigenen Ressourcen schneller als gewöhnlich aufgebraucht. Dein Körper verlangt nach sofortiger Nahrungsaufnahme!
Hunger gestillt: 0/100
Dein Hungerbedürfnis ist auf den absoluten Tiefpunkt gefallen!
Solange dein Hungerwert bei 0/100 verbleibt, sinkt deine HP jede Minute um 1!
HP -1
Geschockt schaute Bahe in sein Charakterprofil: 18 HP!
„Fuck!“
Bekamen Spielanfänger normaler Weise nicht ein paar Ressourcen, um am Anfang wenigstens ein paar Tage ohne Nahrungssuche überleben zu können?
Mit einem Griff an seinen Gürtel merkte er zudem, dass ihm sogar sein zweischneidiger Dolch fehlte, den er noch vorhin bei sich getragen hatte! Scheinbar hatte er ihn beim Sturz verloren…
So ein Mist!
Nach einem Moment des Zögerns stand er auf und blickte sich zum ersten Mal richtig um. Unwillkürlich wich er näher an die Felswand zurück und brachte ein Bisschen Abstand zwischen sich und den Abgrund.
Er befand sich auf dem unteren der beiden Felsvorsprünge, die er vorhin im freien Fall ausgemacht hatte. Der leblose Körper der Kreatur lag unmöglich verdreht am Rande des Felsvorsprungs. Ansonsten gab es nichts bis auf blanken Fels in der Nähe. Rundum erstreckte sich der Abgrund und die Felswand. Noch immer war kein Boden in der Tiefe zu erkennen und Bahe musste schlucken.
Wie zum Henker, sollte er jemals von hier runter kommen?!
HP -1
Bahe musste sich selbst korrigieren. Es musste lauten: Wie sollte er jemals rechtzeitig von hier runter kommen?!
Ihm blieben noch siebzehn Minuten! Danach würden seine HP auf 0 fallen und er würde das erste Mal in Raoie sterben. Bahe war sich nicht sicher, worin genau die Konsequenzen bestanden, aber üblicher Weise wurde man mindestens ein Level degradiert und verlor Ausrüstungsgegenstände, die man zu dem Zeitpunkt am Körper trug.
Da er sprichwörtlich nichts bei sich trug, war die zweite Sache die geringste seiner Sorgen. Eine Degradierung zu Level 0 wollte er aber wenn möglich vermeiden. 1503 Exp ließen sich im Normalfall nur durch tagelanges Farmen[i] erwirtschaften.
Die Umgebung diesmal genauer betrachtend, blickte Bahe an der Felswand hinauf. Auch wenn das Felsgestein zwischendurch einige Einkerbungen aufwies, war es nahezu unmöglich für ihn, wieder empor zu klettern. Er machte sich keine Illusionen, seine Arme würden längst erlahmen ehe er auch nur die Nebelwand durchquert hätte.
Bei diesem Gedanken wurde ihm zum ersten Mal klar, was für ein unglaubliches Glück er gehabt hatte. Ironischer Weise hatte er es nur dieser Monstrosität zu verdanken, dass er den tiefen Sturz überlebt hatte.
Mit einem Ruck wanderte Bahes Blick zu dem Kadaver zu seinen Füßen. Er hatte noch gar nicht überprüft, ob das Monster irgendwelche Gegenstände fallen gelassen hatte! In sämtlichen Computerspielen der Art von MMORPG[ii], die sich mit dem Bekämpfen von Monstern für besondere Artefakte und andere Ausrüstungsgegenstände beschäftigten, ließen die Kreaturen eben solche Gegenstände mit ihrem Tode fallen.
Raoie ging noch einen Schritt weiter und war das erste MMORPG in einer virtuellen Realität, quasi ein VRMMORPG[iii]. Ansonsten sollte es jedoch alle Gegebenheiten eines typischen Online-Rollenspiels aufweisen.
Einen Augenblick später atmete Bahe resigniert aus. Er hatte nichts gefunden. Andererseits fragte er sich auch, wie es überhaupt mit dem großen Realitätsgrad von Raoie zusammenpassen sollte, wenn aus dem Nichts Waffen und wertvolle Gegenstände erschienen, sobald gewisse Monster starben.
Da es also keinen besonderen Ausrüstungsgegenstand gab, der ihn wundersamer Weise aus seiner Lage befreien konnte, blieb Bahe nur übrig weiter nach einer anderen Lösung zu suchen.
Rechts und links an befanden sich nur die nackten Felswände der Schlucht. Wenn man mal von dem zweiten Felsvorsprung absah, der sich etwas versetzt, etwa auf Kopfhöhe, an der Felswand zu Bahes Rechten befand.
So oder so blieb also nur der Weg nach unten…
Bahe schaute sich zunächst die Felswand zu beiden Seiten des Felsvorsprungs an und entschied sich dann für die Seite, an der noch immer der Kadaver der Kreatur lag. Die ersten paar Meter sollten hier leichter zu bewerkstelligen sein. Ob er es schaffen konnte ganz hinunter zu klettern, war jedoch eine ganz andere Sache.
Zumindest wollte er es versuchen.
Sich vorsichtig über den Körper des Monsters hinweg bewegend, wollte sich Bahe gerade an der Felswand hinunter lassen, als sein Blick auf den Kopf der Kreatur fiel.
Das Horn des Monsters war am unteren Ende abgeknickt und hing nur noch mit einem Bruchteil seines Umfangs an dem dicken Hornursprung fest. Es sah relativ stabil aus und würde sich bei der Kletterei für einen Novizen wie ihn vielleicht als nützlich erweisen.
Mit einem raschen Schritt war er am Kopf der Kreatur und zog an dem Bruchstück des Horns. Dabei bewegte sich der Kopf des Monsters seitlich und rosa-weißliche Gehirnmasse trat aus zwei Rissen des Schädels aus. Bahe konnte nur angewidert den Blick verziehen und zerrte weiter am Horn der Kreatur, dessen letzte Verbindungsstücke immer noch nicht nachgeben wollten.
-1 HP
„Scheiße!“, fluchte Bahe vor sich hin.
Ihm blieben nur noch sechzehn Minuten. Er musste sich beeilen!
Mit einem kräftigen Ruck löste sich das Horn endlich und Bahe gab den Befehl: „Identifizieren!“
Du hast das Horn eines dir unbekannten Wesens an dich genommen. Obwohl du nichts über die Kreatur oder ihren Ursprung weißt, spürst du wie sich eine angenehme Wärme von deinen Händen bis zu deinem Kopf ausbreitet. Deine Gedanken werden seltsam klar und du fühlst dich jeder Situation gewachsen.
Willensstärke +2
Konzentration +2
Horn eines unbekannten Wesens
Artefakt der Klasse: GOLD
Solange du das Horn bei dir trägst erhöhen sich deine Willensstärke und deine Konzentrationsfähigkeit:
Willensstärke +20
Konzentrationsfähigkeit +20
Bahe staunte nicht schlecht.
Das Horn war ein Artefakt! Noch dazu eins in der GOLD-Klasse!
Zwar hatte er sich im Vorhinein nicht darüber informiert, welche Klassenabstufungen es gab, allerdings wurde der Ausdruck GOLD selten für die ersten Stufen irgendeiner Rangfolge benutzt. Ein selbstgefälliges Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er darüber nachdachte, dass er als absoluter Spielanfänger direkt am ersten Spieltag ein Artefakt der GOLD-Klasse entdeckt hatte!
Besonders geschockt war Bahe, als er tatsächlich eine gewisse Wärme in seinen Händen spürte, die an seinen Armen empor wanderte und sich schließlich in seinem Kopf breit machte.
Mit einem schnellen Blick in sein Charakterprofil stellte er fest, dass sich die entsprechenden Attribute tatsächlich dauerhaft um 2 erhöht hatten!
Charakter: Anael Level: 1
Beruf: – Erfahrungspunkte: 1503/2050
Titel: – Gesundheit / HP: 16/110
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 0/0
Volkszugehörigkeit: Mensch Ruhm: 0
__________________________________________________________________________________
Spielerstatistiken:
Kraft: 03/11 Physische Konstitution / Statur: 02/11
Intelligenz: 10/10 Gelehrtheit: 10/10
Schnelligkeit: 06/10 Geschicklichkeit: 10/10
Ausdauer: 10/10 Widerstandsfähigkeit: 05/10
__________________________________________________________________________________
Willensstärke: 12 (+20) /12 Konzentration: 12 (+20) /12
Reflexe: 10/10 Glück: 05/05
Charisma: 05/05
__________________________________________________________________________________
Angriff: 1 Energietoleranz: 0
Verteidigung / Rüstung: 1 Energieresistenz: 0
_________________________________________________________________________________
Bedürfnisse:
Hunger gestillt: 000/100 Durst gestillt: 030/100
_________________________________________________________________________________
Weitere Charakterinformationen:
Der zusätzliche, passive Bonus durch das Artefakt wurde ihm in Klammern hinter dem jeweiligen aktiven Attributwert angezeigt.
Bahe hätte vor Freude Luftsprünge gemacht, wenn die Zeit nicht so dringlich gewesen wäre. Er setzte seine beiden verfügbaren Attributpunkte noch schnell zu seinem Attribut Kraft und ließ die Anzeige so auf 05/13 ansteigen.
Ganz egal welche Berufszugehörigkeit er später wählen würde, mit solch einem niedrigen Kraftwert würde er auf Dauer kaum voran kommen. Abgesehen davon konnte er zusätzliche Attributpunkte in Kraft für den langen Abstieg mehr als gut gebrauchen.
Im Nu war er wieder am Fels und suchte mit seinen Füßen nach Einkerbungen, die ihm genug Halt für den Abstieg gaben. Bahe kam ganze zwei Meter tief, ehe er feststellen musste, dass er die Felskletterei unterschätzt hatte. Das Horn war ihm zudem überhaupt keine Hilfe gewesen. Er hatte es längst in seinen Gürtel gesteckt und war lieber nur mit den Händen und Füßen weiter geklettert.
Mit Mühe kam er noch einen Meter tiefer, musste dann aber erst mal verschnaufen, während er versuchte seine Arme zu entlasten.
Sein Blick wanderte indessen nach unten und er war sich sofort im Klaren darüber, dass es ein Fehler gewesen war. Völlig erstarrt, verkrampften sich seine Muskeln in dem unbändigen Willen bloß nicht loszulassen und Bahe liefen die Schweißtropfen regelrecht die Stirn hinunter.
„Verdammt, ist das hoch!“
Er musste wahnsinnig gewesen sein…
Ohne Nachzudenken hatte er sich einfach auf den Weg gemacht. Klar, er hatte keine Wahl gehabt und die Freude über den unerwarteten Fund hatte das ihre dazu getan. Dennoch, solche Höhen waren definitiv nichts für ihn!
-1 HP
Auch das noch! Nicht das ihn die Höhe nicht schon genug fertig machen würde!
Bahe blickte ein weiteres Mal nach unten und bereute es sofort. Seine Finger schwitzten zunehmend und im Glauben jeden Moment abzurutschen, versteifte er sich nur noch mehr. Tief ein- und ausatmend versuchte er sich zu beruhigen, wären ihn nach und nach immer mehr die Kräfte verließen.
Als er nach einem kurzen Moment endlich wieder klar denken konnte, fasste er neue Entschlossenheit. Egal, ob er abstürzen würde oder nicht, am Ende war es nur ein Spiel. Wirklich sterben würde er nicht! Auch wenn es schon relativ heftig war, dass ein Computerspiel Panik und Todesangst in ihm auslösen konnte.
In Anbetracht, dass Raoie bisher allerdings so lebensecht war, vor allem auch im Hinblick auf die Schmerzen, wollte er lieber nicht riskieren in die Tiefe zu stürzen.
Zurück konnte er nicht, er musste nach unten! Wenn in beiden Richtungen der Tod wartete, sollte er sich besser für die Variante entscheiden, die zumindest eine kleine Aussicht auf Erfolg versprach.
Mit schwindenden Kraftreserven tat er also das einzig Mögliche und kletterte weiter. Die nächste Schadensmeldung ignorierte er gepflegt und fand nach und nach in einen Rhythmus. Fuß für Fuß, Hand für Hand, suchte er Erhebungen, Ausbuchtungen oder kleine Felsspalten die ihm Halt gaben. Nach zwei weiteren Metern merkte Bahe jedoch wie hoffnungslos es war. Seine Finger zitterten bereits. Lange würde er sich nicht mehr halten können. Panisch suchte Bahe nach irgendeiner Lösung, während er weiter nach unten kletterte.
In seiner Hektik rutschte er plötzlich mit seinem Fuß ab und fing sich gerade noch, indem er mit seiner rechten Hand einen tieferen Felsspalt ergriff.
Er suchte sofort nach einer neuen Trittmöglichkeit, als sein Blick an einer neuen Felsausbuchtung hängen blieb. Wenn ihn nicht alles täuschte befand sich unter dem Felsvorsprung, von dem er soeben geklettert war eine weitere ebene Fläche!
Neue Hoffnung schöpfend, mobilisierte er seine letzten Kräfte und ließ sich Schritt für Schritt weiter hinab. Nach ungefähr zwei Metern trat der Felsvorsprung eindeutig zu Tage und Bahe stutzte kurzzeitig. Irgendeine Art Blume mit großen, gelb-orangen Blüten wuchs auf dem Felsvorsprung und schlängelte sich teilweise an der Felswand darüber entlang.
Das Gewächs vorerst ignorierend, kletterte Bahe so nah es ging an den Felsvorsprung heran, musste aber schließlich schräg oberhalb des Felsvorsprungs zum Halten kommen. Er befand sich noch ca. eineinhalb Meter von der geraden Oberfläche entfernt. Diese Entfernung würde er springend zurücklegen müssen. Die horizontale Oberfläche des Felsvorsprungs sollte mit ungefähr zwei Quadratmetern ausreichen, um seinen Schwung abzufangen. Das Problem stellte für ihn viel mehr der Sprung an sich dar.
Er war erschöpft. Noch dazu konnte er keinen Schwung holen. Bahe war sich nicht sicher, dass er den Sprung wirklich bewältigen konnte…
„Schluss damit!“, redete er sich selbst Mut zu und konzentrierte sich.
Er atmete zweimal tief ein und aus und stieß sich dann mit aller Kraft von der Felswand ab. Nicht nur der Zugwind rauschte ihm in den Ohren, als er durch die Luft flog und sein Herz regelrecht aus seiner Brust zu springen drohte.
Im nächsten Moment stellte sich jedoch heraus, dass er sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Seine Füße landeten auf dem relativ ebenen Felsen und mit zwei kleinen Ausweichschritten hatte er den übrigen Schwung abgefangen.
Völlig erschöpft ließ er sich auf den Hintern fallen und versuchte wieder Luft zu bekommen.
Nachdem er sich beruhigt hatte, schaute er sich seinen neuen Rastplatz an und ihm stockte plötzlich der Atem. Die Pflanze, die hier wuchs, hatte nicht nur wunderschöne Blüten, sie trug auch eine Frucht!
Bahe traute seinen Augen kaum. Die Frucht ähnelte einer Mango, war jedoch länglicher und knallgelb. Im Nu stand er vor der Pflanze und rang mit sich selbst.
Sollte er sich an der Frucht versuchen? Vielleicht war sie giftig? Vielleicht war sogar die ganze Pflanze giftig…?
Er konnte sich nicht mal sicher sein, die Pflanze ohne Gefahr anfassen zu können!
-1 HP
„Fuck!“, fluchte Bahe.
Damit sanken seine HP gerade auf magere 13 herab. Er hatte nur noch dreizehn verdammte Minuten! Was überlegte er hier überhaupt noch? Ohne Nahrung würde er es niemals rechtzeitig diese Felswand hinunter schaffen!
Seinen Entschluss gefasst, trat er einen letzten Schritt auf die Pflanze zu und pflückte vorsichtig die Frucht.
Du hast eine dir unbekannte Frucht gefunden.
„…“
[i] Farmen = Farmen wird, vorzugsweise in Onlinerollenspielen, die andauernde, routinierte und monotone Tätigkeit des Sammeln und Suchen bestimmter Gegenstände, Geld oder Punkten genannt. Der Begriff rührt aus dem landwirtschaftlichen Bereich, in dem der Farmer „sammelt und sucht“ (seinen Anbau oder sein Vieh). Der Begriff tauchte in seiner jetzigen Bedeutung als erstes in Newsgroups zu Rogue-likes auf, wo er hauptsächlich das dauerhafte Töten von sich vermehrenden Monstern bezeichnete.
[ii] MMORPG = Massively Multiplayer Online Role-Playing Game
[iii] VRMMORPG = Virtual Reality Massively Multiplayer Online Role-Playing Game
Bahe verdrehte angesichts des unnötigen Benachrichtigungsfensters genervt die Augen und tastete die Frucht behutsam ab.
Die Frucht fühlte sich viel weicher als eine Mango an. Eher vergleichbar mit einer Khaki.
Mit der Frucht in der Hand setzte er sich vorsichtig auf den Boden und gab den Befehl: „Identifizieren!“
Du hast eine dir unbekannte Frucht gefunden. Name, Art, Klasse und Wirkung der Frucht sind nicht identifizierbar!
„Wofür ist die Fähigkeit „Identifizieren“ überhaupt von Nutzen…“
Es war ja nicht so, als ob er etwas anderes erwartet hätte. Üblicherweise brauchte man in dieser Art Computerspiele zusätzlich eine extra Identifikations-Fähigkeit, um unbekannte Gegenstände identifizieren zu können. Einfache und alltägliche Gegenstände konnten durchaus noch von normalen Scan-Funktionen erkannt und identifiziert werden. Umso seltener oder ungewöhnlicher die Gegenstände jedoch waren, umso eher waren spezielle Identifikations-Fähigkeiten von Nöten. Auch hier kam es auf die verschiedensten Bedingungen an. So spielten neben dem Rang der entsprechenden Fähigkeit, auch das Level der jeweiligen Person, sowie die Seltenheit bzw. die Klasse des Gegenstandes eine Rolle. Identifikations-Fähigkeiten waren keineswegs allmächtig.
Da Bahe so oder so keine weiteren Informationen herausfinden konnte und ihm seine HP regelrecht davon liefen, biss er schließlich in die Frucht hinein. Sie war angenehm saftig und schmeckte leicht süßlich.
Nachdem er einen Bissen runter geschluckt hatte, wartete Bahe kurz ab. Als ein paar Augenblicke später immer noch keine Schadensmeldung kam, machte er sich eifrig daran die Frucht zu verspeisen und strich sich die klebrigen Finger an den Fetzen seiner Hose ab.
Du hast eine dir unbekannte Frucht gegessen und dein Körper reagiert mit Wohlwollen auf die nötige Nahrungszufuhr.
Hunger vorerst gestillt
Hunger 15/100
„15/100, huh?“
Allzu lange würde auch das nicht reichen. Aber wenigstens hatte er den stetigen HP-Verlust unterbrechen können. Ohne die schöne Pflanze noch länger zu betrachten, ging er vorsichtig den Felsvorsprung ab und suchte nach der bestmöglichen Stelle sich hinab zu lassen.
Zu seiner Freude fand er, der Seite von der ursprünglich gekommen war gegenüber liegend, lianenartiges Gewächs an der Felswand. Es wirkte zudem relativ dick und stabil an das Felsgestein gewachsen.
Bahe musste zunächst zwei Meter horizontal über den nackten Fels klettern und ließ sich diesmal Zeit. Er war viel zu erschöpft. Ein weiterer Fehltritt würde ihn vermutlich das Leben und somit den Level-Abstieg kosten.
Trotzdem kam er mit einer knappen Minute relativ schnell an dem Gewächs an und atmete erleichtert auf, als seine Hände die lianenartigen Pflanzen ergriffen. Zum ersten Mal in seiner Kletterpartie konnte er mit seinen Händen vernünftig zugreifen und fühlte sich gleich viel sicherer.
Mit neuer Zuversicht kletterte er so zügig er sich traute an den Pflanzen hinunter. Dennoch war es ein langwieriger Prozess und Bahe musste zwischendurch kurze Pausen einlegen. Ab und an fand er eine Stelle, an der die Pflanzen etwas vom Fels weggewachsen waren und nutze die Gegebenheit, um seinen Ellenbogen um das Gewächs zu haken und so seine Finger entlasten zu können.
Es ging eine ganze Weile so weiter. Die lianenartigen Gewächse nahmen in ihrer Zahl an der Felswand auch stetig zu und ermöglichten Bahe es ab und an sogar zu einer leichteren Route zu wechseln.
Nach gut zweihundert Metern, die Bahe wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, stieß er plötzlich auf ein Problem und musste anhalten.
Die Lianen unter ihm waren allesamt durchtrennt!
Zwischen dem Endstück seiner jetzigen Pflanze und den Gewächsen unter ihm befand sich eine ca. drei Meter breite Einkerbung im Fels, die sich in schräger Form soweit er sehen konnte über die Felswand erstreckte.
Der Fels unter ihm war merkwürdig glatt und wirkte seltsam unnatürlich. Bahe würde sich niemals an dem Felsbereich festhalten können. Ihm blieb nur die Option sich fallen zu lassen und nach einer der unteren Lianen zu greifen.
In der Hoffnung, dem Boden wenigstens ein Bisschen näher zu sein, machte er sich Mut und schaute nach unten.
Ah, diese Höhen!
Bahe tat sein Bestes, um die aufkommende Panik zu unterdrücken. In etwa fünfzig Metern bahnte sich wieder eine undurchsichtige Nebelwand an. Zumindest ersparte ihm diese Tatsche einen womöglich noch schlimmeren Blick in die Tiefe.
Die Felswand schien unter ihm jedoch in eine Art Überhang überzugehen, so dass er nicht genau beurteilen konnte, wie groß die Entfernung wirklich war.
Tief durchatmend brachte er sich schließlich in Position, schaute nach unten, um sein Ziel anzuvisieren und ließ sich fallen.
Die Luft rauschte kurz in seinen Ohren, dann griff er auch schon nach seiner anvisierten Pflanze und kam mit kurzem Rutschen an dem Gewächs zum Stillstand.
„Perfekt!“, jubelte Bahe.
Oder doch nicht! Schrie er im nächsten Augenblick innerlich. Mehrfaches Knacken und verschiedene Reißgeräusche kündigten sein kommendes Unheil an und ehe er nach einem Ersatz greifen konnte, löste sich das lianenartige Gewächs von der Felswand.
Hektisch griff er bereits im Fallen an der Liane um und vermied so zumindest kopfüber an der Pflanze zu baumeln, als es auch schon hinab ging.
Mit lautem Geschrei fiel Bahe schräg nach hinten rechts. Die Liane spannte sich mit einem Ruck und im nächsten Moment schwang Bahe, an der Liane baumelnd, mit zunehmender Geschwindigkeit in den Abgrund hinunter.
„Oooh, Scheeeeeeißeeee!“
Er schrie sich förmlich die Seele aus dem Leib, während er sich krampfhaft an der Pflanze festhielt. Der Nebel kam unfassbar schnell näher und einen Moment später war er praktisch blind. Die Luft zischte an seinen Ohren vorbei, während er sich innerlich auf einen harten Aufprall vorbereitete. Er fürchtete jeden Moment gegen harten Fels zu prallen, als er plötzlich spürte, wie sich Schwungrichtung änderte und er wieder nach oben pendelte.
Im Nu schoss er wieder aus der Nebelbank heraus und erhaschte so einen Blick auf das andere Ende seiner Rettungsleine. Die Liane hing noch gerade eben mit vier Metern an der Felswand an einem enormen Überhang, der es überhaupt erst möglich gemacht hatte, dass er nicht unmittelbar gegen die Felswand geprallt war.
Der Schwung, den er inne gehabt hatte, ebbte aus und Bahe fiel mit der Pflanze wieder zurück zur Nebelbank. In den folgenden Nerven zerrenden Minuten pendelte Bahe stetig hin und her, bis er irgendwann fast zum Stillstand kam.
Anfangs hatte er noch erkennen können, dass er mit fast zwanzig Metern verdammt weit von der Felswand entfernt war. Die letzten beiden Male, bei denen er über der Nebelbank eine klare Sicht gehabt hatte, ließen ihn zu seiner Bestürzung feststellen, dass die Liane inzwischen nur noch mit zwei Metern an der Felswand hing. Schlussendlich bedeutete dies, dass er inzwischen jeden Moment abstürzen konnte. Abgesehen davon ging seine Kraft zur Neige. Schwung zu holen, um einen Abstand von zwanzig Metern zu überwinden schien ihm in Anbetracht der Tatsachen irrsinnig.
Die andere Möglichkeit bestand darin, an der Liane wieder empor zu klettern und am Überhang entlang die Felswand weiter hinab zu klettern. So sehr es sich Bahe auch durch den Kopf gehen ließ, dort standen seine Chancen nicht viel besser…
Andererseits, was blieb ihm sonst schon übrig? Er musste es versuchen!
Bahe holte vorsichtig mit seinen Beinen Schwung, als ein Rück durch die Liane ging und er schockiert feststellte, dass er sich im Fallen befand!
Schreiend ließ er die Liane los und ruderte hektisch mit den Armen, um nicht kopfüber in den Abgrund zu stürzen. Der freie Fall dauerte zwei Sekunden, ehe seine Füße auf einen Widerstand trafen und sein Hintern unsanft auf einen harten Untergrund prallte.
Für einen kurzen Moment verlor er jegliche Orientierung, bis er merkte, dass er auf einem starken Gefälle gelandet war und über den Boden rutschte. Im Reflex fuhr er seine Arme aus und versuchte mit Händen und Füßen seine Rutschpartie zu stoppen. Durch die starke Neigung des Untergrunds wurde dies jedoch zunehmend schwieriger. Panisch presste er seine Füße mit aller Kraft auf den Boden und machte sich so schwer, wie es ihm möglich war.
Nach einigen qualvollen Sekunden verlor er endlich an Geschwindigkeit und kam in halb sitzender Position zum Ruhen. Seine hektische Atmung legte sich langsam wieder und ließ ihn seine unmittelbare Umgebung näher in Augenschein nehmen.
Der Nebel beschränkte seine Sicht noch immer enorm und verhüllte hinter der drei Meter Grenze alles mit zunehmender Dichte. Der Untergrund war sehr abschüssig. Bahe vermutete die Neigung bei ca. fünfunddreißig Grad. Die Oberfläche des Bodens war eindeutig felsigen Ursprungs, allerdings so unnatürlich glatt, dass Bahe sich noch immer bemühen musste an Ort und Stelle zu bleiben. Wie war so etwas zu Stande gekommen?
Bahe verwarf den Gedanken schnell wieder und machte sich daran Stück für Stück den Abhang hinunter zu rutschen. Die Kletterei zuvor war schon eine langwierige Arbeit gewesen, stellte aber keinen Vergleich zu Bahes momentaner Situation dar. Die geringen Distanzen, die Bahe sich vorschieben konnte ohne ins Rutschen zu geraten, raubten ihm aber allmählich den letzten Nerv. Sowohl der Nebel als auch der felsige Abhang schienen kein Ende zu nehmen. Zwischendurch checkte Bahe vor Langeweile sogar sein Charakterprofil und musste zu seinem Leidwesen feststellen, dass sein Hungerbedürfnis nur noch zu zwölf Prozent gestillt war. Es war erschreckend wie stark sich Bahes Verletzungsstatus auf sein Hungerbedürfnis auswirkte.
Bahe kämpfte sich für unzählige Minuten stetig im gleichen Trott weiter voran. Es war ermüdend und einige Male ertappte Bahe sich dabei, wie er zu nachlässig die Füße nach vorne schob und ein paar Meter unkontrolliert hinunter rutschte.
Einige Minuten später lichtete sich endlich der Nebel und gab den Blick auf die endlose Schlucht frei. Trotz des Nebels drang noch immer genügend Licht nach hier unten vor, um in der Ferne die Biegungen der Schlucht auszumachen. Allerdings wirkte alles relativ diesig wie an einem stark bewölktem Sommertag.
In zwanzig Metern endete der Abhang und gab den Blick auf eine weite Ebene am Fuße der Schlucht frei. Große Erleichterung machte sich in Bahe breit. Der ganze Aufwand hatte sich gelohnt!
Aufgeregt legte er so schnell es ging die letzten Meter zurück und kam am Rande des Hangs zum Ruhen. So nah der Boden zunächst auch gewirkt hatte, so befand er sich noch immer knappe hundert Meter über den Boden. Die Felswand unter ihm verlief senkrecht nach unten. Bahe machte sich keine Illusionen. Seine Hände und Unterarme waren noch immer leicht verkrampft, ein Abstieg an dieser Stelle war für ihn unmöglich.
Zu Bahes Rechten befand sich jedoch vielleicht eine Möglichkeit zum Boden zu kommen. Der Fels verlief am Boden mit einer flachen Neigung, die sich mit zunehmender Höhe stetig steigerte, bis die Felswand wieder eine senkrechte Form annahm. Mitten drin, grub sich am Erdboden eine gigantische Höhle in die Felswand und ragte knappe fünfzig Meter in die Höhe. Über der Höhle war die Felswand brüchig und von zahlreichen Vorsprüngen und Einbuchtungen durchzogen. Dort würde sein Abstieg die besten Erfolgsaussichten haben.
Trotz der Freude, endlich einen Ausweg gefunden zu haben, ließ sich Bahe Zeit und näherte sich langsam dem Bereich oberhalb der Felsvorsprünge. Mit äußerster Vorsicht ließ er sich schließlich auf den ersten Vorsprung hinab, setzte sich auf die leicht unebene Fläche und atmete tief durch.
„Den schlimmsten Teil habe ich geschafft!“, motivierte er sich selbst und suchte nach der besten Route für seinen Abstieg.
Keine Minute später schüttelte er seine Hände kurz aus und ließ sich zum nächsten Felsvorsprung hinab. Von dort aus sprang er einen Vorsprung weiter und kletterte in einer Felsspalte weiter nach unten.
Der gleiche Prozess wiederholte sich immer wieder, stets mit kleinen Pausen, in denen Bahe seine nächsten Schritte plante. Zwischendurch wagte er sogar mal den ein oder anderen Sprung nach unten.
Insgesamt stellte dieser Teil die schnellste Etappe in seiner langwierigen Reise zum Grund der Schlucht dar.
Nach kaum fünf Minuten kam er bereits unmittelbar über der Höhle an und kletterte daraufhin am rechten Rand der Höhle weiter hinab.
Mit zunehmender Neigung des Felsen gewann Bahe an Sicherheit, bis er schließlich ab und an die Hände von den Felsen löste und in einer Mischung aus Sprüngen und schnellen Klettereinlagen hinunter eilte.
Vier Meter über dem Boden sprang er zu einem Felsen, der neben der Höhle vier Meter in die Höhe ragte, um dort den letzten Rest des Weges zurück zu legen. Von Oben hatte er gesehen, dass sich die Seite des Felsens hervorragend zum Festhalten eignete und so ersparte er sich die letzten zweihundert Meter über blanken Fels zu steigen.
Mit einem Satz war er drüben und einige Handgriffe später kam er endlich am Erdboden der Schlucht an.
Bahe brauchte einen Moment, um seinen Erfolg zu verdauen, doch dann brachen all seine Dämme.
„Ich hab es geschafft!“, schrie er aus Leibeskräften, während er erfolgstrunken seine Hände in die Luft streckte.
„Letztendlich habe ich dich doch bezwungen“, meinte Bahe glücklich, während er zweimal mit der linken Hand auf den Fels klatschte und sich anschließend umdrehte. Vor ihm erstreckte sich der Boden der Schlucht als eine weite Ebene.
Er wollte gerade anfangen sich genauer umzuschauen, als der Boden unter seinen Füßen mit einem lauten Grollen zu beben begann.
Ein Erdbeben?! Schoss es ihm durch den Kopf, als die Erde abrupt zum Erliegen kam. Das Beben war genauso schnell verschwunden, wie es gekommen war.
Misstrauisch drehte sich Bahe um und wollte die Felswand über ihm mustern, als sein Blick schockiert am Felsen vor ihm hängen blieb! Er blickte mitten in ein grünes Auge der Größe seines Torsos!
Vor Schreck machte er unwillkürlich einen Schritt zurück und blieb dann wie angewurzelt stehen. Ihm schwante langsam, dass der Felsen vor ihm gar keiner war…
Das Auge blinzelte zweimal und fokussierte sich dann auf Bahe. Ihm lief ein eisiger Schauder über den Rücken, als er den Blick der gigantischen Kreatur auf sich spürte.
„Ähm… hi?“
Kapitel 10 Kampf der Giganten
Bahe zögerte nicht länger und nahm die Beine in die Hand.
Wie ein Wahnsinniger rannte er über die Ebene der Schlucht hinweg. Er hatte sich nach links gewandt. Zu seiner Rechten war kilometerweit nichts außer Erde, Gestein und dem ein oder anderen Grasbüschel zu sehen gewesen. Zu seiner Linken gab es auch keine Deckung die er nutzen konnte, allerdings machte die Schlucht in dreihundert Metern eine Biegung. Er konnte nur hoffen, dass sich dahinter irgendeine Fluchtmöglichkeit offenbarte.
Nachdem es zweihundert Meter lang ruhig geblieben war und sich Bahe mit schnellen Blicken zurück davon überzeugt hatte, dass die Kreatur noch immer am selben Platz verweilte, begann plötzlich wieder die Erde zu beben. Schockiert darüber, dass die Auswirkungen der Kreatur noch immer zu spüren waren, riskierte er einen Blick über die Schulter.
Der Anblick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren! Der vier Meter hohe Felsen, den er zuvor genutzt hatte, um auf den Boden zu klettern, war nur der Stirnbereich eines gigantischen Kopfes, der inzwischen aus dem Boden ragte!
Unter einem lauten Grollen erhob sich die Kreatur vom Boden und Bahe wollte seinen Augen nicht trauen. Ein etwa fünfzig Meter langer Abschnitt löste sich von der Felswand und gab den Blick auf einen gewaltigen Körper frei!
Gestein und Staub wirbelte durch die Luft als sich gigantische Schwingen über dem Rücken der Kreatur streckten und ein mindestens dreißig Meter langer Schwanz krachend auf den Boden schlug. Voll aufgerichtet erlangte die Kreatur eine Höhe von gut fünfundzwanzig Metern!
Bahe lief ein eisiger Schauder über den Rücken, als sich die Augen des reptilienhaften Kopfes auf ihn richteten. Er wusste verdammt genau um was für eine Kreatur es sich hinter ihm handelte!
Es war ein Drache!
Ein verdammter Drache dessen Haut eins zu eins der verdammten Felswand glich!
Wieso musste ausgerechnet ihm sowas passieren?!
Bahe schaute wieder nach vorne. Noch dreißig Meter und er hatte die Biegung in der Schlucht erreicht. Er konnte nur hoffen, dass er sich dort irgendwo verstecken konnte, wenn der Drache hinter ihm herjagen würde.
Er legte nochmal an Geschwindigkeit zu.
Fünfundzwanzig Meter…
Zwanzig Meter…
Fünfzehn Meter…
Ein gewaltiges Brüllen erschütterte die Schlucht und Bahe glaubte doch tatsächlich die Erde unter seinen Füßen beben zu spüren. Schockiert warf er einen Blick zurück und sah, wie sich der Drache zum Sprung bereit machte.
Panisch beschleunigte Bahe seine Schritte zur Höchstgeschwindigkeit und bemerkte aus dem Augenwinkel heraus, wie sich der Drache mit einem Sprung nach vorne katapultierte!
Zehn Meter…
Bahe konnte nicht fassen, wie schnell der Drache die Strecke von mehreren hundert Metern hinter sich brachte. Mit allein zwei Sätzen hatte ihn der Drache fast schon eingeholt!
Sieben Meter…
In heilloser Panik riskierte Bahe einen letzten Blick über die Schulter und warf sich abrupt zu Boden.
Geifernde Zähne schossen im nächsten Moment haarscharf über ihn hinweg!
Bahe rollte sich schnell ab, blendete die Schmerzen seines geschundenen Körpers aus und preschte die letzten Meter um die Biegung herum.
Der Drache war durch seinen enormen Schwung knappe hundert Meter weiter geflogen, ehe er unter lautem Krach und bebender Erde über den Boden rutschte und sich stoppen konnte. Bahe wusste, dass er die gewonnene Zeit nutzen musste und steckte alle Kraft in sein Vorwärtskommen.
Er hatte die Biegung der Schlucht hinter sich gelassen und nur wenige Meter vor ihm einen enorm breiten Fluss entdeckt, der teils unter dem Felsgestein der Schlucht zu verlaufen schien. Ohne eine bessere Alternative blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Flucht im Wasser zu suchen.
Die knapp zwanzig Meter bis zum Wasserlauf kamen Bahe wie eine Ewigkeit vor. Der Drache hatte sich inzwischen abgefangen und setzte gerade zum erneuten Sprung an, als Bahe mit zwei letzten Schritten ins Wasser eintauchte.
Hektisch brachte er sich mit ein paar Tauchzügen tief unter Wasser und tauchte hinter einen Felsvorsprung, der bis über das Wasser ragte. Selbst hier unten im Wasser ließ sich noch der laute Aufprall des Drachen am Flussufer ausmachen.
Bahes Herz pochte in seiner Brust, während er sich tief unter Wasser an den Felsen krallte. Zwischendurch glaubte er noch das gedämpfte Brüllen der Kreatur zu vernehmen. Das erwartete Durchbrechen der Wasseroberfläche blieb jedoch aus.
Krampfhaft bemühte sich Bahe die Luft anzuhalten, musste nach einem viel zu kurzen Augenblick aber einlenken und sich zur Wasseroberfläche vorarbeiten. Als er schließlich den Kopf aus dem Wasser streckte, füllte er seine brennenden Lungen hektisch mit frischer Luft und unterdrückte sein Keuchen soweit es ging.
Ein fauchendes Brüllen hallte über das Wasser hinweg und wurde von lauten, stampfenden Schritten des Drachen begleitet.
Neugierig lugte Bahe vorsichtig um den Felsen herum und entdeckte den Drachen nicht unweit von ihm am Ufer. Die Kreatur lief das Flussufer auf und ab und musterte genau die Wasseroberfläche.
Ganz langsam zog Bahe seinen Kopf zurück und atmete angespannt aus. Er hatte gar nicht gemerkt wie er die Luft angehalten hatte.
Seine Situation war immer noch nicht viel besser. Er befand sich nun im Fluss und aus irgendeinem Grund scheute der Drache das Wasser. Ein Ausweg war der Fluss aber auch nicht wirklich. Bahe musste permanent gegen die Strömung ankämpfen, um allein hinter dem Felsen zu bleiben. Das Wasser des Flusses strömte leider der Felswand entgegen und beraubte ihn der Möglichkeit sich im Wasser weiter voran zu kämpfen. So entkräftet wie er war, würde ihm bereits nach kurzer Zeit die Puste ausgehen. Ganz abgesehen davon, dass am Flussufer noch immer ein Drache auf ihn wartete und er entgegen der Strömungsrichtung überhaupt keine Deckung ausmachen konnte.
Irgendetwas streifte unter Wasser plötzlich sein Bein und ließ Bahe vor Schreck zusammen zucken. Er nahm den Kopf unter Wasser und machte unzählige Fische aus, die sich gegen die Strömung voran kämpften. Es war wahrscheinlich irgendein Paarungsritual. Bahe hatte mal irgendwo davon gelesen, dass bestimmte Fischarten dafür weite Strecken zurücklegten.
Er wollte es gerade mit dieser Begründung abtun, als er in einiger Entfernung gerade noch ein Schemen unter Wasser ausmachte. Was auch immer es war, es kam schnell näher und wurde vor allem wesentlich größer! Es dauerte noch einen Lidschlag, ehe Bahe endlich erkennen konnte, mit was er es zu tun hatte.
Der verdammte Drache war doch noch ins Wasser gesprungen!
Panisch durchstieß er die Wasseroberfläche und begann den kleinen Felsen empor zu klettern. Er kam gerade oben an, als ihn ein gewaltiges Brüllen eines Drachen am Ufer erzittern ließ. Bahe spürte sogar noch den heißen Atem der Kreatur auf seiner Haut!
Wie zum Henker, war der Drache so schnell wieder ans Ufer gekommen?! Er hatte ihn doch gerade noch im Wasser gesehen!
Seine Gedanken rasten, als er sich mit schrecklicher Vorahnung plötzlich zum Fluss hinter ihm wandte. Ein enormer Schatten zeichnete sich unter der Wasseroberfläche ab und schnellte auf ihn zu!
Ihm blieb nicht viel Zeit!
Vor ihm der Drache am Flussufer und hinter ihm konnte jeden Moment ein weiterer Drache aus dem Wasser schnellen. Er hatte keinen Ausweg!
Fieberhaft überlegte Bahe und kam zu einer wahnwitzigen Idee. Er fuchtelte mit seinem Fuß im Wasser rum und wartete bis der Drache unter Wasser fast Bahes Felsen erreicht hatte. Dann nahm er die Beine in die Hand und sprang dem Drachen am Flussufer entgegen.
Die nächsten Sekunden vergingen für Bahe unendlich langsam. Der Drache am Ufer blickte ihn überrascht an und Bahe glaubte ein belustigtes Glitzern in dessen Augen zu erkennen.
Keinen Wimpernschlag später durchbrach der Drache aus dem Wasser die Oberfläche und sprang Bahe brüllend hinterher. Wenn Bahe nicht in einer so aussichtslosen Situation gewesen wäre, hätte er vermutlich über den Drachen am Ufer gelacht, der vor Schreck zusammen zuckte und sich sofort in Lauerstellung auf einen Kampf bereit machte.
Mit einem letzten Blick sah Bahe noch das weit aufgerissene Maul des Drachens hinter ihm, als dieser über ihn hinweg flog. Dann krachte Bahe in den Fluss.
Unter Wasser vollbrachte er so schnell es ging eine halbe Drehung und erhaschte gerade noch einen Blick auf den Zusammenprall der Giganten.
Die zwei massiven Körper der Kreaturen prallten gegeneinander, wobei der Drache am Ufer zunächst die Oberhand gewann und den anderen Drachen zurück ins Wasser schleuderte.
Bahe riss seine Augen weit auf, als er die Gefahr erkannte und begann hektisch in tieferes Wasser zu tauchen!
Diesmal schaffte er es jedoch nicht zu entkommen und wurde von dem Schwanz des zunächst unterlegenden Drachens erfasst. Sämtliche Luft entwich seinen Lungen, als er gewaltsam durch das Wasser gepresst wurde! Keine Sekunde später, schnellte er durch die Wasseroberfläche und wurde regelrecht davon geschleudert!
Zwanzig Meter flog er knapp über den Boden hinweg! Wie durch ein Wunder, konnte er zunächst die Füße auf den Boden bringen, wurde im nächsten Moment jedoch schon durch den ganzen Schwung fortgerissen. Verzweifelt versuchte er sich abzurollen und überschlug sich so oft, dass er vollkommen die Orientierung verlor. Steine schnitten ihn und prellten seine Knochen und ab und an, meinte Bahe negative Zahlen über ihn aufsteigen zu sehen.
Irgendwann kam er letztlich zum Liegen und keuchte vor Schmerzen in den staubigen Untergrund.
Irgendwann rüttelte ihn das Beben der Erde wieder zu Bewusstsein und Bahe drehte sich unter Schmerzen auf den Bauch. Die Drachen kämpften immer noch miteinander und der Kampf der Kreaturen war die reinste Naturkatastrophe!
Felsen, Gestein und Wasser flog in Massen durch die Luft, während sich die Giganten gegenseitig Hiebe und Schläge verpassten und gegeneinander anrannten.
Bahe traute kaum seinen Augen, als er das Ausmaß der Zerstörung in sich aufnahm. Die Drachen hatten in ihrem Kampf verstrickt kontinuierlich den Abstand zu ihm vergrößert und bekämpften sich inzwischen gute zweihundert Meter weit entfernt am Rande des Flusses.
Zum ersten Mal bekam Bahe eine Gelegenheit die Wesen genauer zu mustern und musste sich wegen der offensichtlichen Unterschiede innerlich ohrfeigen. Der eine Drache hatte eine felsenartige Haut, wirkte stämmiger als sein Gegenpart und hatte zahllose Stacheln auf dem Rücken und am Schwanz. Die andere Kreatur wirkte im Vergleich wesentlich eleganter, aber auch schmächtiger. Sie war etwa einen Kopf kleiner und ihr Körper knapp vierzig Meter lang. Zumindest, wenn man vom Schwanz absah. Die Kreatur unterschied sich durch ihren Schuppen bedeckten Körper stark von der anderen Monstrosität. Außerdem war ihr Rücken und Schwanz nur an der Oberseite mit nach hinten verlaufenden Stacheln besetzt.
Es handelte sich scheinbar um einen Erddrachen und einen Wasserdrachen.
Seine Vermutungen wurden weiter bestätigt, als die Pranken des Erddrachen schwach zu leuchten begannen und nach ihrer nächsten Erdberührung zahllose Gesteinsspieße aus dem Boden schossen!
Der Wasserdrache wich den Felsspitzen durch zwei kräftige Flügelschläge aus und klatschte ins Wasser.
Bahe beschloss, dass er genug gesehen hatte und lief zur gegenüber liegenden Seite der Schlucht, in der Hoffnung irgendwo ein Versteck oder einen Weg hinaus zu finden. Die Felswand erstreckte sich jedoch auch hier ohne größere Einkerbungen nahezu senkrecht nach oben. Als sich Bahe gerade darüber Gedanken machte, in welche Richtung er fliehen sollte, krachte der Erddrache vor ihm in die Felswand!
Geschockt taumelte Bahe ein paar Schritte zurück und beobachtete wie der Wasserdrache seinen Kopf unter Wasser steckte und anschließend sein Maul in hellblauem Licht zu leuchten begann. Im nächsten Moment spie er das Wasser in einem Strahl über hundert Meter dem Erddrachen entgegen, der sich gerade erst aufgerappelt hatte.
Unter lautem Donnern und Staubwirbel wurde der Erddrache wieder zu Boden und gegen die Felswand geschleudert!
Der Wasserdrache neigte seinen Kopf gen Himmel und brüllte seinen Triumpf hinaus. Dabei hinterließ er mit den letzten Zügen des Wasserstrahls eine so tiefe Einkerbung im Felsgestein, dass Bahe schlucken musste.
Hatte er sich nicht weit oben an der Felswand gefragt, wie die großen Einkerbungen am Fels entstanden waren?
Furcht packte ihn, als er sich der unglaublichen Macht dieses Wasserstrahls bewusst wurde.
Der Erddrache hatte scheinbar selbst den zweiten Wasserstrahl aushalten können, denn er kämpfte sich wieder auf die Beine.
Beide Kreaturen starrten einander an und stürmten dann erneut aufeinander zu.
Bahe kam sich an diesem Ort unglaublich klein vor. Er musste von hier verschwinden. Er war nichts weiter als ein Wurm, den die Drachen jederzeit zerquetschen konnten.
Vor ihm hatte der Erddrache eine tiefe Mulde ins Erdreich geschlagen und auch die Felswand war stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Zahlreiche Einkerbungen zeichneten den Fels bis in zwanzig Metern Höhe und bereits auf vier Metern Höhe begann die tiefe Druckspur, die der Wasserstrahl ins Gestein gefräst hatte. Dort sollte er genügend Platz haben, um sich bequem hinlegen zu können und nicht weiter aufzufallen. Wenn er sich seine Kräfte gut einteilte, sollte er es schaffen können.
Ohne noch länger zu warten, machte sich Bahe an den Aufstieg. Zwischendurch beäugte er noch ab und an den Kampf der Giganten, der zunehmend gewalttätiger wurde, ehe er sich in der Felsspalte klein machte.
Während am Boden der Schlucht der Kampf der Kreaturen weiter tobte, versuchte Bahe seine Atmung zu beruhigen und schaute sich nervös sein Charakterprofil an.
Charakter: Anael Level: 1
Beruf: – Erfahrungspunkte: 1503/2050
Titel: – Gesundheit / HP: 2/110
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 0/0
Volkszugehörigkeit: Mensch Ruhm: 0
__________________________________________________________________________________
Spielerstatistiken:
Kraft: 05/13 Physische Konstitution / Statur: 02/11
Intelligenz: 10/10 Gelehrtheit: 10/10
Schnelligkeit: 06/10 Geschicklichkeit: 10/10
Ausdauer: 10/10 Widerstandsfähigkeit: 05/10
__________________________________________________________________________________
Willensstärke: 12/12 Konzentration: 12/12
Reflexe: 10/10 Glück: 05(+50)/05
Charisma: 05/05
__________________________________________________________________________________
Angriff: 1 Energietoleranz: 0
Verteidigung / Rüstung: 1 Energieresistenz: 0
_________________________________________________________________________________
Bedürfnisse:
Hunger gestillt: 009/100 Durst gestillt: 056/100
_________________________________________________________________________________
Weitere Charakterinformationen:
à Attribute wurden den Ergebnissen des 3D-Scans angepasst.
à Du bist verletzt und kannst dich deswegen nur unter Schmerzen bewegen. Solange der Verletzungsstatus andauert, wird dein Hungerbedürfnis strapaziert.
à Eine dir unbekannte Macht hat dein Glück für 24 Stunden phänomenal erhöht!
„Fuck!“
Er hatte nur noch zwei HP? Scheinbar hatte er unglaubliches Glück gehabt, als er über den Boden geschleudert wurde.
Bahe ging seine Statistiken noch schnell weiter durch und blieb beim Attribut Glück hängen.
„WTF! +50 in Glück!“, stieß Bahe leise hervor.
Er konnte es nicht fassen!
Weiter unten entdeckte er die Nachricht, dass der Wert wohl vorübergehender Natur war. Dennoch, er konnte froh sein, ihn zu haben.
Außerhalb der Felsspalte krachte es weiterhin und Bahe riskierte vorsichtig einen Blick auf den Boden der Schlucht. Schwindel packte ihn kurz und ließ ihn sich verkrampfen. Er musste unwillkürlich in sich hinein lachen, dass er noch immer Angst vor der Höhe hatte!
Dann fiel sein Blick endlich auf die Drachen und er zog scharf die Luft ein. Beide Kreaturen waren inzwischen Blut überströmt und atmeten schwer!
Sie umkreisten sich unmittelbar unter ihm am Rand der Felswand. Ihr Blut triefte in Massen von ihren Körpern und lief in der Erdmulde zusammen, die der Erddrache vorhin zurückgelassen hatte. Der Anblick glich einem kleinen Teich aus Blut.
Es war unfassbar, dass sich die Kreaturen noch immer gegenüber standen!
Durch seine ganze Kletterei, währenddessen er seine schmerzenden Glieder den Felsen hochgeschleppt hatte, war der übrige Kampf der Drachen an ihm vorbei gegangen. Er bedauerte es fast ein Bisschen sich den Kampf nicht genau angesehen zu haben.
Gleichzeitig gingen die Drachen plötzlich wieder in Lauerstellung und begannen am gesamten Körper zu leuchten. Der Erddrache in hellen Erdfarbtönen und der Wasserdrache in verschiedenen Blautönen.
Dann geschah alles auf einmal!
Felsen wuchsen aus dem Boden und wurden von dem Erddrachen dem Wasserdrachen entgegen geschleudert. Gesteinsspieße schossen aus der Felswand und dem Boden, während das Erdreich unter den Füßen des Wasserdrachens schlammig wurde und diesen bis zum Bauch im Boden versinken ließ.
Der Wasserdrache blieb indes aber nicht untätig und beschwor das Wasser des Flusses herbei! Als ob der Fluss plötzlich lebendig geworden wäre, floss das Wasser über den Boden der Schlucht hinweg zum Wasserdrachen und hüllte ihn in eine gigantische Kugel aus Wasser. Aus dem Wasserball lösten sich aus Wasser gebildete Seeschlangen die den Gesteinsbrocken begegneten und diese zu den Seiten ablenkten, während das Wasser der Kugel die Beine des Drachens aus dem Boden löste.
Blitzschnell schwamm der Wasserdrache durch sein Element und wich den Gesteinsspitzen ein ums andere Mal aus. Bis plötzlich ein steinender Speer vom Himmel fiel, den der Erddrache in einem unbeobachteten Moment beschworen hatte und sich durch das schützende Wasser in den rechten Flügel des Wasserdrachens bohrte!
Die unerwartete Verletzung lenkte den Drachen kurz ab und schon bohrten sich zwei weitere Felsspitzen in seinen Unterleib und rechte Flanke!
Mit einem Aufschrei bäumte sich der Wasserdrache ein letztes Mal auf, leuchtete am Maul hell auf und Bahe glaubte die Wasserkugel, die den Drachen umgab, rapide schrumpfen zu sehen. Im nächsten Augenblick, schoss dem Erddrachen ein äußerst dünner Wasserstrahl entgegen, der ihn regelrecht durchbohrte und mit sich riss!
Der Wasserdrache gab erst auf, als sämtliches Wasser, das ihn zuvor umgeben hatte, aufgebraucht war. Dann sackte er über den Felsspitzen zusammen und die Wasser des Flusses kehrten in ihre natürlichen Bahnen zurück.
Es dauerte eine Weile bis sich der feine Sprühregen gelegt hatte, der durch den Wasserdrachen verursacht worden war. Und auch das Krachen des zurück geschleuderten Erddrachen verklang in der Ferne.
Bahe wagte es zunächst kaum zu atmen, so angespannt war er durch den Furcht einflößenden Kampf. Als einige Minuten später noch immer nichts zu vernehmen war, lugte er vorsichtig weiter aus seinem Versteck.
Weit und breit regte sich nichts mehr.
Es war an der Zeit aus seinem Versteck zu kommen.
Sein Körper brannte an so vielen Stellen vor Schmerzen, dass er sich nur mit Mühe bewegen konnte. Krampfhaft biss Bahe die Zähne zusammen und atmete mehrmals tief durch.
Er musste nur vier Meter hinunter klettern. Auch wenn seine Kräfte am Ende waren, konnte er es schaffen!
Quälend langsam ließ er sich mit den Füßen voran die Felswand hinab. Das Gestein war durch den Kampf unglaublich glitschig geworden und Bahe musste jeden Tritt und Griff mit Bedacht wählen.
Doch scheinbar sollte das Glück nicht mehr auf seiner Seite sein. Als er mit seiner rechten Hand nach einer neuen Einkerbung greifen wollte, rutschte er plötzlich mit seiner linken Hand ab!
„Oh, Scheiße!“, fluchte Bahe, ehe er vollends den Halt verlor und schreiend die Felswand hinunter stürzte!
Der Wind pfiff ihm in den Ohren, als er klatschend in die Erdmulde fiel, die mit einer Mischung aus Wasser und Drachenblut gefüllt war.
Prustend kämpfte er sich zurück an die Luft und griff nach dem Horn, das sich aus seinem Gürtel gelöst hatte und auf der Oberfläche schwamm.
Seine Umgebung musternd, wollte Bahe gerade die Erdmulde verlassen, als heiße, stechende Schmerzen seine Gliedmaßen durchzuckten!
Entsetzt starrte er auf seine Arme. Jede Schnittwunde war angeschwollen! Dunkle, wulstige Adern oder Geschwüre breiteten sich zunehmend von den Schnittwunden aus und verursachten Schmerzen, die Bahe laut aufschreien ließen.
Drachenblut ist in deine Adern gelangt und bekämpft deinen Körper von innen heraus!
Dein Körper ist zu schwach, um das Drachenblut zu unterdrücken.
Du hast nur zwei Möglichkeiten:
Du stirbst!
Du machst dir das Drachenblut zu eigen! Dies wird unfassbare Schmerzen verursachen und du darfst nicht das Bewusstsein verlieren.
Das Schmerzempfinden liegt vorübergehend bei 100%!
„Sterben?! Pah!“
Schmerzen würden ihn nicht umbringen!
Ohne zu zögern, wählte er sofort die zweite Option. Doch auf das was dann kam, hätte ihn niemand vorbereiten können.
Sengende Schmerzen durchzuckten seinen gesamten Körper und ließen Bahe laut aufschreien: „Ooaaaaahhh!“
Wie im Wahn krümmte er sich und fiel bis zum Hals zurück in die Mischung aus Wasser und Drachenblut, während er sich die Seele aus dem Leib schrie!
Jeder noch so kleine Quadratzentimeter seines Körpers strahlte inzwischen solche Schmerzen aus, dass er fürchtete jeden Moment den Verstand zu verlieren.
Unter seiner Haut kroch das Drachenblut wie von einem Eigenleben getrieben umher, während er panisch mit den Händen über seinen Körper schrubbte.
Sein Fleisch pochte und seine Muskeln zuckten unkontrolliert. Bahe war schlichtweg am Ende. Dann sprang das erste Benachrichtigungsfenster auf:
Dein Körper kämpft nun gegen das Drachenblut!
Prozessfortschritt:
1% von 100%
Unmöglich! Er musste noch 99% schaffen?!
Bevor er jedoch vollends verzweifelte, öffneten sich weitere Fenster:
Deine Willenskraft und Konzentrationsfähigkeit sind durch ein Artefakt außerordentlich erhöht. Die Geschwindigkeit der Drachenblutintegration erhöht sich!
Dein Körper kämpft nun gegen das Drachenblut!
Prozessfortschritt:
2% von 100%
Bahe schöpfte neuen Mut und schrie gegen die Schmerzen an. Er musste einen klaren Kopf behalten! Auf keinen Fall durfte er ohnmächtig werden.
Dein Körper kämpft nun gegen das Drachenblut!
Prozessfortschritt:
3% von 100%
Deine Willenskraft und Konzentrationsfähigkeit wurden dauerhaft stark beansprucht!
Willenskraft vorübergehend -1
Konzentrationsfähigkeit vorübergehend -1
Dies war vorerst das letzte Fenster, dem Bahe noch Beachtung schenkte.
In den folgenden Minuten wurde er vor Qual schreiend hin und her gerüttelt. Immer wieder wurden ihm neue Prozentzahlen genannt, die er jedoch kaum noch wahrnahm. Sein einziges Ziel bestand nur noch darin bei Sinnen zu bleiben.
Gedanken nach einer Log-out-Funktion zu suchen, kamen ihm zwischendurch, wurden genauso schnell aber auch wieder verworfen. Er war nicht umsonst so weit gekommen! Wozu hatte er all die Strapazen auf sich genommen, wenn er an rein körperlichen Schmerzen scheitern würde?!
Kurzzeitig biss er die Zähne zusammen, ehe er einen Moment später wieder die Beherrschung verlor und laut aufschrie.
Irgendwann versagte ihm die Stimme und er wimmerte nur noch mit einem zuckenden Körper leise vor sich hin. Die Minuten kamen Bahe inzwischen so endlos lang vor, dass er vollends das Zeitgefühl verloren hatte. Dann öffneten sich plötzlich wieder mehrere Benachrichtigungsfenster:
Dein Körper kämpft nun gegen das Drachenblut!
Prozessfortschritt:
96% von 100%
Deine Willenskraft und Konzentrationsfähigkeit wurden bis zum absoluten Limit strapaziert!
Willenskraft vorübergehend auf 0 gesunken!
Konzentrationsfähigkeit vorübergehend auf 0 gesunken!
Deine Willenskraft und Konzentrationsfähigkeit sind auf 0 gesunken. Jegliche Stresssituationen wirken sich von nun an negativ auf deine Gesundheit aus!
Bahe spürte wie er zunehmend darum kämpfen musste bei Bewusstsein zu bleiben. Ab und an verschwamm seine Sicht unter den Qualen und nur mit größter Mühe schaffte er es sich wieder zu sammeln.
Die Minuten vergingen in denen Bahe um sein Bewusstsein kämpfte. Glühend heiß bewegte sich das fremdartige Blut durch seinen Körper und zerriss ihn innerlich. Bahe glaubte zu spüren, wie sein Körper gewaltsam in seine kleinesten Bestandteile zerlegt wurde, ehe er unter noch größeren Qualen wieder zusammenwuchs.
Dein Körper kämpft nun gegen das Drachenblut!
Prozessfortschritt:
99% von 100%
Die Stresssituation der enormen Schmerzen hat sich negativ auf die Gesundheit deines Körpers ausgewirkt:
HP -1
Bahe hätte geflucht, wenn er noch die Kraft dazu gehabt hätte. Es fehlte ihm nur noch ein 1%! Irgendwie musste er noch durchhalten!
Tränen liefen ihm über die Wangen, als er sich ein letztes Mal aufbäumte und gegen die Schmerzen ankämpfte. Die letzten Sekunden verstrichen unendlich langsam. Dann klappten plötzlich mehrere Benachrichtigungsfenster auf einmal auf und die Schmerzen verschwanden so schnell wie sie gekommen waren.
Geschockt durch den plötzlichen Wandel, brauchte Bahe einen Moment um seine keuchende Atmung zu beruhigen und den zitternden Körper unter Kontrolle zu bekommen. Mühsam stand er auf lief aus der mit Drachenblut und Wasser gefüllten Erdgrube. Er wollte keine Sekunde länger dort verweilen.
Erst danach, widmete er sich den verschiedenen Benachrichtigungsfenstern.
Dein Körper kämpft nun gegen das Drachenblut!
Prozessfortschritt:
100% von 100%
Du konntest dir das Drachenblut zu eigen machen!
Das Drachenblut wird über einen längeren Zeitraum deinen Körper reinigen und stärken!
Zusätzlich verfügbare Attributpunkte pro Levelaufstieg:
+1/1 ATP
Effektdauer:
Für die nächsten 24 Level
Beruf entdeckt!
Du hast durch äußerst ungewöhnliche Umstände eine legendäre Berufsklasse entdeckt!
Beruf: Elementflüsterer!
Berufsstatus: Legende!
Berufsbeschreibung: Du hast das Blut eines lebendigen Drachens in dich aufgenommen und überlebt! Als Folge…
Beruf annehmen?
Ja/Nein
Bahe überflog die ersten Fenster nur, blieb bei dem entdeckten Beruf jedoch hängen. Jede versteckte Klasse war typischer Weise viel mehr wert, als die Standardberufe. Er zögerte keine Sekunde und wählte „Ja.“.
Du hast die legendäre Berufsklasse des Elementflüsterers gewählt!
Neue Fähigkeiten werden generiert!
Charakterinformationen werden aktualisiert!
.
.
.
Irgendwie schaffte sich es ein Freudenschrei, sich aus seiner Kehle zu lösen, als er mit einem Grinsen im Gesicht die Hände in die Luft streckte!
Er hatte es geschafft! Er hatte es verdammt noch mal geschafft!
Bahe konnte es kaum glauben, dass er am Ende solcher Strapazen doch noch belohnt worden war!
„Moment mal…“, schnellte ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf.
Er war so im Freudentaumel gewesen, dass er sich die Berufsklasse zunächst gar nicht näher angesehen hatte.
Unter der Beschreibung hatte doch etwas gestanden…
Beruf entdeckt!
Du hast durch äußerst ungewöhnliche Umstände eine legendäre Berufsklasse entdeckt!
Beruf: Elementflüsterer!
Berufsstatus: Legende!
Berufsbeschreibung: Du hast das Blut eines lebendigen Drachens in dich aufgenommen und überlebt! Als Folge…
„…eines lebendigen Drachens…“, murmelte er entgeistert vor sich hin, da vernahm er plötzlich ein wütendes Brüllen hinter sich!
Geschockt wirbelte sein Kopf herum. Bahe war zu keiner weiteren Reaktion fähig, als sich auch schon das Maul des Wasserdrachens um ihn schloss und sich messerscharfe Zähne tief in seinen Körper bohrten. Wütend schleuderte der Drache ihn dabei durch die Luft, so dass Bahe jegliche Orientierung verlor.
-32 000 HP
Gepaart mit furchbaren Schmerzen, sah er für einen kurzen Moment noch eine unglaubliche Schadensmeldung. Dann wurde es schwarz um ihn.
Deine Gesundheit ist auf 0 gefallen.
Du bist gestorben!
Dein Account wird dir in 24 Stunden erneut zur Verfügung stehen. Du wirst automatisch ausgeloggt.
Gelangweilt schaute Ying durch das Fenster in den Regen hinaus. Es würde bald dunkel werden und er konnte nur hoffen, dass die Regenwolken nach seiner Schicht weitergezogen waren.
Einige Zeit später wandte er seinen Blick wieder nach innen und blickte über die Dimensional Leap-Systeme hinweg. Er konnte es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen, um in die Welt von Raoie zurück zu kehren.
Wie viele Andere hatte er Raoie zunächst nur aus Kuriosität angespielt. Doch sobald er in Raoie angekommen war, wusste er, dass es so schnell nichts Vergleichbares geben würde. Eine Realitätsnähe von 98-99% … Wie hatte er darüber gelacht…
Doch dann im Spiel… Ganze fünf Minuten hatte er einfach nur in der Gegend herum gestarrt, so verblüfft war er gewesen. Man konnte in Raoie nicht von Details sprechen. Es war schlicht eine andere Welt.
Die folgenden Stunden hatten sein Gamerherz immer höher schlagen lassen. Perfekt ausgearbeitete NPCs, die sich wie reale Menschen verhielten, eine unfassbar facettenreiche Fantasy-Welt mit verschiedenen Königreichen und Völkern und dann noch das Gameplay!
Ying konnte sich vorstellen, dass ein paar dicke Gamer noch immer vor sich hin fluchten, während sie Raoie spielten. Er selbst hingegen, liebte es!
In Raoie aktivierte man nicht stumpf seine Fähigkeiten, um gegen Monster und feindliche Spieler zu kämpfen. Nein, vielmehr ging es darum, die entsprechenden Fähigkeiten überhaupt im Kampf anwenden zu können! Man spürte Schmerzen, hatte Angst vor den furchteinflößenden Kreaturen und roch den stinkenden Atem der Monster. Es war etwas vollkommen Anderes als nur auf eine Projektion zu schauen!
Das Spiel erlaubte es auch Spieler eines höheren Levels zu besiegen, sofern man seine Fähigkeiten richtig einsetze und mit dem Kopf, anstatt mit überdimensionalen Stats spielte. Und wie er es immer gehasst hatte, dass sich manche Progamer[i] sechszehn Stunden am Tag oder länger mit den Spielen auseinander setzen konnten, während er gerade mal zwei Stunden pro Tag aufbringen konnte.
Raoie erlaubte auch Progamern nur eine Regelspielzeit von maximal zwölf Stunden. Die phänomenale Erfindung der Dimensional Leap-Systeme, die es den Spielern ermöglichte auch im Schlaf zu spielen, war die Lösung für diese unfairen Voraussetzungen der verschiedenen Spieler.
Einzig die Tatsache, dass der Avatar komplett nach dem eigenen Körper gestaltet war, störte ihn ein wenig. Ying war klar, was TNL damit beabsichtigt hatte und begrüßte auch grundsätzlich die Änderung. Sein Aussehen hätte er aber schon ganz gerne ein Bisschen positiver gestaltet…
Er hatte längst damit abgeschlossen im realen Leben eine Freundin zu finden. Aber wer weiß? Vielleicht hatte er in Raoie mehr Glück?
Na ja… er brauchte sich keine Illusionen zu machen. Das waren nur seine ersten Gedanken gewesen, ehe er feststellen musste, dass der eigene Körper die Grundlage für die Avatare bildete.
Inzwischen erfüllte ihn aber jede Nacht in Raoie mit neuer Lebensfreude, dass er sogar bereits dazu übergegangen war, einmal pro Woche Sport zu treiben.
Nun ja, dachte er mit schiefem Grinsen, zumindest für zwei Wochen…
Der beschwerliche Alltag hatte ihn wieder eingeholt. Sechs Tage die Woche verbrachte er in diesem Internetcafe und wartete die meiste Zeit darauf, dass seine Schicht endete und er nach Hause zu seinem eigenen Dimensional Leap-System konnte.
Ying kalkulierte noch kurz, welche Personen in seiner Schicht an das Limit ihrer Spielzeit stoßen würden und widmete sich dann verschiedener Internetforen, die sich mit Raoie auseinandersetzten.
Er hatte gerade einen interessanten Artikel über verschiedene Jagdgründe gefunden, als ihn ein gedämpfter Aufschrei vor Schreck zusammen zucken ließ.
Verwirrt blickte er sich um und schaute zu der kleinen Abstellkammer, in der das defekte Dimensional Leap-System stand. Die Klappe des Systems öffnete sich gerade und der junge Ausländer kletterte mühselig aus dem Gerät.
Ying schaute auf seine Uhr und schüttelte abschätzig den Kopf. Der Ausländer hätte noch ein paar Stunden Zeit gehabt. Er musste wohl gestorben sein.
Was für ein Noob, dachte er und widmete sich wieder seinem Artikel.
Wenig später, blickte er doch nochmal auf. Der Ausländer stöhnte und schleppte sich mit seltsam stampfenden Schritten voran. Als er an seiner Theke angekommen war, fragte Ying ihn: „Alles in Ordnung mit dir?“
Der Ausländer starrte ihn nur geistesabwesend an und fragte dann: „Wie viel Uhr haben wir?“
WTF?! Manieren hat der Typ auch nicht. Dabei hatte er Mitleid gehabt und ihm quasi umsonst ein Dimensional Leap-System vermietet. Die lächerlichen 200 Yuan waren nur Taschengeld, auf die hätte er auch verzichten können. Hatte er aber glücklicher Weise nicht, grinste er in sich hinein.
„Wir haben 17:44 Uhr“, gab er dem Kerl trotzdem seine Antwort. Schließlich war der Kunde Kaiser oder was auch immer.
Der junge Ausländer nickte nur und schleppte sich dann taumelnd aus dem Laden.
Ying wusste nicht so recht was er davon halten sollte. Hatten alle Ausländer ein an der Klatsche?!
Schnaubend widmete er sich nun endgültig wieder seinem Artikel und fieberte auf das Ende seiner Schicht hin.
Um 18:04 Uhr tauchte endlich sein Boss auf. Der Typ kam wie immer zu spät. Nicht das sich Ying beklagen konnte, da er im Gegenzug die meiste Zeit machen konnte was er wollte.
„Hey Ying, irgendwelche Probleme heute?“
„Nee, alles ruhig wie immer, Boss.“
„Sehr schön! Ich muss noch kurz in mein Büro, ehe ich dich hier vorne ablöse, gib mir einen kleinen Moment!“
„Ja ja…“, sagte Ying resigniert, es war immer das Gleiche mit seinem Boss.
Zwei Minuten später rief ihn sein Boss plötzlich und Ying verfluchte sich innerlich ob seiner Dummheit, als er seinen Boss in der Tür zur Abstellkammer stehen sah. Durch das irritierende Verhalten des Ausländers hatte er ganz vergessen das defekte Dimensional Leap-System zu schließen. Seinem Boss war natürlich aufgefallen, dass es offen stand.
„Was hast du mit dem System getrieben, Ying?“
„Nichts besonderes, vorhin war nur nicht viel los und ich wollte mal sehen, ob das Teil wirklich so defekt ist, wie du immer behauptest.“
„Ying!“, fauchte ihn sein Boss in strengem Ton an. „Verkaufe mich nicht für dumm! Du magst zwischendurch zwar mal auf der faulen Haut liegen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du niemals den kompletten Laden unbewacht lassen würdest, nur um eine Minute deiner kostbaren Raoie-Zeit mit diesem Schrott zu verschwenden! Also, was hast du mit dem System angestellt?“
„Na ja… Ich habe es vermietet…“, meinte er kleinlaut.
„DU HAST WAS GETAN?!“, regte sich sein Boss auf.
Da kommt es, fluchte Ying im Stillen.
„Hey, sorry Boss. Da kam so ein armer Ausländer und ich hatte Mitleid mit ihm und da habe ich-“
„Da hast du dir gedacht, dass du ein defektes System an einen Kunden rausgeben kannst?!“
„Ähm… ja?“
„YING!“
„Tut mir Leid, Boss. Es wird nicht wieder vorkommen…“, sagte Ying und bemühte sich schuldig auszusehen.
Sein Boss schüttelte nur den Kopf und fragte: „Wie viel?“
„Ich habe nicht viel genommen… Nur 200 Yuan und den normalen Betrag für den 3D-Scan und Account. Der Typ war ein totaler Anfänger.“
„Ist er schon lange weg?“
„Du hast ihn knapp verpasst, Boss. Dabei hatte er noch mehrere Stunden Spielzeit gehabt. Er muss wohl gestorben sein“, erklärte Ying und schalt sich selbst. Erst jetzt war ihm klar geworden, dass er gar nicht daran gedacht hatte, wie er den Ausländer unter normalen Umständen verheimlicht hätte.
Mit der nachfolgenden Reaktion seines Bosses hatte er jedoch nicht gerechnet. Er lief hochrot an und brüllte dann mit solcher Lautstärke los, dass Ying unwillkürlich einen Schritt zurück wich.
„DU HAST DAS SYSTEM VERMIETET UND DER KUNDE IST IM SPIEL GESTORBEN?!“, schrie sein Boss regelrecht hysterisch.
„Ich… ich weiß es nicht genau…“, stotterte Ying verunsichert und versuchte sich zu erklären, merkte aber im gleichen Atemzug, dass das ein Fehler gewesen war. „Er benahm sich nur so merkwürdig, als er aus dem System gestiegen ist…“
„ER BENAHM SICH MERKWÜRDIG?!“, donnerte sein Boss. „Ist dir jemals in den Sinn gekommen, weshalb ich das System nicht mehr rausgebe?! Es hat nicht nur irgendeinen Graphikfehler! Die Schmerzregulation ist defekt! Die Schmerzoption ist dauerhaft auf volle 100% eingestellt! Kannst du dir ausmalen, was ein ANFÄNGER in Raoie durchmacht, wenn er das nicht weiß?!“
„…“, Ying wusste nicht was er sagen sollte und er begann zu schwitzen. 100%iges Schmerzempfinden wie im realen Leben?! Fuck! Das würde er niemals durchmachen wollen… Dann dämmerte es ihm, grundgütiger… war der Ausländer wirklich verreckt?!
„Daran hast du nicht gedacht, was?!“, herrschte ihn sein Boss an.
Ying konnte nur den Kopf schütteln.
„Los! Raus mit dir! Schau dich in der Gegend um, ob du ihn noch findest. Es wäre kein Wunder, wenn der Junge irgendwo bewusstlos am Boden liegt.“
Ying stolperte mehr schlecht als recht aus dem Laden und lief die umgebenden Straßen ab. Nach zehn Minuten erfolgloser Suche, gab er schließlich auf. Der Ausländer war nirgendwo zu sehen.
„Fuck!“
Was machte er jetzt?
Bahe schleppte sich unterdessen weitab der Hauptstraßen durch den Dschungel der Großstadt. Er hatte frische Luft schnappen wollen und sich daher zunächst zu Fuß auf den Weg gemacht. Mehr schlecht als recht kam er schließlich an einem alten Parkgelände an. Sein Ziel waren ein paar Bänke, die wenige hundert Meter von ihm entfernt an einem Brunnen standen.
Noch immer wollten ihm seine Gliedmaßen nicht richtig gehorchen. Sein Tod in Raoie hatte sich so unglaublich echt angefühlt… Ein Schaudern lief ihm über den Rücken, als Bahe erneut den Moment des Sterbens durchlebte. Scharfe Zähne zermalmten seine Knochen und rissen ihn in Stücke, während er im Schockzustand seine letzten Momente in sich aufnahm.
Im Zusammenspiel mit den Schmerzen war ihm die Erfahrung unglaublich real vorgekommen. Allein der abstruse Gedanken von einem Drachen gefressen zu werden verhinderte, dass er nicht an seinem Verstand zweifelte.
Mit einem Schrei war er in dem Dimensional Leap-System aufgewacht und hatte vor Panik so sehr gezittert, dass er nur mit Mühe aus dem System aussteigen konnte. Wie in Trance hatte er sich zur Ladentheke bewegt, für einen kurzen Moment geistige Klarheit erlangt und nach der Uhrzeit gefragt, ehe er sich mühsam aus dem Internetcafe schleppte.
Erst draußen hatte Bahe die bittere Wahrheit verarbeiten können. Vor lauter Faszination hatte er die Zeit vergessen und den halben Tag in Raoie verbracht. Mit Ausstieg aus dem System war er bereits viel zu spät für seine Arbeit auf der Baustelle. Nur durch Glück und Mitleid hatte er den Job erhalten. Eine unentschuldigte Verspätung bedeutete klar das Ende seiner schlecht bezahlten Arbeit.
Bahe ging langsamen Schritts durch einen Busch gesäumten Weg auf die Bänke zu, während ihm Tränen über die Wangen liefen. Er konnte nicht anders als an all die verlorene Zeit und das nun fehlende Geld denken, dass ihm sein kleiner Ausflug in Raoie eingebracht hatte…
Er hatte kaum etwas gewonnen und so ziemlich alles verloren. Ein Artefakt der Goldklasse machte ihn nicht reich. Wahrscheinlich würde es ihm noch nicht mal genug Geld einbringen, um eine Woche ein Dimensional Leap-System zu mieten.
Ah, dachte Bahe, wahrscheinlich hatte er es eh verloren. Er hatte es in der Hand gehabt als er gestorben war. Typischer Weise verlor man beim Tod im Spiel oftmals Ausrüstungsgegenstände. Raoie dürfte in der Hinsicht keine Ausnahme sein.
Abgesehen davon würden ihn keine 50 000 Yuan noch einmal in die schmerzvolle Welt von Raoie bringen!
Wie konnten die Leute bloß Raoie spielen?! Die Schmerzen waren ja kaum auszuhalten und der Tod im Spiel… Bahe erzitterte erneut bei dem bloßen Gedanken daran.
Der leichte Regen vermischte sich mit seinen Tränen, während er stetig weiter über den matschigen Weg in Richtung Bänke stampfte.
Nach einigen Minuten näherte sich Bahe endlich dem Platz um den Brunnen. Wäre er nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, hätte er mit Sicherheit die drei Männer bemerkt, die sich am Rande des Platzes unter einer Überdachung von Picknickplätzen untergestellt hatten und in eine Diskussion vertieft waren.
„Ich sag es euch, der Boss wird den Laden fertig machen. Kommt gar nicht in Frage, dass die aus der Reihe springen und unseren Service nicht bezahlen!“
„Haha, Bo, als ob da überhaupt was anderes möglich wäre.“
„Na ja, der Boss ist immer noch sauer, dass die Männer dem Bengel im nordwestlichen Stadtviertel immer noch keine Lektion erteilen konnten.“
„Ah fang bloß nicht wieder damit an. Wir hätten einfach direkt eine Niere der Mutter einkassieren sollen. Jetzt liegt die irgendwo in einem Krankenhaus und taugt nicht mal mehr als Nutte, dabei hatte sie einen hübschen Arsch!“
Die Männer lachten dreckig über den obszönen Kommentar, ehe einer plötzlich auf Bahe aufmerksam wurde.
„Hey, schaut euch mal den Kerl da an! Ist das nicht der Junge den der Boss sucht?!“
„WTF!? Du hast Recht!“, pflichtete einer seinem Kameraden bei.
„Worauf wartet ihr dann noch, schnappen wir ihn uns!“, meinte der Dritte und lief bereits auf Bahe zu. „Hey Kleiner! Was für ein glücklicher Zufall dich hier zu treffen!“
Bahe registrierte die drei Männer zunächst gar nicht und wurde erst durch den nächsten Zuruf aus seinen Gedanken gerissen.
„Hey Junge, bist du taub? Bleib stehen!“
Verwirrt blickte Bahe auf und entdeckte entsetzt die drei Männer, die wie aus dem Nichts vor ihm auftauchten. Er brauchte nicht lange, um zu verstehen, dass sie mit Sicherheit keine freundlichen Absichten hatten. Die drei Männer hatten sich bereits im Dreieck um ihn herum gestellt und erschwerten ihm so jede Fluchtmöglichkeit.
„Ping Lun wird sich freuen, dass dich endlich jemand von seinen Leuten gefunden hat, Kleiner“, sagte einer der Drei und trieb Bahe damit Angstschweiß auf die Stirn. Was für ein Pech hatte er bloß, dass er ausgerechnet hier den Handlangern seines Erzfeindes begegnen musste!
Mai Ping Lun war der verfluchte Kredithai, bei dem sich seine Mutter zwischenzeitlich Geld geliehen hatte. Bahe wusste, dass der Mann seine Leute überall in der Stadt hatte, heute Abend war er nur viel zu sehr in seinem Trübsal vertieft gewesen, um die Drei rechtzeitig zu bemerken.
„Boss Ping Lun fragt sich, wann deine Mutter endlich das Geld zurück zahlt. Wie wär‘s, wenn du schon heute eine kleine Rate eurer Zinsen bezahlst? Na, wie hört sich das an, Kleiner?“
Bahe ignorierte den Mann und besah sich seine Umgebung genauer, um nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau zu halten. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, in höchstens einer halben Stunde würde es wohl vollkommen dunkel werden. Der Regen hatte sein übriges getan, um die Menschen aus dem Parkgelände zu vertreiben. Sein Pech schien heute wirklich unmenschliche Ausmaße anzunehmen, dass sich ausgerechnet noch diese Idioten im Park aufhielten.
Bahe blieb nur übrig sein Heil in der Flucht zu suchen und sich zwischen den Büschen des Parks zu verstecken. Seinen Entschluss gefasst, rannte er urplötzlich los und überrumpelte die Handlanger mit seiner Aktion. Fluchend setzten sie Bahe nach.
Mit rasendem Herzen stellte er fest, dass ihm seine Beine immer noch nicht ganz gehorchen wollten und keinen Augenblick später erklangen schon die platschenden Schritte der Männer in seinem Rücken
Zwei Meter vor den Büschen wurde Bahe hart zu Boden gerammt, ehe eine Vielzahl von Tritten auf ihn nieder prasselte. Schmerzen durchzuckten seinen Körper, doch er spürte sie kaum. Er war noch immer viel zu abgestumpft. Stumm rollte er sich am Boden zusammen und ließ die Gewalt über sich ergehen. Sein Schweigen verärgerte die Männer jedoch nur noch mehr und handelte ihm ein paar extra Tritte in die Magengegend ein.
Am Ende zog einer der Männer Bahe an den Haaren nach oben und drohte ihm: „Das hier ist die letzte Warnung an deine Familie, Junge! Treibt das Geld bis zum Ende des Monats auf oder wir entnehmen dir bei unserem nächsten Treffen sämtliche Organe, die für uns von Wert sind. Hast du mich verstanden?“
Nur unter größter Anstrengung brachte Bahe die Andeutung eines Nickens zustande, was dem Handlanger scheinbar genügte.
„Durchsucht ihn, vielleicht hat er ja Geld dabei“, meinte der Mann zu seinen Freunden, während er Bahe weiterhin an seinen Haaren im Griff behielt.
„Pah, der Bengel hat nur ein paar schäbige 100 Yuan in seiner Tasche…“, verzog einer der anderen beiden Männer verächtlich das Gesicht und fuhr an Bahe gewandt fort: „Das Geld behalten wir als Reinigungskosten für unsere Klamotten. Ist ja schließlich deine Schuld, dass wir dir hier im Park eine Lektion erteilen mussten. Nächstes Mal kommst du nicht so glimpflich davon!“
„Kommt, lasst uns gehen“, hörte Bahe im benebelten Zustand den Peiniger, der ihn an den Haaren hielt, ehe ein Tritt gegen den Kopf ihn zu Boden beförderte.
Bahe war zu entkräftet, um sich rechtzeitig aufzufangen und prallte hart mit dem Hinterkopf auf den Boden. Ein dumpfer Schmerz durchzuckte ihn, ehe sein Körper den Kampf aufgab und alles um ihn herum dunkel wurde.
[i] Progamer = Der Begriff „Progamer“ dient als Bezeichnung für Menschen, die Computerspiele für ihren Lebensunterhalt ausüben.
Stramme Schritte hallten durch einen Gang im sterilen Licht greller LEDs. Ein leichter Schatten zeugte von der Person, die schließlich in einem rot markierten Kreis zum Stehen kam.
„Irisabgleich und 3D-Scan wird initiiert“, hallte eine weiblich klingende Stimme durch den Gang.
„Identifizierung abgeschlossen: Bai Hui Ning[i]. Zutritt gestattet. Tür wird geöffnet.“
Mit einem leisen Klicken und mechanischen Summen wurde eine Sicherheitstür in die Wand gezogen und öffnete den Eingang zu einem spärlich beleuchteten Raum.
Ning ging durch die Tür und nahm auf einem großen Sessel vor einer runden Fläche in der Mitte des Raumes Platz. Im schummrigen Licht trat sein hageres Äußeres besonders stark hervor. Sein zerzaustes und bereits schlohweißes Haar verstärkte den Effekt nur noch.
Mit Anfang sechzig gehörte er inzwischen schon mehr als zwanzig Jahre zu den elf Chefentwicklern der TNL-Ideenschmiede und leitete den Abteilungsbereich im Großraum China. Jedem der elf Chefentwickler unterstand ein eigener Abteilungsbereich, der im jeweiligen Bezirk die Dimensional Leap-Systeme und Spieler als auch die Spielwelt Raoie an sich überwachte.
Die elf Chefentwickler stellten zugleich auch den Vorstand TNLs dar. Doch selbst unter diesen Elf besaß Ning einen besonderen Status. Schließlich war er es gewesen, der die künstliche Intelligenz erschaffen hatte, die Raoie kontrollierte und dafür sorgte, dass keine Spieler irgendwelche Programmierfehler ausnutzen konnten.
„Willkommen zurück Ning. Wie geht es dir? Bist du zur täglichen Überprüfung des Spielgeschehens gekommen?“, erklang erneut die weiblich klingende Stimme, während im Raum das Licht langsam zu pulsieren begann.
„Alles Bestens, Aoie und ja, ich bin zur Überprüfung hier. Irgendwelche Besonderheiten?“, fragte er die künstliche Intelligenz.
Er hatte sie ursprünglich Aoie getauft und zusammen mit den anderen zehn Chefentwicklern kam er überein, den Namen der Spielwelt auf ihrem Namen aufzubauen.
„In der Tat, Ning. Eine Anomalie ist aufgetaucht.“
„Eine Anomalie?“, fragte Ning überrascht und spitzte die Ohren. Es war eher untypisch, dass Probleme auftauchten, die Aoie trotz ihrer umfassenden Programmierung melden wollte. „Was ist passiert?“
„Die legendäre Berufsklasse Elementflüsterer wurde durch extrem unwahrscheinliche Umstände erspielt.“
„Was…? Wie war das möglich…“, versank Ning in Gedanken und gab dann den Befehl: „Zeig mir die spielinternen Aufnahmen!“
„Spielinterne Aufnahmen werden projiziert. Verschiedene Optionen verfügbar: Ab heutigen Spielbeginn des Spielers, unmittelbar vor der Entdeckung der Berufsklasse oder selbstgewählter Zeitpunkt. Ich empfehle ab heutigen Spielbeginn des Spielers.
„Dann folge ich deiner Empfehlung, spiel alles von Anfang an ab.“
„Wird gemacht, Ning“, erklang ein letztes Mal die weibliche Stimme, ehe auf der runden Fläche ein dreidimensionales Abbild von Raoie projiziert wurde.
„Ein Spielanfänger…? Und kein Chinese?“, fragte Ning verblüfft, als sich langsam heraus kristallisierte, dass Bahes Avatar Anael scheinbar die Hauptrolle in dieser Anomalie spielen würde.
Ning betrachtete die Aufnahme konzentriert, konnte zunächst jedoch keine Besonderheiten feststellen. Ein Grinsen stahl sich ins Nings Gesicht, als er Anaels Wutanfall über die körperbedingte Reduzierung seiner Stats miterlebte.
Und nach Anaels genialen Einfall, einem der umstehenden Bäume einen Faustschlag zu verpassen, musste Ning laut loslachen.
Es folgten Anaels erste Jagdversuche, sein jämmerliches Scheitern im Rudel der Wurzelkaninchen, sowie die plötzliche Flucht durch das Waldgebiet gen Norden.
Ning musste sich währenddessen darum bemühen vor Lachen nicht von seinem Sessel zu fallen. Anaels Anblick wie er zum ersten Mal gegen die kleinen Monster antrat und anschließend hilflos das Weite suchte, trieben ihm vor Lachen die Tränen in die Augen.
Der Bengel machte so ziemlich alles falsch, schüttelte Ning den Kopf. Dennoch stimmte irgendwas mit Anaels Spielverhalten nicht.
„Aoie, was hast du bisher verheimlicht? Irgendwie wirkt sein Verhalten ein Bisschen zu überzogen.“
„Ah, du hast es schon gemerkt…“, erklang Aoies Stimme mit einem schmollenden Unterton.
Ning verdrehte genervt die Augen, fragte aber dennoch ein weiteres Mal: „Also, was genau stimmt mit ihm nicht?“
„Der Spieler, Bahe Dragon, erlebt die Welt Raoie durch seinen Avatar Anael mit einem Schmerzempfinden von 100%.“
„Er hat sein Schmerzempfinden auf 100% eingestellt?!“, rief Ning aufgebracht. „Hat er etwa mit einem der defekten Mietsysteme gespielt?“
„Ja.“
„Hahahaha!“, jetzt kannte Ning kein Halten mehr. Er plumpste vor Lachen tatsächlich von seinem Sessel. Immer noch den Kopf schüttelnd, setzte sich Ning schließlich wieder hin und Aoie fuhr fort: „Das defekte System ist bereits gemeldet und wird in zwei Wochen eingezogen.“
„Beschleunige das, wir können uns nicht erlauben, dass solche Fehltritte weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich sind.“
„Entsprechende Order wird an die Verantwortlichen umgehend weitergeleitet.“
„Gut.“
Ning beobachtete Anaels Aufzeichnung nun genauer und konnte nicht umhin eine gewisse Ehrfurcht vor diesem jungen Spieler zu entwickeln. Das Durchhaltevermögen des jungen Mannes war wirklich atemberaubend.
Als Anael wenig später in den See fiel, hielt Ning den Atem an. Er wusste welche Kreatur sich in der unmittelbaren Umgebung aufhalten musste. Schließlich hatte er sich stark an der Entwicklung der legendären Berufsklassen und den Bedingungen ihrer Freischaltung im Spiel beteiligt. Es hatte ihm immer eine besondere Freude gemacht, ungewöhnliche Berufsklassen zu entwickeln.
Legendäre Berufsklassen waren nicht grundsätzlich selten, vielmehr begrenzten die umfangreichen und ungewöhnlichen Vorbedingungen ihre Entdeckung. Es fing schon allein damit an, dass die Spieler in ihrem Beruf den Rang der Großmeister erreichen mussten, ehe sie überhaupt eine Chance hatten, vor die Wahl zweier, neuer Klassen gestellt zu werden. Erst nachdem sich die Spieler für eine der beiden Klassen entschieden, wurden ihnen die Bedingungen für den Berufswechsel bekannt gegeben.
Ning freute sich schon innerlich auf die ersten Spieler, die im Glauben den Jackpot geknackt zu haben, zunächst an schier unmöglichen Aufgaben verzweifeln würden. Ja, Schadenfreude war schon eins seiner Laster, grinste er in sich hinein.
Da die Spieler die Welt Raoie jedoch gerade erst seit ein paar Monaten bereisten, war an den Großmeister Rang in irgendeiner Berufsklasse noch lange nicht zu denken.
Ausgerechnet dieser, aus dem Westen stammende, junge Mann hatte mit dem Sturz in den Kathar-See jedoch unwissentlich den ersten Schritt zur Entdeckung der legendären Berufsklasse der Elementflüsterer getan.
Ning lehnte sich zurück und wartete. Er war gespannt darauf, wie der junge Spieler wohl mit der Wächterkreatur des Sees zurechtkommen würde.
Es dauerte nicht lange bis sich der Avatar Anael bereits auf der Flucht befand. Ning sah, wie er den Baum hinauf und hinunter kletterte und anschließend immer weiter nördlich durch den Wald rannte.
Scheinbar hatte sich der Junge im Vorhinein in keinster Weise über das Spiel informiert, dachte Ning resigniert. Sonst hätte er niemals diese selbstmörderische Richtung gewählt.
Es folgte, was kommen musste. An den Klippen der großen Drachenschlucht holte ihn die Wächterkreatur ein und trotz aller Bemühungen Anaels endete es damit, dass sie gemeinsam in den Abgrund fielen.
Angespannt fieberte Ning mit und starrte gebannt auf die fallenden Körper. Es ging unglaublich schnell, ehe sich Anael in einer Verzweiflungstat die Umgebung zunutze machte und das Monster mit dem Kopf voran gegen die Felsen beförderte.
„Wie viele Meter mehr hätten seinen Tod im Spiel bedeutet, Aoie?“
„Wären sie noch zwei Meter tiefer gefallen, hätte seine HP-Zahl nicht mehr ausgereicht.“
Unfassbares Glück!
Aber auch unglaubliche Willensstärke!
Ning war schwer beeindruckt. Wie Anael dagegen angekämpft hatte gefressen zu werden, angetrieben von dem Gedanken, zumindest noch dem Monster den Gar auszumachen, ehe man selbst starb… Sowas war eine Seltenheit.
Er erlebte es jeden Tag auf ein Neues, wie die Spieler sich überschätzen, dies irgendwann merkten und dann schlicht weg aufgaben. Natürlich wollte niemand unnötig Schmerzen erleiden, doch aller Reize eines hohen eigenen Levels zum Trotz, nahmen die Spieler den Tod in Raoie nur zu oft widerstandslos in Kauf.
Zwar war sich Ning nicht ganz sicher, was die plötzliche Entschlossenheit in Anael hervorgerufen hatte, innerlich konnte er jedoch nur Beifall klatschen.
Die Aufnahmen liefen weiter und zeigten Anael, wie er sein Profil aufrief und sich anschließend hektisch an den Abstieg machte.
„Er hat den Abstieg gewählt…?“, flüsterte Ning vor sich hin.
„Erstaunlich, nicht wahr?“, hallte Aoies Stimme ebenso leise durch den Raum.
In den nächsten Szenen wurde Ning Zeuge, wie Anael sich des Horns der Wächterkreatur bemächtigte und nach kurzer Freude wieder dem Abstieg widmete. Langsam machte der Junge etwas richtig, musste Ning ihm zugestehen, als das Bild plötzlich gefror.
„Entschuldige bitte die Störung Ning, aber Herr Rui Ju Fan möchte dich sprechen“, während Aoies Stimme ertönte, öffnete sich über der projizierten Szene eine Liveaufnahme der Überwachungskamera die vor der Sicherheitstür des Raumes platziert war. Die Aufnahme zeigte einen seiner Kollegen und besten Freunde. Verstrubbeltes Haar, ein Kinnbart der das rundliche Gesicht spitzer wirken ließ und leicht übergewichtig in der Statur, grinste Fan in die Kamera hinein.
„Bitte ihn herein, Aoie.“
Mit einem mechanischen Zischen öffnete sich die Tür.
„Hey, Ning! Ist heute irgendetwas Aufregendes passiert?“, schallte es Ning entgegen als Fan eintrat.
„Du hast Glück, es ist tatsächlich eine Anomalie aufgetreten.“
„Äh… was?!“, Fan war stehen geblieben und blickte ihn entgeistert an.
„Halb so wild, setz dich doch“, erwiderte Ning und fuhr an die künstliche Intelligenz gewandt fort: „Aoie, wenn du so lieb wärst uns noch eine Sitzmöglichkeit zu besorgen.“
„Selbstverständlich, treten Sie näher Herr Rui Ju Fan.“
„Aoie, nenne mich bitte nur Fan, das reicht.“
„Wie du willst, Fan“, erklang Aoies Stimme erneut, als sich unweit von Nings Sitzplatz eine Luke öffnete und sich ein weiterer Sessel aus dem Boden erhob.
„Also jetzt mal Klartext, Ning. Eine Anomalie? Was zum Henker, ist passiert? Wenn du so etwas sagst, ist das keine Kleinigkeit!“
„Hmmm… warte mal ab, ich zeige es dir am bestem von Anfang an. Aoie, kannst du die spielinternen Aufnahmen bitte nochmal von vorne abspielen?“
„Wird gemacht.“
Im nächsten Augenblick begannen die Aufnahmen von vorne.
„Kein Chinese?“, erklang Fans fragende Stimme und Ning musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
Es dauerte nicht lange, bis der Raum vom schallenden Gelächter Fans erfüllt war. Ning konnte zwischendurch nur den Kopf schütteln. War es ihm beim ersten Mal nicht genauso ergangen?
Letztlich zeigten die Aufnahmen wieder wie Anael die Felswand hinunter kletterte und die Frucht entdeckte. Ning schlug nur die Hände vor sein Gesicht. Wenn der Junge auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, wie wertvoll die Frucht war, hätte er sie niemals gegessen. Fan grölte währenddessen lauthals los vor Lachen und brauchte ganze zwei Minuten, um sich wieder einzukriegen.
„Na, wieder beruhigt, Fan?“, fragte Ning ihn belustigt.
„Ja… ja…“, meinte Fan glucksend. „Wohin soll das noch führen? Ich meine, dieser Noob hat doch keine Ahnung von Raoie! Was hat er angestellt, dass du ihm deine Aufmerksamkeit widmest? Wenn ich nur daran denke, dass er die Frucht doch tatsächlich gegessen hat! Bahahaha!“
„Nun, soweit war ich vorhin noch nicht, aber wenn ich Aoie glauben darf, können wir uns noch auf eine größere Überraschung freuen.“
„Nur zu, nur zu“, sagte Fan und grinste breit vor sich hin.
Was folgte, war Anaels große Kletterpartie. Die Minuten zogen sich dahin und zwischendurch baten sie Aoie sogar die Aufnahmen etwas vor zu spulen.
Ning war vollkommen verblüfft, wie der Junge die Felswand schließlich bezwungen hatte. Fan hingegen, fiel bei der nächsten Szene regelrecht die Kinnlade hinab. Der Erddrache wurde auf Anael aufmerksam und von da an ging alles Schlag auf Schlag. Man sah wie der Drache Anael verfolgte und dieser schließlich mitten in den Kampf des Erddrachen mit dem Wasserdrachen hinein geriet.
„Der Junge hat so ein verdammtes Glück, dass er immer noch am Leben ist…“, schüttelte Fan zwischendurch ungläubig den Kopf.
Auch Ning staunte über die abgespielten Szenen. Niemals hätte er gedacht, dass sich solch eine Situation bereits in den ersten sechs Monaten nach Spielveröffentlichung ereignen könnte!
„Ist der Ausländer am cheaten[ii]…?“, fragte Fan nach ein paar Minuten entgeistert.
„Da ich die Welt Raoie persönlich überwache, ist dies nicht möglich, Fan“, antwortete Aoies Stimme.
„Aber…“, setzte Fan erneut an.
Wurde aber durch Ning unterbrochen: „Fan, du weißt genauso gut wie ich, dass unser System wasserdicht ist. Niemand hat bisher auch nur eine Ahnung wie unsere Technik funktioniert, geschweige denn wie man sie manipuliert.“
„Und was genau, soll dann bitte schön die Anomalie sein? Ich meine, ich habe mich köstlich amüsiert, Ning, aber sehe immer noch nicht worauf es hinaus laufen soll…“
„Die Aufnahmen gehen noch zehn Minuten, Fan“, antwortete Aoie.
„Ich bin gespannt“, sagte Fan achselzuckend als er ansonsten nur den nichtssagenden Blick von Ning erntete.
Kaum wandte sich Fan wieder der Projektion zu, verschärfte sich Nings Blick. Er hatte eine ziemlich genaue Ahnung worauf es hinaus laufen würde. Zuerst die Bisse und Kratzer, dann der See und die Frucht, sowie letztlich das vom Drachenblut getränkte Wasser am Boden der Grube. Anael hing noch einen Moment an den Felsen, ehe er hinab stürzte und ins blutige Wasser fiel.
Fast im gleichen Augenblick schien Fan endlich zu einer Erkenntnis gekommen zu sein: „Hey, Moment mal! Das ist doch nicht etwa…“, weiter kam er nicht, als Anael mit dem Horn in der Hand plötzlich zu schreien begann.
Ning musste zugeben, dass es schon ein erschreckender Anblick war, wie sich die Adern unter der Haut Anaels wölbten, als ob sie lebendig seien. Der Gedanke, dass der Spieler die Schmerzoption auf den vollen hundert Prozent Stehen hatte, ließ ihm einen Schauder über den Rücken laufen.
Grundgütiger muss der Junge gelitten haben…
Mehrere Minuten hallten Anaels Schreie durch den Raum, ehe sie von einem Keuchen und heftiger Atmung verdrängt wurden.
Dann war es so weit und Anael wurde die legendäre Klasse angeboten. Ning sah noch kurz Anaels vor Freude strahlenden Ausdruck, ehe sich dessen Gesicht in Maske aus Angst und Panik verzerrte.
Der Wasserdrache schnappte nach ihm und riss Anael in Fetzen blutigen Fleisches.
„Die legendäre Berufsklasse der Elementflüsterer?!“, hauchte Fan. „In jeder Simulation, sollten die legendären Klassen frühestens in zwei Jahren freigespielt werden und dieser Junge hat sie bereits nach sechs Monaten? Was machen wir jetzt? Wir werden ihm ja wohl kaum erlauben können, die Klasse beizubehalten. Er wäre bereits nach einer Woche viel zu übermächtig, ganz zu schweigen davon, wenn er seinen Avatar erst mal hoch gelevelt hat.“
Ning musste schmunzeln, als er Fans Meinung hörte und sagte: „Man merkt, dass du dich nie wirklich mit den legendären Berufsklassen auseinander gesetzt hast. Eine legendäre Berufsklasse bringt nicht nur Vorteile mit sich. Tatsächlich könnte es für diesen Anael erheblich schwieriger werden, als für andere Spieler in Raoie zurechtzukommen.“
„Ning, dir ist schon klar, wie mächtig seine Startfähigkeiten sind?!“, meinte Fan aufgebracht.
„Und wenn schon… Er ist mit seinem Tod wieder auf Level 0 zurückgefallen und ist ein vollkommender Spielanfänger. Du weißt genauso gut wie ich, dass er mit diesen Fähigkeiten zunächst überhaupt nichts anfangen kann.“
„Es hatte einen Grund, weshalb wir die Kriterien für die legendären Berufsklassen so hoch angesetzt haben, Ning!“
„Dennoch bestand die Möglichkeit die Klasse zu erspielen.“
Stöhnend verdrehte Fan die Augen: „Aoie, kannst du mir bitte die prozentuale Wahrscheinlichkeit berechnen, dass jemand die legendäre Berufsklasse der Elementflüsterer entdeckt, ohne zuvor die geheime Klasse der Elementbeschwörer entdeckt zu haben?“
„Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 0,02%.“
„Bitte sehr, da hast du es! 0,02%! Unwahrscheinlicher geht’s ja wohl kaum noch!“
Ning grinste: „Du hast Recht, unwahrscheinlich aber nicht unmöglich.“
„Boar, komm schon, Ning…“
„Nein, höre du mal zu. Hast du dir eigentlich mal genau angesehen, wie dieser Junge gespielt hat? Wie er doch so offensichtlich ein Anfänger ist und trotzdem alles in Raoie gibt? Wie er sich vor der Wächterkreatur versteckt hat?“
„Hinter Felsen kann sich doch wohl jeder verkriechen“, winkte Fan ab.
„Er ist perfekt umher geschlichen und hat sogar noch auf die Windrichtung geachtet, Fan! Hättest du den Abstieg an der Felswand geschafft? Welche normale Spieler beschäftigt sich denn Stunden lang damit an Fels und Lianen hinab zu klettern?! Die Meisten hätten sich einfach in den Abgrund gestürzt und am nächsten Tag von vorne begonnen. Aber dieser Junge nicht!“
„Zugegeben, der Abstieg war eine Leistung. Aber alles andere war einfach nur reines Glück! Du kannst mir nicht erzählen, dass er genau geplant hatte die Wächterkreatur durch einen Sturz in die Schlucht zu erlegen. Mit den Drachen wollen wir mal gar nicht anfangen.“
„Da hast du natürlich Recht. Auch wenn er sich gewehrt hat, war schon viel Glück dabei. Aber kannst du dich an die besondere Wirkung der Frucht erinnern? Und du weißt noch nicht mal das Wichtigste! Der Junge hat mit einem Schmerzempfinden von 100% gespielt.“
„Was?!“, Fan blickte Ning schockiert an. „Du meinst, er hat diesen schrecklichen Tod mit dem vollen Schmerzempfinden erlebt?!“
Ning nickte nur.
„…“, Fan war zunächst sprachlos.
„Ursprünglich haben wir Raoie entworfen, um den Menschen eine neue Welt zum Leben zu geben. Eine Fantasy-Welt die voller Möglichkeiten steckt und sich unheimlich real anfühlt. Die Erfolge des jungen Mannes beruhen nicht allein auf Glück oder seinen Fähigkeiten sich zu verstecken. Er hat sich in Raoie so bewegt, wie wir es uns immer erhofft hatten. Mit vollem Körpereinsatz und Schmerzempfinden hat er nie aufgegeben, obwohl Raoie letzten Endes doch nur ein Spiel ist. Welch anderer Spieler hätte schon so lange solche Schmerzen ertragen und sich mit den unendlichen Strapazen abgeplagt, anstatt sich einfach schnell in den Tod zu stürzen und am nächsten Tag weiter zu spielen? Ich werde ihn nicht dafür bestrafen, dass seine Taten ihm zum Erfolg verhalfen.“
„Ich verstehe das schon“, meinte Fan. „Aber was machen wir, wenn die Spielbalance dadurch gestört wird?“
„Vertrau mir, dass wird sie nicht“, sagte Ning geheimnisvoll.
„Wie du meinst, ich muss wieder an die Arbeit“, erklärte Fan Kopf schüttelnd und ging Richtung Tür. „Bis später.“
„Ja, bis nachher“, rief ihm Ning nach.
Mit einem metallischen Surren schloss die Sicherheitstür wieder und es kehrte Ruhe in den Raum ein.
„Ist meine Annahme richtig, dass wir in dieser Sache nichts unternehmen?“, erklang Aoies Stimme.
„Deine Annahme ist richtig, Aoie“, lächelte Ning vor sich hin.
„Die Grundsätze, Paragraph 14, nicht wahr?“
„Ganz genau“, Ning nickte gedankenverloren vor sich hin, während er an einen der wichtigsten Grundsätze bei der Erschaffung von Raoie dachte: ‚Paragraph 14: Eine Welt und ihre Bewohner sind nur dann wirklich frei, wenn niemand von außen versucht sie zu kontrollieren‘
Er selber war sich noch nicht so sicher, ob er Anael beglückwünschen oder bemitleiden sollte. Ursprünglich war immer geplant gewesen, dass die Spieler zunächst die geheime Weiterentwicklung der Magierberufung, die so genannte Klasse der „Elementbeschwörer“ entdecken mussten. In dieser mussten sie es dann noch bis zum Rang eines Großmeisters schaffen und ein paar ungewöhnliche Parameter erfüllen, die dann schließlich zum Auslöser des legendären Berufsklassenpaars führten.
Dieser Anael hatte eine unglaubliche Abkürzung genommen und ohne es zu wissen, die aberwitzigen Voraussetzungen erfüllt, die zum Erlagen der legendären Klasse von Nöten waren.
Ning lachte in sich hinein, schon bald würde der Junge sein reines Wunder erleben. Er konnte es kaum abwarten die Reaktionen Anaels zu sehen, wenn er feststellte, dass er in seiner Berufsklasse bereits den Rang Legende inne hatte.
Oh ja, Schadenfreude war wirklich eins seiner größten Laster!
[i] Bai Hui Ning ist, wie unschwer zu erkennen, ein chinesischer Name; sie unterscheiden sich in der Hinsicht von westlichen Namen, dass der Nachname (hier: Bai) zuerst genannt wird. Darauf folgt dann gewöhnlicher Weise ein Mittelname (hier: Hui), der die Bedeutung des Vornamens noch verstärken kann bzw. erkenntlich machen soll. Der Vorname (hier: Ning) wird dann als letztes genannt. Während der Nach-/Familienname ohne Bedeutung ist, wären die ungefähren Übersetzungen des Mittel- und Vornamens wie folgt: Intelligent (Hui) Gelassenheit (Ning).
[ii]cheaten = Computerspieljargon und englisches Wort für „betrügen“. Darunter ist im Allgemeinen die Nutzung illegaler Soft-/Hardware zur Beeinflussung des Spielausgangs zu verstehen.
Kaiwen stieg erschöpft aus dem Aufzug und betrat das Großraumbüro des Senders, das in letzter Zeit zu ihrem zweiten zu Hause geworden war. Der Raum wurde nur noch stellenweise von den Visualisierungsflächen der letzten Angestellten erleuchtet und verbreitete im Halbdunkeln eine eher triste Stimmung.
Kaiwen legte die letzten Meter zu ihrem Tisch zurück und ließ sich mit einem müden Stöhnen auf ihrem Bürostuhl nieder. Der ganze Tag war umsonst gewesen. Die ursprünglich viel versprechende Story hatte sich nur als plumpe Spinnerei heraus gestellt. Mit der langen Zugfahrt, hin und zurück, hatte sie den ganzen Tag verschwendet. Dabei brauchte sie dringend einen neuen Hit, um ihren wackelig gewordenen Job zu behalten.
PG, war einer der fünf beliebtesten Fernseh-Sender, die sich inzwischen fast ausschließlich mit Computerspielen und deren professionellen Spielern auseinandersetzten. Alle fünf Sender hatten extrem hohe Auswahlkriterien und ignorierten Berufsanfänger üblicherweise. In den meisten Fällen hatte man bei den Sendern frühestens mit fünf Jahren Berufserfahrung eine Chance und die wenigen Plätze die es gab, waren hart umkämpft.
In ihrem Bestreben, sich den Traum zu erfüllen und über die zukünftigen Progamer der beliebtesten Computerspiele berichten zu dürfen, hatte sie etwas Wahnwitziges gewagt und PG ein mögliches Interview mit Li Juan unter die Nase gehalten hatte, sofern der Sender sie einstellte.
Juan war eine Studienkollegin von ihr gewesen, die inzwischen in der Model- und Fernsehbranche Fuß gefasst hatte und in der neusten Realverfilmung des Computerspiels Ret Streets eine Hauptrolle übernehmen würde. Zu Kaiwens großer Freude, hatte sie ihr den Gefallen getan und alle Interview-Angebote ausgeschlagen – mit Ausnahme Kaiwens natürlich.
PG gefiel doch tatsächlich ihre Kaltschnäutzigkeit und hatte sie als Journalistin fest angestellt. Seit ihrer Anstellung waren inzwischen jedoch zwei Monate vergangen und sie hatte keine große neue Story an Land ziehen können.
Angespannt fuhr sie sich mit den Händen über die Augen und schaltete ihren PC ein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als in allen möglichen Foren nach etwas Besonderem Ausschau zu halten.
Nachdem sie zwanzig Minuten später immer noch nichts gefunden hatte, öffnete sie resigniert die Dreamworld-Foren, in dem Gedanken danach Schluss zu machen. Doch wer hätte gedacht, dass sie sich vor neuen Threads über die Auktion des Anael-Accounts kaum noch retten konnte!
Verblüfft wühlte sie sich durch die Forenbeiträge und kam schließlich zu dem Schluss, dass sich noch kein Journalist intensiver mit dem Spieler hinter dem Account auseinander gesetzt hatte. Dabei war der Avatar bereits vor mehreren Stunden versteigert worden! Manche Foren-User verlangten sogar explizit nach einen Interview mit dem Spieler und seinen Beweggrund so plötzlich wieder aufzutauchen und den kompletten Account zu verkaufen.
Fieberhaft suchte Kaiwen die Telefonnummer des Spielers im Auktionshaus, musste jedoch feststellen, dass der Account bereits gelöscht war.
„Mist!“
Kurz überlegte sie, ob es die Story wert war, den letzten Gefallen bei ihrem Kontakt in der Herstellungsfirma von Dreamworld einzufordern, entschied sich aber schließlich dafür und wählte sofort die Nummer.
„Wartungsabteilung, Ma Ming Kong am Apparat, was kann ich für Sie tun?“
„Hey Ming Kong, ich bins, Kaiwen-“
„Oh man, ich sehe es schon kommen, was willst du Kaiwen?“, wurde sie von einer genervten Stimme unterbrochen.
„Suche mir bitte die Telefon-Nr. vom Spieler des Anael-Accounts raus.“
„Der Spieler hat seinen Account bereits gelöscht, Herzchen, da kann ich dir nicht weiterhelfen.“
„Ming Kong! Verarsch mich nicht, ich weiß genau, dass eure Server alle Accountdaten noch vierundzwanzig Stunden nach der Löschung aufbewahren, ehe sie vollständig gelöscht werden!“
„Dir ist schon klar, dass es nicht ganz legal ist, wenn ich darauf zu greife, oder?“
„Sonst wäre es ja auch kein Gefallen, Ming Kong“, antwortete Kaiwen mit gleichgültiger Stimme.
„Fuck! Ich wusste doch, dass jeder Kontakt mit dir mein Verderben sein wird.“
„Ich warte, Ming Kong…“
„Halte die Schnauze, ich bin ja schon dran!“
Nach fünf Minuten hatte sie endlich die Nummer bekommen und wählte hektisch. Der Anruf wurde durchgestellt und es erklang das typische Piepen. Nach einer Minute des Klingeln lassen, wurde sie zunehmend ungeduldig.
„…“
Als nach mehreren Versuchen immer nur die Mail-Box dran gegangen war, gab sie schließlich auf.
Hatte ihr Ming Kong ihr etwa nicht die richtige Nummer gegeben?
Nein, das konnte nicht sein. Er war viel zu froh, endlich alle Schulden beglichen zu haben. Das Ganze würde er nicht mit so einem lächerlichen Trick aufs Spiel setzen wollen. Zudem hatte er ihr nicht nur die Telefonnummer, sondern auch den vollständigen Namen und die letzte Anschrift des Spielers gegeben.
Beim längeren Nachdenken machte es langsam Sinn, wieso noch immer keine Nachrichten dieses besondere Ereignis aufgegriffen hatten. Scheinbar ignorierte der Spieler sämtliche Anrufer.
Kaiwen schaltete schnell ihren PC aus und machte sich auf den Weg nach Hause. Wenn sie den Spieler telefonisch nicht erreichen konnte, musste sie eben zu ihm. Da bisher keine Nachrichten über den Spieler im Umlauf waren, konnte sie davon ausgehen, dass noch keiner Erfolg dabei gehabt hatte, den Spieler zu erreichen.
Morgen würde sie so früh wie möglich bei der Adresse des Spielers aufkreuzen und notfalls das Haus belagern, bis sie schließlich ein Interview mit ihm bekam. Jetzt hieß es noch schnell ein paar Stunden Schlaf bekommen, ehe sie die erste U-Bahn zum Stadtrand nahm.
„Bahe!“
Eine tiefe Stimme hallte in der Dunkelheit.
„Bahe!“
Verwirrt schaute Bahe sich um, entdeckte aber niemanden.
„Bahe…“, sprach jemand plötzlich unmittelbar hinter ihm und Bahe machte vor Schreck einen Satz nach vorne.
Als er sich umgedreht hatte, traute er seinen Augen nicht. Vor ihm stand sein Vater!
Sprachlos blickte Bahe ihn an.
„Ich hoffe es geht dir gut. Du musst ein Bisschen mehr essen, Bahe“, sagte sein Vater mit warmer Stimme.
Ehe sich Bahe sammeln konnte, fuhr sein Vater fort: „Ich bin leider nur für einen kurzen Zeitraum hier, aber ich würde dir gerne eine Geschichte erzählen… Bevor du damals auf die Welt kamst, haben deine Mutter und ich überlegt, wie wir dich wohl nennen sollen. Es fiel uns gar nicht so leicht, wie wir gedacht hatten. Dein Name sollte irgendeine Bedeutung haben. Aber auch nicht so lang oder geschwollen klingen.“
An dieser Stelle musste sein Vater kurz auflachen.
„Natürlich waren wir wie alle anderen Eltern, die sich bei der Geburt ihres ersten Kindes alle möglichen Gedanken machten. In all diesen Gedanken versunken und über die Möglichkeiten nachdenkend, verging die Zeit bis zu deiner Geburt wie im Flug und wir hatten uns immer noch nicht auf einen Namen einigen können“, grinste sein Vater. „Aber dann kamst du plötzlich zu früh… Mehrere Wochen zu früh… Wie du inzwischen weißt, war es keine leichte Geburt… Sechs Tage lang hat sich deine Mutter gequält, um dich sicher auf die Welt zu bringen.“
Bahe sah seinen Vater kurz pausieren und in die Ferne blicken.
„Es kam zu Komplikationen und während deine Mutter mit dem Tod rang, hast auch du in einem Brutkasten um dein Leben gekämpft. Du hättest mich damals sehen sollen… Die ganze Zeit völlig panisch und wahllos umher irrend“, Bahes Vater schüttelte den Kopf. „Du hast es irgendwie geschafft und deine Mutter durfte dich nach einer Woche endlich auf den Arm nehmen. Der Blick mit dem sie dich betrachtete… so voller Liebe aber auch Erfüllung… der Blick, er geht mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf.“
Bahe sah, wie sein Vater ihn wieder anschaute und fortfuhr: „Sie sagte zu mir, was für ein kleiner Kämpfer du doch seist und das ich einen passenden Namen für dich finden sollte. Dann sagte sie noch, sie liebe uns beide und dass sie immer bei uns sein werde. Danach schloss sie für immer die Augen.“
Bahe schluckte schwer. Er konnte nicht in Worte fassen, was er gerade fühlte.
Sein Vater hingegen lächelte und sprach: „Mit der Zeit begriff ich, dass sie die ganze Woche über gewusst haben muss, dass es mit ihr zu Ende ging. Mir zu Liebe hat sie es sich nicht anmerken lassen und still weiter gekämpft, um dich wenigstens einmal, ohne dir zu schaden, auf dem Arm halten zu können.“
Wieder setzte sein Vater kurz aus und begann dann von Neuem: „Und was machte ich? Nach einer halben Stunde setzte ich mich mit dir so schnell es ging an einen PC und suchte einen Namen mit der Bedeutung eines Kämpfers. Ich weiß gar nicht mehr auf welcher Seite, aber irgendwo stieß ich auf Bahe. Mein erster Eindruck sagte mir, das ist er und so entschied ich mich, dich Bahe zu nennen, Bahe Dragon.“
Bahe blickte seinen Vater verblüfft, woraufhin dieser lachte und weiter erzählte: „Bahe mag vielleicht nicht der schönste Name sein, aber für mein Empfinden besitzt er die wichtigste Bedeutung der Welt, niemals aufzugeben! Dein Name erinnerte mich daran, dass die beiden Menschen, die ich am meisten liebte, beide Kämpfernaturen waren und im Anblick ihres Ziels niemals aufgegeben hatten. Da konnte ich, der es nicht mal eine halbe Stunde am Totenbett seiner Frau ausgehalten hatte, doch nicht weiter Trübsal blasen… Sicher, ich war nach Leanas Tod am Boden zerstört, aber die Botschaft deines Namens und die Tatsache, dass ich mich um dich kümmern musste, halfen mir nicht vollkommen im Selbstmitleid zu versinken.“
Bahe liefen leise Tränen über die Wangen, als er den warmen Blick seines Vaters auf sich spürte. Von all den Gefühlen noch immer viel zu überwältigt, war er keiner Worte fähig.
Sein Vater schien dies zu spüren und betrachtete ihn schweigend, bis er schließlich ein letztes Mal zu sprechen begann: „Nun ist es an mir die Worte zu sagen, Bahe. Ich werde immer bei dir sein… Nein… Wir werden immer bei dir sein! Wir lieben dich und wenn selbst ein solcher Trottel wie ich es schafft, sich aufzurappeln, dann schaffst du es auch. Erinner dich an die Bedeutung deines Namens! Du bist ein Kämpfer! Also stehe auf und blicke nach vorne!“
Bahe saß überrascht dar, als sein Vater nach Abschluss seines Vortrags genauso plötzlich verschwand, wie er gekommen war. Er war zurück in vollkommener Dunkelheit.
Dann ließ ein Aufschrei seines Vaters ihn zusammen zucken: „Bahe!“
„Bahe, wache auf!“
„Wache auf und kämpfe!“
Keuchend kam Bahe zu sich und kam nach einem kräftigen Husten auf dem Rücken zum Liegen. Der Regen prasselte ihm ins Gesicht, während er auf dem matschigen Boden des Parks lag. Er glaubte auch warme Tropfen auf seiner Haut zu spüren und führte vorsichtig seine Finger an seine Wangen. Überrascht hielt er inne, Tränen?
War die Begegnung mit seinem verstorbenen Vater ein Traum gewesen? Es hatte sich so unglaublich real angefühlt…
Bahe musste trotz der Schmerzen seines geschundenen Körpers lächeln. Egal ob Traum oder pure Einbildung, es war eine schöne Erfahrung gewesen.
Mühsam stand er auf, blickte ein letztes Mal gen Himmel und machte sich dann auf den Weg nach Hause. Er hatte viel zu tun. Er musste seiner Familie helfen. Seine Mutter und seine kleinen Geschwister brauchten ihn. Er durfte nicht einfach aufgeben. Er war Bahe Dragon! Er war ein Kämpfer!
„Pff…“, ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er ein Lachen unterdrückte.
Allein in Gedanken hörte sich das schon komisch an. Glücklicherweise hatte er es nicht laut ausgesprochen.
Mürrisch stapfte Aiguo über die schlammigen Wege des Parks und wechselte die Hand, mit der er seinen Regenschirm hielt. Er war ein Mann in seinem Lebensabend und musste seinen Hund noch ein letztes Mal ausführen. Der Regen, der bis zu dieser späten Stunde, immer noch anhielt, trübte seine Laune jedoch zunehmend. Sein Hund, Ronko, war ziemlich wasserscheu und wuselte ihm seit geschlagenen zehn Minuten nur um die Beine, in der Absicht so wenige Regentropfen wie möglich abzubekommen.
Er war gerade im Begriff Ronko zusammen zu pfeifen, dass er endlich sein Geschäft erledigte, als er keine hundert Meter entfernt einen Jugendlichen entdeckte, der völlig durchnässt, aber dennoch schwungvollen Schritts durch den Park spazierte.
„Was zum…“, murmelte Aiguo verdutzt vor sich hin.
Es war augenscheinlich kein Chinese. Hatten alle Ausländer einen an der Klatsche? Wer lief klatschnass und spät abends durch den Regen und hatte dermaßen gute Laune?
Der Jugendliche kam auf ihn zu und Aiguo öffnete schon den Mund, um ihn anzusprechen, als er bemerkte wie klein der Junge war. Verwirrt rieb Aiguo sich die Augen und blickte erneut zu dem Jugendlichen, der gerade an ihm vorbei lief.
Tatsächlich, der Junge war wirklich von kleiner Statur. Hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Von Weitem hatte er viel größer gewirkt…
Unschlüssig sah er dem Jungen noch eine Weile nach und setzte dann seinen Weg kopfschüttelnd fort. Er hatte wirklich besseres zu tun, als sich um einen daher gelaufenen Ausländer zu kümmern.
Am nächsten Morgen stand Bahe früh auf, wusch sich und spähte beim Zähneputzen durch die Fenster nach draußen. Auf der Seite zur Straße hin, wartete den Himmeln sei Dank niemand auf ihn. Standardweise überprüfte er auch noch den Innenhof durch das Badezimmerfenster und stellte erleichtert fest, dass er heute mal Glück hatte und keine Schlägertypen auf ihn warteten.
Er frühstückte noch schnell die letzten Essensreste, die er zu Hause hatte, schnappte sich seine Haustürschlüssel, riss die Tür auf und erstarrte entsetzt.
Vor seiner Tür lag eine Frau!
Mit angezogenen Knien und dem Rücken zur Tür lag die Frau auf der Seite und rührte sich nicht. Bahe wagte kaum zu atmen!
Wurden jetzt auch schon Frauen auf ihn angesetzt?!
Angespannt musterte er die Frau genauer und stellte erleichtert fest, dass sie schlief. Zumindest sah er, wie sich der Brustkorb hob und senkte.
Ganz vorsichtig schloss Bahe wieder die Tür und ließ noch behutsamer die Klinke los. Verdammt noch eins, hatte er ein Glück gehabt, dass die Frau vor seiner Tür eingeschlafen war!
Leise ging er durch den Flur zurück ins Badezimmer und stieg dort durch das Fenster nach draußen. Danach lehnte er das Fenster vorsichtig an und fixierte es mit einem kleinen Holzkeil. Er machte sich keine Sorgen darum, dass jemand bei ihm einbrechen könnte. Seitdem er seinen Account verkauft hatte, befand sich nichts mehr von Wert in seiner Wohnung.
Bahe bewegte sich anschließend leise zur Gartenhütte und achtete auch beim Hinaufklettern darauf, möglichst keine lauten Geräusche zu verursachen.
Es lief alles reibungslos ab, bis ihm kurz vorm Schluss der Balken aus den Händen rutschte, den er stets benutzte, um auf die gegenüber liegende Mauer zu kommen.
Mit einem lauten Poltern krachte das Balkenende auf den Beton der Mauer und schreckte die Frau aus ihrem Schlaf.
„Hä, was? Wo?“, rief sie zunächst verwirrt, während sie sich umblickte.
Bahe ließ sich diese Chance jedoch nicht entgehen und sprintete regelrecht zur anderen Seite.
„Hey, bleib stehen! Bist du Bahe Dragon?!“, rief die Frau hinter ihm her.
Drüben angekommen, glaubte er bereits den Haarschopf der Frau über der Mauer zu erkennen, als er schnell den Balken anhob und zu sich herüber zog.
„Was zum…“, erklang es dumpf von der gegenüber liegenden Mauer, während er den Balken sicher verstaute. Danach blickte er noch ein letztes Mal zurück und sah den verärgerten Gesichtsausdruck der Frau, die ihm auf die Gartenhütte gefolgt war.
Ohne länger zu zögern, machte er sich auf seiner Seite an den Abstieg und ignorierte die Worte der Frau, die zu ihm herüber schallten: „Warte doch! Ich will nur mit dir reden!“
Aber sicher doch, er sollte warten? Nur damit die Typen, die sich irgendwo versteckt hielten, ihn erneut zusammen schlagen konnten?
Die Frau hätte sich schon was Besseres einfallen lassen können.
Bahe machte vorsichtshalber noch ein paar Umwege, bis er sich schließlich sicher war, dass ihm niemand folgte. Danach lief er zur nächsten U-Bahnstation und nahm eine Bahn in Richtung Stadtmitte.
Nach vierzig Minuten kam er endlich am Krankenhaus seiner Mutter an und klopfte wenig später an ihre Zimmertür und trat ein.
„Bahe?!“, rief seine Mutter überrascht.
„Hallo Mama…“, sagte Bahe mit gesengtem Blick. Nachdem, was er gestern gehörte hatte, konnte er ihr kaum in die Augen blicken.
Er vernahm ein paar eilige Schritte und bevor er den Blick heben konnte, fand er sich bereits in einer festen Umarmung wieder.
„Bahe, ich habe mir solche Sorgen gemacht!“, schluchzte seine Mutter vor Freude, während sie ihn noch fester an sich drückte.
„Mit mir ist alles in Ordnung, Mama“, meinte Bahe mit einem schlechten Gewissen und drückte seine Mutter zurück.
„Lass dich ansehen“, stieß seine Mutter plötzlich hervor und hielt ihn auf Armeslänge von sich. „Was ist mit dir passiert?!“, fragte sie, als sie seine blauen Flecken und Schrammen bemerkte.
„Es sieht schlimmer aus als es ist…“, winkte Bahe ab.
„Sie haben dir aufgelauert?“
„…“
Seiner Mutter reichte seine stumme Antwort. Sie nickte gefasst und führte ihn an einen Tisch im Krankenzimmer. Bahe setzte sich und sie nahm neben ihm Platz.
„Wir müssen reden“, meinte sie bestimmt und blickte ihn an. „Wo lebst du? Und ich möchte nicht eine ungefähre Richtung wissen, sondern deine genaue Adresse.“
„Wieso ist das wichtig?“
„Bahe, wage es ja nicht, so zu tun, als ob es dir gut ginge! Für wen hältst du mich? Ich bin deine Mutter, wenn ich nicht weiß wie es in dir aussieht, dann weiß es keiner!“
„Mama…“, setzte Bahe an, um sie zu besänftigen, wurde jedoch unterbrochen.
„Bahe, ich sitze hier in diesem Krankenhaus fest und langweile mich Tag ein Tag aus. Was also tue ich? Ich denke an meine Lieben. Deine beiden, kleinen Geschwister, die ohne ihren großen Bruder bei ihren Großeltern leben. Ich hoffe, dass es ihnen gut geht und sie Má und Pá nicht in den Wahnsinn treiben. Ich denke an deinen verstorbenen Vater und wünsche mir er wäre hier. Und dann bist da noch du. Mein Sohn, der plötzlich verschwunden ist, die Schule abgebrochen hat und laut meines Vaters jede Woche Geld für meine Behandlung anschleppt. Ich weiß nicht wo du lebst. Von Woche zu Woche siehst du ab gemergelter aus und deinen Schrammen nach, kann sich nun wirklich jeder Dummkopf denken, weshalb du untergetaucht bist!“, nachdem sie sich in Rage geredet hatte, stockte sie kurz und fuhr fort: „Ich ertrage es nicht länger, dass du mich im Ungewissen lässt. Also, entweder klärst du mich jetzt auf, was du die letzten Monate getrieben hast oder ich schwöre dir, ich suche mir das nächstbeste Fenster und stürze mich hinunter! Ich werde nicht länger eine Mutter sein, die ihrem Kind sowas antut!“
Bahe brauchte einen Moment, um alles zu verdauen und entschied sich dann zu reden. Er hatte gewusst, dass es dazu kommen würde, wenn er das nächste Mal unter die Augen seiner Mutter trat.
„Ich habe hauptsächlich auf Baustellen gearbeitet. Es waren harte Jobs die schlecht bezahlt wurden. Wie du weißt, falle ich mit meiner europäischen Herkunft ziemlich auf und die meisten Einheimischen begegnen mir mit Skepsis, wenn ich nach Arbeit frage. Das ich keinen Schulabschluss vorzeigen kann, lässt mich in ihrer Achtung meistens direkt nach ganz unten sinken. Ich kann von Glück reden, überhaupt irgendwas gefunden zu haben. Von dem Geld habe ich so viel zurück gelegt, wie möglich. Für mich hat es gerade eben zum Leben gereicht. Den Rest habe ich immer Großvater für deine Behandlung gegeben. Ich wohne bei einer alten Dame im Erdgeschoss. Das Haus ist eine Bruchbude, es reicht aber für mich. Das Haus liegt am nordwestlichen Stadtrand, Tengfei Road 284.“
„Bahe, ich möchte, dass du damit aufhörst“, sagte Bahes Mutter ruhig.
Bahe wusste nicht, was er darauf antworten sollte und schwieg lieber.
„Ich werde morgen das Krankenhaus verlassen und hätte dich gerne bei mir. Wir werden dann zusammen für ein paar Wochen bei meinem Vater leben, bis er unser großes Anwesen verkauft hat.“
„Es liegt daran, dass die Ersparnisse von Opa und Oma aufgebraucht sind, oder?“
„Wie… Woher weißt du davon?“, fragte Bahes Mutter überrascht.
„Ich wollte dich gestern besuchen und bin aus Versehen ins Nachbarzimmer geplatzt. Bevor ich die Verbindungstür öffnen konnte, habe ich Opa so ernst reden hören und zunächst gewartet… Später konnte ich dir dann einfach nicht mehr unter die Augen treten“, erklärte sich Bahe kleinlaut.
„Oh, Bahe!“, sagte seine Mutter leise und umarmte ihn.
Bahe erwiderte die Umarmung mit Tränen in den Augen und drückte seine Mutter fest. Eine Weile verblieben sie Beide so und rührten sich nicht.
„Ich bin dir für alles dankbar, was du für mich und unsere Familie getan hast, mein Sohn“, flüsterte Bahes Mutter ihm schließlich ins Ohr. „Aber du hast genug getan. Das Geld, dass du erarbeitet hast, hat uns zeitweise helfen können. Doch jetzt, da es keinen Unterschied mehr ausmacht, solltest du endlich mal an dich selbst denken.“
Sie löste sich aus der Umarmung und sagte leise: „Der Verkauf unseres Anwesens wird uns genug Geld einbringen, um meine Operation davon zu bezahlen und die anschließende Behandlung im Krankenhaus und zu Hause zu gewährleisten. Tut mir Leid, Bahe…“
„Das Haus ist mir doch egal, Mama! Du hättest es schon längst verkaufen sollen!“
Stille Tränen liefen seiner Mutter über die Wangen, als sie die Lippen aufeinander presste und sagte: „Danke, Bahe.“
Danach drückte sie Bahe erneut in einer kurzen Umarmung und ließ sich anschließend wieder auf ihrem Stuhl nieder.
„Mama“, sagte Bahe vorsichtig. „Ich habe genug Geld, dass du die nächsten Wochen noch im Krankenhaus bleiben kannst.“
Seine Mutter blickte ihn verwirrt an: „Wie meinst du das?“
„Weißt du noch wie ich mit Papa immer Dreamworld gespielt habe? Wir hatten uns zusammen eine Account erstellt und einige wichtige Sachen gemeinsam erspielt.“
„Ja, natürlich weiß ich das noch.“
„Im Spiel gibt es ein Aktionshaus, in dem man auch die gespielten Avatare, also im Endeffekt die Accounts, versteigern kann. Nun, ich habe den alten Account rein gestellt und ein Bisschen Geld damit gemacht.“
„Bahe… das hättest du doch nicht tun müssen!“, meinte seine Mutter wohlwollend. „Ich fürchte nur, dass ein Bisschen Geld nicht reichen wird. Wie viel hast du denn?“
„Nicht viel… nur knapp 400 000 Yuan“, grinste Bahe.
„Was…? Mach über sowas bitte keine Scherze, Bahe.“
„Nein, ich meine es ernst“, sagte Bahe stolz und kam aus dem Grinsen nicht mehr heraus. „Der Avatar besaß eine seltene Rüstung und ist tatsächlich für 400 000 Yuan versteigert worden.“
„Das… ich weiß nicht was ich sagen soll…“, sagte seine Mutter verblüfft.
„Zumindest kannst du jetzt die letzten zwei Wochen in Behandlung bleiben, bis der Verkauf abgeschlossen ist“, antwortete Bahe schlicht.
Seine Mutter schwieg eine ganze Weile und sah ihm dann in die Augen, als sie zu sprach: „Bahe, wenn ich dein Geld nochmal annehmen soll, müssen wir vorher ein paar Dinge klären.“ „Ok.“
„Ich will nicht, dass du alles ausschließlich für mich ausgibst. Ich werde das Geld gerne dazu verwenden, um meine nächsten zwei Wochen hier im Krankenhaus zu bezahlen. Das restliche Geld wirst du aber behalten. Ich fühle mich nicht wohl damit, das Geld, das der Erinnerung an deinen Vater entstammt komplett für meine Behandlung zu verwenden.“
„Aber…“, wollte Bahe widersprechen.
„Nein, kein aber! Sie dich doch mal an. Du bist nur noch Haut und Knochen! Verwende das Geld, um dich vernünftig zu ernähren!“, sagte seine Mutter aufgebracht. „Wobei wir auch schon beim zweiten Punkt wären. Ich möchte, dass du zu deinen Großeltern ziehst. Nutze das Geld, um vernünftiges Essen auf den Tisch zu bringen. Du hast es selbst gehört, Pá hat seine Ersparnisse aufgebraucht und wird jede Unterstützung gut gebrauchen können. Haben wir uns verstanden?“
Bahe nickte beim strengen Blick seiner Mutter nur.
„Und drittens, erwarte ich von dir, dass du wieder zur Schule gehst.“
„Dann kann ich aber nicht mehr arbeiten Mama.“
„Das ist ja der Sinn der Sache“, lächelte seine Mutter schwach. „Du wirst die zweite Hälfte der zwölften Klasse wiederholen müssen. Aber ich möchte, dass du später die Möglichkeit hast auf eine Universität zu gehen. Das hätte dein Vater gewollt.“
„Aber Mama, eine Universität ist viel zu teuer, dass werden wir uns niemals leisten können.“
„Lass das mal meine Sorge sein“, meinte sie. „Sind wir uns einig?“
„Wie soll ich denn dann Oma und Opa unterstützen?“, fragte Bahe unschlüssig.
„Dein Geld wird eine Weile reichen und dein Opa wird vorübergehend wieder arbeiten, bis ich mich erholt habe.“
Bahe schaute seine lächelnde Mutter an und dachte nach. Natürlich würde er nur zu gerne wieder nach Hause zurück kehren, in diesem Fall zu seinen Großeltern. Er machte sich nur Sorgen, wie sie zurecht kommen würden, wenn das Geld eines Tages zur Neige ging. 250 000 Yuan waren für sechs Personen nicht unbedingt ein Vermögen, wenn davon Essen, Schulgeld und eventuell sogar später seine Universität-Gebühren bezahlt werden mussten.
Seinen Job auf der Baustelle hatte er eh verloren. Und Nebenjobs, die man als Schüler am Nachmittag oder Abend ausüben konnte, brachten nicht allzu viel ein. Stattdessen kehrten seine Gedanken immer wieder zu Raoie und der ungewöhnlichen Berufsklasse zurück.
Zwar brach ihm beim bloßen Gedanken an das Spiel bereits der Schweiß aus, allerdings wusste er auch, dass er damals zusammen mit seinem Vater durchaus Talent für Dreamworld bewiesen hatte. Wieso sollte es ihm also nicht noch einmal gelingen, mit Raoie Geld zu verdienen? Er müsste sich dieses Mal allerdings richtig vorbereiten und nicht einfach stur im Spiel umher laufen…
Zuerst bräuchte er allerdings ein Dimensional Leap-System, was gar nicht so billig war. Wenn man es jedoch als Investition betrachtete, sollte es sich in näherer Zeit rentiert haben. Die Frage war nur, wann?
Hinzu kamen auch noch die Strom- und Internetkosten. Da das System die gesamte Nacht laufen sollte, würden die Mehrkosten auf Dauer gar nicht so unerheblich sein…
Trotzdem, dachte Bahe, musste er es einfach versuchen.
„Wäre es ok, wenn ich von dem restlichen Geld ein Dimensional Leap-System kaufe?“
„Was für ein System?“, stutze seine Mutter.
„Nach Dreamworld ist nun ein neues Spiel auf dem Markt gekommen, das unglaubliche Neuerungen mit sich bringt. Es gewinnt immer mehr an Beliebtheit und um es zu spielen, braucht man ein Dimensional Leap-System“, erklärte Bahe.
„Wenn ich dich richtig verstehe, willst du das Spiel spielen, um den Gewinn mit deinem Account zu wiederholen?“, fragte seine Mutter mit gehobenen Augenbrauen.
„Woher…“
„Wofür denn sonst“, verdrehte seine Mutter die Augen und musterte ihn dann streng. „Meinetwegen kauf dir das System. Egal wie viel es kostet. Selbst, wenn du kein Geld mit diesem Computerspiel verdienst, ist es das Mindeste was ich dir erlauben sollte.“
„Danke“, grinste Bahe.
„Versprich mir nur eins, pass in der Schule gut auf und vernachlässige nicht deine Noten, um dieses Spiel zu spielen, ok?“
„Oh, da kannst du beruhigt sein, man spielt das Computerspiel im Schlaf.“
„Wie denn das?“, fragte seine Mutter verwirrt.
„Also…“, holte Bahe aus und begann seiner Mutter das Computerspiel Raoie und das dahinter steckende Spielsystem näher zu bringen…
Ein halbe Stunde später, trat Bahe aus dem Krankenhaus und genoss für einen Moment das spärliche Sonnenlicht, das sich durch die relativ dichte Wolkendecke gekämpft hatte.
Es gab einige Dinge zu tun, dachte Bahe mit geschlossenen Augen und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Das Wichtigste war, ein Dimensional Leap-System zu bestellen und es zum Haus seiner Großeltern liefern zu lassen. Er brauchte keine Luxusvariante, das System würde jedoch trotzdem mindestens 15 000 Yuan kosten. Dann kamen noch die Lieferkosten hinzu, wahrscheinlich nochmal 400-500 Yuan. Damit musste er leben, es gab schließlich nichts umsonst.
Sobald er das erledigt hatte, würde er sich intensiver mit dem Spiel Raoie auseinandersetzen müssen. Es durfte ihm nicht nochmal passieren, dass er auf gut Glück durch die Gegend rannte und ahnungslos einer gefährlichen Situation nach der nächsten begegnete.
Wenn er das geschafft hatte, konnte er sich in Ruhe etwas zu essen besorgen und ein letztes Mal seine herunter gekommene Wohnung aufsuchen, ehe er sich dann auf den Weg zu seinen Großeltern machte.
Für die ersten beiden Dinge brauchte er allerdings eine Internetverbindung. Bahe öffnete die Augen und starrte zum Internetcafe, schräg gegenüber vom Krankenhaus. Er konnte genauso gut dort hingehen, dachte er und setzte sich in Bewegung.
Als er gerade im Begriff war die Straße zu überqueren, klingelte plötzlich sein Smartphone und Bahe blieb kurz stehen, um die Nummer zu checken. Die Telefonnummer war ihm unbekannt. Achselzuckend würgte er das Klingeln ab. Sofern er die Nummer nicht kannte, gab es für ihn keinen Grund dran zu gehen. Schlimmsten Falls würde irgendein Handlanger von Ping Lun am anderen Ende dran sein, besten Falls wollte man ihn mit Werbung zu texten. Er konnte auf Beides verzichten.
Bahe wollte gerade weitergehen, als die Anrufmeldung verschwand und den Blick auf die Meldung von hundertdrei verpassten Anrufen freigab!
Verblüfft hielt er inne und schaute sich die Nummern an. Es waren mindestens zwanzig verschiedene, Bahe erkannte aber keine. Die Anrufe verteilten sich von gestern Mittag bis zum Letzten, den er gerade weg gedrückt hatte.
Während er drüber nachdachte, konnte er sich vage erinnern, dass sein Akku gestern zur Neige gegangen war, als er sich im Dimensional Leap-System befand. Er hatte es erst heute Morgen, auf der Hinfahrt zum Krankenhaus, wieder eingeschaltet und sofort den Flugmodus eingestellt. Auf dem Weg hinaus hatte Bahe den Modus gewechselt, den Ton wieder eingeschaltet und prompt den nächsten Anruf erhalten.
Wo hatten all diese Leute seine Telefonnummer her? Und was wollten sie überhaupt von ihm?
Kopfschüttelnd steckte er sein Smartphone wieder ein und überquerte die Straße zum Internetcafe. Drinnen angekommen, entdeckte er hinter der Ladentheke diesmal einen Mann mittleren Alters.
Schade, dachte Bahe, wäre ja auch zu schön gewesen, nochmal ein Schnäppchen zu machen.
„Guten Morgen, was kann ich für dich tun?“, fragte der Mann, als Bahe bei ihm ankam.
„Ich brauche einen einfachen Computer mit Internetzugang.“
„Mit Druckfunktion, Speichermedium oder ohne alles?“
Bahe überlegte kurz und entschied sich dann die Druckfunktion in Anspruch zu nehmen. Es war zwar altmodisch und wurde in den letzten Jahren zunehmend teurer auf Papier zu drucken, andererseits brachte ihm ein digitales Speichermedium nichts, da er keinen eigenen Computer besaß und er hatte auch keine Lust alle Notizen in sein Smartphone eingeben zu müssen.
„Mit Druckfunktion bitte.“
„Das macht dann 50 Yuan pro Stunde und jeweils 10 Yuan pro Blatt, das du in Schwarz-Weiß druckst. Wenn du farbig drucken willst, kostet dich das 40 Yuan pro Blatt. Das Geld für den Internetzugang bekomme ich sofort. Deine Drucke bezahlst du am Ende gesondert.“
„Ok, dann nehme ich erst mal eine Stunde“, sagte Bahe und überreichte der Bedienung das Geld.
Der Mann nickte und gab ihm einen Zahlencode mit dem er sich an einem Computer seiner Wahl einloggen konnte.
„Die Computer mit Druckfunktion befinden sich allesamt in der ersten Etage, von der Treppe aus gesehen im hinteren Bereich“, erklärte der Mann hinter der Theke und entließ ihn damit.
Bahe ging nach oben und lief eine Weile durch die vielen Gassen von Computer- und Spielstationen, bis er am Ende endlich auf die gewöhnlichen Computer mit Internetzugang stieß. Der Besitzer wusste eindeutig, womit er werben musste und hatte die Prestige trächtigen Geräte allesamt vorne aufgebaut.
Bahe suchte sich schnell einen Computer in einer ruhigen Ecke aus, gab den Code ein und machte sich daran sein Dimensional Leap-System zu bestellen. Er verglich noch kurz ein paar unterschiedliche Preiskategorien, stellte aber fest, dass sich die Systeme nur in unnötigen Extras unterschieden. Da TNL der alleinige Hersteller war, gab es auch kaum eine Möglichkeit ein Schnäppchen zu machen. Letztlich kaufte er ein System im Angebot für 14 200 Yuan. 800 Yuan gespart, waren immer noch besser als nichts, lächelte Bahe zufrieden in sich hinein.
Anschließend begann er Informationen über Raoie zu sammeln und raufte sich schon kurze Zeit später die Haare. Fast in jedem Beitrag oder Guide[i] für Anfänger wurde ausdrücklich davon abgeraten von Waldenstadt weiter Richtung Norden zu wandern.
Ein Kilometer, um die Startstädte herum, befand sich jeweils eine Art „Safe Zone“, in der es nur harmlose Level 0-Kreaturen gab, die zudem von sanftmütiger Natur waren, wenn man sich ihnen gegenüber nicht feindselig verhielt. Außerhalb des sicheren Radius bekam man es aber schon mit Monstern und Kreaturen höherer Level zu tun, ganz zu schweigen davon, dass sie bei weitem nicht mehr so friedliebend waren.
Waldenstadt war die nordwestlichste Startstadt und hatte das Problem, dass die Gebiete im Norden nahezu unzugänglich waren. Bereits zwei Kilometer von der Stadt entfernt, bestand die Gefahr tödlichen Level 20-Monstern zu begegnen. Selbst wenn man es schaffte sich an all den Monstern vorbei zu schleichen, wurde jedem weiteren Weg durch die Drachenschlucht ein Ende gesetzt.
Drachenschlucht…? Bahe seufzte nur kopfschüttelnd. Er hatte so ziemlich alles falsch gemacht, als er sich nach Norden gewandt hatte, um die ersten Kreaturen zum Leveln[ii] zu suchen.
Aber es wurde noch besser.
Überall wurde Anfängern empfohlen die Tutorials durchzuführen. Einzig Spieler die sofort in eine Gilde aufgenommen wurden, konnten sich erlauben, die Tutorial-Missionen ausfallen zu lassen.
Die Tutorial-Missionen offenbarten nicht nur Informationen, sondern vermittelten auch lebenswichtige Fähigkeiten, die auf externen Wegen nur wesentlich kostenintensiver zu erlernen waren. Zusätzlich bestand die Möglichkeit, Waffen zu einem absoluten Tiefpreis zu erwerben. Es waren natürlich nur gewöhnliche Waffen und zudem recht einfach gearbeitete. Dennoch stellte der Preis von gewöhnlichen Waffen für die meisten Spielanfänger ein Vermögen dar. Im gesamten Spiel waren bisher erst zwei, in Gold eingestufte, Waffen aufgetaucht. Wo er auch schon die nächste nützliche Information fand.
Jegliche Ausrüstungsgegenstände und Artefakte wurden in Raoie anhand ihres Seltenheitsgrades in elf verschiedene Kategorien eingeordnet. Es begann mit Gewöhnlich, der untersten Kategorie, in der man von Alltagsgegenständen bis hin zu speziellen Waffen alles finden konnte. Die weiteren Kategorien enthielten dann zunehmend seltenere Gegenstände und folgten einer strikten Reihenfolge: Bronze, Silber, Gold, Weißgold, Smaragd, Rubin, Saphir, Diamant, Mystisch und Legendär.
Natürlich träumte jeder Spielanfänger davon, irgendwann einmal eine legendäre Waffe in den Händen zu halten, doch Bahe konnte nur den Kopf schütteln, als er der enormen Preise gewahr wurde, die bereits gewöhnliche Waffen auf den Märkten der Startstädte erzielten.
TNL hatte sich sogar auf ihrer offiziellen Homepage dazu geäußert. Der Konzern hatte das Preissystem mit Absicht in der Art angelegt, um den Spielern ein besseres Gefühl dafür zu vermitteln, wie es in den mittelalterlichen Jahrhunderten zugegangen war. Bauern und einfache Leute, hatten es extrem schwer sich aus der Armut zu erarbeiten. Zudem hatte TNL den Wunsch, dass die Spielanfänger die Welt Raoie wirklich erleben sollten und nicht nur stupide dem Ablauf eines VRMMORPG[iii] folgten.
Bahe fand besonders interessant, dass sich eine unfassbar große Anzahl von Gamern über die Tatsache aufgeregt hatte, dass die Stats der Avatare auf den realen Körpern der Spieler basierten. Er selbst hatte ja auch darunter gelitten.
Es war sogar so weit gegangen, dass mehrere tausend Spieler gemeinsam streikten und das Spiel nicht anrührten. Sogar Demonstrationen sollte es vor den Bürogebäuden TNLs gegeben haben.
Doch sämtliche Proteste hatten nichts gebracht. TNL hatte schlicht weg das Statement veröffentlicht, dass das Avatarsystem fair sei, da jeder Spieler seine Statistiken durch regelmäßiges Sporttreiben und angemessene Ernährung verbessern konnte oder auch wieder absinken konnte, sofern ein regelmäßiges Training ausblieb.
Gegen das Argument, dass TNL die Gesundheit der Raoie-Spieler am Herzen lag, kam niemand an. Zumal die Spielwelt mit so unglaublich vielen Reizen lockte, dass mit der Zeit sogar die kritischsten Stimmen verstummten.
Er wollte weiterlesen, als sein Telefon plötzlich laut zu klingeln begann und ihn aus seiner Konzentration schreckte. Es war wieder nur eine unbekannte Nummer. Bahe drückte sie entschlossen weg und schaltete das Telefon anschließend auf lautlos. Er hatte keine Lust sich intensiver damit auseinander zu setzen, woher die ganzen Anrufe kamen.
Bahe arbeitete sich weiter durch unzählige Foren und filterte nützliches Wissen heraus. Als er schließlich auf Informationen zu den Berufen im Spiel stieß, las er mit größter Konzentration weiter.
Dem Autoren des Beitrags zufolge, gab es zunächst einmal die Standardberufe, welche allesamt in den Startstädten zu erlernen waren. Von einer Spezialisierung sprach man, sobald man sich zum Beispiel als Nahkämpfer dafür entschied, die Richtung eines Ritters einzuschlagen. Dies waren die gewöhnlichen Berufsklassen, die jedem Spieler grundsätzlich zur Verfügung standen.
Dann gab es aber auch noch versteckte Berufsklassen, die von einigen Spielern in Raoie wohl bereits entdeckt wurden. Hierunter fielen beispielsweise normale Berufe die allerdings von Helden oder besonderen Persönlichkeiten weitergegeben wurden. Die Meister lehrten die Spieler zusätzlich zum Beruf noch spezielle Fähigkeiten, die ihnen gewisse Vorteile einbringen konnten. Der Autor stellte, mit der Erlaubnis eines Freundes, das einzige Beispiel vor, das er kannte. So war sein Bekannter wohl einem alten Holzfäller tief in den Wäldern begegnet und dieser hatte ihm den Beruf eines Holzfällers gelehrt. Seitdem war der Spieler in der Lage, im Axtkampf weit höheren Schaden zu erzielen, als übliche Nahkämpfer, die sich der Axt verschrieben hatten.
Damit endete es aber noch nicht. TNL selbst, hatte wohl in verschiedenen Statements bereits andeuten lassen, dass dies noch nicht das Ende war. Da ansonsten nichts weiter über dieses Thema bekannt geworden war, wurde ganz allgemein noch von geheimen Berufsklassen gesprochen. Manche Spieler vermuteten dahinter besondere Berufe, die nur durch ungewöhnliche Questen oder Ähnlichem erspielt werden konnten. Alles Weitere war jedoch reine Spekulation.
Seinen Artikel schloss der Autor am Ende mit der Vermutung, dass einige Berufe wohl erst nach sehr viel längerer Spielzeit erlangt werden konnten. Er stützte seine Überlegungen darauf, dass verschiedene NPCs[iv] ihm in Gasthäusern von alten Legenden über unglaublich mächtige Krieger erzählt hatten, die eigentümlichen Berufungen nachgegangen waren.
Bahe kopierte sich einige Informationen in seine Sammlung für den Druck und stöberte noch einige Zeit weiter. Zwischendurch verlängerte er seine Zeit noch um eine Stunde und druckte am Ende seine gesammelten Informationen aus.
Nachdem er dann bezahlt hatte, wandte er sich zum Gehen und begegnete kurz vor der Tür noch dem jungen Angestellten von gestern. Mit einem knappen Nicken grüßte er ihn, lief an ihm vorbei und machte sich auf den Weg zu seiner Wohnung.
Ying traute seinen Augen nicht, als der junge Ausländer vom Vortag an ihm vorbei ging und ihn sogar noch kurz grüßte. Völlig verblüfft drehte er sich zu ihm um und lief ein paar Schritte rückwärts.
„Was ist denn mit dir los?“, hörte Ying seinen Boss.
Ying kam wieder zu sich und versuchte sich stotternd zu erklären: „Das… das… ist der Junge von gestern…“
„Äh… was?!“, rief sein Boss aufgebracht und Ying wäre am liebsten im Boden versunken. Wie konnte er bloß so dämlich sein und seinen Boss aufklären?
„Du meinst der junge Ausländer, dem du das defekte System vermietet hast?!“
„Ähm… ja?“, meinte Ying kleinlaut.
„Was stehst du denn noch hier du Vollidiot! Renn ihm gefälligst hinterher und entschuldige dich! Und gib ihm diesen Gutschein, für eine freie Benutzung der Dimensional Leap-Systeme“, scheuchte sein Boss ihn hinaus.
„Fuck!“, fluchte Ying leise als er den Laden verließ und nach dem Ausländer Ausschau hielt.
„Das habe ich gehört!“
Ying verdrehte die Augen.
„Das habe ich gesehen!“
„…“
Ying war sprachlos vor Frustration und bemühte sich von seinem Boss weg zu kommen. Was hatte er sich alles anhören dürfen, nachdem er den jungen Ausländer gestern nicht mehr gefunden hatte…
Nachdem er den Jungen nirgendwo in der unmittelbaren Umgebung entdeckte, rannte er die nahegelegene U-Bahnstation hinab und suchte die verschiedenen Bahnsteige ab. Er wollte schon aufgeben, als er den Ausländer auf dem gegenüber liegenden Bahnsteig ausmachte. Ying sprintete los. Er war fast an Ende seines Bahnsteigs angekommen, als er einen Zug vor dem jungen Ausländer einfahren sah.
„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, fluchte er vor sich hin, während er die Rolltreppen hinauf sprintete.
Es kam wie es kommen musste. Auf der anderen Seite unten angekommen, fuhr der Zug bereits ab. Vom Jungen keine Spur.
Wie sollte er das seinem Chef diesmal erklären?
„Fuck!“
Etwa vierzig Minuten später kam Bahe an seiner Wohnung an und machte sich an sein alltägliches Ritual den Balken über die Mauern zu legen, um so in den Hinterhof zu gelangen. Drüben angekommen, inspizierte er den Hinterhof und atmete erst dann erleichtert auf, als er niemanden finden konnte.
Nachdem er den Balken verstaut hatte, ließ er sich hinab und ging zu seinem Badezimmerfenster. Der Keil saß immer noch genauso, wie er ihn am Morgen zurückgelassen hatte.
Behutsam löste er den Holzkeil, kletterte hinein und schloss das Fenster hinter ihm. Anschließend ging er durch den Flur zur Küche, um seine wenigen Habseligkeiten einzupacken und legte den kleinen Blumenstrauß, den er für seine nette, alte Vermieterin gekauft hatte, auf die Arbeitsplatte.
Bahe wollte gerade anfangen die Schränke zu durchwühlen, als ihm etwas Hartes in den Rücken gedrückt wurde und eine Stimme raunte: „Keine Bewegung!“
Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)
RiBBoN
[i] Guide = (hier: Englisch für Leitfaden) Wird im Zusammenhang mit Computerspielen oft an Stelle des deutschen Begriffs verwendet.
auf, wo er hauptsächlich das dauerhafte Töten von sich vermehrenden Monstern bezeichnete.Rogue-likes zu NewsgroupsDer Begriff rührt aus dem landwirtschaftlichen Bereich, in dem der Farmer „sammelt und sucht“ (seinen Anbau oder sein Vieh). Der Begriff tauchte in seiner jetzigen Bedeutung als erstes in
Farmen wird, vorzugsweise in Onlinerollenspielen, die andauernde, routinierte und monotone Tätigkeit des Sammeln und Suchen bestimmter Gegenstände, Geld oder Punkten genannt.
[ii] Leveln wird hier im gleichen Zusammenhang, wie der oftmals üblichere Begriff: Farmen verwendet.
[iii] VRMMORPG à Virtual Reality Massively Multiplayer Online Role-Playing Game
[iv] NPC = non-player charakter à Der Begriff fasst prinzipiell alle in einer Geschichte vorkommenden Figuren zusammen, die nicht direkt von einem Spieler, sondern vom Computer, geführt werden. Im Bereich der Computerspiele werden vor allem diejenigen Figuren als NPCs bezeichnet, die sich dem Spieler gegenüber freundlich oder neutral verhalten, in Unterscheidung zu den vom Computer gesteuerten Gegnern oder Monstern.
Bahe verkrampfte sich und stand still. Die Worte hallten noch immer in seinen Ohren. Panik machte sich in ihm breit, als seine Gedanken zu rasen begannen.
Wie war jemand in seine Wohnung gekommen? Wie viele waren es? Welche Fluchtmöglichkeiten hatte er? Blitzschnell verwarf er unzählige Szenarien und entschied sich dann für ein waghalsiges aber überraschendes Manöver.
Ohne zu zögern, ließ er sich in etwas in die Knie fallen, vollführte eine Vierteldrehung und stieß mit seinem linken Ellbogen dabei die Waffe von seinem Rücken zur Seite. Noch in der Bewegung nahm er seine Schulter runter und rammte die Person hinter ihm, mit aller Wucht die er aufbringen konnte, gegen die Küchentür.
Mit einem Krachen schlug die Person hart gegen die Tür und sackte auf dem harten Küchenboden zusammen. Währenddessen hatte Bahe bereits mit der rechten Hand ausgeholt und setzte gerade zum letzten Schlag an, bevor er verschwinden wollte, als die Person wie wild zu schreien begann: „Stop! Stop! Ich will doch nur mit dir reden!“
Verblüfft hielt Bahe inne und bemerkte erst jetzt, dass es sich bei der Person am Boden, um eine Frau handelte. Dann erkannte er sie plötzlich! Es war die Frau von heute Morgen!
Kaiwen hatte sich einen Scherz erlauben wollen, um ihrer Wut darauf, dass der Junge heute Morgen vor ihr weggelaufen war, Luft zu verschaffen. Wie hätte sie ahnen können, dass er direkt so ausrasten würde?!
Vollkommen geschockt, kreischte sie laut los, als sie die erhobene Faust über ihr sah. Nicht genug damit, dass ihr ganzer Körper bereits schmerzte, der Kerl wollte sogar noch nachsetzen?!
Als Kaiwen bemerkte, dass er inne gehalten hatte, seufzte sie erleichtert und machte Anstalten aufzustehen. Die Reaktion des Jungen schockte sie jedoch erneut. Dieser griff blitzschnell zu einem Stuhl und hob ihn auf Schulterhöhe, in der offensichtlichen Drohung, ihn auf sie niederfahren zu lassen, wenn sie sich weiter bewegte.
„Warte! Warte!“, rief sie hektisch und hob beschwichtigend die Hand.
„Ich habe keine Waffe! Siehst du das?“, fragte sie und bildete aus ihren Fingern das typische Pistolensymbol. „Das war alles, was ich hatte! Ehrlich, ich hab dich nur ein Bisschen erschrecken wollen!“
„Du wurdest nicht von Ping Lun geschickt?“
„Von wem?“, fragte sie verwirrt.
Auf ihre sichtliche Irritation entspannte sich der Junge ein wenig, hielt den Stuhl aber immer noch in der Luft.
„Wenn dich Ping Lun nicht geschickt hat, wer bist du dann? Und wie kommst du in meine Wohnung?“
Kaiwen beeilte sich zu antworten: „Ich heiße Chao Kaiwen. Ich bin Journalistin und wollte dich für eine Geschichte interviewen. Als du heute Morgen vor mir abgehauen bist, habe ich noch bei deiner Vermieterin geklingelt und nachdem ich ihr erklärt hatte, was ich mit dir vorhabe, hat sie mich netter Weise in deine Wohnung gelassen.“
„Frau Ma, hat dich einfach in meine Wohnung gelassen?!“, bezweifelte der Junge ihre Aussage mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich war selbst überrascht, sie meinte irgendwas davon, dass du ein Bisschen Geld gut gebrauchen könntest…“, versuchte Kaiwen sich zu erklären. Das, die alte Dame ihr gegenüber noch erwähnt hatte, dass eine so hübsche, junge Frau wie sie, bei dem Wetter nicht draußen warten sollte, ließ sie lieber unerwähnt.
Der Junge zögerte noch immer, senkte dann jedoch den Stuhl ein wenig: „Was genau willst du von mir?“
„Du bist doch Bahe Dragon, oder?“
„Und wenn es so ist?“
Kaiwen verdrehte innerlich die Augen, ließ sich äußerlich jedoch nichts anmerken, als sie antwortete: „Wenn dem so ist, bist du doch auch der Dreamworld-Spieler, der seinen Account mit dem Avatar Anael verkauft hat, oder? Die Auktion hat in der Dreamworld-Community große Wellen geschlagen und viele Spieler wollen deine Motive hinter dem plötzlichen Verkauf erfahren. Deswegen bin ich hergekommen. In der Hoffnung, dass ich dich diesbezüglich interviewen kann.“
„Wieso hast du nicht einfach angerufen?“, fragte der Junge verwirrt, setzte aber den Stuhl ab.
„…“, Kaiwen war zunächst sprachlos. Meinte der Kerl das ernst? „Zufällig in letzter Zeit mal auf dein Handy geguckt?“
„Ah…“, sagte der Junge, als ob ihm plötzlich ein Licht aufgegangen wäre.
„Ich vermute mal, du wurdest seit gestern ununterbrochen von mehreren Nummern angerufen“, zuckte Kaiwen mit den Schultern und setzte fort: „So ziemlich jeder Journalist, der für die großen Gaming-TV-Sender arbeitet, wird wohl versucht haben dich zu erreichen. Ich bin ja sogar so weit gegangen, dich persönlich zu besuchen. Konnte ja nicht ahnen, dass das Ganze so nach hinten los geht.“
Der Junge schwieg noch eine Weile, erstaunte Kaiwen dann aber auf ein Neues: „Tut mir leid, ich habe jemand anderes erwartet. Bitte setzen Sie sich doch.“
Oh? Jetzt siezte er sie schon?
Dann trat er auf sie zu und bot ihr tatsächlich seine Hand zum Aufstehen an. Verblüfft nahm Kaiwen seine Hilfe an und richtete sich vorsichtig auf. Oh Götter, schmerzte ihr Rücken. Obendrein hatte sie auch noch leichte Kopfschmerzen, die von einer Beule an ihrem Kopf herrührten.
Nachdem sie sich gesetzt hatte, ging der Junge zur Spüle, befeuchtete ein Tuch mit Wasser und reichte es ihr: „Ich habe kein Eis, aber kaltes Wasser sollte besser sein als nichts.“
Kaiwen nickte dankbar und legte das Tuch behutsam an ihre schmerzende Beule. Der Junge setzte sich währenddessen gegenüber von ihr an den Tisch und sie kam nicht umhin, ihn erneut einschätzen zu wollen.
Wen hatte er erwartet? Wieso mied er so sehr die Menschen?
Seit er davon überzeugt war, dass sie nichts Böses im Schilde führte, hatte sich sein Verhalten grundsätzlich geändert. Er schien sogar zuvorkommend zu sein und zeigte Manieren, die einem Jungen seines Alters eher selten zu Eigen waren.
„Ich muss mich auch entschuldigen. In Anbetracht der Tatsache, dass ich ohne Ihr Wissen, in Ihre Wohnung eingedrungen bin und mir dann noch einen schlechten Scherz erlaubt habe, ist Ihre Reaktion mehr als verständlich“, versuchte sie ihm entgegenzukommen und entschloss sich ihn ebenfalls zu siezen.
Der Junge lächelte und sagte: „Bitte nennen Sie mich einfach nur Bahe.“
„Einverstanden“, meinte Kaiwen sofort und setzte nach kurzer Überlegung nach: „Dann musst du mich allerdings auch Kaiwen nennen.“
Es schien ihr sinnvoll, jetzt erst mal ein positives Bild von ihr zu vermitteln. Schließlich wollte sie ja etwas von ihm. Wenn er nicht mitspielte, konnte sie ihren Job höchstwahrscheinlich an den Nagel hängen.
Der Junge zog kurz die Augenbrauchen hoch, sagte jedoch nichts weiter.
„Also?“, fragte sie, als er keine Anstalten machte, etwas zu sagen.
„Was, also?“
„Dürfte ich dich interviewen? Natürlich gibt es eine kleine Aufwandsentschädigung von meinem Sender“, fügte sie noch mit einem Augenzwinkern hinzu.
Der Junge schwieg einen Moment, ehe er antwortete: „Ist es möglich, meinen Namen geheim zu halten? Und Fotos möchte ich auch keine machen.
„Natürlich, das ist kein Problem“, versicherte Kaiwen sofort.
Der Junge schwieg erneut, ehe er fragte: „Wie viel bezahlt ihr Sender?“
Ah, jetzt habe ich dich, jubelte Kaiwen in Gedanken, antwortete jedoch ohne sich etwas anmerken zu lassen: „Ich arbeite bei PG-TV, die üblichen Beträge der Aufwandsentschädigungen liegen bei 1 000 Yuan.“
„1 000 Yuan, hmmm…“, überlegte der Junge und fragte: „Wie viel verdienst du im Monat bei PG, Kaiwen?“
„Ähm…“, Kaiwen wollte ihm gerade abschlagen darauf zu antworten, als er fortfuhr.
„Verstehe mich nicht falsch, es geht mir nicht direkt darum, wie viel du verdienst. Aber soweit ich weiß, bezahlt PG-TV seine Mitarbeiter ziemlich gut, oder? In einer Dokumentation habe ich mal gesehen, dass selbst die neuen Mitarbeiter bereits mit ca. 25 000 Yuan einsteigen. Da erscheint mir eine Aufwandsentschädigung von 1 000 Yuan, dafür das ich dir meine kostbare Zeit opfere, ein Bisschen zu wenig.“
Fuck, wurde der Kerl jetzt etwa gierig? Kaiwen knirschte mit den Zähnen, rang sich aber trotzdem durch zu fragen: „Und was für ein Betrag schwebt dir vor?“
„Nun, ich bin kein Progamer, aber immerhin habe ich damals und anscheinend auch gestern, einiges an Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Ich denke, da wären 15 000 Yuan schon drin“, meinte der Junge ohne eine Miene zu verziehen.
„…“
Kaiwen war sprachlos. War der Junge übergeschnappt?
„Ich fürchte, soviel wird mein Sender niemals für eine einmalige Story hinblättern wollen, Bahe.“
„Mir soll‘s egal sein. Aber ich habe wirklich Besseres zu tun, als hier mit dir rum zu sitzen. Wenn 15 000 Yuan deinem Sender zu viel sind, können wir das hier genauso gut beenden. Meine Zeit ist zu kostbar, als dass ich mir erlauben kann, kein Geld zu verdienen.“
Wieso musste sie an so einen gierigen Drecksack geraten?! Fluchte Kaiwen innerlich, während sie panisch überlegte, wie sie den Jungen für sich gewinnen sollte.
„Beantworte mir bitte die eine Frage: Warum hast du deinen Account verkauft?“
Der Junge kniff die Augen leicht zusammen und antwortete nicht sofort.
„Keine Sorge, deine Antwort bleibt unter uns. Aber ich muss wissen, ob die Story es wert ist, dass ich dafür meinen Chef anrufe.“
Darauf zuckte er mit den Schultern und meinte schlicht: „Dreamworld war lange Zeit das erfolgreichste Spiel der Welt. Doch jeder, der auch nur einmal in Raoie eingetaucht ist, weiß dass derzeit kein anderes Spiel auch nur im Entferntesten mithalten kann. Ich habe meinen Account verkauft, um noch das Bestmögliche aus dem Verkauf heraus zu holen, bevor Dreamworld von den Spielern nach und nach vergessen wird.“
Kaiwen nickte. Es klang logisch. Allerdings lag den Worten auch eine brisante Wahrheit zu Grunde. Überall wurde hinter vor gehaltener Hand darüber diskutiert. Es hatte aber noch niemand laut ausgesprochen. In Kaiwens Kopf drehten sich bereits die Räder, wie sie die Geschichte am besten aufarbeiten konnte. Anael deklariert das Ende einer Era?!
Sie musste sich ein Grinsen verkneifen und sagte schnell: „Ich werde eben meinen Boss anrufen. Gib mir bitte einen Moment.“
„Natürlich, du kannst gerne im Wohnzimmer telefonieren.“
Kaiwen folgte seinem Angebot, wechselte den Raum und wählte die Nummer ihres Chefs.
„Leitender Reporter und Moderator, Chu Yazhen, was kann ich für Sie tun?“
„Hallo Boss, hier ist Chao Kaiwen.“
„Was willst du?“, blaffte ihr Boss sie an. Typisch, dieser blöde Drecksack. Seitdem sie keine gute Geschichte mehr gebracht hatte, war er ihr gegenüber immer übel gelaunter geworden.
„Hast du davon gehört, dass in Dreamworld der Anael-Account versteigert wurde?“
„Wenn du fragst, ob du die Story haben kannst, dann vergiss es. Ich habe schon drei Andere darauf angesetzt.“
„Haben sie dir schon ein Ergebnis geliefert?“
„…“, ihr Boss zögerte und Kaiwen grinste.
„Was willst du mir damit sagen?“, hörte sie ihn schließlich fragen.
„Ich kann die Story jetzt sofort festmachen. Der Spieler des Anael-Accounts hat mir ein Angebot gemacht.“
„Wie hast du das geschafft, Kleine?“
„Braucht nicht jeder seine Geheimnisse, Boss?“
„Was will er?“
„15 000 Yuan.“
„Bahahaha, niemals!“
„Das war mir auch klar. Was wäre denn die Höchstgrenze, die der Sender bieten würde?“
„Bist du dir sicher, dass die Geschichte gut ist?“
Kaiwen erzählte ihrem Boss, was Bahe auf ihre Frage geantwortet hatte und wie sie das Ganze aufbauen könnte.
„Oh… du böses Mädchen! Hahaha!“, hörte sie ihren Boss am Telefon lachen. „Ok, pass auf, sag dem Spieler, dass das absolute Limit bei 7 500 Yuan liegt. Wenn er dann immer noch nicht zusagt, kannst du bis maximal 10 000 Yuan hoch gehen.“
„Alles klar, danke Boss!“, rief Kaiwen begeistert.
„Aber Chao, wenn du mir diese Geschichte nicht an Land ziehst, kannst du dich schon mal nach einem neuen Job umschauen.“
„Verstanden, Boss“, grinste Kaiwen noch immer.
„Gut, ich erwarte später positive Nachrichten“, damit legte er auf.
Zurück in der Küche wandte sie sich an den Jungen: „Mein Boss kann deinem Angebot nicht zustimmen. 7 500 Yuan sind das Maximum, was mein Sender zu zahlen bereit ist.“
„Gut, ich nehme die 7 500 Yuan.“
„…“, Kaiwen war sprachlos, als der Junge mit einem Grinsen antwortete.
Scheinbar hatte er nie daran geglaubt mehr Geld zu bekommen. Die 7 500 Yuan waren für ihn wohl mehr als erhofft. Und hier hatte sie sich schon bereit gemacht, mit den 10 000 Yuan verhandeln zu müssen. Wenn der Junge nur wüsste…
„Sehr gut“, sagte sie schließlich mit einem Lächeln. „Führen wir das Interview hier? Oder sollen wir irgendwo einen Tee trinken gehen?“
„Wenn es für dich in Ordnung wäre, würde ich noch eben die Blumen bei meiner Vermieterin abgeben und ihr mitteilen, dass ich die Wohnung kündigen werde. Danach können wir gerne an einen Ort deiner Wahl gehen.“
„Natürlich, mach das ruhig, ich habe Zeit“, antwortete Kaiwen erleichtert, aus dem kleinen Drecksloch, dass dieser Junge Wohnung nannte raus zu kommen.
Zwanzig Minuten später saßen sie in einem kleinen, aber sauberen Imbiss und bestellten ihren Tee. Nachdem sie den Papierkram erledigt hatten, war Kaiwen aufgefallen, wie vorsichtig sich der Junge in der Öffentlichkeit bewegte. Er schien stets nach etwas oder jemanden Ausschau zu halten. Kein Wunder, dass er so reagiert hatte, als sie sich einen, zugegebener maßen schlechten, Witz erlaubt hatte und ihn in seiner Wohnung überraschte.
„Also, was willst du wissen?“, fragte er nachdem die Bedienung verschwunden war.
„Irgendjemand schein hinter dir her zu sein, kannst du mir sagen wer das ist?“
„Nein.“
„Wieso nicht?“
„Erzählst du einer Fremden einfach deine Lebensgeschichte?“
Touché!
„Aber immerhin bezahle ich dafür, dass du meine Fragen beantwortest…“, versuchte sie es noch einmal.
„Soweit ich weiß, wolltest du mich zu meinem Account und der Entscheidung ihn zu verkaufen interviewen. Dem habe ich zugestimmt. Das du eine Biographie über mich schreibst, war nicht Teil der Abmachung.“
Kaiwen musste unwillkürlich grinsen. Dieser junge Ausländer gefiel ihr. Auf den Kopf gefallen war er auf jeden Fall nicht.
„Dann beantworte mir wenigstens, wie du nach China gekommen bist. Was macht jemand aus der westlichen Welt hier in so einer herunter gekommenen Wohnung in China?“
„Mein Vater zog mit mir für seine Arbeit nach China. Damals lief seine Firma sehr erfolgreich und nach dem Tod meiner Mutter hielt uns nichts mehr in Deutschland.“
„Dein Verlust tut mir leid. Ich wollte kein sensibles Thema ansprechen.“
„Kein Problem“, zuckte der Junge mit den Schultern. „Es ist schon lange her.“
„Entscheide selbst, ob du die Frage beantworten willst: Liege ich richtig mit der Annahme, dass du deinen Account verkauft hast, weil du unbedingt Geld brauchst? War das dein Beweggrund?“
„Ja.“
„Geht das auch ausführlicher?“
„Wenn du versprichst, die Details aus den Nachrichten zu halten?“
„Hmmm…“, überlegte Kaiwen kurz. „Wäre eine Umschreibung für dich in Ordnung? Ich meine, ich werde nichts explizit nennen. Es wird lediglich erwähnt werden, dass du durch deine private Situation dazu veranlasst wurdest, möglichst viel Geld aufzutreiben oder so ähnlich…“
Der junge Ausländer überlegte kurz und nickte schließlich: „Ok.“
„Also…?“
„Mein Vater starb vor einiger Zeit ebenfalls. Er ließ mich, meine neue Mutter und meine kleinen Geschwister zurück. Meine Mutter musste sich Geld leihen und liegt im Moment im Krankenhaus. Die Schulden, das Krankenhaus, alles kostet Geld und dann muss man auch noch von irgendetwas leben können. Ich habe die Schule abgebrochen, um zu arbeiten und meiner Familie zu helfen, doch irgendwann reichte auch das nicht mehr. Den Account zu verkaufen, war mehr eine Verzweiflungstat. Auch, da ich wusste, dass er sonst bald nichts mehr wert sein würde. Damals hätte ich nie damit gerechnet solch ein Vermögen damit zu machen.“
Kaiwen jubelte innerlich, als sie der rührenden Geschichte unter den oberflächlichen Ausführungen des Jungen gewahr wurde.
„Darf ich fragen, wie alt du bist?“
„Achtzehn.“
Kaiwen wollte fast entgegnen, dass sie schon die Wahrheit für die Story bräuchte, als sie an seine Wohnung dachte und bemerkte wie ausgemergelt der Junge wirkte. Konnte es etwa sein, dass er gehungert hatte, um möglichst viel Geld anzusparen? Könnte er seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben, um seiner Familie zu helfen?
Kaiwen bekam allein beim Gedanken daran schon eine Gänsehaut. Sie hatte mit der Geschichte den Jackpot geknackt!
„Ist deine Stiefmutter eine Chinesin?“
„Ja…“, antwortete der Junge verwirrt über ihre plötzliche gute Laune.
„Und deine Geschwister? Sind sie deine Halbgeschwister?“
Als der Junge sie mit grimmiger Miene anstarrte, erklärte sie schnell: „Keine Sorge, dass ist das Letzte, was ich über deine Familie wissen muss.“
Der junge Deutsche schwieg noch einen Moment, ehe er antwortete: „Ja, sie sind die Kinder von meinem Vater und meiner Stiefmutter.“
Kaiwen nickte begeistert und machte sich ein paar Notizen. Ein junger Deutscher, der für seine chinesische Familie alles tat! Es wurde immer besser!
„Vor langer Zeit, warst du in Dreamworld sehr erfolgreich. Dein Avatar Anael war weit und breit bekannt, weil er zwischendurch in unglaublicher Weise seinen Kampfstil ändern konnte. Die Frage, die wahrscheinlich allen Gamerherzen am meisten auf der Seele liegt, ist: Wie hast du das gemacht?“
Der Junge musste lachen und sagte: „Ich habe nichts besonderes getan. Ich habe einfach nur so gut ich konnte gespielt. Allerdings spielte ich auch nicht alleine. Mein Vater und ich spielten den Avatar Anael abwechselnd. Je nachdem wer gerade besser mit den Gegnern klar kam.“
Kaiwen machte sich hastig Notizen. Wer hätte je gedacht, dass Anael nicht von einer, sondern von zwei Personen abwechselnd gespielt wurde?!
Sie wurde gerade fertig, als ihr ein neuer Gedanke in den Kopf schoss: „Verzeih mir bitte die Frage, aber kann es sein, dass du nach dem Tod deines Vaters kein Dreamworld mehr gespielt hast?“
„Du liegst richtig… Der Tod meines Vaters… das Unglück... Damals dachte ich natürlich nicht im Entferntesten daran, irgendein Computerspiel zu spielen. Aber auch später konnte ich mich einfach nicht mehr dazu durchringen, Dreamworld noch einmal anzufassen. Anael war ein Avatar, den wir immer zusammen gespielt hatten… Die Erinnerung an meinen Vater hielt mich davon ab.“
„Deswegen also das plötzliche Verschwinden des Avatars?“
Der Junge nickte nur.
„Was sind denn deine Pläne für die Zukunft? Du hast Dreamworld aufgegeben und sogar die Schule abgebrochen, was gedenkst du zu tun?“
„Meine Familie besitzt noch ein großes Anwesen, das demnächst verkauft wird. Der Erlös sollte mir ermöglichen, die Schule abzuschließen. Danach schau ich weiter. Ach ja, und ich habe mir vorhin mein eigenes Dimensional Leap-System bestellt.“
Kaiwen machte große Augen, ihr Job war definitiv gerettet!
„Du willst Raoie spielen?! Deine Familie muss an allen Ecken und Kanten sparen, aber du kaufst dir einfach so ein Dimensional Leap-System?“
„Es mag vielleicht verrückt klingen, aber der Verkauf des Avatars Anael hat mir und meiner Familie sehr geholfen. Da dachte ich, wieso sollte ich nicht auch mit Raoie Geld verdienen können?“
„Du weißt aber schon, dass du deinen Account von Raoie nicht verkaufen kannst?“
„Natürlich, aber es gibt viele andere Wege durch Raoie an Geld zu kommen. Es gibt Leute, die für den ein oder anderen Ausrüstungsgegenstand ein Vermögen ausgeben.“
„Das heißt, du wirst diesmal versuchen den Weg eines richtigen Progamers einzuschlagen?“, fragte Kaiwen aufgeregt.
„Hmm... ich weiß nicht so recht, ab wann man eigentlich ein Progamer ist. Damals habe ich zusammen mit meinem Vater nur zum Spaß gespielt und wir waren trotzdem recht erfolgreich. Diesmal möchte ich in Raoie schon wirklich alles geben. Wir werden sehen wie weit ich komme.“
Der Junge und sein Vater hatten einen Boss in Dreamworld bezwungen, der lange Zeit als unbesiegbar galt! Und da hatten sie nur zum Spaß gespielt?!
Diesmal wollte er alles geben?!
Kaiwens Finger flogen förmlich über ihr Tablet, als sie sich eifrig Notizen machte.
Zwanzig Minuten später verließ Bahe, um 7 500 Yuan reicher, den Imbiss und machte sich auf den Rückweg zu seiner Wohnung. Er war immer noch nicht dazu gekommen, seine wenigen Habseligkeiten zusammen zu packen. Bahe konnte nicht fassen, dass sich tatsächlich der Sender PG für ihn und seinen Avatar interessiert hatte. War PG nicht einer der fünf beliebtesten Sender ganz Chinas, die sich mit Computerspielen auseinander setzten? 7 500 Yuan… nur für eine knappe Stunde seiner Zeit? Scheinbar war sein Gedanke mit Raoie Geld zu verdienen, gar nicht so abwegig, dachte er und grinste vor sich hin.
In seiner Wohnung angekommen dauerte es nicht lange und so saß er bereits nach einer Stunde in der nächsten U-Bahn zu seinen Großeltern.
Auch wenn das Dimensional Leap-System erst in drei Tagen geliefert werden würde, hatte er noch viel zu tun. Er musste sich zusammen mit seinem Großvater an seiner neuen Schule anmelden und dann waren da noch die Pläne, die er für Raoie umsetzen musste. Raoie spielte man schließlich nicht nur, es war eine Lebenseinstellung!
Noch drei Tage…
Bahe saß noch in der U-Bahn als sein Smartphone plötzlich klingelte. Er wühlte schnell in seiner Tasche und brachte sein altes und abgenutztes Telefon zum Vorschein.
Prompt spürte er einige abschätzige Blicke auf sich. Nicht das er als Deutscher, in einem Abteil voll mit lauter Chinesen eh schon auffiel, jetzt brachte ihm auch noch sein altes Telefon zusätzliche Aufmerksamkeit ein.
Bis 2040 waren Smartphones der letzte Schrei und wurden in unfassbar vielen Variationen hergestellt. Doch auch hier wandten sich die Herstellerfirmen und später auch die Bevölkerung zunehmend von Bildschirmen ab und ersetzten diese durch dreidimensional projizierende Sprach- und Darstellungsinterface. Die Technik wurde stets kleiner verpackt und reduzierte sich mittlerweile auf Armbänder oder Schlüsselanhänger die stylisch in Szene gesetzt wurden. Als besonders teure Varianten gab es sogar schon Ringprojektoren, die mit Gold und Diamanten verziert wurden.
Der Name der neuen Gerätschaften wurde von der ersten Herstellerfirma schlicht als Prophone geprägt. Pro von Projektor… Prophones, die nächste Generation der Telefone… Die Werbeslogans waren selbst heute noch ab und an zu hören. Schließlich gab es noch ein paar wenige Firmen, die Smartphones produzierten und als Billig- und Einwegtelefone verscherbelten.
Bahe schaute auf den Display und lächelte plötzlich überrascht. Sein bester Freund, Feiying Ting, rief ihn an. Er war der Einzige seiner früheren Freunde, der den Kontakt mit ihm aufrecht gehalten hatte.
Nachdem er die Schule abbrach, hatten sich nur Wenige noch ein, zweimal gemeldet und danach nie wieder etwas von sich hören lassen. Einzig mit Feiying telefonierte er noch regelmäßig.
„Hey Feiying, wie geht’s?“, nahm er den Anruf freudig entgegen.
„Oh, habe ich irgendwas nicht mitbekommen? So gute Laune hattest du ja schon ewig nicht mehr.“
„Bei mir geht es endlich wieder aufwärts. Meine Mutter und meine Großeltern verkaufen gerade unser großes Anwesen. Mit dem Geld, das ich vor kurzem gemacht habe, sollte dann genug für die Operation und Reha drin sein.“
„Wie kommt es, dass sie es plötzlich doch verkaufen?“
„Lange Geschichte… erzähl ich, wenn wir uns das nächste Mal sehen… Und dabei hatte ich gerade meinen Dreamworld-Account verkauft…“, seufzte Bahe.
„Moment mal… du hast deinen Anael-Account verkauft?!“
„Mir blieb nichts anderes übrig, Feiying.“
„Lief es so schlecht mit den Jobs?“
„Nicht gerade gut…“
„Was heißt, dass du wahrscheinlich fast verhungert bist…“, stellte Feiying fest. „Man Bahe, ich habe dir tausendmal gesagt, dass du bei mir wohnen kannst! Essen ist auch kein Problem!“
„Und was sagt dein Großvater dazu?“
„Hör schon auf, irgendwie hätte ich dich jederzeit ins Anwesen schmuggeln können.“
Bahe schüttelte nur unbewusst den Kopf. Feiying war der hilfsbereiteste Mensch, den er je kennen gelernt hatte. Zudem teilte Feiying ein ähnliches Schicksal mit ihm. Auch seine Eltern waren gestorben, wenn vielleicht auf eine noch viel schlimmere Art. Feiying war gerade zwölf, als seine Eltern Opfer eines Anschlags wurden. Die Täter hatten den Konzern von Feiyings Familie erpressen wollen, doch Feiyings Großvater und seine restlichen Verwandten hatte die Erpresser schlicht weg ignoriert. Das Resultat war eine Tragödie, die hätte verhindert werden können…
Seitdem lebte Feiying bei seinem Großeltern und Bahe wusste, dass Feiying seinen gefühlskalten Großvater selbst heute noch aus tiefster Seele verabscheute. Ohne seine Großmutter wäre Feiying wahrscheinlich schon längst vor seiner Familie geflohen.
Als Bahes Mutter vor vielen Monaten zum ersten Mal die Diagnose bekam, hatte Feiying sofort seinen Großvater darum gebeten, Bahe und seiner Familie zu helfen. Ein paar hundert tausend Yuan waren nichts für den Ting-Konzern, doch Feiyings Großvater hatte sich quergestellt und gemeint, dass es an der Zeit wäre sich bessere Freunde zu suchen, als einen daher gelaufenen Ausländer, dessen Familie schon bald auf der Straße leben würde.
Bahe hatte erst Wochen später durch Feiyings Großmutter von dem Vorfall erfahren, der sich danach in dem Ting-Anwesen ereignete. Feiying war damals vollkommen ausgerastet, so dass sogar die Bodyguards von Feiyings Großvater einschreiten mussten.
Sein Großvater verdammte ihn daraufhin in einen Kellerraum, verschaffte ihm Privatunterricht und zwang ihn Ewigkeiten den Stoff des Abschlussjahrgangs zu pauken, ehe er die Kellergewölbe wieder verlassen durfte.
Mehrere Wochen hatte Feiying im Keller festgesessen, ohne die Möglichkeit mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Die einzige Gesellschaft waren die täglichen Besuche der Privatlehrer gewesen, selbst seine Großmutter hatte ihn anfangs nicht besuchen dürfen.
Bahe war sich im Klaren darüber, was Feiying alles für seine Freunde tat.
„Ich wollte dir keine Probleme bereiten und abgesehen davon, wäre der Account bald eh nichts mehr wert gewesen.“
„Was hast du denn eigentlich dafür bekommen?“
„400 000 Yuan.“
„Ja klar, komm schon Bahe…“
„Nein, echt. Ich habe wirklich 400 000 Yuan für den Anael Avatar bekommen.“
„WTF! Du verarschst mich doch! 400 000 Yuan?! Warte kurz!“, hörte Bahe Feiying seltsam gedämpft.
Zwanzig Sekunden später hallte Feiyings Stimme durch den Hörer: „Verdammt noch mal! Du hast mich nicht verarscht! Überall in den Dreamworld-Foren reden die User über dich. 400 000 Yuan für einen Avatar, der vom Level her nur noch im Mittelfeld der Spieler liegt… Man, dir ist schon klar, dass selbst ich noch nie über so viel Geld verfügt habe?“
Bahe musste lachen.
„Heißt das, dass du nicht mehr arbeiten musst?“
„Ich hoffe es.“
„Und was machst du jetzt?“
„Meine Mutter will, dass ich wieder zur Schule gehe. Ich bin gerade auf dem Weg zu meinen Großeltern und werde dann wohl verschiedene Schulen mit meinem Großvater aufsuchen. Mal schauen, wo sie mich nehmen.“
„Tut mir Leid Bahe, ich fürchte, mein Großvater wird mich niemals die Schule wechseln lassen…“
„Kein Problem, hast du wenigstens schon die Mädels auf deiner Eliteschule abgecheckt?“, grinste Bahe.
„Hah! Was glaubst du denn?“, antwortete Feiying dankbar über den Themenwechsel. „Du solltest diese Binwei mal sehen… Ich schwör’s dir, die hat Brüste so groß wie kleine Melonen. Da kann mir keiner erzählen, dass die natürlich sind… Sehen aber trotzdem geil aus.“
Bahe grinste, als Feiying so drauf los plapperte.
„Weißt du eigentlich schon, wo du studieren willst?“, fragte Feiying anschließend.
„Puh… Da habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir uns das später leisten können.“
„Oh man… Sorry Bahe…“
„Ist schon ok. Ich habe mir vorerst ein Dimensional Leap-System gekauft und werde-“
„Du hast WAS?!“
„Hä?“
„Jetzt tu doch nicht so blöd! Du willst Raoie spielen?!“, rief Feiying aufgeregt.
„Ähm… ja?“
„Krass! Welchen Ort hast du als deinen Startpunkt ausgewählt?“
„Waldenstadt.“
„Ah… verdammt, ich bin vor zwei Wochen in Trachtenburg gestartet.“
„Wo ist das Problem?“
„Es wird ewig dauern, bis wir uns irgendwann im Spiel mal treffen können.“
„Wieso?“
Feiying lachte: „Man merkt sofort, dass du das Spiel noch nicht gespielt hast!“
„…“
„Schon gut, schon gut“, sagte Feiying amüsiert, brachte jedoch seinen Lachanfall unter Kontrolle. „Trachtenburg und Waldenstadt liegen nicht nur einfach weit auseinander. Zwischen den Städten befinden sich Gebiete mit bis zu Level 30 Monstern. Ohne einen Teleportationszauber oder eine Händlerkaravane wirst du niemals lebend von der einen Stadt zur anderen kommen. Zumindest nicht in näherer Zeit. Aber davon abgesehen, können wir uns beide Möglichkeiten eh nicht leisten. Der Zauber kostet eine Goldmünze! Die Händlermitfahrt sogar noch mehr! Ich bin froh, wenn ich in den nächsten Monaten im Spiel mal eine Silbermünze in den Händen halte.“
„Ich habe schon davon gehört, dass es nicht so leicht sei Geld in Raoie zu verdienen…“
„Du machst dir gar keine Vorstellungen! Du musst dir ja so ziemlich alles selbst aneignen. Es ist schon schwierig genug, den eigenen Avatar täglich mit Nahrung und Wasser versorgen zu müssen. Darüber hinaus noch an besondere Ausrüstung zu gelangen, um erfolgreich leveln zu können, ist wiederum etwas ganz anderes! Jede Waffe des Bronze-Ranges kostet zur Zeit mindestens eine Silbermünze…“
„Dann kann man da wohl nichts machen.“
„Aber hey, sobald du über Mana verfügst, können wir uns durch einen Zauber unterhalten. Zumindest solange unser Mana reicht. Soweit ich weiß, verbraucht der Zauber ein Mana pro Sekunde. Für den Anfang werden wir dann nie im Leben lange Gespräche führen können.“
„Nicht so schlimm. Aber wie funktioniert der Zauber?“
„Du musst dir diesen Zauber einmalig für ein paar Bronzemünzen kaufen. Er wird meistens in Form einer Schriftrolle verkauft. Zur ersten Aktivierung musst du den Text vorlesen, danach wird deinem Menüfenster wohl eine Chatfunktion hinzu gefügt. Also im Endeffekt keine große Magie.“
„Ich schaue mich dann demnächst mal um, wo ich einen solchen Zauber auftreiben kann.“
„Das wäre super, Bahe. Weißt du eigentlich schon welche Klasse du spielen willst?“
„Ähm… da bin ich mir noch nicht sicher“, meinte Bahe grinsend. Wie Feiying wohl reagieren würde, wenn er ihm offenbarte, dass eine versteckte Klasse erspielt hatte?
„Ja, vielleicht solltest du zuerst ein Gefühl für das Spiel bekommen, bevor du dich entscheidest. Mein Rat wäre, dich bloß nicht zu früh festzulegen. Ich bin durch einen Schmied auf eine versteckte Quest gestoßen und habe die Berufsklasse eines Schatzsuchers angenommen. Erst war ich total begeistert, eine versteckte Klasse gefunden zu haben. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es die richtige Entscheidung war, die Berufsklasse anzunehmen.“
„Wieso?“
„Na ja, für meine erste Berufsquest soll ich die Belungaminen vierzig Kilometer südlich von Trachtenburg erkunden…“
„Und ich nehme mal an, auf dem Weg dahin wimmelt es nur so von Monstern?“
„Ganz recht… Das ist zur Zeit das reinste Selbstmordkommando und die Fähigkeiten, die ich bei Klassenerhalt bekommen habe, sind nicht gerade für den Kampf ausgelegt…“
„Aber immerhin hast du eine versteckte Klasse gefunden! Vielleicht braucht es einfach ein Bisschen bis du dich damit zu Recht findest.“
„Ja, vielleicht. Dabei wollte ich ursprünglich Magier oder Berserker werden. Na ja, was soll’s.“
„Ich bin mal gespannt, wie die ersten Tage bei mir so laufen. In drei Tagen sollte das Dimensional Leap-System bei mir ankommen.“
„Bist du dir sicher, dass du dir den Zugang zu Raoie auf Dauer leisten kannst? Klar, die ersten drei Monate nach dem Kauf ist Raoie umsonst. Danach kostet es aber 2000 Yuan pro Monat…“
„Ich habe mir das Dimensional Leap-System ja nicht ohne Grund gekauft, Feiying. Es mag ja blöd klingen, aber als ich durch den Verkauf meines Accounts so viel Geld gemacht habe, dachte ich mir, wieso nicht auch mit Raoie Geld verdienen?“
„Hoffentlich klappt es… Und klingt ja so, als ob du einen Schatzsucher gut gebrauchen könntest. Haha!“
Bahe musste grinsen.
„Ich muss jetzt auflegen, Bahe, mein Großvater könnte bald antanzen.“
„Kein Problem Feiying, schön das du dich gemeldet hast.“
„Bis demnächst!“
„Mach’s gut!“
Mit einem dunklem Piep-Ton wurde der Anruf beendet.
Bahe steckte gerade sein Telefon weg, als er merkte, dass sich die Türen zu seiner Station bereits öffneten. Hastig verließ er die U-Bahn und machte sich auf den Weg zu seinen Großeltern.
Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)
RiBBoN
Fünfzehn Minuten später stand er vor der Wohnungstür seiner letzten Verwandten und zögerte anzuklopfen. Er wusste nicht, wie er ihnen begegnen sollte.
Doch plötzlich wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf seine Großmutter frei.
„Bahe!“
Ehe er sich regen konnte, fand er sich bereits in einer Umarmung wieder.
„Wie schön, dass du endlich wieder da bist, Bahe“, rief seine Großmutter Lin aufgewühlt und drückte ihn in ihrer Umarmung an sich.
Bahe schwieg zunächst, erwiderte die Umarmung jedoch.
Trotz seiner geringen Größe von gerade mal 1,66 m überragte er sie immer noch um einen Kopf. Ihr Haar war jedoch bis ins hohe Alter dunkel geblieben und wies nur ein, zwei graue Strähnen auf. Das Gesicht seiner Großmutter war von vielen kleinen Fältchen durchzogen, trug aber noch immer den warmen Ausdruck zur Schau, den Bahe bei ihrem ersten Kennenlernen wahrgenommen hatte. Zumindest bis das Gesicht in seiner Jacke verschwunden war.
Nach einiger Zeit löste sich seine Großmutter von ihm und sagte: „Komm erst mal mit rein. Dein Großvater und deine Geschwister freuen sich schon dich heute endlich wieder zu sehen.“
Sie drehte sich um und stellte ihren Einkaufskorb neben der Wand auf dem Boden ab.
„Einkaufen kann ich gleich immer noch“, meinte sie mit einem Lächeln.
Anschließend nahm sie Bahe an die Hand und zog ihn hinter sich her in Richtung des Wohnzimmers. Es schien fast so, als ob sie Angst hätte, dass er im nächsten Augenblick wieder verschwinden könnte.
Im Wohnzimmer angekommen, wurde Bahe sofort von seinen beiden kleinen Geschwistern entdeckt, die freudestrahlend auf ihn zu gerannt kamen.
„Bahe! Bahe!“, riefen Liana Xue und Leo Xiao wie aus einem Hals und stürzten sich auf ihren in die Hocke gegangenen Bruder.
„Wo warst du?“
„Bleibst du?“
„Musst du wieder gehen?“
„Bitte bleib diesmal hier!“
Bevor er überhaupt dazu kam seine Geschwister zu begrüßen, wurde er von Fragen gerade zu überhäuft.
„Keine Sorge, ich werde ab jetzt wieder bei euch wohnen.“
„Ist besser so, Bahe. Liana war immer traurig, wo du weg warst.“
„Stimmt gar nix! Leo war immer traurig!“, behauptete Liana Xue schmollend.
Bahe verkniff sich ein Grinsen und sagte: „Das heißt stimmt gar nicht. Und ich habe euch beide auch vermisst.“
„Spielst du mit uns?“
„Ja, du musst Leo helfen mix zu retten! Opa ist der Böse und Leo ist der Ritter der mix befreien muss“, sagte Liana Xue begeistert.
„Und wer bist du?“, fragte Bahe seine Schwester.
„Ix bin Prinzessin Jin Xue Ling, zweite Tochter von Jin Sima Yan.“
„Es heißt Ich und mich, Liana und nicht Ix oder mix.“
„Ja… Spielst du jetzt mit uns?“, verdrehte Liana Xue genervt die Augen.
„Wenn du es noch einmal richtig aussprichst, verspreche ich dir auch mitzuspielen.“
„…“
„Ich warte, Liana.“
„Ix… Ich bin Prinzessin Jin Xue Ling…“, sagte Liana kleinlaut.
„Und wer muss dich retten?“
„Aber das weißt du doch schon!“
„Wer, Liana?“
„Leo.“
„Geht das auch als ganzer Satz?“
Liana Xue wollte sich aufregen, gab dann aber doch auf und sprach mit aller Deutlichkeit: „Leo soll… mich… retten.“
„Einer Prinzessin, die so gut spricht, kann niemand wiederstehen. Ich werde dem Ritter Leo Xiao Ma gleich im Kampf gegen den bösen Fürsten beistehen.“
„Ja! Ja!“, riefen seine Geschwister wie verrückt und liefen zum Lego-Schlachtfeld in der Mitte des Raumes zurück.
„Komm schon, Bahe. Sonst gewinnt Opa noch!“, rief Leo Xiao und Bahe beeilte sich der Forderung seines Bruders nachzukommen.
Sein Großvater nickte Bahe mit einem Grinsen zu und fiel dann sofort in seine Rolle zurück, indem er verkündete, dass der Ritter Leo auch mit Verstärkung niemals seine Festung erstürmen werde.
Dreißig Minuten später, tischte Bahes Großmutter mit Hilfe seiner kleinen Geschwister gerade das Mittagessen auf. Bahe stand mit seinem Großvater draußen auf dem Balkon und blickte gelegentlich über die Stadt hinweg, während sein Großvater mit ihm redete.
Nach dem Spielen mit seinen Geschwistern, hatte sein Großvater ihn mit auf den Balkon genommen und genauso fest in den Arm geschlossen, wie zu Beginn Bahes Großmutter. Danach hatte Bahe die üblichen Kommentare über seine Statur ertragen müssen. Er esse zu wenig… und sei viel zu dürr… Er wäre doch eigentlich ein Europäer… Bahe war dankbar, dass sein Großvater endlich bei den wichtigen Dingen angekommen war.
„…und sofern alles gut läuft, sollten wir das Haus in zwei Tagen endgültig verkauft haben. Danach können wir Sulins Operation und anschließende Reha-Behandlung endlich bezahlen“, schloss sein Großvater seine Erläuterungen ab.
„Den Himmeln sei Dank…“, sagte Bahe glücklich mit feuchten Augen.
„Bahe…“, sprach sein Großvater ruhig, als Bahe in die Straßen hinab spähte. „Bahe sieh mich an.“
Bahe wandte den Blick.
Sein Großvater legte ihm seine rechte Hand auf die Schulter und sagte ernst: „Ich weiß wirklich zu schätzen, welches Opfer du gebracht hast. Wie du für deine Familie gekämpft hast. Du hast offensichtlich selten genug gegessen und die härtesten Jobs über dich ergehen lassen, um deiner Mutter zu helfen und ich habe dich angelogen. Nicht, um dir weh zu tun. Ich hätte schlicht weg niemals gedacht, dass du so viel Verantwortung übernehmen und arbeiten würdest. Bevor ich eine Chance hatte, diese Sache gerade zu stellen, kamst du uns alle paar Wochen besuchen und brachtest jedes Mal Geld mit…“ Sein Großvater stockte kurz, ehe er weitersprach: „Ich sah die Freude in deinen Augen, deiner Familie etwas Gutes zu tun und so beschämend es auch für mich ist… Ohne dein Geld hätte deine Mutter längst das Krankenhaus verlassen müssen… Ich musste es annehmen… Und dafür… dafür bitte ich dich um Verzeihung. Bitte verzeih mir, mein Enkelsohn.“
Die letzten Worte hatte er fast schluchzend hinaus gestoßen und Bahe liefen die Tränen über die Wangen als er sah, wie sein Großvater die Lippen aufeinander presste und Tränen in seinen Augen glitzerten.
„Ich will, dass du weißt, dass ich verdammt stolz auf dich bin und ich… ich schwöre dir, deine verstorbenen Eltern sind es auch! Verstehst du?“
Bahe nickte mit verschwommenen Augen und fühlte wie er erneut in eine feste Umarmung seines Großvaters hinein gezogen wurde.
Eine Zeit lang standen sie einfach nur so da und schluchzten unterdrückt vor sich hin, bis sie sich schließlich wieder unter Kontrolle hatten.
Sie lösten sich verhalten von einander und schauten in die Stadt hinaus, bis Bahes Großvater ein weiteres Mal zu sprechen begann: „Deine Mutter hat mir von eurer Unterhaltung erzählt. Soviel ich weiß, bekommen wir bald eine Lieferung mir irgendeinem Computersystem oder so. Du willst damit also wieder Geld machen?“
Bahe lächelte: „Ich wollte es zumindest versuchen. Ich meine, ich kann sonst nicht wirklich was. Die Schulen, die wir zur Auswahl haben, sind alle nicht gerade eine Empfehlung für die Universitäten. Ganz zu schweigen davon, dass wir uns das eh nicht leisten könnten.“
„Du willst also studieren?“, fragte sein Großvater mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Haha… ich habe da bisher noch nicht mal drüber nachgedacht, Opa.“
„Solltest du aber.“
„Ich werde das sowieso nicht schaffen. Ich war zwar nie schlecht in der Schule, aber auch nicht gut genug, um mich in einer Millionenstadt von der Masse an einfach nur guten Schülern abzuheben.“
„Du hast schon Recht, dass es an den lokalen staatlichen Schulen wohl kaum machbar wäre, aber ich habe da noch einen alten Freund, der mir einen Gefallen schuldet. Was würdest du von der Sun Jingsen Schule im südlichen Stadtteil Chengzeng halten?“
„Muss man die Schule kennen?“, fragte Bahe leicht zögernd.
Bahes Großvater lachte schallend.
„Nun ja, die Schule ist eine renomierte staatliche Schule mit Anteilen von privater Förderung. Normalerweise würde die Schule einen jungen Schulabbrecher niemals aufnehmen… aber der alte Freund von dem ich gerade sprach, ist dort zufällig der stellvertretende Schulleiter. Ich denke, dass ich es hinbekommen werde dich dort anzumelden.“
„Dann fahren wir heute gar nicht die anderen Schulen ab?“
„Also ich könnte drauf verzichten, Bahe. Außer du willst lieber zu einer gewöhnlichen Schule?“
„Nein, wenn es mit der Schule in Chengzeng klappt, wäre das großartig.“
„So lobe ich mir das. Sollen wir mal reingehen und schauen, was es zu essen gibt?“, fragte Bahes Großvater und öffnete die Balkontür.
Bahe nickte ihm zu und machte sich auf zum Esstisch.
Ma Lin trocknete gerade das gespülte Geschirr ab, das ihr von ihrem Mann gereicht wurde, als sie lächelnd an die letzten Stunden zurückdachte. Es hatte ihr in der Seele weh getan, ihren Enkelsohn in einer solch abgemagerten Verfassung zu sehen. Aber den Himmeln sei Dank schien es ihm noch gut zu gehen. Und da er ab heute wieder bei ihnen leben würde, hatte sie sich bereits vorgenommen, ihm die nächsten Wochen ordentliche Mahlzeiten auf den Tisch zu stellen.
Ihr würde es bestimmt nicht passieren, dass der Junge weiter so vom Fleisch fiel!
Der Junge war schon etwas Besonderes, wie er sich für seine Familie aufgeopfert hatte. Aber leider auch verdammt stur… So stur, dass ihm sein ungesunder Lebensstil auf Dauer den Tod gebracht hätte, wenn sie nicht eingeschritten wäre und ihrem Mann und ihrer Tochter ins Gewissen geredet hätte, sich endlich mal Bahes Treiben entgegen zu stellen.
Heute war der Junge endlich wieder nach Hause gekommen und sie beabsichtigte nicht, ihn noch einmal ziehen zu lassen, ehe er seine Schulausbildung vernünftig abgeschlossen hatte.
Es war so unglaublich gewesen, wie er seine kleine Schwester mit ein paar einfachen Sätzen dazu brachte die Wörter richtig auszusprechen. Kopfschüttelnd konnte sie nur daran denken, wie lange Ihr Mann und sie selbst schon wochenlang daran gearbeitet hatten, dass sich Liana Xue ihrer Aussprache bewusst wurde. Doch die Kleine hatte bei ihnen schlicht weg auf stur geschaltet.
Doch nicht nur Liana hatte seine Rückkehr beeinflusst, auch ihr Mann lächelte fast in einem durch seitdem Bahe zurückgekehrt war. Beim Mittagessen hatten sich die Zwillinge sogar schon gefragt, was denn so lustig sei, dass er solch gute Laune hatte.
Lins Lächeln verstärkte sich bei dem Gedanken, ehe sie erneut zu den Zwillingen schaute. Die beiden spielten gerade im Wohnzimmer und schauten alle paar Minuten unsicher zur Tür. Es war so offensichtlich, dass sie sich Sorgen machten, ob ihr großer Bruder wirklich wiederkommen würde.
Beim Mittagessen hatte Bahe verkündet, dass er sich gerne nach einer Kampfkunstschule umsehen wolle und sich unmittelbar nach dem Essen auf den Weg gemacht. Sie hatte ein sehr ernstes Gespräch mit ihm geführt, dass er auch bloß rechtzeitig zum Abendessen wieder auftauchen würde.
„Na, du freust dich wohl, dass er endlich wieder nach Hause gekommen ist, was?“, fragte ihr Mann augenzwinkernd.
„Ja natürlich, du etwa nicht?“
„Ach, für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis er wieder zurück kehren würde. Wieso sich Sorgen machen?“, meinte er Schulter zuckend
„Ja, klar. Du bist viel zu nah am Wasser gebaut, um hier einen auf Draufgänger zu machen, Feitong!“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, schaute ihr Mann verwirrt drein.
„Ach, und was war das vorhin auf dem Balkon?“
„Balkon…?“ Lin konnte förmlich sehen, wie ihr Mann nach einer Ausrede suchte. Als er sich plötzlich mehr als offensichtlich aus der Affäre zog: „Ah… Tut mir Leid, Lin. Kannst du den Rest spülen? Ich habe den Zwillingen versprochen mit ihnen auf den Spielplatz zu gehen.“
„Danke dir!“, rief er noch kurz und war prompt verschwunden.
Also wirklich, zu stolz um Gefühle zuzugeben.
Lin verdrehte die Augen.
Männer…
Wenn euch das Kapitel gefallen hat, denkt drüber nach mir ein paar motivierende Worte da zu lassen. Darüber freut man sich als Autor immer.
RiBBoN
Bahe stand in einem kleinen Vorzimmer der letzten Kampfsportschule der näheren Umgebung. Sieben weitere Kampfsportschulen hatte er bereits hinter sich gelassen. Keine der Schulen hatte ihn aufnehmen wollen, teilweise hatte man ihn sogar unter wüsten Drohungen vom Trainingsgelände gejagt. Natürlich war Bahes Zuversicht inzwischen am absoluten Nullpunkt angekommen.
Er wartete mittlerweile seit fünfzehn Minuten und schaute sich zum x-ten Mal die Poster der Gewinner verschiedenster Wettkämpfe an, die sämtliche Wände des Vorzimmers schmückten.
Das Alter der Wettkämpfer erstreckte sich von Sechsjährigen bis hin zu Schülern Mitte zwanzig. Viele von den Teilnehmern reckten stolz ihre Platz 1-Auszeichnungen in die Luft und zusammen mit der Masse an Bildern, wirkte es auf den ersten Blick spektakulär. Beim zweiten Blick, konnte man jedoch feststellen, dass es sich bei den Wettbewerben oftmals nur um regionale Turniere handelte. Siege von wirklich anspruchsvollen Wettkämpfen auf Landesebene suchte man vergebens.
Zwei Minuten später öffnete sich endlich die Tür und ein Mann mittleren Alters, sowie ein etwas betagterer Mann mit grauen Haaren betraten den Raum.
Der Mann mittleren Alters war der Trainer, den Bahe draußen auf dem Trainingsgelände angesprochen hatte. Muskelbepackt und immer noch in traditioneller Trainingskleidung stellte sich der Trainer in die Mitte des Raumes und stellte Bahe dem älteren Mann vor: „Meister, dies ist Bahe Dragon, er würde gerne an unserer Schule die Kampfkünste unseres Landes erlernen.“
„So, so“, murmelte der ältere Herr vor sich hin, ehe der Trainer an Bahe gewandt fortfuhr: „Bahe Dragon, dies ist mein Meister und Schulleiter unserer Schule, Thilong Hu.“
„Guten Tag, Meister Hu“, sagte Bahe aufgeregt und verbeugte sich leicht. Zumindest mit den traditionellen Begrüßungen hatte er anfangs an den vorherigen Kampfsportschulen punkten können und auch hier schien die Begrüßung ihre Wirkung nicht zu verfehlen.
Meister Hu lächelte und sprach: „Es freut mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben, junger Herr Dragon. Wenn ich Trainer Hsü richtig verstanden habe, wollen Sie bei uns die Künste des Kung Fu erlernen?“
„Ganz genau, Meister Hu.“
„Nun, wir freuen uns über jedes Interesse von Ausländern an unserer althergebrachten Kampfkunst und können Ihnen selbstverständlich einen Trainingsplatz bei uns anbieten. Wie lange wollen Sie bei uns trainieren? Ein paar Wochen? Oder sogar mehrere Monate?“
„Ich hatte gehofft, ein langfristiges Mitglied ihrer Kampfsportschule zu werden, wenn ich ehrlich bin“, meinte Bahe zögerlich.
„Oh“, zog der Schulleiter die Augenbrauen hoch und lächelte gleich noch breiter als er antwortete: „Das ist selbstverständlich auch möglich. Üblicherweise nehmen wir von Ausländern, die unser Kung Fu erlernen wollen, etwa 15 000 Yuan pro Monat. Darin sind dann selbstverständlich neben dem täglichen Training auch eine Unterkunft, sowie drei tägliche Mahlzeiten enthalten. Wenn Sie möchten, können Sie gleich Morgen beginnen.“
Da kam es, dachte Bahe resigniert. Sämtliche Kampfsportschulen sahen in ihm nur einen Touristen, der für einen begrenzten Zeitraum eine Kung Fu-Erfahrung im Stile der alten Shaolin-Mönche machen wollte. Natürlich war das in den meisten Fällen reine Abzocke. Die Kampfsportschulen schröpften die Kampfsportfanatiker regelrecht, indem sie viel zu überhöhte Gebühren verlangten und meistens kaum etwas dafür boten.
Bahe fasste seinen letzten Mut und sagte ruhig: „So viel Geld habe ich nicht, fürchte ich.“
Augenblicklich verfinsterten sich die Minen der beiden Männer.
„Was hast du mir da angeschleppt, Guogang!“, fuhr der Meister den Trainer an und wandte sich nochmal an Bahe. „Ohne Geld hast du hier nichts zu suchen. Wenn du die 15 000 Yuan nicht bezahlen kannst, solltest du zusehen, dass du von hier verschwindest!“
Der Meister rümpfte anschließend die Nase und machte sich daran den Raum zu verlassen.
Bahe wollte noch nicht kampflos aufgeben und sprach den Meister ein letztes Mal verzweifelt an: „Meister Hu, bitte wartet! Ihr habt mich missverstanden! Ja, ich stamme ursprünglich aus Deutschland, aber inzwischen habe ich auch die chinesische Staatsbürgerschaft. Ich erwarte nicht, dass Sie mich bevorzugt behandeln. Ich hoffe lediglich, dass Sie mir die gleiche Chance einräumen, wie den vielen anderen jungen Chinesen, die Sie für einen kleineren Betrag unterrichten. Ich werde ihre Kampfsportschule mit Sicherheit nicht entehren! Bitte geben Sie mir die Chance es Ihnen zu beweisen!“
Bahe verbeugte sich dabei tief, um dem Schulleiter seinen Respekt zu erweisen. Hätte er es nicht getan, wäre ihm die kippende Stimmung im Raum aufgefallen.
Trainer Hsü konnte sich plötzlich nicht mehr klein genug machen. Innerlich kochte er vor Wut, ob seiner Idiotie, diesen ausländischen Bengel seinem Meister vorgeführt zu haben. Wie hätte er denn ahnen können, wie sich dieser Bastard aufführen würde?!
Ein Blick zur Seite genügte, um seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden zu lassen. Sein Meister zitterte regelrecht vor Wut!
Hastig wandte er den Blick ab und wich einen Schritt zurück. Angespannt knirschte er mit den Zähnen. Er würde noch einiges ausbaden müssen…
Dann explodierte sein Meister!
„Du dreister Sohn einer Hure, glaubst für dich gelten andere Regeln?! Du und ein Chinese?! Sie dich doch mal an! Du warst nie ein Chinese und wirst nie einer sein! Was hast du geschluckt, dass du glaubst, hier irgendetwas einfordern zu können? Die Kinder, die hier für wenig Geld trainieren, leben hier seit ihrem fünften Lebensalter und trainieren acht Stunden jeden Tag! Und du Bastard glaubst, mit deiner kümmerlichen Figur mithalten zu können? Pah! Du widerst mich an!“
Dann wandte sich sein Meister an ihn: „Guogang, schmeiß diesen Verrückten von unserem Gelände und wehe du schleppst mir noch einmal solch einen Dreck an! Anschließend wirst du dich zu den Schülern im Abschlussjahrgang begeben und für sechs Wochen ihr dreifaches Trainingsprogramm absolvieren, bevor du eine zweite Mahlzeit bekommst, hast du mich verstanden?!“
„Ja, Meister“, stimmte er seinem Meister schnell kleinlaut zu und beeilte sich den überraschten Ausländer aus dem Vorzimmer zu zerren.
Was hatte dieser Mistkerl denn gedacht, was passieren würde? Er und ein Chinese? Eine bescheuertere Lüge hätte dem Typen wohl wirklich nicht einfallen können.
Unter Tritten und Schlägen, beförderte er den Ausländer zur Straße und warf ihn dort auf den Bürgersteig. Er drohte ihm ein letztes Mal, ja nie wieder einen Fuß auf das Gelände seiner Kampfsportschule zu setzen und wandte sich dann griesgrämig dem Trainingsgelände des Abschlussjahrgangs zu.
Bahe stöhnte vor Schmerzen, als er ein paar Minuten später auf dem Bürgersteig vor der Kampfsportschule wieder zu sich kam. Dieser verfluchte Trainer Hsü hatte ihn auf dem ganzen Weg zur Straße regelrecht zusammen geschlagen. Ihm tat jeder Knochen weh und von dem Aufschlag auf den harten Asphalt, pochte ihm zudem noch der Schädel.
„Fuck!“
Fluchend stand er vorsichtig auf und blickte eine Weile stumpf vor sich her. Zweihundert Meter entfernt, führten mehrere hundert Schüler nahezu synchron verschiedene Kuenbewegungen[i] durch, ihre Stimmen hallten bis zur Straße, doch Bahe registrierte es kaum.
Er hatte keine Ahnung was er jetzt tun sollte. Sein ursprünglich so grandioser Plan, seinen Körper in Form zu bringen, war soeben den Bach runter gegangen.
Irgendwann setzte er sich in Bewegung und verschmolz an der nächsten größeren Straße mit dem Strom der Menschen, die durch die Stadt marschierten. Eine Zeit lang ließ er sich treiben, während er fieberhaft darüber nachdachte, wie er in Zukunft seinen Körper in Form bringen sollte und was wohl die besten Trainingsmethoden wären.
Als Bahe an einem Stadtpark vorbei kam, folgte er den abbiegenden Menschen und ließ sich schließlich in der Nähe mehrere Essensstände im Parkinneren auf einer Bank nieder.
Die Sonne schien ihm ins Gesicht, während er vor sich hin grübelte, bis ihn plötzlich eine Stimme aus seinen Gedanken holte: „Hey Kleiner, was sitzt du denn da so alleine?“
Bahe blickte verwirrt auf und entdeckte nicht unweit von ihm entfernt einen Mann mittleren Alters an einem Nudelstand sitzen.
„Meinen Sie mich?“
„Ja, wen denn sonst?!“, lachte der Mann schallend, als er Bahes verwunderten Blick wahrnahm. „Komm her, ich lade dich zu ein paar Nudeln ein. Du siehst aus, als könntest du es brauchen, bist ja nur noch Haut und Knochen.“
Viel Hunger hatte Bahe noch nicht, aber nach den letzten Monaten hatte er jede Gelegenheit etwas zu essen, mehr als nur zu schätzen gelernt.
„Dann vielen Dank“, grinste Bahe.
„So lobe ich mir das!“, grölte der Mann vergnügt und so langsam dämmerte es Bahe, dass er es mit einem Betrunkenen zu tun hatte.
Aber wieso auch nicht, zumindest bekam er umsonst etwas zu essen.
„Ich bin Baihu, schön deine Bekanntschaft zu machen“, sagte der Mann grinsend und hielt ihm eine Hand hin, nachdem Bahe sich neben ihn gesetzt hatte.
„Ich bin Bahe“, lächelte Bahe und wollte ihm die Hand schütteln, als Baihu schon nach seiner Hand griff, diese beim ersten Versuch verfehlte, schließlich aber doch noch fand und fest drückte.
„Na nu, magst mir nicht die Hand schütteln, Junge? Wo sind denn deine Manieren?“
„…“, Bahe zog es vor nicht darauf zu antworten.
„Hmmm…?“, Baihu lehnte sich zu ihm hinüber und schaute ihm stur ins Gesicht. Dann klopfte er ihm plötzlich auf die Schulter, als sei er zu einer wichtigen Erkenntnis gekommen und rief laut aus: „Ah, du scheinst ja nicht von hier zu sein, vielleicht macht ihr das ja anders, kein Wunder… kein Wunder…“
An den Standbesitzer gewandt sagte er anschließend: „Hey, Meister, noch mal das Gleiche für den jungen Burschen neben mir, nicht das er uns noch weiter vom Fleisch fällt und für mich noch was von deinem Alkohol. Der ist vielleicht guuuut…!“
Bahe nutzte den Moment, um sich Baihu ein Wenig genauer anzusehen.
Baihu schien von Körper und Statur ein Durchschnittschinese zu sein. Auch, wenn er insgesamt eher drahtig wirkte. Sein Gesicht wirkte kantig, was durch die Stoppeln, die sein Kinn säumten noch verstärkt wurde. Die Augenbrauen lagen leicht schräg und würden ihm im Normalfall wohl für den Eindruck eines stechenden Blickes sorgen. Im Moment wirkten seine dunklen Augen aber eher gläsern, während er lauthals seine Bewunderung für den Wein des Standbesitzers kundtat.
Seine dunkelbraunen Haare fielen Baihu ungepflegt ins Gesicht und waren bereits von den ersten grauen Strähnen durchzogen.
Wenigstens roch er nicht unangenehm, dachte Bahe und widmete sich dann seiner Portion Nudeln, die ihm der Standbesitzer reichte.
Die nächsten Minuten vergingen wie im Flug, während Baihu mit zu nehmenden Glucksen versuchte eine Konversation aufrecht zu erhalten. Wenig später, stellte Bahe seine leere Schale zurück und tätschelte zufrieden seinen Bauch.
„Gut, was?“, fragte Baihu lachend, als er Bahes Aktion bemerkte.
Bahe nickte grinsend.
„Ich fü… fürchte, dass es… dasss… für mich gewesen ist“, sagte Baihu lallend. „Was… bekommn… ich meine, bekommen… sie von mir Gastwirt?“
Gastwirt? Hat er das gerade ernsthaft gesagt? Bahe musste sich sein Lachen verkneifen und senkte schnell den Blick, um nicht bemerkt zu werden.
„400 Yuan“, meinte der Standbesitzer ohne mit der Wimper zu zucken. Scheinbar war er besoffene Leute gewohnt.
„400 Yuan soll’s sein…“, rief Baihu aus und kramte in seinen Hosentaschen.
Fuck! Dachte Bahe, wie viel hatte der Typ bitte gesoffen, um auf eine solche Rechnung zu kommen?!
„Oh… oh“, ertönte es plötzlich von Baihu, als dieser schuldbewusst drein schaute. „Baaahe, könntest du die Rechnung bezahlen? Ich haaaabe wohl mein Geld zu Hause vergessn.“
„Äh…“
Bahe war zunächst sprachlos.
„Ich habe kein Geld dabei, ich habe ja nur etwas gegessen, weil du mich eingeladen hast…“, sagte er dann schnell, um die Schuld von sich zu weisen.
Der Blick des Standbesitzers verfinsterte sich augenblicklich nach Bahes Aussage.
„Hmmm… was mach‘n wir jetzt…“, überlegte Baihu und schaute sich um. „Ah, Gastwirt! Ich leihe mir eben vom Stand geg‘nüber das Geld. Der junge Mann dort ist ein Kumpel von mir.“
„Wehe dir, wenn du versuchst abzuhauen. Ich beobachte dich genau, hast du verstanden?!“, knirschte der Standbesitzer mit den Zähnen.
„Keine Sorge…“, lallte Baihu vor sich hin, während er von seinem Hocker aufstand.
Bahe stand ebenfalls auf und wollte sich umdrehen, um Baihu zu beobachten, als eine stählerne Kralle sich um sein Handgelenk schloss und ihn abrupt mit sich riss!
Vollkommen überrumpelt, fing sich Bahe einige Schritte später wieder und stellte verblüfft fest, dass Baihu sich seinen Arm geschnappt hatte und ihn in wahnwitzigem Tempo hinter sich her zog.
„Was zum…?“, stieß Bahe überrascht aus.
„Du solltest die Beine in die Hand nehmen, wenn du nicht auf eine Tracht Prügel aus bist“, zwinkerte ihm Baihu zu.
Währenddessen blieb sein Griff eisern und alle Versuche Bahes sich aus Baihus Halt zu lösen, scheiterten kläglich.
Wie zum Henker konnte der Typ im besoffenen Zustand überhaupt so schnell rennen?
Nach vierzig Metern hatte Bahe bereits Probleme Schritt zu halten und kämpfte sich nur noch vorwärts, um nicht durch den stählernen Griff Baihus über den Boden mitgeschleift zu werden.
Sie rannten in immer neu abzweigende Wege des Parks, bis Baihu einen Kilometer später endlich zum Stehen kam.
Bahe fiel vor Erschöpfung auf die Knie und keuchte lautstark, um wieder zu Atem zu kommen.
„Haha, damit hast‘u nicht gerechnet, was?!“, rief Baihu.
Bahe hob den Blick und traute seinen Augen nicht. Baihu ließ gerade seine Hose hinunter, wackelte mit dem nackten Hintern, in die Richtung aus der sie gekommen waren und grölte lautstark: „Hahaha… du dummer Gastwirt, dein Alkohol war nur halb so gut, wie du immer rum erzählst! Du wirst mich niem‘s… niemals kriegen!“
„…“
Bahe war sprachlos. Das erlebte man auch nicht alle Tage. Ein besoffener Chinese mittleren Alters, der mit dem nackten Arsch herum wackelte. Bahe konnte nur den Kopf schütteln.
Baihu bemerkte Bahes Blick und fragte, während er sich umdrehte: „Was denn? Noch nie ‘nen tanzenden Mann gesehen?“
Bahe wollte schon antworten, als er Augenzeuge des Malheurs wurde.
Baihu hatte sich umgedreht, ohne seine Hose empor zu ziehen und dabei seinen nackten Hintern einem von drei jungen Männern entgegen gestoßen, die gerade im Begriff waren an ihnen vorbei zu gehen.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten, als der betroffene Halbstarke Baihu entrüstet anblaffte: „Hey, alter Perverser, was erlaubst du dir, mich mit deinem nackten Arsch anzurempeln?!“
Baihu richtete sich auf und bemühte sich seine Hose zu richten, während er wenig beschwichtigend antwortete: „Immer mit der… der Ruhe, Junge… Is‘ doch nichts passiert, oder?“
„Bitte was?! Nichts passiert?! Sag mal hörst du auch noch schlecht?!“
„Ich hör‘ gut! Sehr gut sogar… Ich kann die Vögel sechs Bäume weiter zwitschern hören… Moment mal… eins, zwei, drei…“, Bahe faste sich an den Kopf und stöhnte innerlich, als Baihu tatsächlich anfing die Bäume zu zählen. „Vier, fü’f, sechs… Ja, genau sechs Bäume weiter. Sag‘ ich doch.“
Nickte Baihu, sich selber zustimmend.
„Hältst du das hier für einen Scherz?!“, regte sich der Halbstarke auf und schubste Baihu nach hinten. Die anderen beiden jungen Männer, positionierten sich derweil zu Baihus Seiten und hatten ebenfalls finstere Minen aufgesetzt.
„Immer mit der Ruhe, mein Junge…“
„Ich bin nicht dein Junge, alter Mann!“, schrie der Halbstarke und schubste Baihu weiter vor sich her.
„Ich will ja nur sag’n… Gewalt ist keine Lösung… Das wird nich‘ gut für dich ausgehen…“
„Ach, das wird nicht gut für MICH ausgehen? Sag mal, tickst du noch ganz richtig? Wir drei gegen einen besoffenen Vollidioten?“
„Gaaanz genau“, lallte Baihu. „Ihr habt keeeine Chance!“
Bahe starrte ungläubig auf Baihu und überlegte bereits wie er sich unbemerkt davon stehlen konnte, als er Zeuge einer unglaublichen Szene wurde.
Die drei jungen Männer konnten sich nicht mehr beherrschen und gingen gleichzeitig auf Baihu los. Doch so sehr sie sich auch bemühten, keiner ihrer Schläge oder Tritte traf den Trunkenbold.
In scheinbar unmöglich anmutenden Bewegungsabfolgen wich er den Halbstarken aus und nutzte den Schwung der Bewegungen aus, um den jungen Männern selbst einige schwerwiegende Schläge zu verpassen.
Bahe beobachtete fasziniert, wie Baihu einen der Halbstarken mit einem seitlichen Tritt zum Knie aus dem Gleichgewicht brachte, so dass dieser auf die Knie fiel und ihn im nächsten Atemzug mit einem Ellbogenstoß gegen die Schläfe zu Boden gingen ließ, während er gleichzeitig einen Fauststoß in die Seite eines anderen Halbstarken ausführte.
Während der zweite Halbstarke keuchend nach Luft schnappte, wich Baihu dem Tritt des dritten jungen Mannes aus. Mit einem Schritt trat er an den Halbstarken heran, tauchte ab und mähte ihn mit einem Kick zu dessen Standbein von den Füßen. Noch im Fallen erreichte Baihus Knie das Kinn des Halbstarken und ließ mit einem Klackern die Zähne des jungen Mannes aufeinander schlagen.
Die ganze Auseinandersetzung hatte nicht mal eine Minute gedauert und Bahe war vollkommen überwältigt, wie schnell Baihu zwei der jungen Männer komplett außer Gefecht gesetzt hatte.
Als der dritte Halbstarke, der sich keuchend die Seite hielt, bemerkte, dass seine Kameraden bewusstlos am Boden lagen, nahm er die Beine in die Hand und flüchtete woher auch immer er gekommen war.
Bahe konnte es noch immer nicht fassen, was er soeben gesehen hatte. Konnte es jemand etwa doch noch gut mit ihm meinen?
Ohne zu zögern ging er auf Baihu zu und verbeugte sich, um ihm seine Ehrerbietung zu erweisen: „Meister!“
Baihu drehte sich schmatzend um und blickte verwirrt auf den dürren Deutschen: „Hä?“
[i] Kuenbewegungen gehören zu einer Stilrichtung des Kung Fu, die sich an die fünf Tiere: Leopard, Schlange, Tiger, Drache, Kranich und ihre damit assoziierten Eigenschaften anlehnt.
„Was willst’u?“, gluckste Baihu.
„Ich möchte, dass sie mich trainieren, Meister.“
„Hast du auch zu viel von dem netten Alohol… ich meine Alkohol gedrunken?“
„Es ist mir ernst, Meister. Ich habe noch nie zuvor jemanden so kämpfen sehen“, sagte Bahe und richtete sich auf.
„Hehe“, grinste Baihu geschmeichelt, winkte jedoch ab, während er zum Wegesrand ging und sich lautstark übergab.
„Puh… der Alohol war ein Bissel heftig…“, stöhnte Baihu und wischte sich mit Handrücken über den Mund.
„Ich sag‘ dir was, du bringst mich nach Hause und ik… ich überlege mir, ob ich dik unterrichte. Wie hört dich das an?“
Bahes Mine hellte sich schlagartig auf und nickte begeistert: „Sehr gut, Meister.“
„Hehe, Meister… hört sik gar nicht mal schlecht an“, dachte Baihu laut nach. „Aber nich‘, dass du mir auf falsche Gedanken kommst! Also, auf geht’s! Ab nach Hause!“
„Und wohin müssen wir, Meister?“
„Ja, woher soll ik das wissen? Du sollst mich dok nach Hause bringen.“
„…“
„Ah, lass mal schauen… irgendwo hab ich das doch…“, sagte Baihu schließlich, als er Bahes ratlosen Gesichtsausdruck bemerkte.
„Ah, da is‘ es ja!“, rief er schließlich und beförderte sein Portemonaie aus einer Hosentasche und reichte es Bahe mit den Worten: „Da steht irgendwo drin, wo ik wohne.“
„Darf ich fragen, warum ihr nicht selbst nachschaut, Meister?“
„Ja, glaubst du, ik kann noch Schriftzeichen auseinander halten?“
Bahe schüttelte den Kopf und suchte nach dem Ausweis seines zukünftigen Meisters. Er hatte ihn recht schnell gefunden und stellte fest, dass wohl eine halbe Stunde Fahrt mit der S-Bahn auf ihn wartete, als er die 500 Yuan im Fach weiter hinten bemerkte.
Bahe erstarrte erst und blickte Baihu dann ungläubig an.
„Meister, wieso habt ihr denn die Rechnung vorhin nicht bezahlt? Ihr habt mehr als genug Geld dabei!“
„Wieso? ... Ich mag den Gastwirt nich‘“, meinte Baihu schlicht und zuckte mit den Schultern.
„Außerdem war es dok ein riesen Spaß, oda?“, lallte er mit einem dümmlichen Grinsen.
„…“
Bahe konnte nicht fassen, was er da hörte, beschloss aber, es auf sich beruhen zu lassen.
„Sollen wir los, Meister?“
„Jawoll! Wird ja auch Zeit“, antwortete Baihu und machte sich in die Richtung auf, aus der sie gekommen waren.
Bahe rannte schnell zu ihm und führte ihn mit etwas Nachdruck in die andere Richtung: „Meister, ich glaube, wir gehen besser in die andere Richtung aus dem Park.“
„Wenn du meinst… Aber vergiss nich‘ beim nächsten Stand anzuhalten und noch was Alohol mitzunehmen, ja?“
„…“
Bahe brauchte mit dem betrunkenen Baihu fast zwei Stunden für eine Strecke, die man sonst problemlos in vierzig Minuten hinter sich bringen konnte. Grund war der völlig unzurechnungsfähige Trunkenbold, der ab und an der Überzeugung war, dass die U-Bahn in die entgegengesetzte Richtung ihn nach Hause bringen würde, obwohl sie bereits seit zwölf Minuten auf richtige Bahn warteten.
Einmal war Bahe beinahe nicht schnell genug gewesen, als Baihu plötzlich losgelaufen war und durch, sich gerade schließende, Türen einer U-Bahn rannte. Bahe hatte soeben noch einen Fuß dazwischen bekommen und Baihu anschließend durch die vollgestopften Abteile jagen müssen.
Er fragte sich inzwischen, ob der ganze Aufwand es überhaupt wert war.
Von der U-Bahn-Station waren es nochmal fünfzehn Minuten Fußmarsch gewesen. Bahe hatte Baihu mittlerweile stützen müssen, was die kurze Strecke noch einmal erheblich verzögert hatte.
Als sie schließlich am Stadtrand ihrem Ziel näher kamen, staunte Bahe nicht schlecht. Man konnte bei den Bauten und der Größe der Grundstücke in der näheren Umgebung nicht mehr von Häusern sprechen. Es handelte sich vielmehr um größere Anwesen, die von hohen Mauern blickdicht umsäumt waren und teilweise bewachten sogar Bodyguards die Tore zu den Grundstücken.
Nach einer kurzen Orientierungsphase bog Bahe ein letztes Mal mit Baihu ab und befand sich wenige hundert Meter später endlich vor dem Eingang zu Baihus Anwesen.
Sein Staunen hielt sich diesmal in Grenzen. Bereits das Eingangstor ließ Spuren von Verwahrlosung erkennen, die sich im Garten dahinter fortsetzten, der sich durch den reinsten Wildwuchs auszeichnete.
Nach den letzten Schritten zum Tor versuchte Bahe Baihu wach zu rütteln: „Wir sind angekommen, Meister. Habt ihr einen Schlüssel für das Tor?“
„…“, Baihu blieb still und Bahe fuhr sich genervt mit der Hand über sein Gesicht.
Er schaute sich kurz um und entdeckte nicht unweit eine Klingel. Mühsam schleppte er Baihu dorthin und betätigte die Klingel.
Eine Zeit lang passierte nichts, dann öffnete sich plötzlich oberhalb der Klingel die Mauer und gab den Blick auf technisches Equipment frei. Keine Sekunde später wurde ein Ausschnitt aus einem warm gestalteten Raum projiziert, der im nächsten Augenblick durch den Kopf eines Mädchens ersetzt wurde.
„Ja? Was wollen Sie?“, erklang eine weibliche Stimme aus den Lautsprechern. Währenddessen fuhr oberhalb der Projektion eine Kamera aus der Wand und nahm Bahe in den Blick.
„Guten Tag“, sagte Bahe ruhig. „Ist das hier das Anwesen eines Baihu Chin?“
„Ja, das ist mein Vater… Was hat er angestellt?“, fragte das Mädchen sichtlich besorgt.
„Ähm…“, Bahe beschloss den Vorfall mit der geprellten Zeche lieber zu verschweigen.
„Er hat mich gebeten ihn nach Hause zu bringen“, sagte er anschließend und versuchte Baihu ins Bild der Kamera zu rücken.
„Oh man… nicht schon wieder…“, stöhnte das Mädchen, als sie ihren Vater nahezu bewusstlos im Bild entdeckte. An Bahe gewandt sagte sie dann: „Ich komme sofort zum Tor, bitte warten Sie einen kleinen Moment.“
Damit wurde die Projektion beendet und die technische Ausrüstung verschwand wieder in der Mauer.
Bahe wartete etwa drei Minuten, bis er in einiger Entfernung ein junges chinesisches Mädchen auf sie zulaufen sah. Sie kam schnell näher und das Tor öffnete sich plötzlich, scheinbar automatisch, mit einem Quietschen. Bahe schleppte ihr Baihu noch ein paar Schritte entgegen, bis sie sich kurz hinter dem Tor trafen.
„Vielen Dank, dass Ihr meinem Vater geholfen habt“, bedankte sich das Mädchen und musterte Bahe. „Es war sicher anstrengend, sich mit ihm abzugeben.“
„Es ging schon“, meinte Bahe abwinkend.
„Sie können ihn mir geben, ich kann ihn schon stützen“, sagte sie und legte sich einen Arm ihres Vaters über die Schultern. „Was hat er Euch versprochen, damit Sie ihn nach Hause bringen?“
Bahe gab die Last nur zu gerne ab und sagte hoffnungsvoll: „Er hat versprochen sich zu überlegen, ob er mich trainiert.“
Als das Mädchen Bahe hörte, hielt sie abrupt inne.
„Er will Euch trainieren?“, fragte sie ungläubig.
„Na ja, er hat nur gesagt, dass er es sich überlegt, wenn ich ihn nach Hause bringe… Also…“, entgegnete Bahe leicht verlegen.
„Es tut mir Leid, dass er Euch einen solchen Bären aufgebunden hat. Aber macht Euch keine falschen Hoffnungen, er hat seit Jahren keinen mehr trainiert“, meinte das Mädchen ernst, mit einem Hauch von Traurigkeit.
„Oh…“, konnte Bahe nur von sich geben, bis er sich wieder fing und sagte: „Ich würde trotzdem gerne mit ihm sprechen, wenn er wieder zu sich kommt.“
„Dann kommt besser Morgen wieder. Vor dem Morgengrauen ist er zu nichts zu gebrauchen.“
„Ok, dann komme ich Morgen nochmal vorbei, wäre fünfzehn Uhr in Ordnung?“
„Ja, bis dahin sollte er seinen Kater auch halbwegs im Griff haben“, antwortete das Mädchen und begann ihren Vater zum Anwesen zu schleppen.
„Brauchst du auch wirklich keine Hilfe?“, fragte Bahe besorgt, als er sah, wie sich das Mädchen mit ihrem Vater abmühte.
„Das geht schon“, antwortete sie und blieb kurz stehen, bis sich das Tor geschlossen hatte. „Bis Morgen dann!“, rief sie noch, warf ihren Vater wie einen Sack Reis auf ihren Rücken und jagte mit ihm regelrecht davon.
Zurück ließ sie eine Staubwolke und einen verblüfften Bahe, der sich doch tatsächlich die Augen rieb und noch ein zweites Mal hinschaute.
„Verdammt!“, stieß er überrascht hervor. Das Mädchen war vielleicht stark…
Kopfschüttelnd, ob der merkwürdigen Familie, drehte sich Bahe um und machte sich auf den Weg nach Hause.
Am nächsten Morgen schoss Bahe vor Schreck aus dem Bett, ehe er merkte, dass er sich in sicherer Umgebung bei seinen Großeltern befand. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ er sich zurück ins Bett fallen und döste noch eine Weile vor sich hin.
Eine knappe Stunde später stand er schließlich auf, duschte und setzte sich an den Küchentisch, um zu frühstücken. Auf einem Zettel stand, dass seine Großmutter ihn extra lange schlafen lassen hatte und sich etwas zu essen im Kühlschrank befand. Sie selbst musste ein paar Besorgungen machen und hatte deswegen das Haus verlassen. Außerdem bat sie Bahe, später seine kleinen Geschwister vom Kindergarten abzuholen.
Da das Dimensional Leap-System frühestens in zwei Tagen kam und er erst um fünfzehn Uhr bei dem Chin-Anwesen erwartet wurde, beschloss Bahe in seiner freien Zeit sich weiter mit Raoie und speziell den Tutorial-Missionen zu beschäftigen. Er warf den Computer und die zugehörige Visualisierungsfläche seiner Großeltern an und durchforstete die verschiedensten Raoie-Foren nach nützlichen Informationen.
In den nächsten Stunden erweiterte Bahe sein Wissen rund um Waldenstadt und die allgemeine Umgebung. Einen größeren Wert legte Bahe zudem auf die verfügbaren Tutorials und erfuhr ein paar interessante Einzelheiten. Dass es lediglich fünf Missionen gab, hatte er bereits bei seiner letzten Recherche erfahren. Was er jedoch noch nicht gewusst hatte war, dass man bestimmte Tutorial-Missionen für einen kleinen Betrag der spieleigenen Währung ein weiteres Mal durchführen konnte und andere Tutorial-Missionen wiederum nur einmal verfügbar waren und man sich am Ende entscheiden musste, welche von zwei verfügbaren Fähigkeiten man erlernen wollte.
Bahe zerbrach sich einige Zeit den Kopf über die verschiedensten Szenarien und überlegte sich diesmal intensiv wie er in einigen Tagen vorgehen würde. Auch der Gedanke an das seltsame Glitzern auf dem Grund des Kathar-Sees, den ersten Schatz, den Bahe in Raoie entdeckt hatte, war ihm noch lange nicht entgangen. Er musste eine Möglichkeit finden, den Schatz zu bergen, ohne seine Berufsklasse bei einer Berührung mit dem Seewasser zu verlieren…
Die Stunden vergingen viel zu schnell, während Bahe eifrig Pläne schmiedete, bis er sich letztlich um zwanzig nach zwei auf den Weg zum Chin-Anwesen machen musste.
Knappe vierzig Minuten später erreichte er das Tor zum Anwesen und betätigte die Klingel an der Mauer. Erneut öffnete sich ein Bereich in der Mauer, um die Projektion zu ermöglichen und keine zwei Sekunden später erschien Baihus Gesicht mit griesgrämiger Mine.
„Was willst du?!“, blaffte er durch die Sprechfunktion.
„Guten Tag, Meister. Ich hatte gehofft, mit Ihnen von Angesicht zu Angesicht reden zu können.“
„Was laberst du denn da von Meister, Bursche? Und wer bist du überhaupt?“
„…“, Bahe war sprachlos. Hatte Baihu seine kompletten Erinnerungen an den letzten Tag versoffen?
„Mein Name ist Bahe Dragon, Meister. Ich habe Sie gestern nach Hause gebracht und hier an Ihre Tochter übergeben. Sie haben mir Nudeln an einem kleinen Stand im Park ausgegeben. Erinnern Sie sich?“
„Ach, du warst das. Stimmt, ich hatte irgendwie in Erinnerung, dass du keine Chinese warst. Komm rein, aber nenne mich nicht nochmal Meister!“
Ehe Bahe antworten konnte, verschwand die Projektion auch schon und der Bereich in der Mauer verschloss sich wieder.
Gleichzeitig öffnete sich das Tor und Bahe folgte mit einem Achselzucken dem Weg entlang zum eigentlichen Wohnsitz der Familie Chin.
Nach zwei Minuten kam er an der Haustür an und wollte gerade klopfen, als Baihu die Tür aufriss und ihn musterte.
„Du Klappergestell hast mich gestern wirklich nach Hause getragen?“, fragte Baihu mit skeptischer Mine.
„Ja, Meister“, sagte Bahe, während er auch sein Gegenüber beäugte. Baihu wirkte heute noch um einiges ungepflegter als am Vortag. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, er trug einen alten Jogginganzug und abgenutzte Hausschuhe. Seine müde Haltung stach jedoch am meisten hervor.
„Ich sagte dir doch, nenne mich nicht Meister!“, fuhr Baihu Bahe genervt an.
„Wie Sie wünschen.“
„Egal. Lassen wir das“, sagte Baihu. „Wieso bist du hier?
„Nun, ich habe Sie gestern kämpfen sehen und war sehr beeindruckt. Ich suche dringend jemanden, der mich trainieren könnte und die Kampfsportschulen der Umgebung wollten mich nicht aufnehmen. Gestern sagten Sie, dass Sie es sich überlegen würden, wenn ich Sie nach Hause bringe“, erklärte Bahe sein Erscheinen.
„Dich trainieren?“, lachte Baihu schallend.
„Was ist daran so lustig?“
„Du bist ja das reinste Knochengerippe! Wie willst du denn einen kraftvollen Schlag ausführen? Vergiss es, Junge und geh dahin zurück, wo du her gekommen bist!“, winkte Baihu ab und wollte schon die Tür schließen, als Bahe in davon abhielt.
„Was muss ich tun, damit Sie mir eine Chance geben?“
„Du willst eine Chance haben?“, Baihu schüttelte genervt den Kopf und fuhr dann höhnisch fort. „Knie hier zwei Wochen vor meiner Tür und ich überlege es mir vielleicht wirklich, dir ein Bisschen was beizubringen.“
Bahe bekam keine zweite Gelegenheit sich Gehör zu verschaffen, als Baihu abrupt die Tür zu schlug.
Verdammt, das Gespräch war nicht gerade gut verlaufen, dachte Bahe resigniert. Zwei Wochen vor seiner Tür knien?
Bahe war hin und her gerissen. Was, wenn der Mann ihn nur ein weiteres Mal verarschen wollte? Aber hatte er denn eine andere Wahl? Keine Kampfsportschule würde ihn aufnehmen und selbst, wenn es an seiner neuen Schule Kampfsportkurse gab, würden die einem Anfänger wie ihm kaum weiterhelfen.
Schließlich fasste Bahe seinen Entschluss und kniete sich auf den steinernen Boden vor der Haustür. Es waren nur zwei Wochen. Vielleicht würde er ja erfolgreich sein. Er konnte sowieso nicht immer hier sitzen, später würde er noch seine Geschwister abholen müssen. Versuchen wollte er es trotzdem. Sonst würde er sich immer fragen, was wäre wohl geschehen, wenn…?
Bahe rutschte noch ein Wenig hin und her, um eine halbwegs bequeme Position zu finden und starrte dann auf die Tür.
Huilan war gerade dabei sich umzuziehen, als sie die Klingel gehört hatte und sich wage daran erinnert, dass der junge Ausländer etwa um diese Uhrzeit vorbei kommen wollte. Nachdem sie fertig war, ging sie nach unten und entdeckte ihren Vater wie er gerade eine Projektion des Bereichs vor ihrer Haustür abbrach und den Kopf schüttelte.
„Was ist passiert?“, fragte sie.
„Nichts, was dich kümmern muss“, meinte ihr Vater nur mürrisch.
„Was hast du ihm gesagt?“
„Woher weißt du, dass es ein er war?“
„Wer hat dich wohl gestern am Tor in Empfang genommen, Pá?“
„Der Bengel ist ein Witz“, sagte ihr Vater verächtlich. „Er hat doch tatsächlich geglaubt, dass ich ihn trainieren würde!“
„Soweit ich weiß, hast du ihm schließlich ja auch Hoffnungen gemacht“, versuchte sie ihr Glück.
Doch ihr Vater brüllte nur vor höhnischem Lachen. „Du weißt ja noch gar nicht das Beste! Der Junge wollte eine Chance und ich sage ihm nur leichtfertig, er solle zwei Wochen vor unserer Haustür knien. Und was tut er? Er kniet sich doch tatsächlich direkt auf den steinernen Boden vor unserer Tür! Denkt er etwa, dass ich es mir jetzt anders überlege?! Was für ein Vollidiot!“
Kopfschüttelnd und noch immer verächtlich lachend, wandte sich ihr Vater ab und verließ den Flur in Richtung Keller.
Wahrscheinlich holte er sich wieder irgendwelchen Alkohol zum Trinken, vermutete Huilan deprimiert.
Von Neugier getrieben ging sie zum Kommunikationsbereich neben der Haustür und rief eine Darstellung der Szene vor der Haustür auf. Die Projektion zeigte tatsächlich den jungen Ausländer vom Vorabend, wie er auf dem harten Steinboden kniete.
Mit einem Seufzen beendete sie schließlich die Visualisierung und ging zurück in ihr Zimmer. Egal was sie sagen würde, zumindest heute würde sie den Jungen wohl kaum von seiner absurden Idee abbringen können.
Irgendwann würde er aufgeben müssen. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn in den nächsten Tagen davon überzeugen konnte.
Wie sehr sie ihren Vater dafür hasste, dass er auf eine solche Weise mit der Hoffnung anderer Menschen spielte!
Dort wurde er entweder von seinem Meister unter schallendem Gelächter eingelassen oder von der Tochter seines Meisters. Wie er inzwischen erfahren hatte, hieß sie Huilan.
Ganz anders als ihr Vater, war sie eine eher ruhige Person und machte sich scheinbar auch viel mehr Sorgen um ihn. In den letzten beiden Tagen hatte sie bereits mehrfach versucht, ihn davon abzubringen, zu ihnen zu kommen und sich auf den harten Steinboden zu knien. Sie hatte ihm sogar extra gesagt, dass sein Kommen sie zwar nicht störte, er sich aber nur wund und steif knien würde.
Doch Bahe konnte nur in sich hinein lächeln. Vollkommen bescheuert war er ja auch nicht, natürlich hatte er sich ein Kissen zum drauf knien mitgebracht. Und was die zwei Wochen betraf, so gut er konnte wollte er es durchziehen. Zu oft hatte er früher schon halbe Sachen gemacht und jetzt, wo es ihm wirklich wichtig war, konnte er nicht wieder den gleichen Fehler begehen! Selbst, wenn Baihu ihn nach den zwei Wochen immer noch nicht trainieren wollte, wusste er zumindest, dass er es versucht hatte.
Auch heute verbrachte er wieder den gesamten Vormittag auf dem steinernen Eingangsbereich vor der Haustür des Chin-Anwesens. Zum Mittagessen kehrte er kurzzeitig wieder zu seinen Großeltern zurück und machte sich dann erneut auf zum Chin-Anwesen. In Gedanken war er heute jedoch nur noch beim Dimensional Leap-System, das heute kommen sollte. Natürlich hatte er die Lieferung im Laufe des Tages bereits mehrmals online mit verfolgt und konnte es inzwischen kaum noch abwarten.
Seine Zeit vor dem Chin-Anwesen würde sich ab der nächsten Woche noch stark reduzieren. Es lag nicht daran, dass er zukünftig zu viel Zeit in Raoie verbringen würde, dass würde schließlich nachts passieren. Vielmehr hatte sein Großvater ihm mitgeteilt, dass er erfolgreich gewesen war und Bahe ab der nächsten Woche an der halb privaten, halb staatlichen Schule die Oberstufe absolvieren konnte.
Die Folge war natürlich, dass Bahe demnächst tagsüber sehr beschäftigt sein würde und nur noch wenige Stunden am späten Nachmittag erübrigen könnte, um Baihus Bedingung zu erfüllen.
Nach einer halben Stunde, stöhnte Bahe bereits innerlich. Die Zeit verging inzwischen einfach quälend langsam. In Vorfreude auf das Dimensional Leap-System konnte er an nichts anderes mehr denken. Seine Pläne für die nächsten Schritte in Raoie war er schon dreißig Mal durchgegangen und jeder Versuch sich erneut damit zu beschäftigen, scheiterte kläglich.
Irgendwann waren dann endlich die letzten beiden, quälenden Stunden vorbei und Bahe stand mühevoll auf. Er streckte vorsichtig seine Beine und machte sich dann eilig auf, um seine Geschwister vom Kindergarten abzuholen.
Bei ihren Großeltern angekommen, stürmten die drei Geschwister regelrecht in die Wohnung, wenn auch aus vollkommen verschiedenen Gründen.
„Oma, was gibt es zu essen?“
„Oma, wann gibt es Essen?“
„Oma, kam die Lieferung an?“
Ma Lin musste erst mal um Ruhe bitten: „Hey, immer langsam ihr drei. Ich kann nicht alles auf einmal beantworten.“
„Aber ich habe Hunger!“, rief Liana Xue.
„Ich auch!“, setzte Leo Xiao hinterher.
„Ist ja gut, euer Essen wird bald fertig sein. Bringt solange eure Sachen auf euer Zimmer“, sagte sie beruhigend mit einem Augenzwinkern, ehe sie an Bahe gewandt fortfuhr: „Dieses riesige Computersystem, dass du bestellt hast, hat die Lieferfirma den Himmeln sei Dank in deinem Zimmer unterbringen können. Da ist jetzt aber kein Platz mehr für dein Bett…“
„Alles klar, Oma!“, Bahe wartete nicht länger und rannte bereits zu seinem Zimmer.
„Hey! Ich war noch nicht fertig!“, rief ihm seine Großmutter noch hinterher.
Bahe erreichte keine fünf Sekunden später sein Zimmer und nahm sein nagelneues Dimensional Leap-System in Augenschein, das den ganzen Raum ausfüllte, obwohl es bereits an die Wand gestellt worden war.
In weiser Voraussicht hatte er heute Morgen sein Bettgestell auseinander geschraubt und die Einzelteile, sowie die Matratze unter den Betten seiner Geschwister verstaut. Die Schränke in seinem Zimmer besaßen glücklicher Weise Schiebetüren und mussten daher nicht nach außen geöffnet werden. Bahe war froh gewesen, nicht auch noch die Türen seines Kleiderschranks abmontieren zu müssen.
Er konnte sich aber wirklich nicht beschweren. Seine Großeltern besaßen für chinesische Verhältnisse schon eine äußerst große Wohnung. Sogar seine Mutter konnte noch ein eigenes Zimmer bekommen. Unter normalen Umständen hätten sich seine Großeltern eine solche Wohnung niemals leisten können. Es war ein Geschenk von Bahes Vater gewesen, als er Sulin damals geheiratet hatte.
Bahe schloss das Dimensional Leap-System schnell an den Strom an und startete die Internetsignalsuche, damit er nach dem Abendessen direkt loslegen konnte.
Lin probierte ein letztes Mal die Suppe und brachte dann alles zum Tisch, an dem ihre drei hungrigen Enkel und ihr Mann sie bereits sehnlichst erwarteten.
„So, ihr könnt euch schon bedienen.“
„Ich will was von der Suppe mit vielen Fleischstückchen!“, rief Leo Xiao begeistert.
„Du kannst mein Fleisch haben, ich mag Rind nicht“, sagte Liana Xue dazu.
Lin wollte ihre Enkel schon bedienen, als Feitong ihr die Arbeit abnahm.
„Gib mir die Kelle, ich mach das schon“, sagte er.
Lin überließ ihm gerne die Arbeit, die beiden Kleinen zu versorgen und wandte sich stattdessen an Bahe, der sichtlich ungeduldig auf seinem Platz verweilte.
„Nun steht dieses riesige Computersystem bei dir im Zimmer und wo willst du jetzt schlafen?“
„Ich werde darin schlafen, Oma“, grinste Bahe.
„Das fehlt mir noch, dass du demnächst jede Nacht mit irgendeinem Computerspiel verbringst. Wenn wir bei deinen Geschwistern die Betten ein Bisschen zusammen schieben, wirst du da bestimmt noch mit rein passen.“
„Oma, ich habe das doch alles schon mit Mama abgesprochen. Sie hatte nichts dagegen“, meinte Bahe beschwichtigend.
„Weiß sie auch, dass du vor hast das Computerspiel die ganze Nacht hindurch zu spielen?“
„Natürlich, Oma.“
„…“
Lin war für einen Moment sprachlos. Nur weil Bahe für Sulins Gesundheitszustand arbeiten gegangen war, erlaubte sie ihrem Sohn mit einem Mal einfach alles?
„Du leugnest also nicht, dass du demnächst die ganze Nacht mit deinem Computerspiel verbringst? Und wie hast du dir vorgestellt, deinen Schlaf nachzuholen?“
Oma, du verstehst das falsch. Ich sagte doch bereits, dass ich in dem Dimensional Leap-System schlafen werde und das meinte ich auch so. Das Computerspiel Raoie spielt man im Schlaf. Das ist ja gerade das Besondere an diesem neuen System“, erklärte sich Bahe.
„Sehr witzig…“, sagte Lin grimmig und wollte gerade fortfahren, als ihr Feitong zuvor kam.
„Er hat Recht Lin, ich habe mit Sulin bereits gesprochen und mich auch über dieses Dimensional Leap-System auf der Arbeit informiert. Überall sprechen die Leute momentan davon. Wie das genau funktioniert weiß ich nicht, aber anscheinend wurde der Schlafprozess bereits von verschiedenen Ärzten untersucht und es wurde nichts Negatives festgestellt.“
„Aber…“, wollte Lin erwidern.
„Lass gut sein, mein Schatz“, sagte Feitong und drückte ihr einen Schmatzer auf die Wange.
Lin blickte ihren Mann streng an. Auf wessen Seite war er eigentlich?!
Nach dem Essen verschwand Bahe im Eiltempo in sein Zimmer, während die Zwillinge lautstark zu ihren Spielsachen in ihren Zimmern rannten.
„Man schläft und spielt dabei ein Computerspiel?“, fragte sie ihren Mann.
„So ist es. Ich war selber erstaunt, was es nicht alles schon gibt.“
„Und jetzt, wo Bahe bald wieder zur Schule geht, sollen wir ihm erlauben sich mit so einem Blödsinn abzugeben?“
„Lin, hör auf ihn so zu verurteilen“, meinte ihr Mann besänftigend und legte dabei seine Hand über Ihre. „Sein eigentliches Ziel ist mit dem Spiel Geld zu verdienen! Ich finde Bahe hat in den letzten Monaten genug durch gemacht. Und wenn er das Gefühl hat mit einem Spiel, das ihm Freude bereitet, auch noch Geld verdienen zu können, um uns zu unterstützen, dann bei den Göttern, lass ihm seinen Willen!“
„So sollte es aber nicht sein…“, meinte Lin betrübt.
„Vieles sollte so nicht sein…“, stimmte Feitong ihr zu. „Er hat diesen Avatar verkauft, den er zusammen mit seinem Vater erspielt hat. Daher hat er das Geld für dieses System. Es hat etwa 15 000 Yuan gekostet…“
„…“, Lin öffnete den Mund, wusste aber nicht was sie sagen sollte. Sie wusste genau, dass dieser Avatar einer der letzten Gegenstände gewesen war, die Bahe noch an seinen Vater erinnerten.
Sie blickte ihren Mann an und wusste, dass er genau das Gleiche dachte. Wie lange würde es wohl dauern, bis sich ihr Enkel endlich von dem Gedanken lösen konnte, sich ständig um seine Familie kümmern zu müssen?
Bahe atmete noch einmal tief durch und schloss kurz die Augen. Er lag bereits in seinem Dimensional Leap-System und wartete auf die Meldung des Systems.
Willkommen bei Dimensional Leap!
Da dies die erste Nutzung des Systems ist, bitten wir Sie eine der beiden folgenden Optionen auszuwählen. Ab Ihrem nächsten Besuch wird der 3D-Scan für Sie die Autorisierung zum Start von Dimensional Leap übernehmen.
Bitte wählen und nennen Sie die entsprechende Nummer:
(1)
Registrierung und Erstellung ihres Avatars
(2)
Anmeldung über ihren Nickname und ihre Account-Nr.
„Zwei“, sagte Bahe ohne zu zögern.
Geben Sie den Namen für Ihren Avatar und Ihre Account-Nr. ein.
Nickname: _____________ Acount-Nr.: _____________
„Nickname ist Anael Lerua und die Accountnummer lautet: 5370B10“
Anmeldeprozess abgeschlossen!
Charaktername: Anael Lerua
Geschlechtserkennung: Männlich
Alter: 18 Jahre (der Account-Nr. entnommen)
Körperbau: Schmächtig / Abgemagert (Mögliche Ursache:
Unterernährung -- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> TNL empfiehlt eine
Ernährungsumstellung (Für weitere
Informationen sagen Sie: HILFE))
Volkszugehörigkeit: Mensch
Dimensional Leap wird nun mit Ihrem 3D-Scan fortfahren.
Bitte bleiben Sie ruhig liegen und entspannen Sie sich. Sobald der Scan abgeschlossen ist, werden Sie benachrichtigt.
Obligatorischer 3D-Scan abgeschlossen.
Anmeldedaten stimmen mit Ergebnis des 3D-Scans überein.
Willkommen bei Dimensional Leap Bahe Dragon!
Die Vorbereitungen zum Dimensional Leap beginnen nun.
Bitte entspannen Sie sich,
schließen Sie die Augen und zählen im Geiste von 1-10.
1…
2…
3…
4…
5…
6…
…
Dann erlebte Bahe zum zweiten Mal in seinem Leben, wie ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde und sich um ihn herum ein Raum mit kahlen Wänden bildete.
Willkommen in Raoie!
Sie sind bei Ihrem letzten Besuch leider gestorben und werden daher an Ihrem letzten sicheren Ort materialisiert.
Ihr sicherer Ort ist: Waldenstadt!
Möchten Sie noch Änderungen an den Spieleinstellungen vornehmen?
Beachten Sie bitte, dass während Ihres Aufenthaltes in Raoie keine Änderungen mehr vorgenommen werden können!
Ja / Nein
„Ja!“, rief Bahe aufgeregt. Er wollte auf keinen Fall wieder mit einer vollen Schmerzoption wie beim letzten Mal spielen!
Bitte nehmen Sie nun die Änderungen an den Spieloptionen vor:
Realitätsgrad der Grafik: 98-99%
Realitätsgrad des Sounds: 98-99%
Uhrfunktion im Spiel: Aus
… …
… …
… …
Schmerzempfinden: 100% (Empfohlen: maximal 10-30%)
„Schmerzempfinden auf 10%“, sagte Bahe konsequent. Er hatte viele Berichte von Spielern gelesen, die die 10%-Marke des Schmerzempfindens als ideal beschrieben hatten. Der Schmerz war immer noch spürbar, war aber problemlos auszuhalten und lenkte nicht zu sehr vom Spielerlebnis ab.
Schmerzempfinden wird gesenkt:
99%...
98%...
97%...
…
…
…
86%...
85%...
84%!
Limit erreicht!
Weitere Senkung des Schmerzempfindens durch den Rang der erspielten Berufsklasse nicht mehr möglich!
„WTF?!“, rief Bahe entgeistert. „Was hat denn der Rang meiner Berufsklasse damit zu tun?“
Sollen noch weitere Änderungen vorgenommen werden?
Ja / Nein
„Ja!“, Bahes Laune hatte sich erheblich verschlechtert. Genervt aktivierte er noch die Uhrfunktion und schloss dann das Fenster.
Scheinbar blieb ihm nichts anderes übrig, als zunächst mit der hohen Prozentzahl zu spielen. Aber wieso verdammt noch mal, konnte er sie nicht ändern?! Er würde sich nach dem Spiel mit diesem Problem beschäftigen müssen.
Avatar Anael Lerua wird in Waldenstadt, am Portal der Ankömmlinge materialisiert!
Für einen kurzen Augenblick verschwamm alles vor seinen Augen und verzerrte sich zu einem Lichterfluss, der an ihm vorbei strömte, ehe er sich plötzlich wieder am Rande des ihm bereits bekannten Marktplatzes, in dem von Säulen abgegrenztem Bereich wiederfand.
Wie beim letzten Mal leuchteten um ihn herum immer wieder gleißende Lichter auf, als sich stetig andere Spieler materialisierten.
Bahe verließ den Startbereich und keine zwei Schritte später öffnete sich erneut das durchscheinende Fenster, welches die Tutorials anbot:
Willkommen in der Welt Raoie!
Ihren Avatar und seine Statistiken können Sie über den Kurzbefehl „Charakterprofil“ aufrufen.
Eine Kartenfunktion gibt es nicht. Sie müssen sich selbst zurechtfinden. Es gibt allerdings Landkarten für einen gewissen Betrag der spieleigenen Währung zu erwerben.
Die wichtigsten Informationen zum Gesundheitsstatus und Ihrem Energielevel können Sie durch im Spiel erwerbliche Ausrüstungsgegenstände visualisieren. Eine kostenlose Alternative ist das Aufrufen Ihres Charakterprofils.
Sagen Sie „Überprüfen“, während Sie ein Monster oder eine Person im Blick behalten, um Informationen über andere Spieler, NPCs oder andere Wesen zu erhalten, sofern sie dazu berechtigt sind. Es handelt sich hierbei um eine beschränkte Funktion, die ausschließlich in Ihrer Anfangsstadt + 1 KM Umgebungsradius aktiviert werden kann. Die Fähigkeit wird deaktiviert sobald Sie Level 5 erreicht haben!
TNL empfiehlt dringend die Durchführung der Tutorials, um sich mit dem Gameplay vertraut zu machen!
Fortfahren mit den Tutorials
Tutorials später durchführen und Fenster schließen
Diesmal machte Bahe nicht den Fehler abzulehnen und bestätigte seine Teilnahme an den Tutorials.
Bahe wartete gespannt auf die erste Tutorialaufgabe, als sich ein ellenlanges Fenster vor ihm öffnete:
Willkommen bei den Tutorialmissionen zu Raoie!
Vorweg möchten wir Sie über die obersten 8 Prinzipien von Raoie aufklären!
1. Das Gameplay unterscheidet sich kaum vom realen Leben. Wie Sie sicherlich schon gemerkt haben,
lenken Sie Ihren Avatar / Körper durch die Kraft Ihrer Gedanken.
2. TNL ist Ihre Gesundheit wichtig! Ihr Körper im realen Leben dient als Grundlage für Ihren Avatar in
Raoie. Sollten Sie Ihren physischen Körper im realen Leben vernachlässigt haben oder einen
ungesunden Lebensstil folgen, wird dies Auswirkungen auf die Bildung Ihres Charakterprofils
gehabt haben.
Der Standardwert aller Attribute liegt bei 10/10
Es existieren folgende Möglichkeiten:
a) Sie haben Einbußen in Ihren Anfangsstatistiken (1-9/10) hinnehmen müssen.
à Dies ist die direkte Folge eines ungesunden Lebensstils
b) Sie haben durchschnittliche Werte in Ihren Anfangsstatistiken (10/10).
à Dies ist die direkte Folge eines normalen Lebensstils, mit akzeptabler Ernährung und gelegentlicher sportlicher Betätigung.
c) Sie haben überdurchschnittliche Werte in Ihren Anfangsstatistiken (maximal 20/10).
à Dies ist die direkte Folge einer gesunden Ernährung und regelmäßiger sportlicher Betätigung. Maximalwerte von 20/10 werden zumeist nur von Leistungssportlern oder körperlich sehr trainierten Menschen erreicht.
Allgemein gilt:
Sie sind jederzeit in der Lage Ihre Anfangsstatistiken aufzuwerten, indem Sie Ihren Lebensstil zum Positiven wandeln. Ein wöchentlicher 3D-Scan sorgt dafür, dass Ihre Statistiken immer auf dem neusten Stand sind.
à Degradierungen sind allerdings im Umkehrschluss ebenfalls möglich.
Für Tipps zum individuell richtigen Gesundheitsverhalten sagen sie bitte: „HILFE“.
In den Luxusausführungen des Dimensional Leap wird nach jeder Woche Spielzeit ein optionaler komplett Körpercheck (mit Blut und Gesamtkörperanalyse) angeboten.
3. Jeder Spieler darf maximal 12 Stunden am Tag in Raoie verbringen! Danach erfolgt ein
automatischer Log-out für mindestens 12 Stunden. Größere Pausen bzw. kürzere Spielzeiten sind
problemlos möglich.
à Ausnahme: Weltgeschehnisse (Werden frühzeitig, zur eventuellen Urlaubsplanung, angekündigt)
4. Raoie kann problemlos in der Nach gespielt werden! Dimensional Leap wird Sie in einen
künstlichen Schlaf versetzen. Ihre Erlebnisse in Raoie werden von Ihrem Körper als Traum
wahrgenommen. Auf diese Weise können Sie Ihr Leben ganz normal fortsetzen und tagsüber arbeiten
bzw. Zeit mit der Familie verbringen.
5. Sollten Sie sich zu irgendeiner Zeit in der Welt von Raoie unwohl fühlen, nennen Sie den Befehl
„Ausloggen!“ oder denken Sie mit höchster Konzentration daran!
6. Spielen Sie Raoie wie Sie wollen! Seien Sie sich jedoch bewusst, dass jede Ihrer Entscheidungen
Konsequenzen nach sich zieht! Raoie ist ein Spiel mit extrem hohen Realitätsgrad in den
Interaktionen zwischen den Personen und Kreaturen im Spiel.
Einzige Ausnahmen, die sofort zum gezwungenen Log-out führen sind
a) Folter
b) Vergewaltigung
à Konsequenzen: Jede Ausübung, sowie jeder Versuch wird schwer bestraft! (Auch ihre Ausübung an
spielinternen Personen (NPCs)!)
a) Beim ersten Vorkommen: Gezwungener Log-out + Geldstrafe, sofern Sie Raoie erneut spielen
wollen (TNL gibt jeder Person genau eine 2. Chance!)
b) Beim zweiten Vorkommen: Gezwungener Log-out + Lebenslanges Spielverbot von Raoie +
Übergabe der persönlichen Informationen an die örtlichen Polizeidienste!
7. Vorerst ist nur das menschliche Volk spielbar. Weitere Völker werden durch Kooperation aller
Spieler im Laufe des Spiels entdeckt und freigeschaltet. Spieler werden zu diesem Zeitpunkt für einen
kleinen Betrag spielinterner Währung in Verbindung mit einem eventuellen Berufsklassenwechsel,
ihre Volkszugehörigkeit wechseln können.
8. TNL diskriminiert körperlich behinderte Menschen nicht! Körperliche Behinderungen werden
soweit es technisch möglich ist ausgeglichen. Menschen die im realen Leben von fehlenden oder
behinderten Körperregionen geplagt werden, können in Raoie alle Gliedmaßen einschränkungsfrei
bewegen.
Bitte seien Sie sich jedoch der psychischen Auswirkungen bewusst und nehmen Sie unsere Hinweise
und Warnungen ernst!
à Sollten Sie für Raoie einen Account für körperlich eingeschränkte Personen erworben haben,
wählen Sie bitte Typ I für weitere Aufklärungen und Anleitungen zur Eingewöhnung.
à Sollten Sie für Raoie keinen Account für körperlich eingeschränkte Personen erworben haben,
wählen Sie bitte Typ II, um weitere Aufklärungen und Anleitungen zu überspringen.
Bahe überflog den Großteil des Textfensters, da er sich gerade über diese Informationen bereits anderweitig schlau gemacht hatte. Er konnte nicht umhin, sich an den Kopf zu fassen. Einen guten Teil seiner Recherche hätte er sich sparen können.
„Typ II“, sagte er noch schnell und schloss damit das erste Fenster.
Beinahe augenblicklich öffnete sich bereits das Nächste:
Nun zum Gameplay von Raoie in 5 verschiedenen Tutorialmissionen:
Tutorial I: Fähigkeiten erwerben
Raoie ist in Form eines klassischen Rollenspiels angelegt. Ein Ziel des Spiels ist es dementsprechend für den eigenen Avatar neue Fähigkeiten freizuschalten, indem man auf ein höheres Level aufsteigt oder spezielle Ereignisse auslöst.
Es gibt folgende Möglichkeiten, um neue Fähigkeiten zu erlernen:
à Sie sammeln genug Erfahrungspunkte (Exp) für den Levelaufstieg (nur mit Berufsklasse möglich!)
à Sie schließen eine Quest ab.
à Sie entdecken bestimmte Orte, Artefakte oder Wesen.
à Sie interagieren mit spielinternen Personen (NPCs)
à Sie beherrschen die Fähigkeiten bereits im realen Leben und wenden Ihre Kenntnisse mehrmals
erfolgreich in Raoie an.
+
Eine Besonderheit in Raoie:
à Sie können eigene Fähigkeiten entwickeln! Wie dies möglich ist, müssen Sie selbst heraus finden!
Tutorial-Quest!
Sprechen Sie mit dem Ausbilder Tarat Derenir auf dem Trainingsgelände im nordöstlichen Teil der Stadt. Sie erkennen ihn an seinen roten Haaren und Schnurbart.
„Endlich!“, stieß Bahe enthusiastisch hervor. Anschließend schloss er das Benachrichtigungsfenster und lief zum Zentrum des Marktplatzes, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
Er hatte sich inzwischen relativ detailliert über die einzelnen Tutorialmissionen informiert und wie er nicht anders erwartet hatte, sollte er einen Ausbilder auf dem Trainingsgelände im nordöstlichen Stadtteil ansprechen. Vom Zentrum des Marktplatzes sollte in der Richtung des entsprechenden Stadtteils ein Kirchturm zwischen zwei Schornsteinen der umliegenden Gebäude aufragen.
Bahe schaute sich um und fand den richtungsweisenden Kirchturm einige Zeit später zu seiner Rechten. Er wollte schon loslaufen, als ihm eine noch viel wichtigere Sache durch den Kopf schoss. Er hatte sich noch gar nicht seine Berufsklasse angeschaut!
„Charakterprofil!“
Charakter: Anael Level: 0
Beruf: – Erfahrungspunkte: 0/1000
Titel: – Gesundheit / HP: 110/110
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 0/0
Volkszugehörigkeit: Mensch Ruhm: 110
__________________________________________________________________________________
Spielerstatistiken:
Kraft: 02/11 Physische Konstitution / Statur: 02/11
Intelligenz: 10/10 Gelehrtheit: 10/10
Schnelligkeit: 02/10 Geschicklichkeit: 10/10
Ausdauer: 10/10 Widerstandsfähigkeit: 04/10
__________________________________________________________________________________
Willensstärke: 12/12 Konzentration: 12/12
Reflexe: 10/10 Wahrnehmung: 12/12
Charisma: 05/05 Glück: 05/05
__________________________________________________________________________________
Angriff: 1 Energietoleranz: 0
Verteidigung / Rüstung: 1 Energieresistenz: 0
__________________________________________________________________________________
Bedürfnisse:
Hunger gestillt: 100/100 Durst gestillt: 100/100
__________________________________________________________________________________
Weitere Charakterinformationen:
Momentan keine weiteren Informationen.
Bahe erstarrte.
„Was zum Henker?“, brachte er schließlich vollkommen verblüfft heraus.
Wo war seine Berufsklasse?!
Panisch schloss Bahe sein Charakterprofil-Fenster und öffnete es ein weiteres Mal. Das Ergebnis blieb jedoch gleich.
Gab es etwa irgendeine Regel, dass man mit dem Tod in Raoie auch seine Berufsklasse verlor?
Nein, soweit er wusste nicht. Es wäre auch mehr als nur Hardcore, wenn man mit jedem Tod komplett von vorne beginnen müsste… Kaum ein Spieler würde daran Gefallen finden…
Die schockierende Erkenntnis, dass ihm aus irgendwelchen Gründen seine versteckte Berufsklasse nicht mehr zur Verfügung stand, brachte einige seiner Pläne für die nächsten Wochen durcheinander.
Immer noch am gleichen Fleck auf dem Marktplatz, rasten Bahes Gedanken, doch er kam auf keine Situation, die das Verschwinden seiner Berufsklasse erklären konnte. Zumal sich das System selbst doch noch vor ein paar Augenblicken geweigert hatte, die Spieloption des Schmerzempfindens aufgrund seiner Klasse zu reduzieren.
Um schließlich keine Zeit mehr zu verlieren, änderte er sein Ziel und machte sich auf den Weg zum größten Turm der Stadt. Der steinerne Turm befand sich zwar in der entgegengesetzten Richtung zum Trainingsgelände, machte in Bahes Augen aber im Moment mehr Sinn.
Er hatte sich stundenlang mit allen möglichen Hintergrundinformationen über Raoie versorgt. Nur hätte er nie gedacht, dass er so schnell darauf zurückgreifen musste.
Sein Ziel war der Magierturm der Stadt, der den Spielern unter anderem die Möglichkeit bot, die Berufsklasse eines Magiers anzunehmen. Früher hatte er immer den Beruf eines Magiers annehmen wollen und die Klasse in Form einer Art Nahkampfmagier spielen wollen. Genau diese Spielweise hatte ihn und seinen Vater in Dreamworld auch zum Erfolg geführt und berühmt gemacht. Es lag ihm einfach.
Trotzdem ärgerte er sich schwarz, dass irgendetwas mit seiner besonderen Berufsklasse schief gelaufen war. Er bog noch zwei Mal ab und kam kurz vor dem Eingang zum Vorplatz des Magierturms schließlich zum Stehen.
Es tummelten sich unzählige Menschen in Magierroben oder in Gewändern der Novizen auf dem Vorplatz des Turms und Bahe stach bereits jetzt aus der Masse der Menschen stark hervor.
Etwas weiter hinten ragte der gigantische Turm in den Himmel empor. Insgesamt wies er zwölf Stockwerke auf und überragte damit jedes andere Gebäude der Stadt. Architektonisch war er nicht unbedingt eine Meisterleistung, da er auf dem Dach eines fast schon gewöhnlich wirkenden Reihenhauses mit zwei Stockwerken errichtet worden war.
Im Nu legte Bahe die letzten Meter über den Vorplatz zurück und ließ sich dabei auch nicht von den überall bunt aufleuchtenden Lichtern ablenken, die von verschiedenen Magiern und Novizen zu Demonstrationszwecken oder zur Übung hervor gebracht wurden.
Anschließend betrat er durch die große doppelflügelige Tür den Innenraum im Erdgeschoss und fand sich in einer Art Rezeptionsbereich wieder. Verschiedene Schilder über einer Art Schalter, wie man sie aus der realen Welt in der Öffentlichkeitsarbeit kannte, erklärten die Funktion des jeweiligen Standorts und Bahe erkannte recht schnell, dass er sich ans Ende einer Schlange von sechs Leuten stellen konnte.
Die Sechs vor ihm schienen auch allesamt Spielanfänger zu sein, die sich der Prüfung unterziehen wollten, die feststellte, ob sie überhaupt als Magier in Frage kamen. Der Test überprüfte außerdem für welches Element der Magie man am besten geeignet war. Leider wies der Test auch durchaus negative Ergebnisse auf und brachte die Spieler, die sich nichts sehnlichster wünschten, als Magier zu werden, zur Verzweiflung.
In Raoie war nichts absolut. Selbst wenn man dem Feuerelement zugeordnet wurde, konnte ein Spieler durch eigene harte Arbeit immer noch ein Wassermagier werden. Dabei spielte vor allem die Affinität mit dem jeweiligen Element eine große Rolle. Jeder Mensch und ebenso jeder Spieler, der die Berufsklasse der Magier wählen wollte, brachte in dieser Hinsicht andere Voraussetzungen mit. Ein Spieler, der eine Affinität von zehn Prozent mit dem Element Feuer und von acht Prozent mit dem Element Wasser aufwies, würde von den Magiern zunächst selbstverständlich als Feuermagier empfohlen.
Umso größer die Affinität mit einem Element, umso besser war es für den Magier, wenn er entsprechende Zauber wirkte. Die Zauber wurden nicht nur um den jeweiligen Prozentsatz verstärkt, sie benötigten sogar weniger Mana, um gewirkt zu werden. Beides waren enorme Vorteile für jeden Magier.
Nahezu alle Spieler versuchten deswegen ständig ihre Affinität mit den Elementen zu verbessern. Allerdings war dies ein sehr langwieriger Prozess bei dem selbst die kleinsten Fortschritte groß gefeiert wurden.
Der erfolgreichste Spieler in dieser Hinsicht sollte ein Magier namens Tallios sein, der eine Affinität von siebzehn Prozent mit dem Element der Blitze aufwies. Bahe hatte gelesen, dass er gemeinhin bereits als der Donnergott verschrien war.
Damals hatte er nur den Kopf schütteln können, doch umso länger er in der Reihe stand und darauf wartete, dass er endlich dran kam, umso mehr musste er schlucken. Zwei Spieler waren bereits weg geschickt worden, nachdem ihnen mit keinem Element eine Affinität von mehr als zwei Prozent attestiert wurde.
Wie Bahe erfuhr brauchte man eine Affinität von mindestens fünf Prozent mit irgendeinem Element, um überhaupt als Magiernovize akzeptiert zu werden. Die letzten vier Leute vor ihm erzielten diesmal bessere Ergebnisse. Zwei junge Mädchen, bei denen Bahe wirklich in Frage stellte, ob sie schon sechszehn waren, hatten mit dem Element Wasser beziehungsweise mit dem Element Luft jeweils eine Affinität von sechs Prozent.
Der vorletzte Kandidat vor Bahe erzielte mit einer Affinität von acht Prozent mit dem Element Feuer schon ein überdurchschnittliches Ergebnis und wurde von dem Novizen, der den Test durchführte, überschwänglich beglückwünscht.
Diesmal kam Bahe auch dazu, sich den Ablauf des Testes genauer anzuschauen und stellte überrascht fest, dass man nur die Hände an einen großen Monolithen legen musste. Irgendwie hatte er mehr erwartet.
Je nachdem wie hoch die Affinität war, begann der Monolith in der Farbe des Elementes bis zu einem bestimmten Punkt von unten nach oben zu leuchten. Markierungen am Monolithen zeigten dabei die Prozentzahl der Affinität mit dem Element an. Alles was der Novize machen musste, war dementsprechend die Markierungen an der Skala des Monolithen abzuzählen.
Der letzte Kandidat vor Bahe kam schließlich dran und wurde als Magiernovize mit ganzen sechs Prozent Affinität mit dem Element der Dunkelheit aufgenommen. Auch diesmal beglückwünschte der Prüfer den Spieler überschwänglich, was diesmal jedoch daran lag, dass der Spieler eine Affinität mit dem sehr seltenen Element der Dunkelheit aufweisen konnte.
Endlich war Bahe dran und ging einen Schritt auf den Magiernovizen zu, der den Test abnahm.
„Willkommen bei der Magiergilde von Waldenstadt“, folgte der Magiernovize dem Protokoll. „Du bist hier, um deine Affinität mit den Elementen zu prüfen?“
„Ganz genau“, antwortete Bahe sofort nickend.
„Dann gehe zum Monolithen und berühre ihn mit deinen Händen in der Mulde unterhalb der Skala.“
Bahe nickte ein weiteres Mal und folgte den Anweisungen. Er war inzwischen ziemlich nervös.
Als seine feuchten Handflächen den kalten Stein des Monolithen berührten, hoffte er mit aller Kraft bloß genug Affinität mit einem der Elemente aufweisen zu können.
Einen Moment geschah nichts und Bahe wollte schon fast verunsichert seine Hände vom Monolithen nehmen, als dieser plötzlich in zwei Farben zu leuchten begann!
„Was…?“, zog der Magiernovize neben ihm plötzlich scharf den Atem ein und starrte wie gebannt auf den Monolithen.
Ein braunes und ein blaues Licht umhüllten den Fuß des Monolithen jeweils von einer Seite und mit stetigem Pulsieren stiegen die Lichter nach und nach empor.
In ein paar Sekunden hatten die beiden Lichter bereits die fünf Prozentmarke der Skala erreicht und allem Anschein nach, hatte die empor wandernden Lichter noch keine Absicht zum Stillstand zu kommen.
„Hey, schaut euch das an! Bei dem Jungen da, leuchtet der Monolith in zwei Farben!“
„Wie geht das denn?“
„Scheinbar muss er gleich starke Affinitäten mit zwei verschiedenen Elementen haben, der Glückspilz.“
„Seht euch das an, der Junge ist schon über sechs Prozent hinweg und es steigt immer noch!“
Bahe nahm die rege Diskussion, die hinter ihm entbrannte nur unterbewusst wahr. Er war vielmehr mit den immer noch ansteigenden Lichtern beschäftigt, die inzwischen die acht Prozent Marke überschritten.
„Acht Prozent!“
„Unfassbar!“
„Der Typ hat so ein Glück!
„Neun Prozent!“
„Zehn Prozent!“
„Und es steigt immer noch!“
Die Stimmen drängten sich Bahe langsam in die Ohren, als sie immer hysterischer wurden. Mit aller Kraft löste Bahe kurz seinen Blick von den Lichtern und blickte zum Magiernovizen neben ihm, der die Prüfung abnahm. Der Novize hatte seinen Mund vor Stauen weit geöffnet und blickte dümmlich auf die immer noch steigenden Lichter.
Von dem Anblick und den schreienden Stimmen im Hintergrund überzeugt, dass er es sich nicht einbildete, wandte Bahe seinen Blick wieder dem Monolithen zu.
Die Lichter überschritten gerade die fünfzehn Prozentmarke!
Die Aufschreie wurden hinter ihm immer lauter, doch die Lichter hielten nicht.
Siebzehn Prozent!
Achtzehn Prozent!
…
Zwanzig Prozent!
…
Vierundzwanzig Prozent!
Fünfundzwanzig Prozent!
Bahe konnte sein Glück kaum fassen!
Die Lichter blieben an der fünfundzwanzig Prozentmarke endlich stehen und tauchten einen Großteil des grauen Monolithen in ihr buntes Licht.
Keine Sekunde später brach ein riesen Tumult aus, als die Umgebung hinter ihm regelrecht explodierte!
„Fünfundzwanzig Prozent in zwei Elementen!“
„WTF?!“
„Wie ist das möglich?!“
„Sagt schnell unserem Gildenanführer Bescheid! Wir müssen den Typen anwerben!“
„Fünfundzwanzig Prozent! Sobald der ein paar Zauber wirken kann, ist er bereits jetzt schon so unglaublich übermächtig!“
„Der Donnergott ist ein Witz gegen den Jungen!“
Bahe brauchte einen Moment, um wieder zu sich zu kommen, löste seine Hände vom Monolithen und wandte sich dann an den Magiernovizen neben ihm.
„Habe ich bestanden?“
Der Novize klappte hörbar seinen offen Mund zu und stotterte dann: „Ich… Ich… weiß es nicht. Sowas… ist noch nie vorgekommen… Fünfundzwanzig Prozent… und das mit zwei Elementen… Ich muss meinen Meister fragen. Bitte entschuldige mich einen Moment.“
Daraufhin verschwand der Novize in Windeseile in einem Gang und kam keine Minute später mit einem alten, aber noch sehr fit wirkenden Magier im Schlepptau wieder angerannt.
„Du bist also der Junge, der eine Affinität von fünfundzwanzig Prozent mit zwei Elementen aufweist, ja?“, fragte der alte Magier, den eine ungewöhnliche, fast schon knisternde Aura umgab.
„Ähm, ja…?“, nickte Bahe zögerlich und der Blick des Magiers verfinsterte sich.
„Das ist mein Meister, Magier Hohest. Er hat bereits vor vielen Jahren den Rang eines Meisters erlangt. Du solltest ihm den gehörigen Respekt zollen!“, wurde Bahe von den Novizen lautstark ermahnt.
Erneut entbrannte hinter ihm wildes Getuschel.
„Ein Meistermagier!“
„Das erste Mal, dass ich einen sehe.“
„Findet ihr nicht auch, dass ihn eine besondere Aura umgibt?“
„Verdammt richtig, der Magier wirkt allein beim rum Stehen schon mächtig!“
„Der Junge hat so ein Glück! Glaubt ihr, dass er von dem Meistermagier direkt eine Quest auferlegt bekommt?“
Bahe blendete die Spekulationen hinter ihm aus und kam schnell der Aufforderung nach und verbeugte sich leicht: „Entschuldigen Sie bitte, Meister Hohest, dass wusste ich nicht.“
„Ach, lass gut sein, Derk. Der Junge scheint vom Lande zu sein, da kennt man nicht alle Verhaltensregeln der Stadt“, winkte der Meistermagier mit einem Mal großmütig ab.
Soviel dazu, dachte Bahe genervt. Zunächst der finstere Blick und beim ersten Anzeichen von Unterwürfigkeit wird mit Großmut um sich geworfen…
„Kannst du bitte noch einmal deine Hände auf den Monolithen legen, mein Junge?“, bat ihn der Meistermagier.
„Selbstverständlich, Meister Hohest“, sagte Bahe nickend und wandte sich erneut dem Monolithen zu.
Wieder stiegen zwei Lichter parallel zu einander am Monolithen empor und Bahe sah, wie sich im Gesicht des Meistermagiers blankes Erstaunen breit machte.
Hätte Bahe nicht Angst gehabt den Magier zu verärgern, hätte er vermutlich laut losgelacht, als dieser doch tatsächlich die Augen mehrmals schloss und wieder öffnete, als könne er nicht glauben, was er am Monolithen sah.
Am Ende blieben die Lichter wieder an der fünfundzwanzig Prozentmarke stehen und Bahe nahm kurze Zeit später die Hände vom Monolith.
Der Meistermagier starrte eine Weile vor sich hin und murmelte leise vor sich hin: „Das kann unmöglich sein… Sowas gab es noch nie… Könnte der Zauber des Monoliths an Wirkung verloren haben…?“
Anschließend musterte er Bahe mit einem merkwürdig, nachdenklichen Blick, bis er plötzlich weit die Augen aufriss. Scheinbar war er zu einer Erkenntnis gekommen, denn er grinste auf einmal selbstgefällig.
„Könntest du den Test noch ein letztes Mal wiederholen?“, fragte er Bahe ohne Erklärung.
„Sicher, Meister Hohest“, antwortete Bahe achselzuckend und legte die Hände wieder an den Monolith.
Das Schauspiel wiederholte sich, bis die Lichter erneut an der fünfundzwanzig Prozentmarke verweilten.
„Bitte lass den Monolithen nicht los, bis ich es sage“, gebot der alte Magier, als Bahe die Hände zurücknehmen wollte.
„Wie Sie wünschen, Meister Hohest.“
Der Meistermagier nickte mit einem breiten Lächeln und ging um Bahe und den Monolithen mehrmals herum, als ob er irgendetwas prüfe und musterte zwischendurch immer wieder Bahe von oben bis unten.
Bahe stand derweil mit den Händen am Monolith und wartete auf die nächste Anweisung, während die inzwischen zahlreichen Zuschauer hinter ihm erneut in wilde Spekulationen verfielen.
„Was untersucht der Magier? Habt ihr eine Ahnung?“
„Wer kann von uns schon einen Meistermagier und seine Beweggründe verstehen…“
„Vielleicht sieht er irgendetwas, dass wir nicht wahrnehmen können…?“
„Er schaut auch immer zwischen dem Monolithen und dem Jungen hin und her…“
Es vergingen mehrere Minuten, in den Bahe stets am Monolith stand und das Lächeln im Gesicht des alten Magiers immer breiter wurde.
Wenn er auf die Lösung gekommen war, könnte er ihn ruhig erlösen, dachte Bahe genervt. Es wurde langsam ziemlich anstrengend die Hände gegen den Monolith zu drücken. Bahe hatte beinahe das Gefühl, dass ihm seine Kraft aus den Händen gezogen wurde. Etwas so Merkwürdiges hatte er noch nie empfunden.
Irgendwann konnte er seine Hände einfach nicht mehr oben halten und torkelte erschöpft zwei Schritte zurück, während er keuchend versuchte zu Atem zu kommen.
„Meister, habt ihr Lösung, für das Phänomen?“, fragte er Magiernovize Derk vor Neugier fast platzend.
„In der Tat, Derk“, lächelte der alte Magier selbstgefällig und lief, um die Spannung noch ein wenig auszukosten ein weiteres Mal um den Monolith herum.
„Dieser Junge da, ist in Wirklichkeit gar kein Junge“, meinte er dann gefährlich fröhlich und zeigte auf Bahe.
„Wie… Was meint ihr Meister?“
„Wachen!“, rief der alte Magier plötzlich und ging mit höhnischer Miene auf Bahe zu. „Du hast wohl gedacht, du könntest uns mit deinen Fähigkeiten austricksen und unsere Zauber lernen, du ekelhafte Kreatur!“
Bahe war vollkommen überrumpelt und wich verdattert ein paar Schritte zurück: „Ich verstehe nicht wovon ihr sprecht, Meister Hohest…“
„Hör gefälligst auf mich bei meinem Namen anzusprechen, du jämmerlicher Wurm!“, schrie in der Meistermagier plötzlich wutentbrannt an. „Du dachtest wohl, deine Fähigkeiten als Formling würden dich an unseren Auslesezaubern vorbei schleusen, was? Dummer Weise hast du es übertrieben und wolltest dir ein Bisschen zu viel Ruhm einheimsen, he?!“
„Formling…?“, fragte Bahe verwirrt.
„Du wirst in den Kerker geworfen, bis ich dich persönlich dem Grafen von Waldenstadt übergebe! Kein Mensch kann eine solch starke Affinität mit zwei Elementen aufweisen! Und weißt du, was dich erst recht verraten hat? Deine riesigen Manareserven! Kein Anfänger ist im Besitz von so viel Mana, dass er den Monolith solange erleuchten kann! Pah!“
Bahe schwante langsam, dass er in ernste Schwierigkeiten gekommen war und wollte gerade abhauen, als er plötzlich komplett bewegungsunfähig war.
Der alte Magier lachte: „Du wolltest wohl abhauen, was? Glaubst du wirklich, ein einfacher Formling kann mir entkommen?!“
War das Magie? Fragte sich Bahe entsetzt.
„Aber ich bin kein Formling! Ich wollte doch nur ausprobieren, ob ich das Zeug zum Magier habe!“, rief Bahe wütend, während er verzweifelt darum kämpfte, sich aus dem unsichtbaren Griff zu befreien, der ihn erfasst hatte.
Er bemühte sich vergebens für ein paar Sekunden, bis vier weitere Magier auftauchten und sich um ihn postierten.
„Ob du ein Formling bist oder nicht, werden die Wachen im Kerker schon herausfinden“, meinte der alte Magier mit einem süffisanten Grinsen und nickte den vier Magiern zu. „Ab in den Kerker mit ihm und schont diese abscheuliche Kreatur nicht!“
„Sehr wohl, Meister Hohest!“, riefen die vier Magier gemeinsam.
„So war das also!“
„Hätte ich mir ja gleich denken können. Es ist für uns Spieler einfach unmöglich eine Affinität von fünfundzwanzig Prozent mit einem der Elemente zu haben…“
„Aber wie geil ist das bitte?! Ein Formling?“
„Ja, nicht wahr?“
„TNL hat sich so viele Details einfallen lassen…“
Bahe fluchte im Stillen, als die vier Magier ihn an den Armen packten und abführten. Er versuchte erst gar nicht gegen die Männer anzukämpfen. Solange er noch in der Nähe des Meistermagiers war, hätte er eh keine Chance zu verschwinden.
Aber was war hier bitte los?
Es konnte doch unmöglich wahr sein, dass ihm nicht nur seine Berufsklasse aberkannt wurde, sondern er obendrein auch noch so viel Pech hatte und in den Kerker gesperrt werden sollte?
Konnte diese ganze Situation mit irgendeiner Quest zu tun haben?
Nein, wohl eher nicht… Es sei denn, es würde sich um eine Quest im zwielichtigen Bereich der Gesellschaft handeln. Aber damit wollte Bahe erst gar nichts zu tun haben. Er hatte von verschiedenen Spielern Berichte gelesen, dass diese die Rolle von Dieben oder Meuchelmördern nicht gerade empfehlen konnten. Die Berufsklassen eigenen Fähigkeiten waren zwar stark, standen aber in keiner Relation zu den vielen Nachteilen, die ein Leben auf der Flucht und im Schatten der Gesellschaft mit sich brachte.
Die vier Magier schleiften Bahe aus dem Rezeptionsbereich und verließen mit ihm das Hauptgebäude. Scheinbar wollten sie ihn zu einem Nebenhaus bringen, das aus der Tür kommend rechts neben dem großen Magierturm stand.
Bahe überlegte fieberhaft, wie er entkommen könnte, während ihn die Magier über den Rand des Vorplatzes eskortierten. In Bahes unmittelbarer Nähe blitzen ständig Lichter der unterschiedlichsten Zauber auf, als sich Novizen an ihren Zaubern versuchten.
Verdammt, dachte er angespannt. Die flackernden Lichter erschwerten ihm stark den Überblick über den Vorplatz.
Hier und da gelang ein Zauber und weiter hinten gab es scheinbar zwei Novizen die in einer Art Duell versunken waren. Einer der Novizen wirkte mit höchster Konzentration Erdzauber und schaffte es tatsächlich eine riesige und aus Erde bestehende Hand aus dem Boden zu beschwören.
Bahe staunte nicht schlecht, während er weiter vorwärts gezerrt wurde.
Der andere Novize hatte anscheinend eine starke Affinität mit dem Element Feuer und erschuf einen riesigen Feuerball, den er der Erdhand entgegen warf. Der Novize des Erdelements lachte siegesgewiss, bis sich der Feuerball plötzlich zusammenzog und kurz vor dem Aufprall mit der Erdhand explodierte!
„Erdwall!“, schrie der Novize des Erdelements panisch und warf sich der Länge nach zu Boden. Ein kleiner Erdwall erhob sich aus dem Boden und schützte den Novizen gerade genug, um nicht von den Auswirkungen des Aufeinandertreffens erwischt zu werden.
Die Erdhand konnte der Wucht der Explosion nicht standhalten und Brocken des Erdreichs flogen in alle Richtungen davon.
Bahe bekam große Augen, da er sich mit den vier Magiern gerade unmittelbar hinter dem Erdnovizen befand.
Die Wachen fluchten und bedienten sich ihrer eigenen Zaubersprüche, um sich die Klumpen grober Erde und Gesteins vom Leib zu halten und Bahe sah in der chaotischen Situation seine Chance zur Flucht gekommen!
Wie vom Wahnsinn getrieben preschte er zwischen den vier Magiern und ihren Schutzzaubern hindurch und rannte durch den Hagel aus Erdklumpen in die Menge der Novizen. Er versuchte sein Gesicht mit den Armen zu schützen und kniff die Augen zusammen, während einige Erdbrocken schmerzhaft seinen Körper trafen und Schadensmeldungen in mehreren, durchscheinenden Fenstern aufklappten.
Er biss die Zähne zusammen und hatte nach kürzester Zeit bereits zehn Meter hinter sich gebracht. Scheiße, dachte er wütend. Vierundachtzigprozentiges Schmerzempfinden? Der Unterschied zu den hundert Prozent war kaum zu spüren!
Die Magierwachen fluchten hinter ihm lauthals und geboten ihm stehen zu bleiben.
Waren die noch bei Trost? Welcher Flüchtige würde in solch einer Situation auf sowas hören…
Bahe war erleichtert, dass sein Plan aufgegangen war und die Magier in der Menge der Novizen nicht mit ihren Zaubern um sich warfen. Mit absoluten Höchstleistungen rannte er im Zickzack durch die Menschenmenge des Vorplatzes und bog anschließend in eine kleine Seitengasse ab.
Entspannen konnte er sich nicht, da hinter ihm noch immer die wütenden Schreie der Magier erklangen. Was folgte war eine chaotische Verfolgungsjagd quer durch die Stadt, bei der sich Bahe so ziemlich jeder Chance bediente, um den Zaubern der Magier auszuweichen.
Bahe erkannte ziemlich schnell, dass die menschenleeren Seitengassen sein Verderben bedeuten würden, nachdem ein Eiszauber ihn beinahe an den Beinen erwischt hatte und wich anschließend auf die belebteren Hauptstraßen der Stadt aus, die sein Vorwärtskommen aber erheblich erschwerten.
Er brauchte insgesamt zwanzig Minuten, in denen Bahe mehrmals an seine Grenzen stieß und keuchend für einen Augenblick zum Stillstand kommen musste, was im Endeffekt dafür sorgte, dass er seinen Vorsprung nie ausbauen konnte.
Dann kam endlich ein Tor der Stadtmauer in Sicht und Bahe rannte mit letzter Kraft darauf zu. Kaum einen Moment später rannten die Magier um die Ecke und schrien der Torwache zu, dass sie unbedingt das Tor schließen sollten.
Bahe ignorierte das Geschrei und preschte mit allem was er hatte voran.
Zu seinem Glück schienen die Wachen etwas schwer von Begriff zu sein und blickten zunächst nur verwirrt auf die Magier. Dann entdeckten sie jedoch Bahe und machten sich plötzlich hecktisch am Tor zu schaffen, während einer der Wachen nach oben rannte und sich zu Bahes Schrecken am Fallgitter zu schaffen machte.
Mit einem Schrei beschleunigte Bahe seine erschöpften Schritte ein weiteres Mal, warf sich im letzten Moment zu Boden und rutschte unter dem herab fallenden Fallgitter hindurch.
Bahe zögerte nicht lange und kämpfte sich schnell wieder auf die Beine. Er musste den Wald erreichen, bevor ihm die Magier folgen konnten.
„Zieht das verdammte Gitter wieder hoch!“
„Beeilt euch! Der Formling entkommt!“
Keuchend durchbrach Bahe schließlich die ersten Büsche und tauchte immer tiefer in den Wald ein. Er blieb noch lange wachsam und entfernte sich immer weiter von den wütenden Stimmen der Magier, bis schließlich nichts mehr von seinen Verfolgern zu hören war.
Glücklicher Weise war er diesmal so geistesgegenwärtig gewesen und nach Süden gelaufen. Hier hielten sich in der näheren Umgebung der Stadt nicht nur weniger Kreaturen auf, sie waren gemeinhin auch harmloser und weniger angriffslustig wie im Norden von Waldenstadt.
Oben auf einem Hügel, in der Nähe eines kleinen Baches, war er letzten Endes zum Stehen gekommen und sackte erschöpft auf dem Boden zusammen. Nicht weit von ihm zog sich ein Trampelpfad durch die Natur, der jedoch Menschen leer war und von dem man die Stelle, die sich Bahe ausgesucht hatte, eh nicht einsehen konnte.
Es war ein Wunder, dass er den Magiern doch tatsächlich entkommen war…
Würde er nun als Geächteter gelten? Bahe war sich nicht sicher, inwieweit er sich wieder in die Stadt trauen konnte…
„Total bescheuert dieser Meistermagier, nicht wahr?“, meinte eine hohe Stimme fröhlich.
Bahe konnte nur zustimmend nicken.
„Dabei ist er nicht mal besonders gut in seiner Disziplin…“, sprach die Stimme erneut, diesmal jedoch geringschätzig.
Bahe war kurz davor, wieder zu zustimmen, als ihm plötzlich klar wurde, dass jemand mit ihm sprach und er vor Schreck einen Satz in die entgegengesetzte Richtung machte.
Als er sich wieder gefangen hatte, traute er seinen Augen kaum. Nicht weit von ihm entfernt saß ein kleines Mädchen auf einem Felsen und spielte mit einem Finger in ihren knallblauen Haaren. Sie besaß ein zierliches Gesicht mit einer kleinen Stubsnase und trug ein Lächeln zur Schau, das einem den Atem raubte.
Doch das Merkwürdigste an ihr war, dass ihr Körper seltsam durchscheinend wirkte. Bahe fragte sich tatsächlich, ob er einen Geist vor sich hatte und brachte lieber ein paar Schritte mehr Abstand zwischen sich und das kleine Mädchen.
Die Kleine kicherte darauf hin und fragte: „Was hältst du von unserem Meister, Brocken?“
„Ich bin mir noch nicht sicher… Er scheint ganz nett zu sein…“, ertönte plötzlich eine dunkle und raue Stimme unmittelbar hinter Bahe.
„Wah!“, rief er vor Schreck und machte schnell zwei Schritte zur Seite, um den Ursprung der Stimme in Augenschein zu nehmen.
Bahe hatte vorhin schon kaum seinen Augen trauen können, doch jetzt fragte er sich langsam, ob er halluzinierte.
Zu seiner Rechten saß ein kleiner Junge mit braunem Haar, der ebenfalls merkwürdig durchscheinend wirkte. Das Gesicht des Jungen war etwas rundlich, als ob er noch nicht allen Babyspeck losgeworden war und zusammen mit den weit aufgerissenen Augen wirkte er recht naiv.
„Denkst du eigentlich manchmal nach, bevor du sprichst? Woran willst du denn bisher erkannt haben, dass er nett ist?“, wies das Mädchen den Jungen zurecht.
„War nur so ein Gefühl…“, zuckte der Junge kleinlaut mit den Schultern.
Bahe wandte währenddessen gerade noch rechtzeitig den Blick, um aus dem Staunen nicht mehr heraus zu kommen.
Das Mädchen stellte sich auf den Felsen und verwandelte ihren Körper plötzlich komplett in Wasser!
Für einen kurzen Moment waren die Körperproportionen in dem Zustand noch gut zu erkennen, bis ihr Körper regelrecht zerfloss und über den Boden zu Bahe strömte. Keinen Wimpernschlag später sprudelte das Wasser senkrecht vom Boden empor und machte die Verwandlung rückgängig, indem es erneut den Körper des Mädchens bildete. Die Kleine vollführte einen leichten Knicks und stellte sich vor: „Entschuldige bitte Meister, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Limona und das da drüben ist Brocken“, sagte sie grinsend und ging anschließend um Bahe herum.
„So sieht also ein Elementflüsterer aus… wirklich mächtig scheinst du nicht zu sein… merkwürdig…“
„Zu Hause hat Großvater auch immer davon berichtet, dass die Elementflüsterer vergangener Zeiten unglaublich mächtig waren… Aber er… erscheint mir auf dem ersten Blick auch ein Wenig dümmlich…“, meinte der Junge langsam.
Bahe kam sich vor wie ein Tier im Zoo, als die beiden Knirpse ihn so kritisch musterten und gar nicht erst in Betracht zogen, ihre Meinung über ihn zurück zu halten.
Und ausgerechnet dieser einfältig wirkende Junge meinte, er sehe dümmlich aus?!
Genervt schluckte Bahe seinen Zorn runter und stellte stattdessen die Frage, die ihm viel dringender auf den Lippen lag: „Was meint ihr mit Elementflüsterer? Ich habe gar keine Berufsklasse…“
„…“
„…“
Die beiden Knirpse starren ihn verblüfft an, bis das Mädchen mit einem Nicken meinte: „Du hast recht mit dem dümmlich… nur ist ein Wenig vielleicht ein Bisschen untertrieben.“
„Hey!“, brauste Bahe auf.
„Dir ist schon klar, dass wir gar nicht hier erscheinen würden, wenn du kein Elementflüsterer wärst, oder?“
„Eh…“, Bahe wusste nicht was er sagen sollte.
„Menschen! Unglaublich!“, stampfte das Mädchen mit den Füßen auf und schüttelte den Kopf.
„Vielleicht kann… er… nichts dafür… Er ist seit Jahrhunderten der erste Elementflüsterer…“, versuchte der Junge auf seine langsam sprechende Art scheinbar zu vermitteln, als prompt ein Fenster aufklappte:
Herzlichen Glückwunsch!
Du bist seit Jahrhunderten der erste Elementflüsterer in Raoie!
Belohnung: Hinweis zu einer klassenspezifischen Quest
„Die Luft ist der Ozean der Vögel.“
„Was…?“, Bahe war für einen Moment sprachlos, bis er das Fenster schloss und verwirrt vor sich hin murmelte: „Aber vorhin in der Stadt hatte ich doch gar keine Berufsklasse…“
„Was ja auch kein Wunder ist, Bahe!“, verdrehte die Kleine ihre Augen.
„Was meinst du?“
„Du bist anscheinend durch einen glücklichen Zufall der erste Elementflüsterer seit vielen Jahrhunderten geworden! Anders kann ich es mir gar nicht erklären, wie ich an so einen Einfallspinsel geraten bin… Ihr Menschen seid noch lange nicht für die Fähigkeiten und die Verantwortung bereit, die diese Berufung mit sich bringt!“
„Das erklärt immer noch nicht meine Frage…“
„Boar, wir haben dir geholfen, du Idiot. Sag mal, kommt er nur mir so dumm vor?“, wandte die Kleine sich an den Jungen.
„Wir haben dafür gesorgt, dass in der Stadt niemand herausbekommt, dass du bereits ein Elementflüsterer bist“, erklärte der Junge ernst. „Du solltest in Zukunft darauf achten, niemanden deine Klasse zu verraten, bis der Rest der Menschheit bereit ist, mit Elementaren umzugehen.“
Deswegen wurde seine Berufsklasse nicht angezeigt?! Bahe raufte sich die Haare und wusste nicht wie er seiner Wut Luft machen sollte.
„Du solltest das ernst nehmen! Selbst vor… Jahrtausenden… waren die Elementflüsterer legendär. Sie waren unglaublich mächtig… überall wurde mit… Ehrfurcht von ihnen gesprochen…“, sprach der Junge langsam mit seiner tiefen Stimme. „Wenn du… unsere Bemühungen zu Nichte machst… und jemanden von deiner Berufung erzählst, werden wir uns von dir trennen!“
„Verlass dich drauf!“, stimmte das Mädchen zu.
Bahe wollte noch etwas erwidern, als ein neues Fenster aufklappte:
Deine Berufsklasse der Elementflüsterer besitzt unglaublich mächtige Fähigkeiten und ist legendär. Die Menschheit ist für deine Berufung noch nicht bereit und da es bisher nur Mythen und Sagen über deine Berufung gibt, sollte es vorerst auch so bleiben.
Du darfst deine Berufsklasse Niemanden verraten, bis die versteckte Berufsklasse der Elementarbeschwörer vom Volk der Menschen entdeckt wird!
Verrätst du deine Berufung an irgendjemanden, werden die legendären Elementare den Seelenbund mit dir trennen. Deine Seele wird ernsten Schaden nehmen, was zur Folge hat, dass du deine Berufsklasse, Erfahrung und sämtliche Fähigkeiten verlierst!
„Oh man…“, entfuhr es ihm.
Das waren ganz schön heftige Konsequenzen, dachte Bahe mit einem mulmigen Gefühl. Er würde in Zukunft wahrscheinlich auch aufpassen müssen, dass er die Berufsklasse nicht durch die Aktivierung seiner Fähigkeiten verriet…
Allein bei dem Gedanken daran, auf wie viele Dinge er in Zukunft achten musste, bekam er bereits Kopfschmerzen…
„Ah, scheinbar hast du jetzt verstanden wie ernst die Lage ist“, meinte das Mädchen und wandte sich an den Jungen. „Wir sollten Ihn vielleicht einen Moment zum Nachdenken geben… Er scheint ja immer eine Weile zu brauchen.“
Der Junge nickte nur und zusammen gingen sie ein paar Schritte weiter und unterhielten sich leise untereinander.
„…“, Bahe wollte genervt schon wieder aufbrausen, ließ es dann mit einem Seufzen jedoch bleiben und öffnete stattdessen mit neuer Hoffnung neugierig sein Charakterprofil.
Charakter: Anael Lerua
Beruf: Elementflüsterer! Level: 0 !
Berufsstatus: Legende ! Erfahrungspunkte: 0/1000
Titel: – Gesundheit / HP: 56/110
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 300/300 !
Volkszugehörigkeit: Mensch Ruhm: 110
__________________________________________________________________________________
Spielerstatistiken:
Kraft: 04/11 ! Physische Konstitution / Statur: 03/12 !
Intelligenz: 10/10 Gelehrtheit: 10/10
Schnelligkeit: 03/12 ! Geschicklichkeit: 10/10
Ausdauer: 10/10 Widerstandsfähigkeit: 05/13 !
__________________________________________________________________________________
Willensstärke: 14/14 ! Konzentration: 13/13 !
Reflexe: 10/10 Wahrnehmung: 32/32 !
Charisma: 15/15 ! Glück: 07/07 !
__________________________________________________________________________________
Angriff: 1 Magieresistenz: 0-25
Verteidigung / Rüstung: 2 -- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> 2/10 Elementen je 25%: Erde, Wasser
__________________________________________________________________________________
Bedürfnisse:
Hunger gestillt: 98/100 Durst gestillt: 98/100
__________________________________________________________________________________
Affinität mit den Elementen: !
Erde: 25/100 Wasser: 25/100
__________________________________________________________________________________
Berufsklasseneigene Fähigkeiten und Zauber:
Erdzauber:
Steinhaut Level 1 !
Aktivierungskosten: 50 Mana + Erhaltungskosten: 10 Mana pro Minute
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Deine Haut wird wesentlich widerstandsfähiger indem sie zu Stein wird.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Widerstandsfähigkeit +50
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Verteidigung / Rüstung +10
Mineraliensuche Level 1 !
Aktivierungskosten 50 Mana + Erhaltungskosten: +10 Mana für jeden Meter der ersten 10 Quadratmeter, +20 Mana für die Quadratmeter 11-20
Maximale Reichweite: 20 Meter
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Du kannst deine Verbundenheit mit dem Element Erde nutzen, um in dem näheren Erdreich ungewöhnliche oder seltene Mineralien ausfindig zu machen.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Flächenfähigkeit (1 Quadratmeter)
Wasserzauber:
Wasserwandlung Level 1 !
Aktivierungskosten: 50 Mana + Erhaltungskosten: 10 Mana pro Minute
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Du kannst deinen Körper vorübergehend in Wasser verwandeln.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Deine Attributwerte sind weiterhin gültig!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Nur Kreaturen oder Menschen mit einem höheren Wahrnehmungswert als du, können den Zauber durchschauen.
Wassersuche Level 1 !
Aktivierungskosten: 50 Mana + Erhaltungskosten von 10 Mana für jeden Meter der ersten 20 Quadratmeter, +20 Mana für die Quadratmeter 21-40
Maximale Reichweite: 40 Meter
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Du kannst deine Verbundenheit mit dem Element Wasser nutzen, um in der näheren Umgebung nach Wasser zu suchen.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Flächenfähigkeit (2 Quadratmeter)
Legendäre Fähigkeiten und Zauber der Elementflüsterer:
Erdfähigkeit:
Erdmaterie !
Aktivierungskosten: 600 Mana, Dauer des Zaubers: 6 Minuten
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Deine Verbundenheit mit dem Element Erde steigt auf 100 Prozent!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Sämtliche Erdzauber die gegen dich gerichtet werden, sind vorübergehend wirkungslos!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Alle Erdzauber die du wirkst, werden um 100% verstärkt!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Alle Erdzauber die du wirkst, kosten vorübergehend nur 10% der üblichen Manakosten!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Du kannst den Zauber nur 1x alle 10 Tage wirken!
Wasserfähigkeit:
Wassermaterie !
Aktivierungskosten: 600 Mana, Dauer des Zaubers: 6 Minuten
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Deine Verbundenheit mit dem Element Wasser steigt auf 100 Prozent!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Sämtliche Wasserzauber die gegen dich gerichtet werden, sind vorübergehend wirkungslos!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Alle Wasserzauber die du wirkst, werden um 100% verstärkt!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Alle Wasserzauber die du wirkst, kosten vorübergehend nur 10% der üblichen Manakosten!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Du kannst den Zauber nur 1x alle 10 Tage wirken!
Sonderfähigkeiten:
Diplomatie (passiv): !
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Dein Charisma, Ruhm, Glück und deine Affinität zu den Elementen wirken sich positiv auf die Kommunikationsbereitschaft anderer Lebewesen dir gegenüber aus. Sämtliche Lebewesen zeigen sich dir gegenüber in Grundzügen bereits wohlwollender als der Allgemeinheit.
Kommunikationsbereitschaft anderer Lebewesen dir gegenüber:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> +13 KBP (Kommunikationsbereitschaftspunkte)
Kommunikationsbereitschaft von Elementaren oder anderen Lebewesen der Elemente Erde und Wasser dir gegenüber:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> +38 KBP (Kommunikationsbereitschaftspunkte)
Seelenbund (passiv): !
Dauerhaft beschworene Elementare:
Brocken Level 0 Limona Level 0
Element Erde Element Wasser
Rang: Legendär! Rang: Legendär!
Treue: 1/100 Treue: 1/100
Für mehr Informationen zu den Elementaren nutze die Fähigkeit „Überprüfen“.
Allgemeine Fähigkeiten:
Überprüfen (Als Zugeständnis, um in Raoie zu recht zu kommen bis Level 5 verfügbar)
Aktivierungskosten: keine (Sonderstatus bis Level 5; ansonsten 10 Mana)
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Level-, Beruf- und Volksstatistiken werden sichtbar
Identifizieren (Als Zugeständnis, um in Raoie zu recht zu kommen bis Level 5 verfügbar)
Aktivierungskosten: keine (Sonderstatus bis Level 5; ansonsten 10 Mana)
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Name, Rang und Eigenschaften von Gegenständen werden sichtbar
Weitere Charakterinformationen:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Deine Berufsklasse der Elementflüsterer besitzt unglaublich mächtige Fähigkeiten und ist legendär. Die Menschheit ist für deine Berufung noch nicht bereit und da es bisher nur Mythen und Sagen über deine Berufung gibt, sollte es vorerst auch so bleiben.
Du darfst deine Berufsklasse Niemanden verraten, bis die versteckte Berufsklasse der Elementarbeschwörer vom Volk der Menschen entdeckt wird.
Verrätst du deine Berufsklasse an irgendjemanden, werden die legendären Elementare den Seelenbund mit dir trennen. Deine Seele wird ernsten Schaden nehmen, was zur Folge hat, dass du deine Berufsklasse, Erfahrung (Level -100) und sämtliche Fähigkeiten verlierst!
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Du konntest dir Drachenblut zu eigen machen! Das Drachenblut wird über einen längeren Zeitraum deinen Körper reinigen und stärken!
Zusätzlich verfügbare Attributpunkte pro Levelaufstieg: +1/1 ATP
Effektdauer: Für die nächsten 24 Level
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Du bist seit Jahrhunderten der erste Elementflüsterer in Raoie! Belohnung: Hinweis zu einer klassenspezifischen Quest à Hinweis: „Die Luft ist der Ozean der Vögel.“
Bahe kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Nicht das seine Situation gerade sowieso schon äußerst ungewöhnlich war. Aber er hatte dauerhaft beschworene Elementare, die ihn wie eine Art Kampfgefährte in Kämpfen unterstützen würden?!
Brocken und Limona?
Waren das nicht die beiden Kinder?
Skeptisch starrte er die beiden Gestalten an. Wie Kampfgefährten sahen die Knirpse nicht gerade aus…
Egal… Er würde sich später genauer mit ihnen beschäftigen.
Mit einem weiteren Blick in sein Charakterprofil begann er sich die neuen Informationen diesmal genauer durchzulesen. Hinter vielen Werten war ein rotes Ausrufezeichen zu sehen, es kennzeichnete scheinbar neue Fähigkeiten oder Veränderungen alter Attributwerte. Begeistert war er vom Zuwachs in Charisma und Glück, üblicherweise waren Erhöhungen dieser Attribute äußerst selten, brachten allerdings enorme Vorteile mit sich. Eine direkte Folge ihrer Auswirkungen war in der Verbesserung seiner Sonderfähigkeit „Diplomatie“ zu sehen.
Bahe war von der Diplomatiefähigkeit auf jeden Fall positiv überrascht. In früheren Spielen hatte man solch eine Fähigkeit oft erst nach vielen Wochen des Spielens freischalten können. Er bezweifelte, dass es in Raoie anders war. Für den Anfang war sein Vorsprung im Umgang mit fremden Kreaturen, im Vergleich zu anderen Spielern, wahrscheinlich nicht sonderlich groß, allerdings brachte ihm die Fähigkeit gerade zu Spielbeginn nicht zu unterschätzende Vorteile.
Neben den Attributen Charisma und Glück hatten sich auch seine Wahrnehmung, Widerstandsfähigkeit, Physische Konstitution und Kraft verändert. Die ersten drei zum Positiven, während Kraft zwei Punkte durch seinen Tod und dem damit einher gehenden Levelverlust verloren hatte.
Die Energie, die ihm zur Wirkung von Zaubersprüchen zur Verfügung stand, war von null direkt auf dreihundert Mana gestiegen. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb er beim Test der Magier so lange durchgehalten hatte.
Es schien ein guter Wert zu sein, bis er auf die Aktivierungskosten seiner legendären Fähigkeiten blickte… 600 Mana…
Bahe konnte nur hoffen, dass er möglichst bald seinen Manapool erweitern konnte. Andererseits würde er diese Fähigkeiten wohl sowieso nur selten anwenden können.
„Einmal alle zehn Tage… hmmm…“, murmelte er vor sich hin.
Trotzdem waren die Fähigkeiten Gold wert, egal wie viele Beschränkungen der Aktivierung auferlegt waren. Einmal aktiviert war er quasi immun gegen jede Art der Erd- und Wassermagie! Dann kam noch die Steigerung des Schadens seiner eigenen Zauber um einhundert Prozent hinzu! Ganz zu schweigen von der Reduzierung der Kosten gewöhnlicher Zauber… Er würde zu einer regelrechten Schnellfeuerwaffe von Erd- und Wasserzaubersprüchen werden und das Ganze sechs Minuten durchhalten können, wenn sein Manapool erst einmal groß genug war.
Für einen Moment schwelgte Bahe in den Glücksgefühlen und schaute sich dann noch seine anderen Zauber an.
Er war sich nicht ganz sicher, was er von denen halten sollte. Während er Steinhaut und Wasserwandlung als guten Verteidigungszauber und Tarnzauber identifizieren konnte, war er über die anderen beiden Zauber eher enttäuscht.
Mineralien- und Wassersuche… Nun, im Hinblick auf die Wasserversorgung in Raoie schien der eine Zauber später vielleicht eine Hilfe zu sein. Zum momentanen Zeitpunkt war eine Fläche von gerade mal siebenundzwanzig Quadratmetern jedoch völlig unzureichend. Damit war gerade mal seine unmittelbare Umgebung abgedeckt, die er auch problemlos mit dem bloßen Auge erkunden konnte. Für eine größere Fläche fehlte ihm wiederum das Mana…
Der Zauber war wohl nicht ohne Grund Level 1. Bahe konnte nur hoffen, dass sich die Nützlichkeit des Zaubern später verbessern würde.
Der letzte Zauber der Mineraliensuche ließ ihn aber ratlos zurück. Wofür würde er einen solchen Zauber benötigen? Vielleicht konnte man damit Gold finden? Dann wäre er sicherlich eine gute Einnahmequelle.
Ein Blick auf die Erhaltungskosten brachte ihn von dem Gedanken ab. Bei achtzehn Quadratmetern wäre auch bei diesem Zauber sein Manapool erschöpft. Die Idee große Felsformationen damit durchleuchten zu können, hatte sich somit in Luft aufgelöst.
„Vorläufig nicht zu gebrauchen…“, murmelte er ein weiteres Mal vor sich hin.
Anstatt dieser beiden Suchzauber hätte er sich lieber einen offensiven Zauber gewünscht. Beschweren konnte er sich trotzdem nicht, allein die beiden Fähigkeiten „Erd- und Wassermaterie“ überzeugten ihn bereits voll und ganz von seiner ungewöhnlichen Berufsklasse. Vor allem freute er sich darüber, dass seine Klasse im magische Fähigkeiten verlieh, was keinesfalls der Normalfall war.
Bahe wandte sich schließlich den beiden Elementaren zu, die sich in der Nähe des Trampelpfades unterhielten. In seinem Charakterprofil standen nur die allgemeinen Informationen mit dem Hinweis auf den Zauber „Überprüfen“. Wenn er aber in Zukunft mit den Beiden kämpfen wollte, musste er zumindest wissen, welche Fähigkeiten sie besaßen.
Bahe richtete seinen Blick auf den Jungen und gab den Befehl: „Überprüfen“
Brocken
Erdelementar Level 0
Affinität mit dem Element Erde: 100%
Rang: Legendär! Treue: 1/100
Angriff: 100 Verteidigung: 500
Gesundheit: 1000 HP Energie / Mana: 1000/1000
Intelligenz: menschlich
Verfügbare Erdfähigkeiten:
Noch unbekannt
Weitere Charakterinformationen:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Spezialisierung auf das Element Erde
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Keine Zauber anderer Elemente möglich!
„Einen Angriff von einhundert?! Und fünfhundert Verteidigung?!“, Bahe konnte sein Glück kaum fassen. Bedeuteten die hohen Werte nicht, dass er in näherer Zeit quasi keinen Gegner mehr hatte? Es gab bisher kaum einen Spieler, der einen Verteidigungswert von fünfhundert knacken konnte. Seine Gegner würden gegen Brocken nur Schadenswerte im einstelligen Bereich erzielen. Angesichts der HP-Zahl Brockens konnte er solche Angriff vernachlässigen. Bahe musste breit grinsen.
Was würde erst passieren, wenn Brocken im Level aufstieg? Wie imba[i] war dieser Elementar denn bitte?
„Überprüfen“, rief Bahe schnell und blickte das Mädchen an, um sich auch die genaueren Informationen über die Kleine ansehen zu können.
Limona
Wasserelementar Level 0
Affinität mit dem Element Wasser: 100%
Rang: Legendär! Treue: 1/100
Angriff: 200 Verteidigung: 200
Gesundheit: 500 HP Energie / Mana: 1000/1000
Intelligenz: menschlich
Verfügbare Wasserfähigkeiten:
Noch unbekannt
Weitere Charakterinformationen:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Spezialisierung auf das Element Wasser
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Keine Zauber anderer Elemente möglich!
Limona besaß sogar einen noch höheren Angriffswert!
Dafür war ihre Verteidigung reduziert und auch ihre HP-Zahl war mit der Hälfte von Brockens HP deutlich kleiner.
Vermutlich musste es etwas mit dem Element zu tun haben. Doch darüber konnte er später noch mehr nachdenken. Was ihn wirklich wurmte, war die Tatsache, dass er die Fähigkeiten seiner Elementare nicht einsehen konnte.
Was sollte „Noch unbekannt“ bedeuten?
Konnten die Elementare noch gar keine Fähigkeiten wirken? Oder wurden sie für ihn erst in Kämpfen sichtbar?
Ein weiteres Problem war die Treue. Mit 1/100 war der Wert absolut unterirdisch. Für den Anfang war er natürlich normal, aber Bahe musste sich möglichst schnell etwas einfallen lassen, um ihn zu steigern.
Üblicher Weise konnte man den Treuewert der eigenen Kampfgefährten durch eine gute Versorgung mit Nahrung und Zuneigung, sowie angebrachter Erholungszeit nach den Kämpfen erheblich steigern. Allerdings setzte diese Herangehensweise voraus, dass es sich bei den Kampfgefährten um Tiere, Monster oder andere Wesen mit reduzierter Intelligenz handelte.
Limona und Brocken passten mit ihrer menschenähnlichen Intelligenz nicht in dieses Schema, weshalb Bahe zunächst ratlos war, wie er die Sache mit dem Treuewert angehen sollte.
Irgendwann schüttelte er den Kopf und widmete sich lieber seinen neu verfügbaren Zaubern.
Der Zauber Steinhaut sah ihm zunächst am Nützlichsten aus. Die Fähigkeit, seinen Verteidigungswert in Kampfsituationen zu erhöhen, war schließlich immer gefragt. Mit der Zeit würden Artefakte und starke Ausrüstungsgegenstände den Wert sicherlich lächerlich erscheinen lassen. Nichts desto trotz, 50 Punkte in Verteidigung blieben 50 Punkte. Zu Beginn des Spiels, solange der Avatar noch nicht mal über Level 10 hinaus war, stellte der Zauber schon einen besonders starken Bonus der Verteidigung dar.
Bahe wollte sofort mit der Aktivierung des Zaubers beginnen, als er stutzte. Wie wirkte man Zauber überhaupt?
Sprach man die Zaubersprüche einfach aus? Wie mit der Fähigkeit „Überprüfen“?
„Steinhaut!“
Nichts passierte. Soviel dazu.
Moment, dazu hatte er etwas gelesen… Manaaktivierung… Wie war das gleich noch mal gewesen…?
Stimmt! Er musste zunächst lernen, wie er sein Mana nutzen konnte. Dazu gab es zwei Möglichkeiten. Entweder kaufte man einen kleinen Stein, der den Nutzer das eigene Mana erfühlen ließ oder schloss eine der späteren Tutorialmissionen ab.
Da der Preis des Steins für Spieler ohne Gildenzugehörigkeit[ii] vollkommen utopisch war und es noch dauern würde, bis er bei der entsprechenden Tutorialmission angekommen war, konnte er vorläufig wohl jeden weiteren Test seiner Fähigkeiten vergessen...
Bahe fluchte leise vor sich hin.
So oder so, er musste zurück in die Stadt. Wenn es da nur nicht sein Problem mit der Magiergilde der Stadt geben würde…
Zur nächst größeren Stadt zu wandern, machte aber auch keinen Sinn. Er würde niemals lebend das weitläufige und mit aggressiven Kreaturen gespickte Gebiet zwischen den Städten durchqueren können. Soweit er wusste, durfte man sich frühestens mit Level 20 in die Nähe dieser Gebiete wagen.
„Limona, Brocken, ihr habt doch dafür gesorgt, dass meine Klasse in der Stadt nicht mehr zu sehen war, oder?“, sagte Bahe und ging auf die beiden Knirpse zu.
„Jaaa… das waren… wir.“, meinte Brocken leise.
„Na, sicher!“, meinte Limona schnippisch und blickte ihn an.
„Gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, welche Berufsklasse andere Spie… äh… Leute haben?“, bekam er gerade noch die Kurve, als ihm einfiel, dass er mit NPCs redete.
„Sicher gibt es die, so ziemlich jedes Orakel, kann dir das sagen.“
„Also deswegen habt die Beiden dafür gesorgt, dass meine Klasse nicht sichtbar ist…“, murmelte Bahe leise vor sich hin.
„Nein, nicht deshalb!“, rief Limona aufgebracht und fuchtelte dabei mit ihrem ausgestrecktem Zeigefinger vor Bahe herum. „Bist du immer so schwer von Begriff? Wir haben es getan, damit du nicht der nächstbesten Person gegenüber ausplapperst, was für eine besondere Berufsklasse du hast. Und nur damit du es weißt, es war eine einmalige Sache!“
Bahe ignorierte ihren Wutanfall und entschied sich offen zu sein: „Ich muss noch Vieles lernen, das ist mir bewusst. Aber damit ich überhaupt irgendwelche Fortschritte machen kann, muss ich unbedingt zurück in die Stadt, um einige wichtige Aufträge erledigen zu können.“
„Und was… hat das mit uns… zu tun?“, fragte Brocken.
„Mich sucht wahrscheinlich noch immer die gesamte Magiergilde der Stadt und ich hatte gehofft, dass ihr mir ein weiteres Mal helfen könnt, in die Stadt zurück zu kommen.“
„Wir können zwar verhindern, dass deine Berufsklasse entdeckt wird, aber um dein Aussehen musst du dich schon selbst kümmern. Nutze einfach irgendeinen Zauber, der deine Gesichtszüge verändert“, meinte Limona abwertend.
Bahe zog eine Grimasse.
„Und wenn ich kein Mana nutzen kann?“
Ganz zu schweigen davon, dass er bisher eh keinen entsprechenden Zauber kannte.
„Du… du…“, stotterte Limona verdattert.
Brocken fragte mit großen Augen: „Du hast… noch nicht gelernt mit… Mana umzugehen?“
Bahe nickte nur grimmig.
„Dann… hast du ein… Problem“, zuckte Brocken mit den Schultern.
Innerlich verdrehte Bahe die Augen und hakte dann jedoch lieber schnell nach, ehe Limona erneut einen Wutanfall bekam.
„Gibt es nicht irgendwelche Fähigkeiten oder Zauber, die mein Aussehen verändern und kein Mana benötigen?“
„Sicher… gibt es die“, meinte Brocken mal wieder dümmlich drein blickend.
„Und die wären?“, bohrte Bahe genervt nach.
„Zunächst… brauchst du… Erde.“
„Und Wasser“, ergänzte Limona Brocken.
„Ok, Erde. Das sollte ja nicht das Problem sein. Irgendeine bestimmte Erde? Blumenerde… Lehmerde…“
„Nein, nein! Ganz normale Erde aus diesem Untergrund reicht vollkommen“, winkte Limona ab.
Gut, wenigstens kam er endlich voran. Dachte Bahe aufatmend und machte sich gleich daran mit seinen Händen die lockere Erde unter einem der Sträucher in der Umgebung zusammen zu kratzen.
Anschließend lief er, mit beiden Händen voll Erde, zum nicht weit entfernten Bach und legte die Erde am Ufer vorsichtig ab.
„Was jetzt?“
Limona und Brocken schauten sich kurz an, bis Limona Brocken anwies Bahe alles zu erklären.
„Als nächstes musst du… dich entweder im Schneider- oder Fersensitz vor… den Bach hinsetzen und… tief durchatmen. Schließ die Augen… Es ist… wichtig, dass du… dich entspannst.“
Bahe folgte sofort Brockens Anweisungen und setzte sich kurz vor dem Wasser auf seine Fersen.
„Lass die Augen… geschlossen. Jetzt musst du… eine Hand voll Erde nehmen und… die andere… Hand soweit es geht mit Wasser füllen.“
Auch diesmal folgte Bahe Brockens Anweisungen, bis er glaubte eine seiner Hände mit genügend Wasser gefüllt zu haben.
„Wir werden… nun den Magieprozess für dich übernehmen. Du… vermischt währenddessen die Erde mit… dem Wasser… bis sie feucht und fast schon schlammig ist. Zum… Schluss musst du… dein Gesicht in deine Hände… mit der feuchten Erde legen und solange… so verharren, wie du kannst.“
Bahe lauschte angestrengt Brockens quälend langsamen Ausführungen. Konnte er wirklich nicht schneller reden? Die unangebrachten Pausen in seinen Sätzen machten es mitunter recht schwierig ihm folgen zu können.
„Bist du soweit?“, fragte Limona.
„Ja, kann losgehen“, sagte Bahe mit einem Nicken und begann die Erde mit dem Wasser in seiner anderen Hand zu vermischen.
Nachdem er die Erde ein paar Sekunden, mehr schlecht als recht, mit dem Wasser vermischt hatte, beugte er sich vor, legte sein Gesicht vorsichtig in die matschige Masse und hielt den Atem an.
Er hatte innerlich bis vierzig gezählt und hielt es vor Erwartung kaum noch aus, als Limona ihn endlich erlöste.
„Ok, du kannst deine Hände wegnehmen, wir sind fertig.“
Bahe kam dem gerne nach und rieb sich den Dreck vorsichtig von den Augen, ehe er seine Elementare anblickte.
Beide Knirpse blickten drein, als ob sie gerade den Lachanfall ihres Lebens unterdrückten. Bahe wollte gerade fragen, ob er so hässlich aussah, als sich ein Fenster vor ihm öffnete und er ungläubig auf die wenigen Zeilen blickte.
Neue Fähigkeit erlernt: Matschgesicht (Tarnfähigkeit)
Eine Grundfertigkeit aus dem Kleinkindalter wurde wiederentdeckt und unter neuem Nutzen angewendet. Du hast dir erfolgreich Matsch ins Gesicht gerieben, um so geringfügig von deinem Äußeren ablenken zu können.
Tarnung +5
Materialkosten: Erde + Wasser in geringer Menge
Manakosten: Keine
„…“
[i] imba à (englische Abkürzung von imbalanced „unausgeglichen/unausgewogen“) Steht für ein unausgeglichenes Spiel. Entweder ist gemeint, dass die Teams sehr einseitig besetzt sind, oder es bedeutet, dass das Spiel von seinen Entwicklern schlecht ausbalanciert wurde, wenn etwa in einem Strategiespiel eine Fraktion insgesamt gesehen signifikant stärker ist als alle anderen Fraktionen, gilt sie als imba.
In manchen Rollenspielen wird imba auch für Figuren benutzt, die anderen überlegen sind, in diesem Fall ist der Begriff jedoch eher positiv besetzt und ist oft ein Ausdruck der Bewunderung (frz. imbattable „unschlagbar“).
Des Weiteren kann mit imba auch ein Gegenstand bezeichnet werden, der dem Besitzer unausgewogen starke Vorteile verleiht und dessen Benutzung unter Umständen fast schon unfair ist. Diese Items sind oft extrem selten und haben Eigenschaften, die kein vergleichbares Item (Gegenstand) bieten kann.
[ii] Gilde (engl. guild) à In Online-Computerspielen ist unter diesem Begriff ein Zusammenschluss von mehreren Spielern zu verstehen, die vollkommen unterschiedliche Absichten verfolgen können.
Eine Gilde bringt den Spielern grundsätzlich einige Vorteile, wie z. B. die Möglichkeit mit mehreren Spielern ein bestimmtes Ziel (Quest, Gegner bezwingen) im Spiel zu erreichen, welches alleine unmöglich gewesen wäre. Die Spieler können sich unterstützen und auch gemeinsam auf Bedrohungen gegenüber Einzelnen von Ihnen reagieren.
Mögliche Nachteile finden sich unter anderem darin, dass manche Gilden sehr profitorientiert vorgehen (sprich, die Gildenmitglieder müssen bestimmte Aufgaben in regelmäßigen Zeiträumen erfüllen) und Einzelgänger oftmals nicht erwünscht sind.
In einigen Gilden geht es sogar so weit, dass es ein Hierarchie-System gibt, welches dem einer Armee gleicht. So gibt es feste Oberbefehlshaber, Hauptmänner usw. Diese bestimmen mitunter, welches Gildenmitglied was, wann zu tun hat und wer welchen Ausrüstungsgegenstand bekommt.
Anfangs hatten sie sich noch zurückhalten können, doch inzwischen kugelten sich die beiden Knirpse vor Lachen über den Boden.
Bahe hingegen, kochte vor unterdrückter Wut, schaffte es aber schlussendlich sich zu beruhigen und stapfte missmutig in Richtung Stadt davon.
Selbst wenn er sich um Treue mit seinen Elementaren bemühen musste, dieses Spiel ging langsam echt zu weit. Machten sich die Entwickler über alle Spieler derart lustig?
Seitdem er in Raoie gestartet war, verfolgten ihn Probleme förmlich auf Schritt und Tritt. Sicher, er hatte so manchen Fehler begangen, aber wer hatte das nicht?
Er durfte seine Klasse nicht outen, hatte Nerv tötende Elementare als eine Art von Kampfgefährten, die bisher nicht nur nutzlos schienen, sondern sich sogar auch noch über ihn lustig machten, seine Schmerzoption konnte nicht gesenkt werden, er war bereits einmal gestorben und hatte damit wertvolle Erfahrung verloren, die er im Kampf mit einem übermächtigen Monster gewonnen hatte und als ob all das noch nicht genug war, verfolgte ihn auch noch die Magiergilde seiner Startstadt, was ihm sein weiteres Vorgehen erheblich erschwerte! Freilich, war dies auch wieder nur eine absurde Folge der bescheuerten Aktionen seiner dämlichen Elementare!
Er hatte für Raoie Geld bezahlt! Wie konnte ein Start denn bitte schön noch mehr vergeigt werden?!
Die ganze Abfolge unglücklicher Umstände konnte schon längst nicht mehr als Pech bezeichnet werden. Es war die reinste Katastrophe!
„Verfluchte Scheiße!“, presste er wütend hervor und trat einen großen Ast zur Seite.
Er schloss kurz die Augen und atmete mehrmals tief durch, ehe sich grimmig weiter auf den Weg zur Stadt machte.
Um seine Elementare kümmerte er sich nicht weiter. Er hatte sie längst weit hinter sich gelassen und keine Ahnung, wie das Prinzip eines Pet[i] in Raoie funktionierte. In bisherigen Online-Rollenspielen musste man seine Kampfgefährten fast immer erst beschwören oder aus einem gesonderten Feld im Charakterprofil frei lassen. Beides schien in Raoie zumindest für ihn keine Anwendung zu finden.
Und sobald man eine größere Distanz zwischen sich und sein Pet brachte gab es im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Entweder die Kreatur verschwand bzw. kehrte in ihr Befehlsfeld im Charakterprofil zurück oder holte wenig später auf und lief neben dem Besitzer mit.
Doch von Brocken und Limona fehlte immer noch jede Spur.
Gut, es gab auch noch die Möglichkeit, dass sich bei einem zu geringen Treuewert, die Kreaturen vom Besitzer trennten. Doch Bahe wurden Limona und Brocken nach wie vor im Charakterprofil angezeigt.
Bahe schüttelte den Kopf, er sollte sich lieber Gedanken darum machen, wie er unauffällig in die Stadt kam.
Mit einem kurzen Check seines Charakterprofils stellte er fest, dass der Tarnungsbonus +5 von dem Dreck in seinem Gesicht immer noch bestand. Vollkommen nutzlos, war der Streich seiner Elementare also nicht gewesen.
Seine Kleidung sah auch nicht viel besser aus. Nie im Leben hätte er gedacht, dass er doch tatsächlich die abgenutzte Kleidung behalten würde, als er in Waldenstadt wiederbelebt wurde. Durch die Kletteraktion an den Felsen und der Flucht vor den Drachen und anderen Kreaturen, konnte man bei seinen löchrigen Lumpen kaum noch von Kleidung sprechen. Im Grunde musste er sich nur noch ein Bisschen im Dreck wälzen und die Stadtwache würde ihn lediglich als einen Bettler aus der Gosse abtun…
Bahe blieb stehen.
Einen Versuch war es wert.
Schlimmsten Falls würde er halt wieder in die Wälder rennen müssen. Bahe konnte sich kaum vorstellen, dass die Magiergilde sämtliche Tore der Stadt dauerhaft bewachen würde. Das wäre die reinste Zeitverschwendung ihrer Talente.
Es dauerte fünf Minuten ehe er endlich am Waldrand ankam und noch schnell seine Idee in die Tat umsetzte und seine Kleidung mit feuchter Erde beschmutzte.
Anschließend lief er zu einer Straßen, die zur Stadt führten und gesellte sich kurz vor dem Stadttor zu den anderen Reisenden, um nicht zu sehr aufzufallen.
Der ganze Prozess lief problemloser als gedacht. Eine der Wachen hatte ihn bei seinem Anblick kaum eines Blickes gewürdigt und stattdessen lieber nach dem nächsten Händler Ausschau gehalten, den sie um einen kleinen Betrag erleichtern konnte, um im Gegenzug die ungewöhnlicheren Waren nicht zu bemerken.
Bahe lief zu einen der öffentlichen Brunnen, um zumindest den gröbsten Schmutz wieder los zu werden und besah sich dann halbherzig in der Spiegelung des Wassers.
„Ich gebe schon ein armseliges Bild ab…“, meinte er resignierend und begann dann sich einen Überblick zu verschaffen, wo er sich genau befand und wo er hin musste.
Im lockeren Tempo lief er daraufhin los und fragte sich ab und an durch, bis er endlich am Trainingsgelände von Waldenstadt ankam.
Vor ihm erstreckten sich über eine Weite von achthundert Metern, verschieden große Trainingsflächen, die je nach Disziplin unterschiedlich angelegt waren.
Auf einem der ersten Trainingsbereiche, nicht weit von ihm, war der in der Tutorialmission beschriebene Soldat gerade in einem Kampf eingebunden. Die roten Haare und der Bart waren unverwechselbar.
Da der Ausbilder gerade in einem Übungszweikampf verwickelt war, lief Bahe im gemütlichen Tempo hinüber und gesellte sich zu den Schaulustigen.
„Ha, du bist etwas besser geworden!“, lobte der Ausbilder Derenir einen pummeligen Jugendlichen, bei dem es sich, Bahes Meinung nach, definitiv auch um einen Spielanfänger handelte.
Mit dem nächsten Ausweichschritt brachte der Ausbilder den pummeligen Spieler plötzlich in arge Bedrängnis, da dessen Schwert auf keinen Widerstand traf und er so leicht sein Gleichgewicht verlor. Der Soldat nutzte den kleinen Fehler sofort aus und legte mit einem schnellen Schritt zum Spieler, blitzschnell seine Schwertklinge an die Kehle seines Gegners.
Der pummelige Spieler keuchte überrascht auf und stolperte vor Schreck fast rückwärts über seine Füße, ehe er sich zwei Schritte später wieder fangen konnte.
„Insgesamt gerade eben ausreichend, hat ja auch lange genug gedauert. Vier Wochen hast du gebraucht, damit ich dich mit ruhigen Gewissen ziehen lassen und mir sicher sein kann, dass du dich in deinem nächsten Gefecht nicht selbst aufspießt“, meinte der Soldat kopfschüttelnd, was wiederum einige Lacher bei den Zuschauern auslöste.
Dem pummeligen Spieler schien das Gesagte jedoch überhaupt nichts auszumachen. Vielmehr hüpfte er vor Freude auf und ab und rief lautstark: „Haha! Ich habe es geschafft! Botong wird Augen machen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe!“
„Ich sehe schon, bei dir ist alle Hoffnung verloren…“, stöhnte der Ausbilder Derenir vor sich hin und sagte genervt zum Spieler: „Gehe lieber schnell zur Waffenkammer und suche dir dein Schwert aus, das du meiner Meinung nach nicht verdient hast…“
„Alles klar! Auf geht’s!“, schrie der pummelige Spieler wie ein Irrer, als er zu einem Gebäude rannte, das in der Mitte der Trainingsplätze gelegen war.
Da der Übungskampf damit beendet war, gingen die Schaulustigen wieder ihrer Wege und wenig später stand nur noch Bahe vor dem Ausbilder, der sich aus einem Wasserfass Wasser ins Gesicht spritzte.
Bahe wartete noch kurz, bis der Soldat mit dem Waschen fertig war und ging dann auf ihn zu, um ihn anzusprechen.
„Guten Tag, sind Sie der Ausbilder Tarat Derenir?“
„Wer will das denn wissen?“, blaffte der Soldat zurück.
„Ah, ich bitte um Entschuldigung. Mein Name ist Anael Lerua und mir wurde mitgeteilt, dass ich mich an Sie wenden sollte, um…“
„Meine Fresse, hör auf zu labern!“, fuhr der Ausbilder ihn an. „Bist du etwa eins dieser Waschweiber?! Ich wollte doch nur deinen Namen wissen!“
„…“
„Bist wohl wieder ein neuer Rekrut…“, stöhnte der Soldat aufs Neue und fuhr sich mit der linken Hand über sein Gesicht. „Man… Ich frage mich wirklich langsam, was sich die Leute da oben denken… Erst bekomme ich ‘ne fette Wurst und jetzt ‘nen dürren Zahnstocher in abgewrackten Lumpen… Haben wir keine richtigen Männer mehr im Land…?“
Das war auch mal was Neues, dachte Bahe Zähne knirschend. Dafür zu zahlen, beleidigt zu werden…
„Was willst du denn überhaupt lernen? Schon irgendeine Vorstellung? Ich sag’s nur ungern, aber den Axt- oder Hammerkampf kannst du vergessen…“
Wähle eine Waffe aus, deren Einsatz du erlernen möchtest!
Wähle dafür zunächst die passende Kategorie und entscheide dich dann für eine Waffe deiner Wahl!
In dieser Tutorialmission kannst du nur eine Kampffähigkeit erlernen! Überlege also gut, für welche Waffe du dich entscheidest! Die Tutorialmission kann kein zweites Mal durchgeführt werden!
Mögliche Kategorien sind:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Verteidigungswaffen
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Blankwaffen
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Stangenwaffen
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Schlagwaffen
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Fernwaffen
Diesmal konnte Bahe endlich mal wieder mit seiner Vorbereitung punkten und sagte entschieden: „Ich möchte mit Pfeil und Bogen richtig umgehen können.“
„Hmmm… gar nicht mal so abwegig mit deiner Statur. Du bist ein zäher kleiner Mistkerl, was? Ich bezweifel zwar, dass du überhaupt einen unserer Bögen spannen kannst, aber mit ein Bisschen Krafttraining sollte das schon drin sein“, sagte er sichtlich amüsiert, ab dem Moment, in dem er das Krafttraining erwähnte.
„Komm mit“, sagte er noch zu Bahe und wandte sich bereits zum Gehen.
„Wohin gehen wir, Herr Derenir?“
„Man, hör auch mich so anzuquatschen. Beim Heer sind wir nicht so förmlich. Außer vielleicht die hohen Generäle… Aber was weiß ich davon? Nenn mich einfach Tarat“, meinte er auf seine ruppige Art.
„Alles klar, Tarat“, grinste Bahe, er hatte inzwischen verstanden, dass der Charakter dieses NPCs wohl einfach so designt war.
„Ich bringe dich zu meinem Kammeraden der mehr von den fliegenden Zahnstochern versteht. Haha! Ein Zahnstocher bei den fliegenden Zahnstochern!“, lachte er schallend über seinen eigenen Witz.
„…“
Bahe war sich ziemlich sicher, dass er wohl besser mit lachen sollte, konnte es aber einfach nicht über sich bringen und entschied sich stattdessen für ein verhaltenes Lächeln.
„Bist ’nen ruhiger Bengel, was?“, meinte Tarat über Bahes unzureichende Reaktion und zuckte nur die Schultern. „Soll mir recht sein. Wir sind sowieso schon fast da.“
Tatsächlich liefen sie nur noch um ein paar hoch aufgetürmte Heuhaufen herum, ehe sie am Übungsplatz für Fernkampfwaffen ankamen.
„Hey Fenrir, komm mal her. Ich habe hier einen neuen Rekruten für dich!“, rief Tarat einen Mann um die dreißig Jahre herbei.
„Das ist Fenrir Eguan, er ist der Ausbilder für alle Fernkampfwaffen die seine Majestät so in seiner Armee duldet. Du hast Glück, Pfeil und Bogen ist auch dabei“, an Fenrir gewandt fuhr er fort. „Der Zahnstocher hier ist Aneal Lurea…“
„Ich heiße Anael Lerua!“
„Wie auch immer…“, zuckte Tarat mit den Schultern. „Jedenfalls ist er dein neuer Lehrling. Viel Spaß mit dem Knochengerippe!“
Bahe musste sich zusammen reißen, um nicht die Augen zu verdrehen, als Tarat ihn endlich mit seinem eigentlichen Ausbilder allein gelassen hatte.
„Er ist ein Bisschen gewöhnungsbedürftig, was?“, grinste ihn Fenrir an.
„Ein Bisschen ist noch nett formuliert…“, murmelte Bahe leise vor sich hin, doch Fenrir musste ihn gehört haben, denn er lachte laut los.
Bahe nutzte derweil die Chance, sich seinen neuen Ausbilder genauer anzusehen.
Fenrir war groß gewachsen und von schlanker Statur mit glatt rasiertem Gesicht und blondem Haar. Bahe war sich auch ziemlich sicher, dass sich unter Fenrirs Kleidung keine allzu großen Muskelpakete versteckten. Er war eher der sehnige Typ, was auch von seinem scharfkantigen Gesicht widergespiegelt wurde. Eine eckige Hakennase und stechende Augen ließen ihn die meiste Zeit grimmig wirken, wenn er nicht gerade lachte oder am Grinsen war.
„Wenn ich Tarat richtig verstanden habe, willst du die Kunst des Bogenschießens erlernen?“
Bahe nickte.
„Grundsätzlich bin ich immer begeistert, neue Rekruten zu bekommen, aber ich muss dich warnen. Das Bogenschießen ist im Vergleich zum Schwertkampf zu Beginn wesentlich schwerer zu erlernen und erfordert viel Disziplin und Übungsbereitschaft von deiner Seite…“, meinte Fenrir vorsichtig. „Darf ich dich nach dem Beweggrund für deine Entscheidung fragen?“
Bahe stutzte überrascht, antwortete dann aber: „Nun ja… ich möchte in Zukunft durch die Wälder wandern und werde mit Sicherheit ab und an viele Tage im Wald unterwegs sein. Da es kaum möglich ist, genug zu essen mit sich zu schleppen, dachte ich sofort ans Bogenschießen. Mit einem Schwert jagt es sich schließlich nicht so leicht.“
Fenrir zog belustigt seine Augenbrauen nach oben und sagte halb lachend: „Da hat sich ja jemand richtig Gedanken gemacht!“
„Auf jeden Fall hast du Recht“, meinte er dann. „Im Vergleich mit den anderen Kampftechniken, die du hier erlernen kannst, haben die Fernkampfwaffen und darunter besonders der Bogen, den Vorteil, dass du sie auch für die Jagd benutzen kannst.“
Anschließend musterte er Bahes Erscheinungsbild und sagte: „Komm mal mit. Wir werden zunächst testen, ob du überhaupt einen der Übungsbögen spannen kannst. Sofern das noch nicht geht, werden wir nämlich wirklich erst mal deinen Körper trainieren müssen. Und glaube mir, nach dem Training wirst du mich hassen“, fügte er mit einem Augenzwinkern noch hinzu.
Bahe wurde mit einem Mal richtig mulmig zu Mute. Er konnte nur noch an seinen unterirdischen Attributwert in Kraft denken. Hoffentlich bekam er das mit dem Spannen hin…
[i] Pet – (stammt frei aus dem Englischen für gezähmtes Tier/Wesen) Als Pet werden in Online-Rollenspielen des Öfteren Wesen bezeichnet, die ihre Besitzer in irgendeiner Form unterstützen. Pets können dabei die unterschiedlichsten Rollen einnehmen, wobei die des Kampfgefährten die Häufigste ist. Es ist aber auch möglich, dass bestimmte Pets ihren Besitzern mit Heilfähigkeiten helfen oder andere Besonderheiten auslösen.
Ein weiterer Punkt der fast allen Pets gemein ist, ist die Tatsache, dass sie zunächst gebunden, gezähmt oder ihre Zuneigung gewonnen werden muss, damit sie den Besitzer in Zukunft unterstützen.
Kapitel 26 Das dominante Auge
Fenrir führte ihn zur Waffenkammer der Fernkämpfer und präsentierte ihm schließlich eine Vielzahl von Bögen, die alle sorgfältig neben einander aufgebahrt waren.
„Zu aller erst musst du wissen, dass eine Größe nicht unbedingt die Zugkraft eines Bogens repräsentiert“, erklärte Fenrir. „Es hängt auch vom verwendeten Holz, der bisherigen Pflege des Bogens als auch dem Material der Bogensehne ab.“
Bahe hörte aufmerksam zu und nickte nur.
„Nimm zum Beispiel diesen Bogen hier“, sagte Fenrir und reichte ihm einen winzigen Bogen mit einer Länge von gerade mal fünfzig Zentimetern. „Der Bogen ist äußerst klein, aber auch hart gespannt. Bis zu zwanzig Meter ist er trotz seiner Größe tödlich. Dagegen ist dieser hier drei Mal so groß und wird vielleicht gerade mal auf eine tödliche Reichweite von dreißig Metern kommen.“
Bahe löste seinen Blick von dem kleinen Exemplar in seinen Händen und schaute sich den langen Bogen in Fenrirs Hand an.
„Hmmm… mit Welchem fangen wir denn mal an…“, murmelte Fenrir danach vor sich hin und lief ein paar Schritte weiter.
„Ah! Wie wäre es hier mit!“ Rief Fenrir begeistert und brachte einen anderthalb Meter langen Bogen mit, den er Bahe reichte. „Fasse zunächst mit deinem schwachen Arm die Mitte des Bogens und zieh dann mit Zeige-, Ringfinger und Daumen die Sehne nach hinten.“
„Alles klar“, antwortete Bahe.
Er griff den Bogen richtig und versuchte anschließend die Sehe zu seiner Schulter zu ziehen. Die ersten Zentimeter ließen ihn bereits ordentlich die starke Spannung spüren, die dem Bogen zu Grunde lag und nach nicht mal einer Handbreit musste Bahe sich keuchend geschlagen geben.
„Noch zu schwer, was?“, grinste Fenrir, als ob er nichts anderes erwartet hätte und reichte ihm stattdessen einen anderen Bogen der gleichen Größe.
„Ja, leider“, nickte Bahe und probierte den neuen Bogen aus.
Auch dieser stellte sich als zu hart heraus.
Es folgten noch sechs weitere Bogen, während Fenrir ab und an kritisch das Gesicht verzog. Es war offensichtlich, dass er nicht wirklich zufrieden mit ihm war.
Der neunte Bogen war es dann endlich. Mit aller Kraft schaffte es Bahe die Sehen des Bogens vollkommen auszuziehen und für gute fünfzehn Sekunden zu halten, ehe er abbrechen musste. Laut Fenrir war die Härte vorerst genau richtig.
„Für den Anfang, um die Technik zu erlernen, sollte es wohl reichen. Du wirst trotzdem einige Zeit Kraft- und Ausdauertraining absolvieren müssen, damit du irgendwann die erforderliche Zugkraft aufbringen kannst, die für unsere Bögen in der Armee Standard ist“, erklärte Fenrir und reichte Bahe einen Köcher mit Pfeilen. „Komm erst mal mit nach draußen, wir werden zunächst die Technik üben und uns danach deinem Krafttraining widmen.“
„Alles klar“, nickte Bahe und folgte Fenrir nach draußen auf den Übungsplatz.
Fenrir blieb ungefähr zehn Meter vor einer Zielscheibe stehen, hinter der ein großer Heuhaufen aufragte.
„Hier wirst du in den nächsten Wochen die Technik üben. Auch wenn du die Grundfertigkeit irgendwann erlernt hast, schadet es nicht mindestens einmal in der Woche hierher zurück zu kommen, um dich weiter zu verbessern. Selbst Meisterschützen haben noch nicht ausgelernt.“
Bahe nickte nur stillschweigend.
„Das Grundsätzliche zuerst, hast du schon mal einen Bogen in der Hand gehabt?“, fragte Fenrir.
„Ja, habe ich“, sagte Bahe, als er an seine Kindheit zurückdachte. „Ist aber lange her.“
„Gut, dann schieß einmal auf die Zielscheibe und ich schau mir an, wie du dich so machst.“
Bahe folgte Fenrirs Aufforderung und legte einen seiner Pfeile am Bogen an. Mit seiner linken Hand fasste er den Bogen am Mittelstück und hielt dort, mit einem Finger, vorsichtig den Pfeil am Rahmen des Bogens. Mit dem Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand griff er die Sehne und das Ende des Pfeils, der an der Sehne anlag. Anschließend spannte er unter einem Ächzen, soweit er konnte den Bogen, schloss sein linkes Auge und lugte mit seinem rechten Auge über den Schaft des Pfeils hinweg zum Ziel.
Wenig später ließ er die Sehne los. Der Pfeil schnellte über den Bogen hinweg und prallte auf die nicht weit entfernte Zielscheibe.
Gar nicht mal so schlecht, dachte Bahe mit sich zufrieden. Sein Pfeil steckte nur eine Handbreit von der Mitte entfernt in der Zielscheibe.
„Nochmal“, forderte Fenrir ihn auf.
Sein zweiter Schuss variierte stärker vom Ziel und prallte am unteren Rand der Zielscheibe auf.
„An sich ist deine Technik in Grobform erst mal in Ordnung“, meinte Fenrir. „Aber hast du schon mal probiert den Bogen mit der anderen Hand zu halten?“
„Mit Rechts? Nicht wirklich.“
„Dann wechsel mal die Arme“, forderte Fenrir ihn auf.
Bahe folgte ein weiteres Mal Fenrirs Anweisungen und hielt den Bogen mit Rechts und spannte mit der linken Hand.
„Was hat sich jetzt für dich verändert, außer dass du den Bogen anders hältst?“
„Es ist ungewohnt“, meinte Bahe mit einem Schulterzucken.
„Das ist normal. Aber überlege mal, was musst du jetzt noch anders machen, um die Zielscheibe treffen zu können?“
Bahe ging die einzelnen Schritte bis zum Abschuss noch einmal durch, bis ihm plötzlich die Erkenntnis kam: „Man muss mit dem anderen Auge zielen!“
„Genau. Die Hand in der man den Bogen hält, bedingt zugleich das Auge, welches man zum Zielen nutzt. Schieß jetzt zweimal mit deiner ungewohnten Seite.“
Er war sich nicht sicher, was Fenrir damit bezweckte, versuchte aber trotzdem Fenrirs Aufforderung zu folgen. Es war wirklich ein ungewohntes Gefühl den Bogen auf andere Art zu halten und gerade das Spannen mutete ihm seltsam an. Der abschließende Prozess des Zielens bis hin zum Schuss lief hingegen besser ab als erwartet. Beide Male landete der Pfeil nur eine knappe Handbreit unweit der Mitte.
„Wie kommt das?“, fragte er überrascht.
„Viele glauben immer, dass man als Rechtshänder unbedingt auch mit dem rechten Auge zielen muss, ein Irrglaube, wie sich herausgestellt hat. Man spricht beim Bogenschießen vielmehr von einem dominanten Auge. Der Körper eines jeden Menschen ist anders und egal ob Rechts- oder Linkshänder, hat es nichts damit zu tun, mit welchem Auge du besser schießen kannst. Für den Moment ist es selbstverständlich noch viel zu früh, um sich darauf festzulegen, welches Auge wirklich dein dominantes ist. Zwei Schüsse pro Seite reichen dazu einfach nicht aus. In der Regel sollte man tausend Schüsse mit beiden Seiten absolvieren, um eine halbwegs sichere Aussage darüber treffen zu können.
„Tausend Schüsse?!“, fragte Bahe ungläubig.
„Ja sicher, was hast du denn gedacht?“, musste Fenrir laut auflachen.
Bahe schwante Böses…
„Soll das heißen… dass meine nächste Aufgabe sein wird, pro Seite tausend Schüsse abzufeuern?“
„Bist ein schlaues Bürschchen, was?“, grinste Fenrir raubtierhaft.
Prompt klappte auch ein neues Benachrichtigungsfenster auf.
Der Ausbilder seiner Majestät für Fernkampfwaffen, Fenrir Eguan, bietet dir an, dich in der Kunst des Bogenschießens zu unterrichten.
1. Bedingung: 1000 Schüsse auf die Zielschiebe mit jeder Seite, aus 10 Meter Entfernung
Willst du sein Angebot annehmen?
Ja / Nein
Bahe gab sich geschlagen.
„Ok, kann ich sofort anfangen?“
„Aber sicher!“, Meinte Fenrir aufgeregt und Bahe glaubte diesmal einen Funken von Respekt in Fenrirs Augen auszumachen. „Mach alle zweitausend Schüsse aus deiner jetzigen Entfernung von zehn Metern. Sonst wird das Ergebnis verfälscht. Gib mir Bescheid, wenn du fertig bist, ich helfe solange den anderen Rekruten. Ah und noch was, bis du wirklich die Kunst des Bogenschießens erlernt hast, wirst du den Bogen und die andere Ausrüstung hier lassen müssen.“
Bahe nickte zustimmend und widmete sich seiner neuen Aufgabe, während Fenrir sich abwandte und bald schon außer Sicht war.
„Zweitausend Schüsse… Scheinbar muss ich mich ran halten“, versuchte Bahe sich selbst zu motivieren und legte los.
Er hatte im Grunde nichts anderes erwartet. Bei seinen Recherchen im Vorfeld hatte er festgestellt, dass es verschiedene Aufgaben gab, um eine Kampffähigkeit zu erlernen. Beim Bogenschießen variierten die Bedingungen von der Aufgabe einen Bogen selbst herzustellen, bis hin zu einem perfekten Treffer aus großer Entfernung. Es gab inzwischen gut dreißig Szenarien, die verschiedene Spieler seit Veröffentlichung Raoies durchlaufen hatten, um das Bogenschießen zu erlernen und es wurden immer noch mehr.
Bahes Aufgabe, die zweitausend Schüsse abzugeben, hatte es bereits gegeben und man konnte sagen, dass sie zu den eher leicht durchzuführenden Bedingungen gehörte.
Online hatte Bahe davon gelesen, dass ein Spieler ganze vier spielinterne Wochen gebraucht hatte, um einen Bogen herzustellen, den der entsprechende Ausbilder als annehmbar betrachtete.
In den nächsten Minuten folgte Bahe immer wieder dem gleichen Prinzip, er legte den Pfeil an, spannte den Bogen und schoss. Das Ganze wiederholte er zwanzig Mal, bis er keine Pfeile mehr im Köcher hatte und ging anschließend zur Zielscheibe, um die Pfeile einzusammeln. Dann begann der Prozess von vorne.
Im Laufe der Zeit stellte er fest, dass Pfeile, die er aus Unkonzentriertheit neben die Zielscheibe schoss, nicht zu den notwendigen zweitausend Schüssen dazu gezählt wurden und bemühte sich danach wieder genauer zu zielen.
Dennoch nahm seine Zielgenauigkeit zunehmend ab. Seine Arme wurde schwer und sein Rücken brannte von der Anstrengung, ständig den Bogen neu spannen zu müssen.
Nach dreihundert Schüssen hatte er seine Grenze erreicht und zitterte am ganzen Körper als er den Bogen spannte. Trotzdem versuchte er durchzuhalten und feuerte ein paar weitere Pfeile ab, bis plötzlich ein Benachrichtigungsfenster aufklappte.
Durch mehrfache Wiederholung einer Bewegungsform konnte ein Kraftzuwachs deines Körpers festgestellt werden.
Kraft +1
Erschöpft sackte er in sich zusammen und zog freudig den Atem ein.
„Endlich!“
Er hatte gewusst, dass er durch das Erlernen einer Kampffähigkeit seine Attributpunkte steigern konnte, dass es jedoch so schwer werden würde, war ihm nicht klar gewesen. Kein Wunder, dass kaum ein Spieler längere Zeit damit verbrachte sich auf solch eine Weise verbessern zu wollen, nachdem sie ihre jeweiligen Fähigkeiten erlernt hatten.
Dabei war genau das, Bahes Plan gewesen.
Ein Blick in sein Charakterprofil zeigte Bahe, dass seine Stats[i] vor Erschöpfung momentan reduziert waren. Wobei die Aktion im Grunde überflüssig war, wie sich Bahe eingestehen musste. Raoie war viel zu realitätsnah. Er fühlte sich schlicht weg auch erschöpft. Wozu noch in das eigene Charakterprofil schauen?
Bahe musste grinsen. Es würde noch dauern, bis er sich vollends an Raoie gewöhnt hatte und es nicht nur wie ein Online-Computerspiel angehen würde.
Mit einem Stöhnen raffte er sich auf und überlegte was er mit dem Übungsbogen machen sollte. Er durfte die Ausrüstung ja nicht mitnehmen. Soweit er wusste, bekam man jedoch in der Regel einen Bogen und Pfeile als Belohnung, wenn man die erste Tutorialmission abgeschlossen hatte und die Kunst des Bogenschießens erlernt hatte.
Bahe lief schnell zur Waffenkammer und legte alles wieder an seinen angestammten Platz, ehe er sich erneut in Richtung Innenstadt machte.
Sein nächstes Ziel war die dritte Tutorialmission. Zwar bauten die Tutorialmissionen in ihrer Reihenfolge aufeinander auf, aber online hatte er die Berichte von Spielern gelesen, dass es keinerlei Verpflichtung dazu gab, auch so vorzugehen.
Während sich die erste Tutorialmission damit beschäftigte den Spielern Kampffähigkeiten zu vermitteln, war in der zweiten Tutorialmisssion die Anwendung dieser Fähigkeiten im Kampf gegen ausgewählte Monster gefragt. Bis Bahe so weit war, würde es noch dauern, weshalb er beschloss, sich dem nächsten Schritt zu widmen.
Tutorial III: Speichergegenstände
In herkömmlichen Online-Rollenspielen haben Sie normalerweise die Möglichkeit Gegenstände Ihres Avatars in einer Art Rucksack oder Ähnlichem zu verstauen. Die entsprechende Übersicht öffnet sich zumeist über das Charakterprofil.
Raoie geht an dieser Stelle einen anderen Weg. Um eine größtmögliche Realitätsnähe zu erzielen, dient Ihr Charakterprofil allein zur Status- und Attributübersicht. Sie tragen jedoch standardmäßig einen Gürtel, der die Fähigkeit besitzt bis zu 1 m³ an Gegenständen und Artefakten in einer isolierten Zwischendimension zu lagern.
Speichergegenstände sind magische Artefakte und dementsprechend teuer! Passen Sie gut auf sie auf! Wie alle Kleidungsgegenstände können Sie ihrer beraubt werden!
Tutorial-Quest!
Begeben Sie sich zum Turm der Magier, es ist der höchste Turm der Stadt. Finden Sie dort im Erdgeschoss den alten Magier Iras. Er wird Ihnen die Funktionsweise des Gürtels erklären.
Speichergegenstände!
Bahe freute sich schon, bald seinen Gürtel richtig nutzen zu können! Andererseits würde es in seinem Fall etwas komplizierter werden, dachte er zerknirscht.
Er traute sich noch nicht ohne weiteres das Grundstück der Magiergilde zu betreten. Im Normalfall würde einen Spieler so eine vertrackte Situation in den Wahnsinn treiben, doch glücklicherweise hatte er diesmal seine Hausaufgaben gemacht. Denn es gab noch eine Alternative zum Magier Iras.
Ein Spieler namens Dark hatte in den ersten Wochen des Spiels den Beruf eines Diebs angenommen und war natürlich recht schnell in Verruf geraten. Anfangs hatte er noch keine Probleme gehabt, bis er erfuhr, dass er nur vom Magier Iras im Magierturm lernen konnte seine Speichergegenstände richtig zu nutzen.
Dark hatte ewig versucht getarnt bis zum Magier zu kommen, nur um ein ums andere Mal flüchten zu müssen. Daraufhin hatte er sich schließlich nach anderen Möglichkeiten umgehört und in einer üblen Absteige den Tipp bekommen, dass es noch einen alten Kauz von Magier gebe, dem es relativ egal war, wem er etwas von Magie erklärte.
Das Problem bestand allerdings darin, dass man trotzdem noch unbemerkt auf das Außengrundstück der Magiergilde kommen musste. Wenn man Pech hatte, bestand zudem die Möglichkeit, dass sich der alte Magier zu dem Zeitpunkt gerade nicht im Park der Magiergilde aufhielt.
Insgesamt waren es aber eher kleinere Probleme, wenn man eine Lösung parat hatte. Der Park der Magiergilde lag auf der Rückseite ihres Geländes und grenzte an den einzigen Fluss, der durch Waldenstadt führte. Bahe musste also nichts weiter tun, als durch den Fluss zu schwimmen, um über die Rückseite auf das Grundstück zu gelangen.
Die Anwesenheit des Magiers war inzwischen auch kein allzu großes Mysterium mehr. Er saß nahezu jeden frühen Nachmittag auf einer Wiese und lehnte sich an den Stamm eines alten Apfelbaums.
Im Nu machte Bahe den Magierturm über den Dächern der Stadt aus und setzte sich daraufhin in Bewegung. Es war Zeit zu lernen, mit magischen Gegenständen umzugehen.
[i] Stats = Statistiken im Charakterprofil
Seitdem Bahe erneut in der Stadt war, verlief endlich mal alles nach Plan. Er hatte sich lange überlegt, welche Kampffähigkeit er erlernen sollte und sich letztlich für das Bogenschießen entschieden, da ihm diese Fähigkeit zumindest für den Anfang am geeignetsten erschien.
Viele Online-Spieler hatten davon berichtet, wie sie zu Beginn die Kunst des Schwertkampfes erlernt hatten und voller Stolz gegen Monster in die Schlacht gezogen waren, um ihr Level zu erhöhen. Das Resultat war jedoch weit weniger heroisch als viele von ihnen angenommen hatten.
Nahezu alle Spieler befanden sich anschließend auf der Flucht. Zwar konnten die Spieler gegen die kleinen Monster, die einem bis zum Knie reichten, durchaus noch etwas ausrichten. Sobald sie jedoch gegen die etwas gefährlicheren Kreaturen antraten, hatten sie keine Chance mehr.
Der Kampf mit dem Schwert konnte unterschiedlicher nicht sein. Er konnte mit dünnen und scharfen Klingen auf Eleganz und Schnelligkeit basieren, andererseits aber auch vor Brutalität und zügelloser Kraft nur so strotzen, sofern man ein übergroßes Breitschwert durch die Lüfte schwang.
Dennoch war es eine Tatsache, dass das Schwert seit je her eher eine Waffe gegen menschliche Gegner gewesen war. Zur Jagd oder gar zum Kampf gegen gewaltige Monster, die auf einen zu stürmten, waren Speere oder Fernwaffen wesentlich besser geeignet. Speere oder verwandte Waffenarten konnte man im Boden verkeilen und brachten ähnlich wie Fernwaffen auch noch zusätzliche Reichweite mit sich. Alles nützliche Eigenschaften, wenn man einem groß gewachsenem Bären oder Schlimmeren gegenüber stand.
Sicherlich gab es auch großartige Schwertkämpfer, die den Umgang mit ihren Waffen meisterlich beherrschten und sich vor entsprechenden Kreaturen nicht zu scheuen brauchten. Für den Laien und Spielanfänger in Raoie blieben Schwerter zum Überleben in der Wildnis jedoch unbrauchbar.
Bahe zog eigentlich den Nahkampf vor, doch für den Anfang musste er erst mal seine Verpflegung zum Überleben sicherstellen. Seine Startwaffe, die ihm als Spielanfänger zugestanden wurde, hatte er beim Sturz in die Schlucht bereits verloren. Daher musste er sobald wie möglich lernen, richtig mit einem Bogen umzugehen und seinen Speichergegenstand nutzen zu können.
Was ihn innerlich sehr schmerzte, war die Tatsache, dass er das Horn der gefährlichen Kreatur bei seinem Tod durch die Drachen verloren hatte.
Jedes Mal, wenn man starb, verlor man als Strafe nicht nur Erfahrungspunkte und ein Level, sondern auch Ausrüstungsgegenstände. Die entsprechenden Gegenstände fielen zu Boden und konnten von anderen Spielern aufgehoben werden. Der Vorteil, mit Freunden unterwegs zu sein, war offensichtlich. So bestand wenigstens noch die Chance, dass man seine verlorenen Ausrüstungsgegenstände wiedersah.
Bahe war sich nicht sicher, ob die Kreaturen des Spiels Ähnliches vermochten. Wahrscheinlich hing es von der Intelligenz der Wesen ab.
Trotzdem spielte es für Bahe eigentlich keine Rolle mehr. Nie im Leben würde er noch einmal in die Schlucht hinab steigen. Im Grunde konnte sich Bahe glücklich schätzen. Er hatte nur das Horn verloren und nicht etwa den viel wertvolleren, magischen Gürtel, der nun Teil der Quest geworden war.
Währenddessen kam er endlich am Gelände der Magiergilde an und wandte sich vom Haupteingang nach links, um dort das Ende des Geländes am Flussufer zu finden.
Er musste schließlich noch einmal rechts abbiegen und einer kleinen Seitenstraße folgen, die zwischen Wohnhäusern und den ein oder anderen kleinen Läden hindurch, bis zum Fluss führte. Am Ende angekommen blickte Bahe sich noch einmal um und huschte, als keiner zu sehen war, schnell zum Flussufer herunter.
Seine Schuhe zog er noch aus, ließ den Rest seiner schmutzigen Kleidung jedoch an. Vielleicht würde ja wenigstens ein Teil des Drecks wieder raus gehen.
Vorsichtig streckte er den ersten Fuß ins Wasser, nur um danach hörbar nach Luft zu schnappen.
Verflucht, war das Wasser kalt!
Bahe konnte froh sein, dass der Sommer in Waldenstadt Einzug gehalten hatte. So würde er sich zumindest nicht zu Tode frieren, wenn er aus dem Wasser kam. Die Wasser des Flusses selbst, waren jedoch noch immer nicht gerade warm, um es mal harmlos auszudrücken.
Mit gedämpft, zischenden Atemzügen kämpfte sich Bahe schließlich doch noch ins Wasser und schwamm ein paar Meter vom Ufer weg, ehe er sich zum Grundstück der Magiergilde aufmachte.
Leider musste er flussaufwärts gegen die Strömung schwimmen und vielleicht hätte er sich auch die Kleidung besser ausziehen sollen, dachte er nach ein paar Metern. Auch, wenn er ein guter Schwimmer war, nach wenigen Metern merkte er bereits, dass es wesentlich mühseliger war mit Kleidung im Wasser vorwärts zu kommen. Vor allem, wenn sie so locker wie seine Lumpen waren und ihm um den Körper wallten.
Bahe biss sich jedoch durch und kämpfte sich weiter voran. Er musste eine Strecke von circa dreißig Metern zurücklegen, um an dem letzten Haus und dessen Grundstück vor dem Gelände der Magiergilde, herum zu kommen.
Nach gut zwanzig Metern, hatte er sich endlich an die Kälte und die Zusatzbelastung gewöhnt und schwamm in Ruhe weiter.
Du hast eine neue Fähigkeit erlernt:
Schwimmen
Du bist mehrere Meter in einem Fließgewässer gegen die Strömung und unter Zusatzbelastung geschwommen und hast damit dein Können unter Beweis gestellt!
Du führst deine Bewegungen bereits recht koordiniert und sinnvoll aus!
Fähigkeitsstatus: Anfänger Level 2 | 13%
Du bewegst dich im Wasser um 4% schneller.
Schwimme größere Strecken, um dein Level zu erhöhen.
Das plötzliche und unerwartete Erscheinen der halb durchsichtigen Benachrichtigungsfenster ließ ihn in Jubel ausbrechen, was zur Folge hatte, dass er gleich erst mal Wasser schluckte, ehe er sich wieder gefangen hatte.
Eine neue Fähigkeit!
Es stimmte also, bereits bekannte Fähigkeiten, konnte man ohne große Probleme in Raoie einsetzen. Er konnte sich wirklich glücklich schätzen, dass er nicht auch noch die Fähigkeit des Schwimmens im Spiel neu erlernen musste. Dann hätte diese Quest ewig gedauert.
Bahe schwamm weiter und hatte gleich das Gefühl besser durch das Wasser zu gleiten. Na ja, dachte er amüsiert, bei einer Verbesserung von 4% bildete er sich das Ganze vermutlich nur ein.
Nach den letzten Metern schwamm er schließlich am Zaun, der das Gildengelände umschloss, vorbei und tauchte mit ein paar kraftvollen Zügen zum Ufer zurück.
An Land angekommen, huschte er schnell zwischen die ersten Büsche, wrang sein Kleidung so gut es ging aus, strich sich seine nassen Haare aus dem Gesicht und versuchte sich anschließend einen Überblick über seine Umgebung zu verschaffen.
Er befand sich am äußersten Ende des Parkgeländes, das in den Online-Foren beschrieben wurde. Demnach musste er nur noch knappe dreihundert Meter dem Zaun folgen und sich danach noch fünfzig Schritte senkrecht davon entfernen. Dann sollte bereits der Apfelbaum zusehen sein, an dem sich der alte Magier wohl immer so gerne anlehnte.
Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, die Zeit passte also auch.
Bahe zögerte nicht länger und huschte weiter.
Nach guten zwanzig Schritten durch die Büsche am Rande des Zauns, fröstelte Bahe zunehmend. Der Fluss war einfach zu kalt gewesen. Auch wenn es recht warm war, ließen ihn seine nassen Klamotten erzittern.
Er ignorierte es und schlich weiter vorwärts. Nach ein paar Minuten war er endlich am Ende seiner Route angelangt und konnte von Glück reden, nicht von zwei Magiergesellen entdeckt worden zu sein, die seinen Weg gekreuzt hatten, als er vom Zaun ins Innere des Parks vorgedrungen war.
Nicht weit vor ihm ragte ein großer, alter Apfelbaum am Rande eines kleinen Teiches empor. Ein Weg mit einer Bank führte elegant am Rande des Teiches entlang und im Schatten des Baumes saß tatsächlich ein alter Mann, der sich mit dem Rücken entspannt zwischen die Wurzeln des Baumes gelegt hatte.
Unsicher ging Bahe auf den alten Mann zu. Er konnte nur hoffen, dass er den richtigen Magier ansprach. Ansonsten war er in ernsten Schwierigkeiten.
Zwei Schritte vor dem Magier angekommen, musterte Bahe den scheinbar schlafenden Magier zunächst. Er trug einfache Kleidung aus Leinen, ein beiges Hemd und eine dunkelbraune Hose, die lose bis zu seinen Schuhen reichte. Eine dunkelblaue Magierrobe diente ihm als Polster zwischen den Wurzeln des Apfelbaumes, während sich seine Brust mit den langsamen Atemzügen regelmäßig unter dem Hemd hob und senkte.
Außerdem besaß er augenscheinlich keinen klischeehaften Magierhut, wie man es aus vielen alten Filmen kannte.
Er trug seine schulterlangen, dunkelblonden Haare offen und ein Großteil seines Gesichts war von einem kurz gestutzten Vollbart verdeckt. Graue Strähnen zogen sich durch Haar und Bart und ließen zusammen mit einigen Gesichtsfalten auf das Alter des Mannes schließen.
Bahe ließ sich auf die Knie nieder und setzte sich in den Fersensitz, als er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er konnte den Magier natürlich aufwecken, andererseits fragte sich Bahe, ob er diesen dadurch eventuell verärgern würde. Das wäre seinem Wunsch sich mit ihm gut zu stellen eher abträglich.
Die andere Möglichkeit war schlicht weg abzuwarten, bis der Magier irgendwann erwachte. Allerdings wollte Bahe ungern den halben Tag damit verbringen, mit nasser Kleidung auf dem Boden zu hocken…
„Was glotzt du denn so?“, fragte plötzlich eine dunkle Stimme.
Vor Schreck zuckte Bahe zusammen und blickte den Magier an. Dieser starrte nur zurück und fragte: „Sag mal, bist du auf den Kopf gefallen, oder wieso guckst du so blöd aus der Wäsche?“
„Ähm… ich… ich wusste nicht das ihr wach seid, Meister“, fasste sich Bahe schnell.
„Hab ich gemerkt“, winkte der Magier ab und musterte ihn aufmerksam. „Auf den Kopf gefallen scheinst du ja nicht direkt, aber ein nasser Esel bist du allemal.“
„…“
Bahe konnte nur verlegen lächeln, er wusste nicht was er darauf antworten sollte.
„Überlass mir das mal“, sagte der alte Magier jedoch schon einen Moment später und Bahe spürte augenblicklich, wie ein warmheißer Wind seine Kleidung erfasste und ihn in kürzester Zeit von oben bis unten trocken blies.
Bahe staunte nicht schlecht und bedankte sich sofort mit einer Verbeugung: „Vielen Dank, Meiter!“
„Nicht der Rede wert“, winkte der alte Magier nur wieder ab. „Geh ich richtig in der Annahme, dass du hier bist, um zu lernen, wie man seine Speichergegenstände benutzt und mit Magie umgeht?“
„Da… habt ihr Recht, Meister. Woher…“
„Woher ich das weiß?“, unterbrach ihn der Magier. „Seit Anfang des Jahres suchen mich neuerdings ständig irgendwelche unerfahrenen Jungspunde wie du auf, die noch feucht hinter den Ohren sind und kaum Haare am Sack tragen. Die wollten bisher alle das Gleiche wie du.“
Bahe stutzte, ob der derben Worte des Magiers ein Wenig, bemühte sich jedoch es sich nicht anmerken zu lassen.
„Allerdings hatten die alle auch die gleichen Probleme… Aus irgendeinem Grund konnten sie nicht mit dem Vollidioten Iras reden. Eigentlich ist der Mistkerl für diese Sachen zuständig. Da frage ich mich natürlich, was du angestellt hast, dass du nun vor mir stehst…?“
„Ähm…“, antwortete Bahe verlegen. „Ich hatte da ein Missverständnis mit dem Meister Hohest.“
„Ein Missverständnis? So so…“, zog der alte Magier die Augenbrauen nach oben.
Bahe schalt sich innerlich selbst, als er merkte, dass seine Aussage nur zu gut falsch verstanden worden konnte.
„Meister Hohest sah in mir einen Formwandler, was aber nicht der Wahrheit entspricht“, entschloss sich Bahe schweren Herzens die Wahrheit zu sagen und zitterte innerlich, ob er nun erneut eine waghalsige Flucht vor sich haben würde.
Der Magier vor ihm sagte darauf nichts und kniff lediglich die Augen zusammen. Als Bahe auf eine Reaktion wartete, wallte plötzlich eine Windböe vor ihm auf und schon hatte sich der Magier in Luft aufgelöst.
„Was zum…?“, entfuhr es Bahe als er plötzlich eine Hand auf seinem Kopf spürte.
Erschrocken fuhr er herum und entdeckte den Magier hinter ihm, dessen Hand noch immer in der Luft schwebte und ihn nachdenklich anblickte.
„Kein Wunder, dass die alte Krähe in dir einen Formwandler gesehen hat“, meinte der Magier schließlich kopfschüttelnd. „Du hast Macht in dir. Viel Macht. Viel zu viel für einen Neuling der Magie, wie du es offensichtlich bist. Erde und Wasser… wirklich erstaunlich…“
Bahes Gedanken rasten derweil, um das Vernommene richtig verarbeiten zu können. Alte Krähe? Hatte der Magier vor ihm, so den Meistermagier Hohest bezeichnet? Und dann noch die Nummer mit dem in Luftauflösen und hinter ihm wieder auftauchen… Konnte es sein, dass der alte Kauz weit mächtiger war, als allgemein von den Spielern bisher angenommen wurde?
Es würde dazu passen, dass er scheinbar auch ohne einen Monolith wusste, welche Affinitäten Bahe aufwies. Während er erstaunt über seine Folgerungen nachdachte, ließen ihn die nächsten Worte des Magiers vor freudiger Verblüffung erstarren.
„Sag mal, was hältst du davon mein Schüler zu werden?“
Zunächst traute Bahe seinen Ohren nicht. Doch da der alte Magier ganz offensichtlich nur ihn anschaute, konnte niemand anderes gemeint sein. Im nächsten Moment klappte auch schon das erwartete Fenster auf:
Ein alter Magier bietet dir an, dich zum Schüler zu nehmen.
Willigst du ein?
Innerlich frohlockte Bahe und stimmte sofort zu: „Es wäre mir eine Ehre, Meister…?“
„Haha, sehr gut“, lachte der alte Magier begeistert und stellte sich anschließend mit einem Lächeln vor. „Da du nun mein Schüler bist, kannst du mich Meister Ilias nennen.“
„Ich halte nicht so viel von Titeln“, fügte er mit einem Augenzwinkern noch hinzu.
Klar, Meister… Dachte sich Bahe nur und murmelte ganz leise den Befehl: „Überprüfen!“
Meister Ilias
Ein alter Magier, der es liebt an sonnigen Nachmittagen im Schatten eines Apfelbaumes im Park der Magiergilde zu verweilen. Eventuell weit mächtiger als zunächst angenommen.
Beruf: Magier
Level: ???
Weitere Informationen: ???
Den Befehl hatte er sich sparen können… Bahes neuer Lehrmeister schien ein viel höheres Level zu haben, wenn der Befehl nicht mal ansatzweise neue Informationen zu Tage fördern konnte.
„Meister, darf ich fragen, wieso ihr…“
Auch diesmal wurde Bahe unterbrochen.
„Du willst wohl wissen, weshalb ich dich zum Schüler genommen habe, was?“, grinste Ilias. „Ganz einfach. Du warst ehrlich. Ob aus Naivität oder Größenwahn, da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Aber während alle anderen jungen Leute vor dir mir verschieden gute Ausreden präsentiert haben, wieso mein Kollege Iras ihnen nicht weiterhelfen konnte, warst du der Einzige, der mir doch tatsächlich die Wahrheit gesagt hat. Und das obwohl du so ganz nebenbei von der gesamten Magiergilde gesucht wirst!“, lachte er schallend. „Dachtest wohl, du könntest im Notfall nochmal vor mir entkommen? So, wie du damals den Wachen entflohen bist, die dich in unser Verlies bringen sollten? Ohne den geringsten Zauber zu kennen?“
Der alte Kauz hörte gar nicht mehr auf zu lachen und Bahe musste zugeben, dass Ilias vollkommen richtig lag. Ob er mit seiner Einschätzung naiv gewesen war, vermochte Bahe nicht zu sagen. Von Magie verstand er ja noch kaum etwas... Er konnte nur hoffen, dass sich das jetzt bald ändern würde.
Nachdem Ilias sich irgendwann dann doch beruhigt hatte, ging er an Bahe vorbei und setzte sich auf eine der dicken Wurzeln des Apfelbaumes.
„Nun also zuerst zu dem Grund, wieso du hier bist – die Speichergegenstände“, fing er an, nachdem sich Bahe wieder auf den Boden niedergelassen hatte. „Speichergegenstände sind magische Artefakte und öffnen einen für dich nutzbaren Raum in einer anderen Dimension. Soviel solltest du ja schon wissen. Es können alle möglichen Gegenstände dafür herhalten. Es muss nicht auf einen Gürtel beschränkt sein, wie es bei den vielen jungen Leuten deines Alters scheinbar so verbreitet ist.“
Bahe nickte nur, soviel hatte er bereits im Vorfeld in Erfahrung bringen können.
„Trotzdem ist allen Gegenständen natürlich eine Sache gemein. Sie sind magisch. Damit du auf sie zugreifen kannst, musst du sie zunächst an dich binden und für diese Bindung brauchst du wiederum Mana. Wir Magier arbeiten mit der Energie, die in allen Gegenständen und Lebewesen der Welt vorhanden ist. Diese Energie nennen wir Mana. Frage mich nicht, welcher Vollidiot sich das ausgedacht hat…“, meinte Ilias kopfschüttelnd und fügte mit Nachdruck hinzu: „Auch, wenn du den Begriff Mana zukünftig benutzt, sei dir stets darüber im Klaren, dass er nur eine andere Bezeichnung für die allumfassende Energie der Welt ist. Mana verbinden viele immer nur mit Zauberei, doch Energie existiert auch abseits der Magie, vergiss das niemals!“
„Ja, Meister“, antwortete Bahe ernst.
Ilias schaute ihm einen Moment lang bedeutungsschwer in die Augen und fuhr dann fort: „Zurück zu der Bindung der Gegenstände. Du musst dein Mana bewusst in sie hinein fließen lassen und so eine individuell eigene Manasignatur erschaffen. Von dem Moment an, wirst nur noch du selbst Zugriff auf den Speichergegenstand haben. Und da sind wir auch schon bei den Grundzügen der Magie angekommen. Hast du schon mal selbst irgendeine Art von Magie gewirkt?“
„Nicht das ich wüsste“, sagte Bahe.
„Habe ich mir gedacht“, meinte Ilias und blickte ihn kritisch an. „Gerade der Anfang ist immer am Schwersten, ganz zu schweigen davon, dass du über viel zu viel Macht für einen Anfänger verfügst.“
„Meister, dass mit der zu großen Macht habt ihr schon einmal erwähnt, was meint ihr damit?“
„Ganz einfach ausgedrückt, du trägst für einen Anfänger zu viel Mana in dir.“
„Zu viel? Ich dachte, umso mehr, umso bessere und stärkere Zauber kann man wirken?“, fragte Bahe.
„Das ist der Fehler, den die meisten Leute machen. Lebe nach diesem Grundsatz und du wirst höchstens ein Meister deiner Kunst, aber niemals mehr. So wie dieser alte Dummkopf Hohest“, winkte Ilias ab. „Weißt du, wieso Hohest so davon überzeugt war, dass du ein Formwandler bist?“
Bahe schüttelte nur stumm den Kopf.
„Dein großer Manapool. Falls du den Begriff noch nicht gehört hast, so bezeichnet man unter Magiern allgemein hin den Mana-Vorrat, der einem zur Verfügung steht“, erklärte Ilias mit einem Augenzwinkern. „Du musst wissen, dass es Mana braucht um den Monolithen beim Eignungstest zum Leuchten zu bringen. Umso länger du also die Hände an den Stein gelegt hast, umso mehr Mana hast du verbraucht. Und wie ich dir schon sagte, ich habe noch nie einen so jungen Menschen mit solchen Manareserven gesehen. Hohest konnte sich deine starken Affinitäten mit den Elementen nicht erklären. Wenn er noch nicht mal solche Talente besitzt, wie konnte sie ein blutiger Anfänger haben?“, Ilias schüttelte bedauernd den Kopf. „In seiner Begrenztheit hat Hohest nach einer anderen Lösung gesucht. Deine starken Affinitäten sind in Verbindung mit dem riesigen Manapool tatsächlich Merkmale für Formwandler. Besonders, wenn beide Merkmale bei einem jungen Menschen auftauchen, der noch nicht mal ein Novize ist.“
Langsam ergab die ganze Situation, um den Test zur Magiereignung, einen Sinn für Bahe. Ilias führte derweil seine Ausführungen weiter: „Deswegen merke dir eins, Wissen ist viel wichtiger und wertvoller als Macht! Ein großer Magier ist nicht derjenige, der mächtiges Feuer entfacht, sondern derjenige, der jedes kleinste Bisschen Energie perfekt zu nutzen vermag.“
Ilias holte einmal tief Luft und sah ihn dann belustigt an.
„Jetzt sind wir schon wieder abgeschweift“, meinte er mit einem Lächeln. „Eine Manasignatur setzt voraus, dass du dein Mana dazu bringen kannst in den jeweiligen Speichergegenstand hinein zu fließen. Natürlich bedeutet es im Gegenzug, dass du erst mal in der Lage sein musst, dein Mana überhaupt bewegen zu können. Das sind beides noch mal zwei verschiedene Dinge und du wirst lange brauchen sie zu beherrschen.“
„Scheinbar wird es doch nicht so leicht sein, wie ich dachte“, bemerkte Bahe zerknirscht zu und brachte Ilias damit zum Lachen.
„Aber wie kann es dann sein, dass viele Leute in meinem Alter schon so mächtige Zauber wirken können?“, fragte Bahe, als er überlegte, wie andere Spieler den ganzen Prozess des Magiewirkens so schnell erlernt hatten.
„Sie nutzen ihr Mana über eine Abkürzung. Die Zaubersprüche sind ein Konstrukt, das ihnen zwar hilfreich erscheint, aber im Grunde ihre Entwicklung hemmt“, erläuterte Ilias. „Stell dir einen Jungen vor, der lesen lernt. Jeder normale Mensch würde damit anfangen, die einzelnen Buchstaben und ihre Aussprache zu erlernen. Aber dieser Junge ist ungeduldig und lernt einfach die möglichen Sätze für die Abschlussprüfung auswendig. Er kann vielleicht unterscheiden, welche Sätze ihm vorgelegt werden und diese auch richtig wiedergeben. Aber legt man ihm vollkommen andere Zeilen vor, wird er hilflos sein.“
„Wenn ich euch richtig verstehe, dann bedienen sich diejenigen, die so schnell Zauber wirken können, einfach nur vorgefertigter Zauber, ohne sie zu verstehen?“
„Das trifft es ziemlich genau“, freute sich Ilias über Bahes gute Auffassungsgabe.
Bahe wäre in diesem Moment vor Freue beinahe auf und ab gesprungen. Wie viel Glück gehörte denn bitte dazu, solch einem Lehrmeister zu begegnen? Er hatte doch gerade tatsächlich erfahren, wo der Unterschied zwischen bekannten und selbst erfundenen Zaubern lag!
Er konnte mit der Information zwar noch kein Vermögen machen, aber es war schon mal der erste Schritt auf dem Weg eigene Zauber zu entwickeln!
„Wenn du verstehst, wie man die Energie des Lebens nutzt, kannst du Zauber schaffen, die von den Bekannten abweichen und daher natürlich auch andere Effekte haben.“
„Also, könnte man bereits bestehende Zauber verbessern?“
„Im Großen und Ganzen ja.“
„Nur damit ich das richtig verstehe… Wenn ich einen Zauber für einen Feuerball kennen würde und diesen Zauber verbessere, würde dieser anschließend mehr Schaden machen?“
„Ganz so einfach ist es nicht“, schüttelte Ilias den Kopf. „Die bekannten Konstrukte sind meistens schon nahezu perfekt. Es sind eher die richtige Kombination und manchmal sogar eine Abschwächung der Zauber, die das Endergebnis interessanter machen.“
„Wie meint ihr das, Meister?“
„Lassen wir das“, weigerte sich Ilias weiter darüber zu sprechen.
„Aber…“, versuchte Bahe dem alten Magier noch mehr zu entlocken.
„Wie zum Henker willst du etwas über Magie lernen, wenn du mich ständig unterbrichst?“, blicke Ilias ihn hochgezogenen Augenbrauen an.
Bahe verstummte. Er wollte nicht riskieren den alten Mann gegen sich aufzubringen und dadurch die Quelle des reichen Wissens zu verlieren.
„Also… wo waren wir?“, überlegte Ilias kurz und fuhr dann fort. „Ah ja, Mana bewegen… Du wirst es lernen, aber es wird Zeit kosten. Ich könnte dir einen Zauber beibringen, der es dir ermöglicht neue Speichergegenstände zu binden, aber dann wären wir wieder beim Thema von vorhin und du hättest nichts gelernt. Deswegen werde ich es nun einmalig für dich übernehmen und in Zukunft bist du auf dich allein gestellt. Komm, stell dich hin.“
Bahe folgte den Anweisungen und spürte plötzlich eine seltsame Präsenz in der Luft. Er wusste nicht was, aber irgendetwas begann sich zu verändern. Es kribbelte auf der Haut, seine feinen Härchen stellten sich auf und Bahe fühlte sich mit einem Mal ganz leicht. Nach und nach breitete sich das Kribbeln in seinem gesamten Körper aus. Es war wirklich eine merkwürdige Erfahrung…
Und dann geschah es! Bahe war sich zunächst nicht sicher und doch, ein sanfter Schimmer erhob sich von seinem Körper und wurde zunehmend stärker. Es steigerte sich schließlich zu einer Aura des Lichts, die ihn umgab und wellenartig auf und abebbte.
Dann verschwand der Lichtschein zögerlich von seinen Extremitäten und zog sich um seinen Gürtel herum zusammen. Bahe riss derweil weit die Augen auf, um bloß keinen Augenblick zu verpassen.
Bahes Lichtaura verschwand schließlich vollends, nur um kurz darauf seinen Gürtel in hellem Licht erstrahlen zu lassen. Für einen kurzen Moment wurde Bahe von dem Licht geblendet und dann verschwand es genauso schnell wie es gekommen war.
Du hast deinen ersten Speichergegenstand erfolgreich an dich binden lassen!
+10 Exp
Zunächst stand Bahe nur verblüfft da, war das alles gewesen?
Doch dann ergriff ein merkwürdiges Gefühl von ihm Besitz. Es war kaum zu beschreiben… Ihm kam etwas in den Sinn, wie eine Art Traum… Nein, eher wie eine bildhafte Erinnerung oder ein Gedanke! Er spürte plötzlich, dass er über einen Speichergegenstand verfügte… Bahe konnte ihn gedanklich vor sich sehen, ohne dass er wirklich da war.
Vor ihm breitete sich eine Art großes Schrankfach aus, mehr Platz nahm der Raum in der anderen Dimension nicht ein. Wie Bahe, bei seinen Recherchen im Vorfeld erfahren hatte, war sein Speichergegenstand tatsächlich mit einfachen Nahrungsvorräten und ein Bisschen Geld gefüllt. Abgesehen von den fünfundzwanzig Kupfermünzen waren noch Wasser, Brot und sogar ein paar Streifen Dörrfleisch zu finden, nichts Besonderes.
Nach seinen Online-Quellen sollte er von diesen Vorräten bis zu drei Wochen leben können, ehe er eine neue Nahrungsquelle auftreiben musste.
Aufgeregt langte er instinktiv mit seinen Armen nach unten und ergriff etwa auf Höhe seines Gürtels ein Stück Brot aus der Zwischendimension. Geschockt blickte er anschließend auf seine Hand, die plötzlich eben jenes Brotstück hielt.
„Unglaublich…“, murmelte Bahe und packte das Brotstück mit nur einem Gedanken wieder zurück in die Zwischendimension.
„Ja, nicht wahr?“, sagte der alte Magier mit einem Lächeln und wies Bahe sich hinzusetzen. „Strebe niemals nur nach Macht, sondern erfreue dich stets auch an den kleinen Dingen. Jetzt ist es Zeit das du lernst, wie du eine solche Manasignatur demnächst selbst erschaffst.“
„Hast du schon mal davon gehört, wie man seinen Manapool erhöhen kann?“, fragte Ilias.
„Hmm… durch Meditation?“, stellte Bahe recht sicher eine Vermutung an.
„Ganz genau, aber die Meditation dient nicht nur der Manapoolerweiterung, sondern hilft dir auch dein bereits vorhandenes Mana spürbar zu machen“, erklärte Ilias. „Wir Magier meditieren, um uns mit der Energie des Lebens vertraut zu machen. Schließlich musst du dein Mana erst spüren können, um irgendwann darauf zugreifen zu können.“
„Also, wird meine Aufgabe sein zu meditieren?“
„Unter anderem“, grinste Ilias und kramte ein unscheinbares Armband aus Stoff aus einer seiner Hosentaschen. „Weist du was das hier ist?“
„Ein Armband…?“, zuckte Bahe hilflos mit den Schultern.
„Du siehst genauso viel, wie du sehen sollst“, sagte Ilias und grinste immer noch. „Nach außen hin, sieht es nur nach einem alten Armband aus billigem Stoff aus. Ein Schmuckstück der armen Leute, mehr nicht. In Wirklich ist es aber ein Speichergegenstand, der zwanzig Kubikmeter fasst und etwa eine Kristallmünze wert ist.“
Bahe riss geschockt die Augen auf.
„Wie du vielleicht schon weißt, sind Speichergegenstände äußerst teuer. Allein für den Gürtel den du trägst, könnte man schon zwei bis drei Goldmünzen bekommen.“
Bahe nickte nur beklommen. Er hatte es bereits in Foren gelesen, dass er verdammt gut auf seinen Gürtel aufpassen musste. Als der Mehrheit der Spieler klar geworden war, wie wertvoll dieser Startgegenstand war, den jeder Spieler zu Beginn von Raoie bekam, war eine regelrechte Hetzjagd auf die Schwachen ausgebrochen.
Drei Wochen lang beschwerten sich nahezu ununterbrochen irgendwelche Spieler die von ganzen Raubtrupps angegriffen worden waren, die sich nur zum Ziel gesetzt hatten, die Gürtel anderen Spielern abzujagen.
Viele Spieler brauchten Wochen, um sich davon zu erholen. Nicht nur, dass sie ihre ganzen Ersparnisse dort hinein gelegt hatten, auch ihre Nahrungsmittelvorräte waren plötzlich verloren. Das Schrecklichste an der ganzen Geschichte war, dass die Täter noch nicht mal allzu schlimme Konsequenzen fürchten mussten, da sie ihre Opfer in Raoie ja gar nicht töteten. Raoie war schlicht zu lebensecht. Ein paar Leute reichten locker, um einen Spieler festzuhalten, während ihm jemand anderes die wertvollen Gegenstände abnahm.
Der schlechte Ruf der Räuber dauerte zwar eine Weile an, wirkte sich aber auf den Verkauf der Gegenstände eher sogar positiv aus, weil die Händler Angst vor den Spielern hatten und sich nicht trauten sie über’s Ohr zu hauen…
Insgesamt ein verdammt lukratives Geschäft.
Es hörte erst auf, als die übrigen Spieler nur noch in großen Gruppen unterwegs waren, um sich der Raubüberfälle erwehren zu können. Von da an lohnte sich für die Täter schlicht weg der Zeitaufwand nicht mehr, um die Wenigen, die noch einzeln unterwegs waren, aufzuspüren.
Trotzdem musste man noch immer, gerade als Spielanfänger mit geringem Level, stark aufpassen, wem man sich näherte.
„So im Großen und Ganzen steigert sich der Wert eines Speichergegenstands pro Kubikmeter um etwa 2-3 Goldmünzen. Nach dieser Regel müsste das Armband einen Wert von etwa fünfzig Goldmünzen aufweisen. Wieso ist dieser schäbig wirkende Speichergegenstand dann noch so viel wertvoller als dein Gürtel?“
„Ich habe keine Ahnung, Meister.“
„Jetzt denkst du nicht mit, was?“
„Ich weiß einfach nicht, worauf sie hinaus wollen…“, meinte Bahe ratlos.
„Du trägst ihn an einer anderen Körperstelle.“
„Das… ist alles?“, fragte Bahe verwirrt.
„Überleg mal, was musstest du gerade tun, um einen Gegenstand deinem Gürtel zu entnehmen?“
„Ich habe die Hand in diese andere Dimension ausgestreckt und nach dem Stück Brot gegriffen…“, Bahe brach ab, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. „Ich musste nach unten greifen!“
„Ah, jetzt hast du es“, lächelte Ilias. „Also, zähl mir mal die Vorteile auf.“
„Also abgesehen davon, dass der Gürtel sehr offensichtlich ist und mein Gegenüber sofort weiß, was ich dort trage, muss ich die Hände nach unten in diese andere Dimension bewegen, um etwas daraus hervor zu holen“, sagte Bahe eifrig. „Wenn ich richtig liege, fällt das bei einem Armband weg und besser noch, die Zwischendimension befindet sich um die Hand herum, so dass alle möglichen Gegenstände praktisch nur mit einem Gedanken plötzlich in der eigenen Hand erscheinen können!“
„Perfekt, die Vorteile für jegliche Kampfsituation oder Auseinandersetzung muss ich dir mit Sicherheit nicht erklären, oder?“
Bahe schüttelte grinsend den Kopf.
„Der Wert von Speichergegenständen lässt sich also nicht nur an dem Fassungsvolumen messen, sondern hängt also auch noch von der Position ab, wo er am Körper getragen wird“, sagte Ilias und erläuterte weiter. „Es gibt noch zwei weitere Kriterien, wovon du eins im Grunde schon benannt hast, die Tarnung. Wenn man mal vom Adelsstand absieht, wird bis auf ein paar Vollidioten, die ihr Können überschätzen, keiner besonders edle und mit Edelsteinen verzierte Speichergegenstände tragen, da die Gefahr ihrer beraubt zu werden, viel zu groß ist. Dein Gürtel ist allseits bekannt, also solltest du gut drauf aufpassen.“
Bahe wusste die guten Intentionen des Magiers zu schätzen und nickte fleißig, damit Ilias seine Ausführungen fortsetzte.
„Bei der letzten Sache handelt es sich um die Qualität des Gegenstandes. Es gibt Speichergegenstände, die nur begrenzte Zeit ihre Funktion beibehalten werden. Gründe dafür können die verschiedensten Sachen sein. Der Magier, der den Gegenstand hergestellt hat, versteht nichts von seinem Handwerk, der Gegenstand ist mehrere Jahrhunderte alt oder auch Abnutzung und Beschädigung. Speichergegenstände sind erheblich widerstandsfähiger als die allgemeine Kleidung. Sieh dich nur selbst an, sitzt hier in Lumpen, aber dein Gürtel hat nur ein paar Kratzer davon getragen. Soweit alles verstanden?“
Bahe nickte ein weiteres Mal.
„Gut, aber du fragst dich sicherlich, wozu ich dir das alles erzähle, was?“
„Ja, Meister“, antwortete Bahe gespannt, wenn er auch insgeheim froh darüber war, dass sich der Magier so viel Zeit genommen hatte, um ihm die Unterschiede der Speichergegenstände zu erkären.
„Hier“, schockte ihn Ilias erneut und warf ihm das Armband rüber.
Reflexartig fing Bahe das Armband und starrte seinen Meister ungläubig an.
„Meister, meint ihr damit, dass ich es behalten kann?“
„Wofür hätte ich es dir sonst zugeworfen…?“, fragte Ilias und verdrehte die Augen. „Sofern du dich entschließt mein Schüler zu bleiben, wird deine erste Aufgabe sein, einen Speichergegenstand selbst zu binden. Da die Dinger so teuer sind, musste ich dir ja einen zur Verfügung stellen.“
„Vielen Dank, Meister!“, bedankte sich Bahe begeistert und stellte eine Frage, die Ilias dumm aus der Wäsche gucken ließ: „Wie bindet man einen solchen Gegenstand nun?“
„Sag mal, bist du auf dem Kopf gefallen? Ich hab es dir doch schon erklärt! Meditation um dein Mana zu erspüren, dann musst du lernen dein Mana zu bewegen und schließlich dein Mana in den Speichergegenstand einfließen lassen.“
„Ja und wie soll das gehen? Meister, ihr habt mir dazu doch noch nichts erklärt!“, empörte sich Bahe.
„Ja, das musst du schon selbst herausfinden. Meine Schüler sind allesamt hoch intelligent und scheuen sich vor keiner Aufgabe. Ein Genie, wie es meine Schüler nun mal alle sind, würde sich von solchen Vorgaben doch nur eingeengt fühlen. Also, was ist jetzt? Nimmst du meine erste Aufgabe an und findest einen Weg einen Speichergegenstand an dich zu binden?“
WTF?!
War das ernst gemeint? Der Magier brachte ihm absolut gar nichts über Magie bei?
Innerlich wollte Bahe ausrasten, doch das nächste Fenster schockte ihn so sehr, dass jegliche Wut augenblicklich verpuffte.
Quest [S]
Willst du Ilias dauerhaft als deinen Lehrmeister annehmen?
Der alte Magier Ilias hat dich aufgefordert, einen Weg zu finden einen Speichergegenstand an dich zu binden. Nimmst du die Aufgabe an? [D]
Bitte beachte:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Bei Annahme der Aufgabe wird dich Ilias offiziell als Schüler anerkennen.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Bei Nichtannahme wird Ilias nicht länger gewillt sein dich zu unterrichten.
Wie zum Henker, hatte er diese Quest auslösen können? Sicher, Interaktionen mit NPCs konnten des Öfteren die verschiedensten Aufträge und Quests auslösen, aber was hatte es bloß damit auf sich ein Schüler zu werden? Hatte er dem nicht schon einmal zugestimmt…?
Doch das Bemerkenswerteste war der Rang der Quest. Egal wie genervt Bahe gerade war, er stimmte augenblicklich zu.
„Selbstverständlich Meister, ich werde einen Weg finden und euch nicht enttäuschen!“, rief er nervös und verbeugte sich.
„Sehr gut!“, lachte Ilias laut auf und blickte ihn dann ganz direkt an. „Alle meine Schüler haben einen Titel und werden so von mir gerufen. Deine herausragenden Fähigkeiten sind deine Affinitäten zu den Elementen Erde und Wasser… hmm… ein Titel der dazu passt…“
Ilias versank für einen Moment im Schweigen, ehe er plötzlich laut aufschrie: „Ha! Ich habe es!“
Bahe zuckte vor Schreck zusammen, doch der alte Magier ließ sich davon nicht beirren und redete weiter.
„Du wirst Morgentau heißen! Wasser das sich am frühen Morgen über der Erde sammelt. Der Morgen steht gleichzeitig auch noch dafür, dass du dich am Anfang deiner Reise befindest und noch viel zu lernen hast. Perfekt! Ein guter Name!“, grinste Ilias über beide Ohren und schaute ihn glücklich an.
Der alte Magier hat dich offiziell als Schüler anerkannt!
Du erhältst den Titel: Morgentau
Ruhm +500
Titel: Morgentau
Ein besonderer Titel, der dir in gewissen Kreisen großes Ansehen verleiht!
Bahe verstand die Welt nicht mehr.
Ruhm +500?
Ein Titel?
Wer war Ilias wirklich?!
„Nun denn, mein Schüler, wenn uns das Schicksal gnädig ist, werden wir uns wiedersehen. Ich habe lange genug in dieser Einöde verweilt!“, rief Ilias aus und murmelte weiter. „Und all das nur wegen diesem bescheuerten Orakel…“
„Ihr müsst gehen, Meister?“, fragte Bahe, als er aus seinen Gedanken gerissen wurde.
„Ganz genau, Morgentau. Och, wie sich das reimt! Als ob auch gleich die Sonne scheint!“
Ein weiteres Mal erklang das volle Lachen des alten Magiers und ohne jede Regung löste er sich plötzlich in Luft auf.
Sein Lachen hallte noch nach und Bahe blieb vollkommen verdutzt auf der Erde sitzen und blickte sich um.
„Mach es gut, mein Schüler“, verklang ein letztes Flüstern und damit jeder Hinweis darauf, dass vor Bahe mal ein alter Mann gesessen hatte.
Bahe brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen und lächelte dann leicht vor sich hin.
Glich die ganze Situation mit Ilias nicht einem ausgefallenen Fantasyroman? Ein alter Mann, von dem man keine Ahnung hatte, wer er war, geschweige denn welche Kräfte er besaß, nahm einen unter irrsinnigen Bedingungen als Schüler an?
Für einen kurzen Moment musste Bahe an den alten Trunkenbold denken, der ihn in der Realität dazu verdonnert hatte zwei Wochen lang vor seiner Haustür zu knien… Dann schüttelte er den Kopf, er hatte Besseres zu tun als in Tagträumen zu versinken.
Sein Meister hier in Raoie musste jedenfalls eine bedeutende Persönlichkeit sein. Anders war der enorme Zuwachs an Ruhm nicht zu erklären. Soweit Bahe wusste, hatte es bisher nur einen Spieler gegeben, der auf einen Schlag mehr Ruhm erlangt hatte als er selbst. Der Spieler hatte allerdings auch im Auftrag eines Lehnsherren Soldaten befehligt. Ein Konzept, von dem Bahe noch weit entfernt war.
Ruhm verbesserte nicht Bahes Fähigkeiten, erhöhte aber sein Ansehen beim Adel und allen Nobelleuten, die etwas auf sich hielten. Im späteren Spielverlauf konnte der Ruhm-Wert sogar eine gewisse Grenze überschreiten und ihn in der gesamten Welt von Raoie berühmt machen. Dadurch ergaben sich viele unschätzbare Vorteile in den alltäglichen Auseinandersetzungen mit NPCs und bei der Questsuche.
Mit dem Titel konnte er andererseits noch überhaupt nichts anfangen… Morgentau…
Hörte sich das nicht ein Bisschen zu weiblich an?
Unschlüssig wanderten seine Gedanken lieber zu Sache, die ihn vorhin eiskalt erwischt hatte. Er hatte eine Quest mit dem [S]-Rang angenommen!
In jedem Online-Rollenspiel gab es natürlich verschieden schwere Quests. Das war auch in Raoie nicht anders. In Raoie wurden die leichtesten Quests als [H] eingestuft. Aufsteigend über [G], [F], [E], [D], [C], [B] zu [A] wurden die, in der Quest gestellten Aufgaben, zunehmend schwerer. Dafür wurde man beim erfolgreichen Abschluss der Quests, jedoch zu gleichen Teilen auch besser belohnt!
Abgesehen von den Standardklassifikationen gab es dann noch den Rang [S] für Sonderquests. Die Missionen dieser Quests konnten die unterschiedlichsten Schwierigkeitsgrade haben. Es ging bei ihnen viel mehr darum, dass sie vom Aufbau ihrer Aufgaben einem ungewöhnlicheren Muster folgten. Zudem handelte es sich bei S-Rang-Quests nahezu ausschließlich um Reihenquests! Sprich, eine Teil-Quest führte, nach erfolgreichem Abschluss, zur Nächsten, wobei sich auch der Schwierigkeitsgrad verändern konnte.
In Bahes Fall war die erste Teilquest bereits außergewöhnlich gewesen. Sie wies den Schwierigkeitsgrad des [D]-Ranges aus!
TNL pflegte online eine Informationsseite über besondere Ereignisse und anonyme Daten der besten Spieler von Raoie. Dazu gehörte auch eine Darstellung darüber, welcher Rang von Quests bisher erfolgreich abgeschlossen wurde. Der [D]-Rang war erst vor Kurzem erfolgreich abgeschlossen worden!
Das hieß, dass Bahe eine Möglichkeit hatte aufzuholen! Er hatte endlich mal mit einer Sache Erfolg gehabt. Natürlich war die Quest alles andere als einfach. Bahe regte sich immer noch über den alten Magier auf, der ihm erst so viel erzählte und dann plötzlich entschied, dass es genug gewesen war. Aber irgendwo musste der Schwierigkeitsgrad ja begründet sein.
Wirklich viele Anhaltspunkte hatte er nicht bekommen. Er musste meditieren, soviel war klar. Alles andere würde sich hoffentlich mit der Zeit ergeben. Glücklicher Weise gab es für die Quest kein Zeitlimit, was einiges vereinfachte.
Schlimmsten Falls konnte er die Quest einfach wochenlang links liegen lassen und später darauf zurückkommen.
Immer noch in Gedanken versunken, stand Bahe auf und machte sich auf den Rückweg. Er bemerkte gar nicht, dass er sich diesmal nicht der Büsche bediente, sondern einem der Parkwege zum Flussufer folgte.
Als Bahe hinter der nächsten Wegbiegung verschwand, kräuselte sich oben in den Ästen des Apfelbaumes kurz die Luft, bis die Gestalt des alten Magiers plötzlich erschien.
„Verzeih mir, mein Schüler. Aber bei so viel Macht wirst du selbst einen Weg finden müssen, sie zu kontrollieren“, Schüttelte Ilias mit einem schiefen Lächeln den Kopf. „Ich frage mich, was seine Reaktion wäre, wenn ich ihm erzähle würde, dass es keine bekannte Technik gibt so viel Mana als Anfänger zu bändigen…“
Nach einer Weile wurde sein Blick jedoch nachdenklich und er murmelte vor sich hin: „So viel Macht, das sie quasi schon wieder kontraproduktiv ist… und dann auch noch diese Affinitäten mit zwei Elementen… Irgendwo habe ich schon mal von solchen Fällen gelesen… Es ist aber lange her… Orakel, ist er derjenige, weshalb du mich hierher geschickt hast?“
Letztlich kehrte wieder ein Lächeln auf Ilias Gesicht zurück.
„Zeig mir, dass ich mich nicht in dir geirrt habe, Morgentau…“
Dann verschwand er mit einem letzten Rascheln der Blätter des Apfelbaumes.
Malca landete sanft im Schatten der Bäume am Rande des Parks der Magiergilde.
„Heh!“, grinste er abfällig.
Nur ein Idiot würde durch den Fluss schwimmen, wenn man auch anhand eines Baumes über den Zaun klettern konnte. Es hatte schließlich Vorteile ein Dieb zu sein. Besonders, wenn man davon lebte Tag ein, Tag aus über die Dächer Waldenstadts zu hechten.
Anschließend huschte er schnell zu einem der Parkwege, straffte sich, legte eine Magierrobe an und trat dann, als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre auf einen der Spazierwege.
Er wusste genau, wo er lang musste und bog zweimal rechts ab, um sich anschließend nach links zu wenden. In gut fünfzig Metern sollte er dann auf den Bereich mit dem Apfelbaum stoßen, wo sich der alte Magier immer aufhielt.
Unmittelbar nach der Biegung des Weges kam ihm ein Bettler entgegen. Seine Kleidung konnte man bestenfalls nur noch als Fetzen bezeichnen und er hatte den Kopf nachdenklich zu Boden gesenkt.
Nachdenklich?
Malca musste schmunzeln. Keine Ahnung, wie er darauf kam. Bei der Kleidung und schmächtigen Statur war verzweifelt wohl der bessere Ausdruck. Es war einfach unglaublich, was sich TNL immer wieder für Details einfallen ließ.
Sein Lächeln verflüchtigte sich schnell wieder, als Malca sich lieber wieder auf seine momentane Situation besann. Er war ein Magiernovize, der die Schönheit des Parks genoss. Kein Magier würde einen Bettler auch nur eines zweiten Blickes würdigen! Anschließend richtete er seinen Blick gerade aus und straffte seine Schritte ein Wenig.
Zwei Minuten später kam er endlich an seinem Bestimmungsort an und sein Blick glitt über den Teich mit dem Apfelbaum hinweg. Von dem alten Magier fehlte jede Spur.
Wahrscheinlich war er noch zu früh dran…
Um den alten Magier nicht von seinem Lieblingsplatz abzuhalten, beschloss Malca sich etwas abseits in den Büschen zu verstecken und dort auf sein Eintreffen zu warten.
Ein paar Minuten später kam Bahe am Flussufer an und schwamm die Strecke etwas mühselig zurück, da er diesmal seine Kleidung zum größten Teil ausgezogen hatte und mit einer Hand über dem Kopf hielt, um nicht gleich wieder frieren zu müssen.
Danach machte er sich angezogen auf den Rückweg aus der Sackgasse und strebte sein nächstes Ziel an, die Bibliothek.
Doch vorher aktivierte er noch die fünfte Tutorialmission:
Tutorial V: Alltagsbedingungen
Um Raoie zu verstehen, musst du abschließend drei Voraussetzungen verinnerlichen:
Voraussetzung 1:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Damit Raoie auch vom Gameplay relativ lebensecht sein kann, lernst du nicht einfach nur neue Fähigkeiten, die lediglich von der Größe deines Manapools abhängen.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Gerade alltägliche Aktionen, wie beispielsweise Kochen oder die im letzten Tutorial kennen gelernte Fähigkeit des Häutens von Tieren, müssen von dir selbst umgesetzt werden.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Die erlernten Fähigkeiten unterstützen dich und erhöhen die Erfolgsquote, nehmen dir jedoch nicht die Arbeit ab.
Ein weiteres Beispiel:
Du wanderst durch einen dir unbekannten Wald und weißt nicht wo du bist? Orientierungsfähigkeiten geben dir nur Tipps, die du verstehen musst, um von dir aus den Weg aus unbekanntem Terrain zu finden.
Zur Folge hat dies natürlich, dass Fähigkeiten, die du im realen Leben beherrschst, auch in Raoie anwendbar sind. à Wer bereits gelernt hat zu kochen oder bestimmte Kampfkünste umsetzen kann, hat anderen Spielern gegenüber einen Vorteil.
Voraussetzung 2:
Deine Bedürfnisse wie Hunger und Durst müssen in regelmäßigen Abständen gestillt werden. Geschieht dies nicht, leidet deine Gesundheit (HP) darunter. Dementsprechend sollte deine erste Aktion nicht unbedingt das Töten von Monstern zur Levelaufwertung sein, sondern die Suche nach lebenswichtigen Ressourcen.
Voraussetzung 3:
Die Währung in Raoie baut sich wie folgt auf:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> 100 Kupfermünzen ergeben 1 Silbermünze
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> 100 Silbermünzen ergeben 1 Goldmünze
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> 100 Goldmünzen ergeben 1 Kristallmünze
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> höhere Währungsformen werden im Laufe des Spiels freigespielt
Tutorial-Quest!
Suche den Waldläufer Karl in der Taverne zum kläffenden Hund und schließe eine Wette mit ihm ab.
Scheinbar musste er vor der Bibliothek noch einen kleinen Umweg machen. Taverne zum kläffenden Hund?
Verrückte Namen gab es allemal.
Das viel dringendere Problem bestand darin, wo sich die Taverne befand. Sicher, er hatte sich im Vorfeld über die Stadt schlau gemacht, aber dazu zählten nur die wichtigsten Gebäude und öffentlichen Plätze. Nicht irgendeine wahllose Spelunke, von der es mehr als genug in jeder Stadt gab.
Auch fehlte diesmal jede Personenbeschreibung zu Karl, dem Waldläufer.
Online hatte er auch nichts über die Schauplätze dieser Tutorialmission finden können. Die Treffpunkte und nötigen Persönlichkeiten zum erfolgreichen Abschluss variierten hier so stark, dass es unmöglich war, eine Vorhersage zu treffen, geschweige denn sich sinnvoll darauf vorzubereiten.
Offensichtlich war es nun an Bahe mehr Eigeninitiative zu zeigen.
Zügigen Schritts machte sich Bahe in Richtung einer Taverne auf, die er auf seinem Weg vom Ausbildungsplatz gesehen hatte. Wenn ein Schänkeninhaber etwas wusste, dann wohl ganz klar wo sich die Konkurrenz befand.
Eine Stunde später saß Bahe endlich in der Taverne zum kläffenden Hund dem Waldläufer Karl gegenüber. Er hatte wesentlich länger gebraucht, um die Taverne zu finden, als ursprünglich angenommen. Wer hätte denn auch ahnen können, dass es neben der Taverne zum kläffenden Hund auch noch eine Taverne zum jaulenden Hund und eine Taverne zum bellenden Hund gab?
Natürlich hatten sich all die Schänkeninhaber beständig im Richtungswechsel geirrt und sich viel lieber lautstark darüber aufgeregt, welche bodenlose Frechheit es war, ihren ungewöhnlich auffallenden Namen so abzukupfern!
Bahe hatte sich irgendwann nur resigniert davon stehlen können und im einfachen Volk auf den Straßen rumgefragt, bis er schließlich den Weg hierhin gefunden hatte.
Karl zu identifizieren war hingegen viel leichter gewesen. Er war der einzige Mann, der bereits am Nachmittag sturzbesoffen an seinem Tisch saß und in unregelmäßigen Abständen grölte, wer sich trauen würde mit ihm eine Wette abzuschließen.
„Du willst wetten?!“, ereiferte sich Karl.
„Sicher, kommt aber drauf an, was die Bedingungen sind“, sagte Bahe schlicht.
„Hmmm… du bist’n Frischling, wa? Na, was hältst’n davon… Du musst zwei Woch’n überleben, ohne Geld, Nahrung oder Wasser aus deinem Speichergegenstand zu hol’n und du darfst auch nicht zu viel Erfahrung als Abenteurer außerhalb der Stadt gewinnen. Als Gegenleistung wird‘ ich dir n‘Bisschen was beibringen, eine Landkarte von meinen umschweifenden Wanderzüg’n geb’n und dir noch einen Tipp nenn’n, wo du sau günstig Waffen erwerb’n kannst… Na?“, lallte er dahin.
Tutorial-Quest
Karl glaubt nicht, dass du zwei Wochen überleben kannst, ohne einen gewissen Erfahrungswert als Abenteurer zu überschreiten und ohne auf deine Geld- Nahrungs- und Wasservorräte aus deinem Speichergegenstand zurück zu greifen. Du hast die Möglichkeit dagegen zu halten und ihn eines Besseren zu belehren.
Nimmst du die Wette an?
Bedingungen:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Du darfst 14 Tage keine Geld, Nahrungs- und Wasserzufuhr aus dem Speichergegenstand nutzen.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Dein Level darf sich während der Quest nicht erhöhen.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Diese Quest darf nicht wiederholt werden.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Die Quest darf nur mit Level 0 angetreten werden.
Belohnungen:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Karl wird dir etwas beibringen.
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Eine Landkarte von Karls umschweifenden Wanderungen
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Ein Tipp, wo man Waffen günstig erwerben kann
Hier kam endlich die Quest, vor der Bahe extra noch seinen Durst und Hunger gestillt hatte. Irgendwie hatte es doch noch sein Gutes, dass er gestorben und auf Level 0 zurück gefallen war. Ansonsten hätte er diese Tutorial-Quest nicht annehmen können und ihm wäre eine wichtige Fähigkeit verwehrt geblieben.
Karl würde den Spielern, bei erfolgreichem Bestehen ihrer Wetten, nämlich entweder die Fähigkeit Identifizieren oder die Fähigkeit Überprüfen lehren.
Für Gildenmitglieder mochte es keine Rolle spielen, da die Spieler meistens eh immer in Gruppen unterwegs waren, Bahe wollte sich aber die Möglichkeit eine neue Fähigkeit zu erlernen nicht entgehen lassen. Vor allem, wenn sie für den weiteren Spielverlauf äußerst nützlich war.
„Alles klar, ich nehme die Wette an“, antwortete Bahe.
„So lob ich mir das!“, rief Karl begeistert und schlug mit seiner Faust so heftig auf den Tisch, dass Bahe vor Schreck zusammen zuckte.
„Aber, sei gewarnt! Ich habe die ganze Stadt im Blick! Ein Schummeln ist nicht möglich!“, meinte er kurz darauf im verschwörerischen Tonfall und lehnte sich anschließend in seinem Stuhl glückselig zurück.
„Natürlich“, Bahe rollte nur mit den Augen und verließ eiligst die Schänke.
Draußen angekommen, machte er sich zu dem Ort auf, der eine Besonderheit von Waldenstadt war, der Bibliothek.
Bei seinen Recherchen hatte er festgestellt, welches Glück er bei der Wahl seines Startpunktes gehabt hatte. Die anderen beiden Ortschaften die als Startpunkte dienten, Trachtenburg und Müllersdorf, waren wesentlich kleiner und konnten höchstens als Dörfer bezeichnet werden. Zumindest, wenn man von der Festungsanlage in Trachtenburg mal absah.
Ihre Lage hatte andere Vorteile, wie die Nähe zu günstigen Jagdgründen für Spielanfänger als auch zur Hauptstadt des Königreiches, obwohl sich dieser Vorteil bisher noch nicht wirklich auszahlen konnte.
Waldenstadt war nicht einfach größer als die anderen beiden Startorte, sondern sogar die größte Stadt im Norden des Königreiches. Über ihr lagen nur noch ein paar gefährliche Wälder, ehe das Königreich abrupt am Abgrund der Drachenschlucht endete.
Aus diesem Grunde verfügte die Stadt über verschiedene Annehmlichkeiten, von denen viele Spieler zu Beginn nur träumen konnten. Es gab viele Möglichkeiten Quests auszulösen, wesentlich mehr Angebote unterschiedliche Berufsklassen zu erlernen und eben auch besondere Gebäude, wie sie sich nur in den großen Städten des Königreiches fanden.
Die Bibliothek war eins dieser Gebäude.
Bahe staunte nicht schlecht, als er schließlich ehrfürchtig vor dem Eingang zum Stehen kam. Abgesehen vom Festungskomplex in der Stadtmitte, des Magierturms und einem Amphitheater war es mit Abstand das größte Gebäude der Stadt. Treppen erhoben sich bis in den zweiten Stock zu einem großen Plateau, das den Eingangsbereich vor den Türen darstellte. Andererseits konnte man kaum von Türen sprechen, es waren vielmehr gewaltige Torflügel aus Eichenholz, die durchgehend zu beiden Seiten geöffnet waren, während sich die Besucher in Scharen hindurch schlängelten.
Er reihte sich in die Menschenmengen mit ein und schaute im Inneren schließlich über die zahllosen Regale hinweg, die in über vier Etagen aufgebahrt worden waren. Eine gigantische Halle durchzog die Mitte des Gebäudes, von der die verschiedenen Stockwerke zu beiden Seiten abgingen und gewährte so jedem Besucher einen wahrhaft beeindruckenden Blick über die vielen Schätze des Wissens.
Bahe brauchte einen Moment, um sich von dem Anblick zu lösen, ehe er sich wieder seinen Plänen zuwandte. Es gab zwei Gründe, weshalb er sich entschlossen hatte, die Bibliothek aufzusuchen. Feiying hatte ihm davon erzählt, dass es Schriftrollen mit einem Zauber gab, mit dem sich Spieler über große Distanzen hinweg unterhalten konnten. Im Erdgeschoss gab es eine Frau an der Ausleihtheke, die eben jene Schriftrollen verkaufte. Er war sich nur nicht sicher, wie viel eine solche Schriftrolle kosten würde.
Der andere Grund war jedoch vorerst noch viel wichtiger. Was viele Spieler unterschätzten, war nämlich die Notwendigkeit von Informationen über die Welt Raoie und ihre Geschöpfe.
Die beiden Fähigkeiten Überprüfen und Identifizieren arbeiteten zum Beispiel damit. Besaß ein Spieler keinerlei Wissen über eine fremde Kreatur, der er in der Wildnis begegnete, so konnte ihm auch die Fähigkeit Überprüfen nicht wirklich weiterhelfen.
Allgemeinwissen über die Kreaturen und Gegenstände Raoies war quasi eine Aktivierungsbedingung der beiden Fähigkeiten. Umso mehr man wusste, umso höher waren auch die Erfolgschancen der Fähigkeiten.
Bahe war sich jedoch ziemlich sicher, dass die Informationen, die es hier zu finden gab, auch an anderer Stelle weiterhelfen konnten. Und schlussendlich hatte er auch noch eine Menge Fragen. Was war diese Frucht gewesen, die er in der Schlucht gegessen hatte? Von welcher Kreatur war er verfolgt worden? Gab es Wege Magie zu erlernen, ohne sich an die Magiergilde wenden zu müssen? Vielleicht besaß die Bibliothek sogar Bücher, die diesen Prozess erklärten?
Zauber sollten in den Büchern sowieso zu finden sein. Ein paar, der besonderen Titel, hatte er online bereits in Erfahrung bringen können. Bahe hoffte inständig, dass er möglichst schnell fündig werden würde, wenn es auch ob der gewaltigen Masse als wenig aussichtsreich erschien.
Im Erdgeschoss fand er recht schnell die Dame mit den Schriftrollen und kaufte für zehn Kupfermünzen den Zauber, von dem Feiying gesprochen hatte. Bahes Herz blutete bei dem Gedanken gerade die Hälfte seines gesamten Vermögens ausgegeben zu haben.
Vor Antreten der Quest hatte er vorsorglich alles Notwendige aus seinem Speichergegenstand geholt. Dazu zählte schlicht weg, eine Tagesration an Nahrung und Wasser, sowie sein gesamtes Startvermögen von zwanzig Kupfermünzen, mit denen jeder Spieler startete.
Es hatte schon Spieler gegeben, die versucht hatten Karl auszutricksen, indem sie ihre gesamten Nahrungs- und Wasservorräte außerhalb ihres Speichergegenstandes mit sich rum schleppten. Aber abgesehen davon, dass viele von ihnen bestohlen worden waren und es äußerst umständlich war solch sperrige Last immer mit sich rum zu schleppen, war die Nahrung nach einer Woche schlecht geworden.
Im Endeffekt hatten die Spieler mehr verloren als gewonnen.
Seitdem gab es immer weniger Spieler, die sich an dieser Quest versuchten. Zwei Wochen lang auf Level 0 zu verweilen, kam den meisten Spielern, neben der Schwierigkeit Nahrung aufzutreiben, einfach wie die reinste Zeitverschwendung vor.
Für Bahe kam diese Quest aber genau richtig, da er sich zunächst sowieso mit anderen Dingen beschäftigen musste.
Trotzdem schmerzten die Kosten von zehn Kupfermünzen für eine Schriftrolle, die er nur einmal nutzen konnte.
Egal, er hatte anderes zu tun. Wiederstrebend löste er sich aus seinen Gedanken und machte sich daran sich in der Bibliothek zurecht zu finden.
Mit einem dumpfen Schnappen viel der letzte Band zu, den Bahe vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Er hatte die letzten fünf Stunden damit verbracht alte Wälzer nach nützlichen Informationen zu durchforschen. Bislang hielt sich sein Erfolg jedoch in Grenzen.
Viele der Sachbücher über seltene Gegenstände und Materialien bezogen sich nur stumpf auf Legenden oder Hören-sagen, nichts wirklich Brauchbares.
Bahe hatte ja durchaus damit gerechnet, dennoch war es deprimierend nach mehreren Stunden Arbeit keinen allzu großen Erfolg aufzuweisen.
Die Bibliothek Waldenstadts war letztlich nach den Prinzipien des Mittelalters geführt und Bahe konnte froh sein, dass es zumindest grobe Kategorien gab unter denen er suchen konnte.
Leider waren die Kategorien viel zu übergreifend gefasst, so dass sich Bahe in den Kategorien Lebewesen, Gegenstände und Materialien durch eine Unzahl an Bücherregalen durcharbeiten musste, ehe er eine Stunde später endlich mit einem ersten Band fündig wurde.
Sein bester Fund waren bislang die Informationen zu ein paar verschiedenen Lebewesen, denen er draußen in den weiten Wäldern begegnen konnte, wenn er sich später auf den Weg zu einer anderen Stadt machte.
Es waren diese Kleinigkeiten, die sich irgendwann einmal als nützlich erweisen konnten.
Über diese seltsame Frucht und die Kreatur, mit der er in die Schlucht gestürzt war, hatte er leider nichts heraus finden können. Über den Katharsee fanden sich nur ein paar religiöse Texte, die ihm eine offenbarende Wirkung verschrieben und ab und an war am Rande von einem Wächter die Rede. Bahe nahm an, dass damit diese Monstrosität gemeint war. Mehr war zu ihr jedoch nicht zu finden.
Ein Wächter… na, super.
Also musste er davon ausgehen, dass er der Kreatur erneut begegnen würde, wenn er sich ein zweites Mal zum Katharsee aufmachte.
Bahe hatte das verdächtige Funkeln am Seegrund immer noch nicht vergessen. Andererseits stand er auch noch vor dem Problem, dass jede Berührung mit dem Seewasser den Verlust seiner Berufsklasse mit sich brachte…
Aber dazu hatte er sich schon in der Realität einen Plan zu Recht gelegt.
Er checkte kurz die Uhrzeit und stellte fest, dass seine zwölf Stunden im Spiel sich dem Ende zuneigten.
Hastig räumte er die Bücher weg, verließ eiligst die Bibliothek und erwarb in einem Handwerkzeuggeschäft nach kurzer Verhandlungszeit ein einfaches Seil von zwölf Metern Länge für drei Kupfermünzen.
Sein Plan war jetzt bereit zur Ausführung. Morgen würde es dann an die Durchführung gehen. Er lief noch schnell zu dem Marktplatz, an dem die neuen und gestorbenen Spieler materialisiert wurden und loggte sich anschließend aus.
„So ne Scheiße!“, fluchte Malca im Stillen vor sich hin, während er missmutig durch die Büsche rauschte.
Er hatte gerade seine halbe Spielzeit nur damit verschwendet auf diesen alten Sack zu warten. Nur war der Magier nicht gekommen!
Malca hatte sich im Vorfeld genau erkundigt. Jeden Nachmittag sollte der alte Magier unter diesem dämlichen Apfelbaum sitzen!
„JEDEN NACHMITTAG!“, machte er lauthals seiner Wut Luft und schwang sich einen Baum hinauf. Mit ein paar schnellen Sätzen, war er bereits über den Zaun und außerhalb des Magiergeländes.
„Aber nein! Er ist ausgerechnet dann nicht da, wenn ich Magie erlernen will!“, Malca steigerte sich zunehmend in seinen Wutanfall hinein. „Ich werde noch wahnsinnig, wegen diesem Mist! Erst kann ich Magie nicht auf normalen Weg lernen, weil ich ein Dieb bin und die Magiergilde uns nicht gerade wohlgesonnen ist und dann bereite ich mich Tage lang auf diese Aktion vor, besorge mir unter schweren Bedingungen eine Magierrobe, um mich unauffällig auf dem Magiergelände bewegen zu können und was passiert?! Der Typ taucht nicht auf! Wofür mache ich mir solche Umstände mit dieser dämlichen Magierrobe, wenn sogar ein Bettler unbeachtet durch den Magierpark spazieren kann! Fuck!“
Malco ignorierte die irritierten Blicke der anderen Passanten auf der Straße, die er durch seine Schimpftriade auf sich zog und stapfte missmutig weiter.
Selbst so ein verdammter Bettler! Dachte er wütend, als er plötzlich ruckartig zum Stehen kam.
Ein Bettler?
Moment mal…
Es konnte doch nicht etwa sein…
Ja, der Typ war in Lumpen gekleidet… Wobei… es war eher zerfetzte Kleidung und irgendwas hatte ihn an dem Kerl gestört…
Malca hatte zunächst geglaubt er blicke nachdenklich drein und sich dann selbst für seine Dummheit belächelt. Was, wenn er sich nicht geirrt hatte?
Da fiel es ihm ein! Der Gürtel! Der Kerl hatte den typischen Speichergegenstand der Spieler getragen!
Fuck!
Malca schwante Böses…
Hatte der Typ etwa eine Quest bei dem alten Magier ausgelöst, die dazu geführt hatte, dass der Magier seinen Lieblingsplatz nicht mehr aufsuchen würde? Und die viel wichtigere Frage war, wenn es so wäre, wo würde er jetzt noch Magie erlernen können?
Panik machte sich in Malca breit…
Leicht irritiert öffnete Bahe die Augen.
Er brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass er das Spiel bereits verlassen hatte und sich nun in seinem Zimmer befand. Der Übergang war diesmal viel seichter gewesen.
Das Dimensional Leap-System öffnete sich bereits. Bahe nahm schnell den Helm ab und stieg aus, um sich im Bad frisch für den Tag zu machen.
Eine halbe Stunde später gab es das gemeinsame Frühstück mit seinen Großeltern und kleinen Geschwistern, die er im Anschluss zum Kindergarten bringen sollte. Glücklicher Weise stellte die Zwischenstation keinen zu großen Umweg für Bahe dar, so kam er noch relativ früh am Chin-Anwesen an.
Unter dem schallendem Gelächter von Baihu, das er gepflegt ignorierte, wurde Bahe ein weiteres Mal eingelassen und kniete sich vor die Haustür.
Innerlich stöhnte er. Es wurmte ihn, dass er sich hier erneut den ganzen Tag aufhalten musste. Aber er hatte bereits zwei Tage hinter sich und wollte nicht, dass sie umsonst gewesen waren.
Baihu ließ sich nach dem Gespräch am Eingangstor nicht mehr blicken und so zogen die Minuten nur quälend langsam vorbei, während er vor sich auf die Haustür der Chins starrte.
Gegen zwölf Uhr schaute er vor Ungeduld zunehmend häufiger auf seine Uhr. Ihm schwirrten einfach zu viele Gedanken im Kopf herum, wie er seine nächsten Schritte in Raoie wählen sollte, dass er kaum still sitzen konnte.
Außerdem hatte er sich vorgenommen, heute Abend zumindest schon mal Laufen zu gehen. Eine allgemeine Ausdauer war das Mindeste, worauf er hin arbeiten konnte.
So verging der Tag in quälender Weise.
Nachdem er sich online über mehrere Sachverhalte in Raoie schlau gemacht hatte, schaufelte er sich am Abend hektisch das Essen in den Mund und kämpfte sich anschließend, mit verkrampften Beinen, mühsam in sein Zimmer. Die kurze Joggingrunde hatte ihm einiges abverlangt. Die letzten Monate mit der spärlichen Nahrungszufuhr hatten seinen Körper ziemlich anfällig gemacht.
Seufzend sank er schließlich in sein Dimensional-Leap-System und loggte sich ein. Er hatte viel zu tun.
Mit einem Blinzeln fand er sich in dem Bereich des Markplatzes wieder, der in Waldenstadt als Startpunkt für die Spieler diente.
Aufgeregt verließ er den Materialisierungsbereich und schaute sich um. Nicht weit von ihm entdeckte er schließlich einen geeigneten Kandidaten. Ein Jugendlicher, der verschiedene Bewegungen ausführte, um sich offensichtlich an seinen Avatar zu gewöhnen.
Bahe musste schmunzeln, als er an dem Jungen genau das gleiche Verhalten entdeckte, mit dem er selbst ins Spiel gestartet war.
Ohne noch länger zu zögern ging er zu ihm und sprach ihn an: „Hey, was hältst du davon dir ein paar Kupfermünzen zu verdienen?“
Der Jugendliche musterte ihn kritisch und sagte herausfordernd: „Bei deinen Klamotten soll ich dir glauben, dass du noch Geld übrig hast?“
Bahe musste lächeln und antwortete geduldig: „Ich gehöre halt keiner Gilde an, die sogar noch Geld für Kleidung übrig hat. Als Einzelspieler musst du mit dem auskommen, was du findest. Abgesehen davon hat es einen Grund, weshalb ich so aussehe und jetzt vor dir stehe.“
„Auch, wenn ich zum ersten Mal in Raoie bin, kannst du dir sicher sein, dass ich mich im Vorhinein informiert habe“, meinte der Junge abschätzig. „Mit Spielanfängern, wie mir, will normaler Weise keiner was zu tun haben. Was willst du also von mir?“
„Ich brauche einen Spieler, der bisher noch über keine Berufsklasse verfügt, damit er etwas vom Grund eines Sees heben kann.“
„Und wieso kannst du das nicht selbst?“
„Der See hat ein paar besondere Fähigkeiten. Er reinigt deinen Körper von allen irdischen Zwängen, was zur Folge hat, dass sich deine Attributwerte verbessern, du aber gegebenenfalls auch deine Berufsklasse verlierst. Deswegen kann ich nicht mehr in den See hinein. Du hingegen wirst nicht nur dafür bezahlt mir etwas vom Grund des Sees holen, sondern kannst gleichzeitig auch noch deine Attributwerte verbessern. Ein guter Deal, oder?“
„Das ist nicht genug.“
„Was willst du noch?“
„Einen Anteil vom Schatz!“
„Was für ein Schatz?“
„Ich bitte dich! Ich soll etwas vom Grund eines Sees heben?“, meinte der Junge mit hochgezogenen Augenbrauen.
Bahe stöhnte innerlich, wieso musste der Typ gedanklich bloß so auf zack sein...
„Es könnte auch ein Artefakt sein…“
„Zugegeben… Wenn es ein Artefakt ist, kannst du es behalten, aber sonst will ich einen Anteil!“
„Also gut, sofern darin ein Schatz zu finden ist, teilen wir den auf.“
„Fifty-fifty!“
„Du spinnst wohl, höchstens zwanzig Prozent für dich!“
„Dann such dir jemand anderen, unter vierzig Prozent geht bei mir gar nichts!“
„Na gut, dreißig Prozent! Aber nicht mehr, schließlich weiß ich von dem Ort und musste bereits drei Kupfermünzen für ein Seil hinblättern, dass wir später brauchen werden.“
„Einverstanden, dreißig Prozent!“, grinste der Junge dreist und hielt ihm selbstzufrieden die Hand hin.
Genervt besiegelte Bahe den Deal mit einem Handschlag.
Zehn Minuten später befanden sie sich am nördlichen Rand der sicheren Zone von Waldenstadt. Auf ihrem Weg hierhin hatte sich Bahe ein Wenig mit AcEaCeAcE unterhalten und seinen Nickname erfahren. Er meinte, Bahe solle ihn einfach Ace nennen, der einfache Name Ace war schon vergeben gewesen. Bahe konnte daraufhin nur den Kopf schütteln.
Erfreulicher Weise erwischte er Ace ab und an dabei, wie dieser in der Gegend rum starrte und die Natur bewunderte. Er schien wirklich ein Spielanfänger zu sein. Bahe wusste noch genau, dass es ihm zu Beginn des Spiels nicht anders ergangen war.
„Wir befinden uns am Ende der sicheren Zone, ab jetzt müssen wir vorsichtiger vorgehen.“
„Keine Sorge, wer hat sich nicht über diese Dinge im Vorhinein informiert“, winkte Ace ab.
„…“
Bahe zog es vor, diesen Satz unkommentiert zu lassen und widmete sich lieber aufmerksam der Umgebung. Er hatte die vielen Kommentare aus seiner Recherche nicht vergessen, die empfahlen einen riesen Bogen um den Bereich nördlich von Waldenstadt zu machen.
Wie sich herausstellte, sollte Bahe diesmal für seine Vorsicht belohnt werden. Über eine Stunde wichen sie mehrmals von ihrer ursprünglichen Richtung ab, um gefährlichen Wesen aus dem Weg zu gehen, wurden zu ihrem Glück aber nie entdeckt.
„Verdammt, ich wusste ja, dass es hier gefährliche Kreaturen geben sollte. Aber wenn ich gewusst hätte, dass es hier förmlich davon wimmelt, hätte ich mich niemals auf deinen Deal eingelassen Anael!“, fluchte Ace leise.
Bahe ignorierte Ace. Anfangs hatte er sich noch daran gewöhnen müssen, von seinem Mitspieler mit seinem Avatarnamen gerufen zu werden. Doch das ungewohnte Gefühl war vergangen. Geblieben war seine missgelaunte Stimmung, da Ace keine Gelegenheit ausließ, sich über den, für ihn, ach so unvorteilhaften Deal zu beschweren.
Die Tatsache, dass Bahe sich konzentrieren musste, um den Weg zum Katharsee wiederzufinden und er sich bereits zweimal in der Richtung geirrt hatte, machte die ganze Situation nicht einfacher.
„Du kannst mir ruhig mal antworten. Ich glaube langsam, dass du nie in diesem Teil des Waldes warst, so lange wie wir jetzt schon hier rumirren.“
„Psst! Sei leise!“, zischte Bahe angespannt als er unweit von ihnen erneut eine unbekannte Kreatur durch die Büsche streifen sah.
„Überprüfen!“, sagte Ace viel zu laut und Bahe verkrampfte sich augenblicklich. Verdammt nochmal! Hatte der Typ kein Empfinden für Gefahr?
„So ne Scheiße! Wieder kein Erfolg… Wozu ist diese verdammte Fähigkeit nützlich, wenn man überhaupt keine Kreaturen damit identifizieren kann?“
Bahe biss die Zähne zusammen und unterdrückte seinen aufkommenden Wutanfall. Ace war ein Spielanfänger, er konnte noch keine Ahnung von der Brutalität des Spiels haben.
Am Ende hatten sie Glück und die Kreatur verschwand im Dickicht des Waldes.
Seufzend setzte Bahe den Weg mit Ace fort.
Fünfzehn Minuten später kamen sie endlich am See an. Mittlerweile kam es Bahe wie ein Wunder vor, dass er damals ohne einer gefährlichen Kreatur zu begegnen und noch dazu gefolgt von den Wildwurzelkaninchen den Weg bis hierher gefunden hatte. Er hätte hunderte Male sterben können…
Letztlich robbten sie auf dem Bauch unter den letzten Sträuchern hindurch, bis sie beim Felsvorsprung der knappe fünf Meter über den See aufragte ankamen.
„Wow…“, staunte Ace und sparte sich ausnahmsweise alle weiterführenden Kommentare.
Auch Bahe war erneut von der Schönheit des Ortes fasziniert und konnte nur zustimmend nicken.
Sein Blick wanderte in die Mitte des Sees. Sofern noch niemand seit seinem letzten Besuch hier gewesen war, sollte sich dort der glitzerende Schatz befinden, für den er all die Strapazen der letzten zwei Stunden auf sich genommen hatte.
„Bist du soweit?“, fragte er Ace.
„Klar, mach das Seil fest.“
Bahe nickte und band ein Ende an einen nahe stehenden, kleinen Baum und ergriff es noch zur letzten Absicherung.
Anschließend wandte er sich an Ace: „Eine Sache habe ich dir bisher verschwiegen.“
Ace kniff die Augen zusammen und starrte ihn misstrauisch an: „Schieß los.“
„Hast du dich nicht gefragt, wieso ich mir so sicher bin, dass du nicht mit dem Schatz davon rennen wirst?“, lächelte Bahe schwach und bemerkte ein gefährliches Blitzen in den Ace‘ Augen, ehe er fortfuhr: „Der See ist ein Katharsee. In der Nähe von Katharseen befinden sich immer Wächterkreaturen. Der Wächter des Sees hat mich beim letzten Mal fast in den Tod getrieben. Die Kreatur hat für uns ein viel zu hohes Level, um sie zu bekämpfen. Außerdem ist sie viel zu schnell, um ihr zu entkommen. Deswegen habe ich dieses Seil gekauft, damit du, nachdem du den Schatz geborgen hast, so schnell wie möglich wieder hier auf den Felsen kommen kannst. So haben wir zumindest einen größeren Vorsprung und sollten in der Lage sein die Kreatur abzuhängen. Zumal sie wahrscheinlich mit den anderen Kreaturen des Waldes aneinander geraten wird. Versuch gar nicht erst davon zu laufen, ist das klar? Das wirst du nämlich nicht überleben.“
„Ist gut“, nickte Ace für Bahes Verständnis ein Wenig zu schnell und machte sich dann an den Abstieg.
„Bis gleich!“, zischte er Bahe noch entgegen und kletterte hinab.
Bahe fasste das Seil fest, falls der junge Baum, der als Verankerung diente, nachgeben sollte und wartete.
Ace beeilte sich zusehends, sorgte aber gleichzeitig dafür, möglichst wenige Geräusche zu erzeugen. Zumindest diesmal schien sich Bahe auf ihn verlassen zu können.
Die Sekunden vergingen quälend langsam, während Ace sich Stück für Stück herab ließ und schließlich langsam in den See glitt.
Bahe beobachtete wie Ace leise zur Mitte des Sees schwamm und dann abtauchte. Nur mit Mühe konnte er den Blick abwenden und nach der Wächterkreatur Ausschau halten. Sie hatten Glück, bisher war nichts zu entdecken.
Nach einem langen Augenblick vernahm er wieder ein leises Plätschern, als Ace so lautlos wie möglich nach Luft rang.
Scheinbar äußerst mühsam, brachte er ein paar Schwimmzüge mit nur einem Arm hinter sich, während er im Anderen eine Kiste gefasst hielt.
Bahe hielt währenddessen die Umgebung im Auge. Er glaubte gerade einen dunklen Schatten im Dickicht des umliegenden Waldes ausgemacht zu haben, als Ace im Wasser plötzlich zum Stillstand kam.
Angespannt sah Bahe nach unten.
Ace hingegen blickte nach oben und seine angespannte Miene wandelte sich mit einem Mal zu einem schadenfrohen Grinsen.
Er änderte seine Schwimmrichtung und hielt nun auf das Ufer zu, unweit der Stelle, an der sich Bahe damals seine Wunden ausgewaschen hatte.
Bahe musste derweil schmunzeln. Während ihrer Reise durch den Wald hatte er lange überlegt, ob Ace wirklich der geeignete Kandidat war, sich aber letzten Endes für ihn entschieden. Es lag dabei keineswegs an seinem Können, vielmehr fand er Ace vorhersehbar, was wiederum bei der gemeinsamen Bergung eines Schatzes mit einem Fremden sehr von Vorteil war.
Er war sich sicher gewesen, dass der Kerl am Ende versuchen würde abzuhauen. Nicht das er mit dieser Wächterkreatur eine Chance hätte davon zu laufen, ganz zu schweigen davon, dass er auf die Schnelle wohl kaum aus dem Wald finden würde. Bahe kam nicht umhin zuzugeben, dass er damals mehr Glück als Verstand gehabt hatte. Die Chancen standen auch schlecht, dass Ace es bis zur Drachenschlucht schaffen könnte.
Trotzdem barg seine Aktion ein gewisses Risiko für Bahe. Die Wächterkreatur hatte Ace bereits entdeckt. Sein Tod war vermutlich nur eine Frage der Zeit. Das Problem lag aber in der Tatsache, wie weit der Spielanfänger kam. Bahe musste ihn schließlich im Auge behalten können und er selbst konnte sich auch nicht zu schnell vorwärts bewegen, ehe er irgendwelche Monster aufschreckte.
Letztlich holte Bahe das Seil ein, band es los und brachte sich in eine passende Position, um jeder Zeit los stürmen zu können.
Ace erreichte unterdessen das Seeufer und blickte noch ein letztes Mal hämisch zu ihm nach oben, ehe er zwischen den Bäumen verschwand. Natürlich hatte Ace es ihm nicht abgekauft, dass dort unten eine Wächterkreatur hauste.
Ein Grinsen stahl sich auf Bahes Gesicht, als er einen Moment später das Krachen des Unterholzes vernahm. Der Wächter hatte die Fährte von Ace bereits aufgenommen.
Es dauerte nicht lang, da erklangen auch schon die ersten Schreie, gefolgt vom Brüllen der Kreatur.
„Anael!“, hallte ein letzter Schrei hasserfüllt durch den Wald. Dann wurde es still.
Bahe verlor nicht die Geduld und wartete. Ein paar Augenblicke später ertönte ein eigenartiges Kratzen und Knacken im Wald und bestätigte Bahe in seiner Vorsicht.
Die Wächterkreatur kam langsamen Schritts zwischen den Bäumen hervor und hatte ein Bein von Ace‘ leblosen Körper im Maul, während sie den Rest des Körpers, halb am Boden baumelnd, neben sich her zog.
Bahe musste schlucken, er war einer Leiche noch nie so nah gewesen. Es mutete seltsam beklemmend an, den Körper einer gerade noch lebenden Person so verunstaltet zu sehen. Der Kopf von Ace hing nur noch an ein paar Sehnensträngen, während auch je ein Bein und ein Arm in unmöglichen Winkeln vom Körper zeigten.
Tief durchatmend zwang Bahe sich auf das Wichtigste zu konzentrieren. Er entdeckte die Kiste, die Ace vom Seegrund geborgen hatte jedoch nicht. Wahrscheinlich lag sie irgendwo zwischen den Bäumen nicht weit vom See entfernt.
Es ertönte ein lautes Knacken und Bahe sträubten sich die Haare, als er erkannte, dass die Wächterkreatur damit begonnen hatte auf einem der Beine von Ace herum zu kauen.
Angewidert löste sich Bahe von dem Anblick und kroch unter den Büschen von den Felswänden weg. Nach ein paar Metern wandte er sich nach rechts, in die Richtung, in die Ace noch vor ein paar Minuten geflohen war.
Bahe brauchte eine Weile, bis er endlich eine Stelle fand, an der er mit dem Seil hinab klettern konnte, ohne direkt von allen Wesen der Umgebung entdeckt zu werden. Er brachte es schnell an und ließ sich hinab.
Ihm pochte das Blut in den Adern, während er sich krampfhaft bemühte keinen Ton von sich zu geben. Unten angekommen hockte er sich schnell zwischen zwei Büsche und lauschte in seine Umgebung hinein.
Bis auf gelegentliche Knack- und Schmatzgeräusche die gedämpft vom Katharsee herüber hallten sowie Vogelgezwitscher, war es absolut still.
Leise schlich Bahe zwischen die Bäume des Waldes und suchte nach dem Ort an dem Ace hasserfüllt sein Leben verloren hatte.
Die Suche dauerte viel zu lang und Bahe wollte gerade schon umkehren, als er endlich umgeknickte Zweige, abgebrochene Äste und aufgewühltes Erdreich entdeckte. Blitzschnell huschte er voran und fand eine alte und immer noch feuchte Holzkiste unter zwei Ästen eingeklemmt.
Vorsichtig und leise hob er einen der Äste an. Bei jedem Rascheln der Blätter verkrampfte sich Bahe unwillkürlich, bis er es nach ein paar nervenzehrenden Augenblicken endlich geschafft hatte und die Kiste mit einem Ruck hervorziehen konnte.
Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Er hatte keinerlei Gewissensbisse, dass Ace so früh an seinem ersten Spieltag gestorben war. Er hatte ihn gewarnt. Gut, möglicherweise hatte er ihn bewusst dazu verleitet diese Situation auszunutzen, indem er ihm erst ganz am Ende von der Wächterkreatur erzählte und das auf eine Weise, die stark an eine Notlüge erinnerte… Aber letzten Endes war er selbst schuld gewesen. Außerdem hatte er immerhin eine dauerhafte Erhöhung seiner Attribute erhalten. Bahe konnte auf diese Weise seine restlichen Kupfermünzen behalten und den Schatz ohne jegliche Aufteilung bergen. Für ihn hätte es im Grunde nicht besser laufen können.
Eifrig spürte Bahe nach seinem Speichergegenstand, hielt dann jedoch geschockt inne. Er konnte die Kiste nicht einfach in seinen Speichergegenstand packen! Er durfte den Speichergegenstand die nächsten zwei Wochen ja gar nicht benutzten!
Verdammt! Ihm war in seinen Planungen ein Fehler unterlaufen!
Jetzt musste er diese blöde Kiste bis nach Waldenstadt mit sich schleppen!
Innerlich aufstöhnend machte sich Bahe, ohne noch eine Sekunde zu verschwenden, auf zum Seil an der nahegelegenen Felswand.
Dort angekommen überlegte er hastig, wie er die Kiste überhaupt nach oben bekommen sollte, wenn er beide Hände zum Klettern brauchte. Letzten Endes wickelte er das Ende des Seils ein paar Mal von verschiedenen Seiten um die Kiste, verknotete das Seil abschließend und sprang mit einem Satz an das Seil über der Kiste, die inzwischen einen Meter über dem Boden baumelte. Mit großem Kraftaufwand schaffte er es schließlich, sich über der Kiste in eine passende Position zu bringen und sich nach und nach an der Felswand nach oben zu arbeiten.
Oben angekommen versteckte er sich zuerst in den Büschen und lauschte in seine Umgebung. Es war nichts zu hören.
Eilig griff er nach dem Seil und zog die Kiste vorsichtig Stück für Stück nach oben. Mehrmals musste er aufpassen, dass die Kiste nicht zu sehr in eine Drehung geriet oder an der Felswand entlang schrappte.
Nach zwei weiteren, nervenaufreibenden Minuten, hielt er die Kiste endlich oben in den Händen. So schnell er konnte löste er das Seil und machte sich auf den Rückweg aus dem gefährlichen Wald zu Waldenstadt.
Erneut schlich Bahe zwischen den Bäumen umher und machte große Umwege, um den gefährlicheren Kreaturen nicht zu nahe zu kommen. Sein Glück blieb ihm treu und keine der Monstrositäten wurde auf ihn aufmerksam.
Nach knappen zwei Stunden öffnete sich plötzlich ein Benachrichtigungsfenster und verkündete, dass er soeben die sichere Zone von Waldenstadt erreicht hatte. Vollkommen geschafft ließ er sich wenig später auf die Wiese einer größeren Lichtung fallen und sank lächelnd ins Gras.
Nachdem die Anspannung von ihm abgefallen war, blickte er sich gut um und entschied sich die Kiste schon an Ort und Stelle zu öffnen.
Aufrecht hingesetzt, betrachtete er die Holzkiste von allen Seiten. Theoretisch konnte man wohl einen Deckel aufklappen, allerdings war dieser durch ein Schloss gesichert, zudem er natürlich keinen Schlüssel hatte.
Dann stellte sich auch noch die Frage, ob die Kiste vielleicht einen magischen Schutz hatte…
„Überprüfen!“, gab Bahe den Befehl.
Nichts passierte.
Was zugegebener Maßen irgendwie logisch war, schalt sich Bahe selbst über seine eigene Dummheit. Schließlich war die Holzkiste kein lebendes Wesen…
„Identifizieren!“, versuchte Bahe es diesmal mit dem richtigen Befehl.
Diesmal öffnete sich ein Fenster:
Holzkiste
Rang: Bronze
Beschreibung: Eine einfache Holzkiste ohne irgendwelche magischen Schutzmechanismen. Auf dem Grund eines Katharsees gefunden. Das Wasser hat dem Holz über die Jahre enorm zugesetzt. Inhalt unbekannt.
Immerhin wusste er jetzt, dass die Kiste nicht verflucht war oder irgendetwas anderes in der Art… Andererseits wäre es in einem See mit reinigender Wirkung auch unwahrscheinlich gewesen.
Bahe schüttelte sich selbst belächelnd den Kopf und überlegte fieberhaft, wie er das Schloss aufkriegen könnte.
Meistens gab es in dieser Art von Spielen immer eine Fähigkeit die gerade für das Schlösserknacken bestimmt war. Üblicherweise besaß die Berufsklasse der Diebe diese Fähigkeit. Bahe wollte aber nur ungern noch einem weiteren Spieler auf seine Beute aufmerksam machen…
Eins war klar, für die Zukunft musste er sich über das Knacken von Schlössern informieren. Vielleicht konnte er die Fähigkeit ja auch im Spiel erlernen, wenn er sich lange genug mit Drähten und Dietrichen versuchte.
Es änderte aber alles nichts an seinem aktuellen Problem. Wobei…
Das Holz war angegriffen! Natürlich! Er dachte die ganze Zeit viel zu kompliziert. Der einfachste Schritt wäre einfach das Holz zu zertreten oder mit einem Stein zu zerschmettern. So morsch und bröselig das Holz wirkte, würde es nicht allzu viel Belastung standhalten können.
Bahe legte die Kiste seitlich auf den Boden und trat mehrmals mit zunehmendem Krafteinsatz auf das Holz ein.
Anfangs tat sich noch nichts, aber beim letzten Tritt merkte er, dass eine Ecke anfing in sich zusammen zu fallen. Prompt wiederholte er seine Aktion und tatsächlich, das alte Holz schien nachzugeben.
Was folgte war ein regelrechter Sturm an Tritten, bis die Holzkiste unter der stumpfen Gewalteinwirkung endgültig auseinander brach.
Hastig ging Bahe in die Knie, um sich den Inhalt anzusehen, als ihn eine unerwartete Stimme vor Schreck in die Luft springen ließ: „Was hast du denn gefunden?“
Mit pochendem Herzen drehte sich Bahe um und entdeckte seine beiden Elementare, die kaum einen Meter weit hinter ihm standen.
„Wo kommt ihr denn so plötzlich her?“, fragte er verblüfft.
„Was soll heißen plötzlich?“, warf Limona die Frage bissig zurück. „Du hast uns schließlich am anderen Ende der Stadt zurück gelassen! Weißt du wie lange es gedauert hat dich hier draußen zu finden?!“
„…“, Bahe war im ersten Moment sprachlos. „Und wieso seid ihr nicht einfach mit in die Stadt gekommen?“
„Nichts und niemand wird uns jemals in so eine unnatürliche Menschenstadt bekommen!“
Diese Elementare… Aber wenigstens wusste er jetzt, dass sie nicht einfach irgendwo in der Stadt auftauchen würden. Er wollte sich gar nicht erst ausmalen, wohin das führen könnte.
„Was… hast du… denn gefunden?“, meldete sich Brocken neugierig zu Wort.
„Das weiß ich ja selbst noch nicht“, seufzte Bahe resigniert und hockte sich wieder hin, um die Kiste endlich zu durchsuchen.
Er traute seinen Augen kaum! In einem kleinen Lederbeutel fand er zwei Silbermünzen! Zum derzeitigen Spielfortschritt, war das ein kleines Vermögen! Die Tutorial-Quest, in der er zwei Wochen überleben sollte, ohne auf seinen Speichergegenstand zurückzugreifen war damit ohne Probleme abzuleisten.
Außerdem gab es noch einen zweiten kleinen Lederbeutel, den er mit nervösen Fingern öffnete. Zum Vorschein kam eine sehr zart erscheinende Juwelenkette.
„Identifizieren!“, rief Bahe sofort.
Juwel des dritten Auges
Rang: Gewöhnlich
Beschreibung: Ein außergewöhnliches, filigranes Schmuckstück, das auf der Stirn getragen wird.
Wert: 1 Goldmünze
Effekt: Es kann sich weiterentwickeln, wenn es über längere Zeiträume getragen wird.
Nur ein Schmuckstück? Pah!
Bahe konnte sein Glück kaum fassen. Das Artefakt war zum momentanen Zeitpunkt mit einer Goldmünze natürlich ein Vermögen wert. Dieser Betrag war aber nichts im Vergleich zu dem Effekt sich weiterzuentwickeln. Es war unglaublich selten auf einen Gegenstand zu stoßen, der nicht bei seinen Startattributen verbleiben würde. In Bahes Augen machte es auch nichts, dass das Schmuckstück vorerst noch keine Verbesserungen seiner Attribute bewirkte. Das Potenzial des Artefakts war dazu viel zu gewaltig.
Er fragte sich ob der Name, Juwel des dritten Auges, vielleicht schon auf die späteren Fähigkeiten hindeutete…
Bevor er einen weiteren Gedanken fassen konnte, vernahm er Brockens Stimme: „Interessant.“
„Du wirst vom Glück scheinbar verfolgt“, mischte sich auch Limona ein und rümpfte die Nase.
Nun, diesmal konnte er ihr nicht widersprechen, dachte Bahe grinsend.
Der restliche Inhalt der Holzkiste bestand aus alten Tonscherben, die von ihrer Oberfläche her so abgegriffen waren, dass ihre kostbaren Verzierungen von früher nur noch grob zu erahnen waren. Es gab scheinbar nichts mehr von Wert. Aber Bahe entschied sich die Scherben vorsichtshalber mitzunehmen. Wer weiß, vielleicht waren sie ja doch noch irgendetwas wert? Insgesamt war Bahe mehr als zufrieden.
Es war an der Zeit, dass er zu seinem Trainingsplatz zurückkehrte und das Bogenschießen übte. Bevor er aufbrach, wandte er sich diesmal aber an seine Elementare. Er konnte nicht ewig auf die beiden Geschöpfe sauer sein, ganz zu schweigen davon, dass sie so niemals brauchbare Kampfgefährten werden würden.
„Ich muss für zwei bis drei weitere Stunden in die Stadt, um mein Training zu absolvieren. Wie wäre es, wenn ich euch hier später abhole?“
„Wie kommst du darauf, dass wir auf dich warten werden?“, fragte Limona schnippisch.
Nicht, dass er eine solche Reaktion nicht bereits erwartet hätte, dachte Bahe und verdrehte innerlich die Augen, sagte aber geduldig: „Ich würde mich freuen, wenn ihr das tun würdet. Ihr könnt solange natürlich hin, wo immer ihr wollt. Könnt ihr mir den Gefallen tun?“
„Ist… ok“, raunte Brocken.
„Was?! Wieso musst du immer sofort zustimmen, Brocken?!“, regte Limona sich auf und fuhr dann fort: „Na gut, wir werden warten. Aber dafür musst du uns später auch rumführen, es ist furchtbar an dich gebunden zu sein und sich nicht allzu sehr von dir entfernen zu können! Hast du verstanden?“
„Selbstverständlich mache ich das. Sagt mir später einfach, wo ihr hin wollt“, willigte Bahe sofort ein.
So so… Ihr könnt euch also nicht allzu weit entfernen? Allmählich entlockte er seinen Elementaren mehr Informationen. Scheinbar brauchte er schlicht weg Geduld, um mit ihnen klar zu kommen.
Bahe verabschiedete sich noch schnell von seinen Elementaren, was Brocken mit einem Brummen hinnahm, während Limona ihn nur wieder belehrte, er solle ja nicht zu lange brauchen.
Anschließend lief er im Laufschritt zur Stadt zurück und steuerte den Übungsplatz zum Bogenschießen an. Es war Trainingszeit und dann wartete da noch das vierte Tutorial, dass er bisher übersprungen hatte.
In der Stadt angekommen, fiel ihm ein, dass er bisher völlig vergessen hatte, sein neues Artefakt anzulegen. Vor einer Brücke stoppte er und legte sich in einer ruhigen Ecke das Juwel des dritten Auges an. Anfangs hatte es nicht klappen wollen, da es für seinen Kopfumfang viel zu groß war, bis sich Bahe irgendwann mit einer Hand den Juwelen besetzten Teil an die Stirn hielt. Er hatte das Schmuckstück mit der anderen Hand hinter seinem Kopf zusammenbinden wollen, als es plötzlich schrumpfte, sich seiner Kopfform anpasste und von selbst an seinem Hinterkopf verschloss!
Vor Schreck war er zusammen gezuckt und sogar kurz davor gewesen, sich das Juwel des dritten Auges vom Kopf zu reißen.
Nach diesem unerwarteten Vorfall saß das Schmuckstück perfekt. Es drückte nicht, war aber scheinbar fest genug, um nicht durch eine unbeabsichtigte Kopfbewegung von der Stirn zu fallen, wie Bahe feststellte, der mehrmals demonstrativ seinen Kopf geschüttelt hatte.
Ein Gedanke störte ihn aber noch. Sah die Stirnkette vielleicht zu weiblich aus?
Vorsichtig ging er zum Ufer des unter der Brücke verlaufenden Baches und betrachtete sein Spiegelbild.
Natürlich war das Bild ab und an verzerrt und leicht schwammig, die Wirkung kam aber gut genug rüber. Es hatte zwar einen weiblichen Touch, aber Bahe fand, das es ihm stand. Wichtiger war das Problem, dass das Schmuckstück viel zu auffällig war. Solange Bahe damit so offen rum lief, würde jeder sofort wissen, dass er ein Artefakt mit sich trug.
Er überlegte kurz und riss schließlich einen Ärmel von seinem Hemd ab. Noch schlimmer konnte seine Aufmachung sowieso nicht mehr werden. Wenn er hingegen mit einer Mischung aus zerfetzten Lumpen und glänzenden Edelsteinen auf der Stirn umher laufen würde, würde es weit mehr Aufmerksamkeit erregen und das war zum momentanen Zeitpunkt das Letzte was er wollte.
Vorsichtig nahm er das Schmuckstück vom Kopf und faltete im Anschluss den Ärmel drum herum. Danach hielt er sich die nun eingewickelten Edelsteine erneut an die Stirn und zu seinem Glück reagierte die Stirnkette ein weiteres Mal und befestigte sich von selbst im richtigen Maß an seinem Kopf.
Er checkte sein Aussehen anschließend im Bach. Wenn man im Vorbeisehen auf seine Stirn blickte, würde man nichts bemerken, es war lediglich ein altes Stirnband. Sollte ihn jedoch jemand wirklich mustern, könnten die Konturen der Edelsteine unter dem dünnen Stoff auffallen. Na ja, er war vorerst zufrieden.
Das erste Problem gelöst, blickte er auf die halbe Bodenplatte der Holztruhe, die er zum Transport der Tonscherben genutzt hatte und seufzte.
Es war nervig, dass er seinen Speicherstand aufgrund der wichtigen Quest nicht nutzen konnte. Aber die Fähigkeit Identifizieren wurde mit zunehmender Spielzeit viel zu wichtig, als dass er sie sich entgehen lassen konnte.
Entweder wurde er die Tonscherben nun irgendwo los oder er fand einen Platz, an denen er sie vorerst lagern konnte. Er entschied sich es mit der ersten Variante zu versuchen.
Zuerst musste er aber erst mal wissen, worum es sich bei diesen Tonscherben handelte und ob sie überhaupt etwas wert waren.
Glücklicher Weise gab es für solche Gegebenheiten einen speziellen Service des Stadtfürsten, den man für relativ wenig Geld in Anspruch nehmen konnte. Die Fähigkeit Identifizieren brachte ihn bei diesen Gegenständen nicht weiter. Für die meisten gewöhnlichen und die ein oder anderen Artefakte des Bronze-Ranges funktionierte sie. Alles darüber hinaus, setzte jedoch voraus, dass man sich aktiv mit der Fähigkeit auseinander setzte und beispielsweise Sachbücher las oder gar bei einem Gelehrten in die Lehre ging, um sein Allgemeinwissen über Raoie zu erhöhen.
Bahe war immer noch verblüfft, ob der Tatsache, dass man sich wirklich selbst Wissen aneignen musste, um diese Fähigkeit aufzuwerten und nicht zuletzt deshalb hatte er die Bibliothek bereits einmal aufgesucht und beabsichtigte seine Besuche fortzuführen.
Viele Gildenanführer hatten im Angesicht dieser Tatsache große Probleme, weil sie dringend Spieler mit einer guten Identifizierungsfähigkeit brauchten, aber nur wenige Spieler bereit waren, sich ewig mit dem Lesen von Büchern und dergleichen zu beschäftigen.
Die Fähigkeit Überprüfen arbeitete ähnlich, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise. Sie zeigte an, welches Level ein Spieler oder eine Kreatur erreicht hatte, sowie gegebenenfalls die Klasse und über welche Fähigkeiten verfügt wurde. In einem Kampf war es enorm wichtig so viel wie möglich über seinen Gegner zu wissen. Sollte ein Spieler einfach den Gegner anschauen können, um direkt zu wissen, welche Fähigkeiten und welches Level dieser besaß, hatte der Gegner im Grunde keine Chance mehr, sofern der Levelunterschied nicht groß genug war. Deswegen hatte TNL sich hier etwas Besonderes einfallen lassen und die Fähigkeit Überprüfen dem Bereich der Visionärsmagie oder einfacher, der Orakelmagie zugewiesen.
Es gab eine Spezialisierung der Magier, die Orakel, die speziell darauf ausgelegt war, Visionen der Zukunft erhaschen zu können. Für diese Klasse war die Fähigkeit wie geschaffen, da sie sich hauptsächlich mit Geistesmagie und Zukunftsvisionen auseinandersetzte. Natürlich hatte die Orakelklasse auch ihre Nachteile, so waren sie besonders in Einzelkämpfen kaum zu gebrauchen, da alle ihre Startfähigkeiten Zeit für die Aktivierung brauchten, in der sie anderen Spielern oder Kreaturen schutzlos ausgeliefert waren.
Anders klassifizierte Spieler konnten die Fähigkeit Überprüfen zwar durchaus erlernen, konnten sie in der Regel aber nie über das Anfängerstadium hinaus aufwerten, da die benötigte Magierichtung eine zu hohe Spezialisierung erforderte, dass kaum jemand Lust hatte sich ewig mit ihr auseinander setzten zu wollen.
Genau das war der Grund gewesen, weshalb Bahe beschlossen hatte am Ende der fünften Tutorial-Quest die Fähigkeit Identifizieren zu wählen. Wissen über Raoie anzusammeln war für einen Einzelspieler wie ihn sowieso überlebenswichtig. Aufgrund der Bestimmungen der Quest durfte er, während der nächsten zwei Wochen im Spiel, zu keinem Zeitpunkt im Level aufsteigen oder seinen Speichergegenstand nutzen. Für viele Spieler war es die reinste Zeitverschwendung, weshalb sich nur äußerst wenige Spieler damit rumschlugen. Das war ein weiteres Problem für die Gildenanführer.
Mittlerweile gingen die Gilden sogar schon so weit und boten denjenigen, die ihre Identifizierungsfähigkeit außerordentlich hoch gelevelt hatten, ziemlich große und vor allem dauerhafte, finanzielle Anreize ihrer Gilde beizutreten.
Bahe hatte die Möglichkeit auf diese Art Geld zu verdienen bereits ernsthaft erwogen, für die nähere Zeit jedoch vorerst verworfen. Um seine Identifizierungsfähigkeit hoch zu leveln, würde er schlicht weg Zeit brauchen. Es brachte nichts, sich im Moment mit solchen Was-wäre-wenn-Fragen auseinander zu setzten.
Während er seinen Gedanken freien Lauf gelassen hatte, war er bereits zum Gildehaus der landeseigenen Abenteurergilde gelaufen. Zwei Straßen vom Magierturm entfernt, erstreckte sich ein Gebäudekomplex über vier dreistöckige Häuser und einer Arena, die zusammen das hiesige Zentrum der Abenteurergilde bildeten.
Ein Haus je für die Identifizierung von unbekannten Gegenständen jeglicher Art, für das Beitreten der Gilde, für die Questgesuche, für die Gildenbürokratie und schlussendlich die Arena für Duelle und anderweitige Arenakämpfe.
Zu seinem Glück waren die Häuser entsprechend ausgeschildert und er fand relativ schnell seinen Weg zum Dienst für die Identifizierung von Gegenständen. Er reihte sich in eine der Schlangen ein und wartete bis er dran kam. Anschließend wurde er in einen separaten Durchgangsraum geführt, der mit einem hölzernen Tisch und drei einfachen Holzstühlen recht spärlich eingerichtet war.
Zwei der Stühle waren bereits besetzt. Ein älterer Herr mit den ersten grauen Strähnen im gut gestutztem Vollbart und einfacher, aber sauber gehaltener Kleidung saß auf dem einen Stuhl, während der Zweite von einem Jungen von kaum vierzehn Jahren vereinnahmt wurde. Offensichtlich ein Meister seines Fachs und sein Lehrling. Sie verhielten sich professionell und kommentierten in keinster Weise Bahes Äußeres. Bahe hatte sich, ob seiner Lumpen schon Sorgen gemacht überhaupt vorgelassen zu werden.
„Willkommen bei der Abenteurergilde“, sagte der Lehrling mit leicht nasaler Stimme und breitete auf den Tisch zeigend die Hände aus. „Bitte legen Sie die zu identifizierenden Gegenstände auf den Tisch. Unser Service kostet sie zehn Kupfermünzen für Gegenstände des Ranges Gewöhnlich und Bronze. Bis Gold verlangen wir für jeden weiteren Rang je fünf Kupfermünzen mehr. Bitte beachten Sie, dass wir für Gegenstände darüber hinaus Sondergebühren berechnen, die vom individuellen Gegenstand abhängig sind.“
Bahe nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte und legte seine Tonscherben auf den Tisch. Den Preis von zehn Kupfermünzen konnte er sich seit dem Silbermünzenfund leisten. Andernfalls hätte er durchaus länger überlegen müssen. Dennoch war es ihm lieber etwas Geld zu investieren, bevor er unwissentlich etwas Wertvolles weg warf.
Der ältere Mann zog beim Anblick der Scherben die Augenbrauen hoch und meinte trocken: „Es passiert auch nicht alle Tage, dass mir jemand zerbrochene Tonscherben vorlegt.“
Anschließend hantierte er ein paar Augenblicke mit den Scherben, drehte sie um und betrachtete sie teils unter einer Lupe. Er öffnete schon seinen Mund, als er plötzlich inne hielt und irgendetwas murmelte. Ein weicher Lichtschein erhob sich um die Tonscherben herum und ließ Bahe hoffen, dass die Scherben vielleicht doch etwas wert waren.
Das sanfte Leuchten ebbte ab und ließ den Meister mit einem Stirnrunzeln zurück.
Bahe schwieg, auch wenn er innerlich vor Ungeduld kaum noch abwarten konnte. Dann fragte der ältere Mann seinen Schüler: „Was hältst du von den Scherben?“
Der Lehrling blickte überrascht auf und sagte dann mit ernster Miene: „Auf den ersten Blick sind es einfache Tonscherben, nichts Besonderes. Es sind keine besonderen Zeichen oder Symbole eingraviert, wenn ich mich nicht irre, handelt es sich vielmehr um die Darstellung einer Kampfszene, präziser einer Abwehrschlacht. Aber die Tatsache, dass Ihr gerade den Spruch der Überrestmagie benutzt habt…“
Der Meister brachte seinen Lehrling mit einem Handzeichen zum Schweigen und lächelte.
„Du machst dich langsam, bleib weiter so aufmerksam“, an Bahe gewandt fuhr er fort. „Euer Gegenstand lässt sich nicht eindeutig klassifizieren. Einzeln betrachtet entsprechen die Gegenstände dem Rang Gewöhnlich. Sieht man sie als Ganzes, muss ich, aufgrund der Gegebenheiten des Gegenstandes, den Betrag für im Rang Gold eingeordnete Gegenstände einfordern. Seid Ihr bereit zwanzig Kupfermünzen für die Informationen zu bezahlen?“
Bahe schluckte. Er hatte vielleicht mit dem Silberrang und entsprechenden fünfzehn Kupfermünzen gerechnet, aber zwanzig?
Nach kurzem Überlegen, wobei er netter Weise von den beiden Bediensteten nicht gestört wurde, antwortete er zähneknirschend: „Ich werde die zwanzig Kupfermünzen bezahlen.“
Der Meiser nickte und erläuterte dann: „Mein Schüler hat es schon angedeutet, ich habe einen Zauber genutzt, der die Scherben auf Magieüberreste hin überprüft hat. Das Ergebnis ist insofern interessant, dass sie selbst nie magisch waren, aber dennoch Spuren von Mana in sich tragen. In Verbindung mit dem dargestellten Bildnis sollte schnell klar werden, warum ich den Gegenstand zum Goldrang erhoben habe.“
„Die Abwehrschlacht…?“, Bahe zuckte nur fragend die Schultern.
„Ich sehe schon, vermutlich habe ich über meine Berufung zu sehr voraus gegriffen“, bemerkte der ältere Mann lächelnd.
„Fangen wir anders an“, erklärte der Meister und deutete auf die Tonscherben. „Die Scherben an sich sind Bruchstücke, richtig?“
„Sicher“, antwortete Bahe immer noch verwirrt, worauf der Mann hinaus wollte.
„Falsch“, grinste der Ältere. „Die Tonscherben sollen nur wie Bruchstücke aussehen.“
„Was…“, staunte Bahe.
„Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass die Scherben zur Unterseite, auf der kein Bildnis zu sehen ist, schräg abfallen“, führte er seine Ausführungen fort. „Nicht sonderlich stark, dass gebe ich zu, aber genug, um von der Annahme auszugehen, dass es kein Zufall ist. Außerdem ist auf der Unterseite in jede Scherbe eine Metallfassung eingelassen, die größtenteils von Ton überzogen sind. Man sieht sie nur bei genauem Hinsehen. In Anbetracht des schlechteren Materials, welches nur an diesen Stellen Verwendung fand, liegt die Vermutung nahe, dass die Fassungen im Nachhinein absichtlich unkenntlich gemacht werden sollten.“
Bahe konnte kaum glauben, was man nicht alles in ein paar Augenblicken aus solchen Gegenständen lesen konnte. Er fragte sich langsam, ob der Meister nicht vielleicht noch ein paar andere Zauber angewandt hatte, von denen er nichts mitbekommen hatte.
„Dazu kommt noch das Bildnis, was die ganze Sache eindeutig macht“, fuhr der Mann unbeirrbar fort. „Schaut man sich die Einzelteile genau an, fällt auf, dass es genau sechs Stücke gibt. Alle anderen Teile sind höchst wahrscheinlich wahllose Bruchstücke, die man zur Verschleierung des eigentlichen Geheimnisses benutzt hat. Diese sechs Stücke bilden, wie schon gesagt eine Abwehrschlacht ab und man erkennt an der Abbildung, dass sie in zwei Dreierreihen übereinander angeordnet werden müssen. Sie besitzen also sechs Einzelteile mit Fassungen und im Bildnis ist der Hinweis darauf versteckt, wie sie anzuordnen sind. Verstehen Sie jetzt worauf ich hinaus will?“
Langsam dämmerte es Bahe.
„Eine Scherbe allein ist nichts wert. Aber Alle zusammen scheinen ein Schlüssel zu sein“, sprach der Meister aus, was Bahe inzwischen klar geworden war. „Deswegen musste ich den Preis erhöhen, da gefundene Schlüssel allgemeinhin mit der Möglichkeit verbunden sind, Schätze eines höheren Ranges zu finden und somit dem Gold-Rang zugeordnet werden.“
Bahe nickte verstehend.
„Meine Vermutung ist, dass es sich um die letzte Ruhestätte einer früher berühmten Persönlichkeit handelt. Um wen es sich jedoch handeln könnte, kann ich Ihnen nicht sagen, da hätten Sie bei einem der Bibliothekaren oder Gelehrten mehr Glück. Der Schlüssel an sich ist nicht magisch, es ist aber nicht auszuschließen, dass der Rest des Schlosses magisch ist. Vermutlich stammen davon die Manarückstände. Es könnte aber natürlich auch eine magische Falle sein. Mehr kann ich Ihnen an dieser Stelle nicht sagen.“
„Kein Problem, es ist mehr als ich erwartet habe“, antwortete Bahe.
„Wenn Sie kein weiteres Interesse an diesem Schlüssel haben, würde ich an dieser Stelle gerne die Gilde der Abenteurer repräsentieren und Ihnen den Schlüssel für dreißig Kupfermünzen abkaufen.“
„Nur dreißig? Gerade sagten Sie noch, dass durchaus die Chance bestehen würde, dort höherrangigere Artefakte zu finden?“
„Wohl war“, bemerkte der Meister ernst. „Sie müssen jedoch verstehen, dass es zum Einen keinerlei Zusicherung gibt, dass dies auch wirklich der Fall ist und zum Anderen, wissen wir im Moment noch nicht mal ansatzweise wo wir nach dem Schloss suchen müssen. Es könnte Jahre dauern, ehe wir auch nur eine Spur davon haben, wohin man die Suche lenken sollte. Schlussendlich bleibt es selbstverständlich Ihr gutes Recht, den Schlüssel zu behalten.“
„Ich weiß es nicht…“, sagte Bahe nach reiflicher Überlegung. „Wäre es möglich den Schlüssel gegebenenfalls auch später noch an Sie zu verkaufen?“
„Natürlich und ich versichere Ihnen, der Preis wird nicht unter die dreißig Kupfermünzen sinken. Den Vorteil haben Sie bei unserer landesübergreifenden Organisation“, erklärte der Meister stolz.
„Vielen Dank“, sagte Bahe und wickelte mit dem Lehrling noch schnell die Bezahlung für die in Anspruch genommen Dienste ab und unterschrieb, ehe dieser ihn durch eine Tür auf der anderen Seite aus den Raum führte.
Scheinbar hatte er sich soeben eine weitere Sache aufgeladen, um die er sich in der Bibliothek kümmern musste.
Als Eras die Türflügel hinter Bahe schloss, hörte er seinen Lehrmeister fragen: „Ein ungewöhnliches Stück, nicht wahr?“
Eras verzog misstrauisch die Miene. Es war äußerst selten geworden, solche Worte von seinem Meister zu hören.
„Was meint Ihr, Meister?“
„Diese Abbildung… Irgendwo habe ich sowas Ähnliches schon mal gesehen. Es ist aber verdammt lange her.“
„Glaubt Ihr, dass es sich für den Bettler lohnen wird, diesen Schlüssel behalten zu haben?“
Zu Eras Erstaunen fing sein Meister daraufhin an zu lachen.
„Was ist Meister?“
„Bettler, ja? Was Gegenstände betrifft ist deine Auffassungsgabe bereits bemerkenswert, bei ihren menschlichen Besitzern hast du aber auf jeden Fall noch Übungsbedarf“, schüttelte sein Lehrmeister lächelnd den Kopf.
Eras verzog mürrisch das Gesicht und wollte sich gerade verteidigen, als sein Meister auch schon fortfuhr.
„Sicherlich war das Erscheinungsbild dieses Anael Lerua alles andere als passabel, aber welcher Bettler würde jemals zwanzig Kupfermünzen bezahlen, um ein paar augenscheinlich wertlose Tonscherben klassifizieren zu lassen?“
Nun, wenn man es so betrachtete, musste Eras ihm zustimmen.
„Außerdem habe ich eine Präsenz um ihn herum gespürt… Eine äußerst alte Präsenz, bei der mir gar nicht wohl ist, dass sie wieder in der Welt ist… Dieser junge Mann ist weit mehr als er auf den ersten Blick vermuten lässt“, bemerkte sein Lehrmeister grimmig.
Eras hingegen war sprachlos. Er hatte seinen Meister noch nie so erlebt.
In den Kreisen der Gelehrten genoss sein Meister Teleos Tanderton den größten Respekt, den man sich vorstellen konnte, doch niemand konnte so recht sagen, von wo er stammte und wie er sich sein unglaubliches Wissen angeeignet hatte.
Was viele nicht wussten, war die Tatsache, dass er bei besonders schwierigen Fragen schon mehrmals vom Fürsten Waldenstadts um Rat gefragt worden war. Nicht zuletzt deshalb genoss er unter den Gutachtern Waldenstadts eine Sonderstellung.
Eras konnte sich noch genau erinnern, wie seine Eltern vor Freude wortwörtlich in die Luft gesprungen waren, als sie die Zustimmung von seinem Lehrmeister erhalten hatten, dass er ihn als Lehrling annahm.
„Ah!“, rief sein Meister plötzlich laut aus und schreckte Eras aus seinen Gedanken. „Jetzt weiß ich wieder, wo ich ähnliche Abbildungen schon mal gesehen habe! Aber… das kann nicht sein…“
Für einen Moment beobachtete Eras verblüfft wie sein Meister einfach verstummte.
Mit einem Quietschen öffnete sich derweil die Tür zum Wartebereich und Emma, eine Bedienstete, steckte den Kopf herein: „Kann ich die nächste Person rein schicken?“
„Ähm…“, Eras wollte schon etwas erwidern, als sein Lehrmeister irgendwas zu murmeln begann.
„…gefährlich… die Tore des Schlächters… ich muss Tharnatos sprechen… Hoffentlich irre ich mich…“, plötzlich riss er den Kopf hoch und rief laut: „Eras, Emma, alle weiteren Klassifizierungen werden für heute ausgesetzt! Ich muss sofort verreisen, bitte bestellt dem hiesigen Gildenoberhaupt meine Grüße und erklärt ihm, dass ich frühestens in einer Woche wieder zur Verfügung stehen werde!“
Danach knallte die hintere Tür auf und Eras bekam riesengroße Augen, als sich sein Lehrmeister vor seinen Augen in Luft auflöste!
Lange Zeit blieb es still, bis Emma irgendwann die Stille durchbrach.
„Was… was… war DAS denn?!“, fragte sie vollkommen verblüfft, während sie den Kopf noch immer nur halb durch die Tür gesteckt hatte.
Eras Augen leuchteten hingegen. Ganz egal, was DAS gewesen war, eins war für ihn klar. Er wollte es auch können!
Seufzend trat Bahe wieder auf die Straße. Es wurmte ihn, dass er die zwanzig Kupfermünzen vorerst umsonst ausgegeben hatte…
Vielleicht hätte er sich besser gedulden und die Tonscherben später identifizieren lassen sollen. Im Moment brachten ihn die neuen Erkenntnisse nicht weiter. Selbst, wenn er in den nächsten Tagen raus bekäme, wo sich dieses Schloss befand, zu dem er scheinbar den Schlüssel besaß, würde er dort mit seinen aktuellen Fähigkeiten nicht allzu weit kommen.
Genervt schaute er auf den Boden der Holztruhe, auf der er noch immer die Scherben durch die Gegend trug. Vorerst blieb ihm nichts anderes übrig, als die Dinger mit sich zu schleppen.
Missmutig machte er sich auf zum Trainingsgelände, es wurde Zeit das Bogenschießen zu üben.
Zwei Stunden später ließ er keuchend die Arme sinken. Er war inzwischen bei achthundert Schüssen angekommen. Da er sie wechselseitig durchführte, hatte er also gerade mal vierhundert Schuss pro Seite… Ihm fehlten immer noch tausendzweihundert weitere Versuche bis er die erste Bedingung der ersten Tutorial-Quest erfüllt hatte.
Wenigstens hatten sich seine Attribute bei der ganzen Aktion nochmal verbessert, dachte Bahe erleichtert. Nicht nur sein Kraftwert war um einen Punkt angestiegen, auch seine Widerstandsfähigkeit, Willensstärke und Konzentration.
Er wollte seinen Übungsbogen und die Pfeile gerade wegbringen, als sein Ausbilder Fenrir auftauchte, der merkwürdig gute Laune hatte.
„Guten Tag Anael, wie geht es dir?“, fragte er lächelnd.
„Gut…“, antwortete Bahe zögerlich. Fenrirs Lächeln wirkte seltsam beängstigend.
„Heute beginnen wir mit deinem Training!“, rief Fenrir begeistert und Bahe schwante augenblicklich Böses.
„Was ist die absolute Grundlage eines jeden Bogenschützen, Anael?“
„Ähm…“
„Ausdauer!“, rief Fenrir, ohne Bahe Zeit zu lassen zu antworten. „Du wirst jetzt als erstes, ein Mal, außerhalb der Mauern um die gesamte Stadt laufen. Du hast dafür maximal eineinhalb Stunden Zeit. Solltest du das nicht schaffen, kannst du mit den zweitausend Schüssen von vorne anfangen!“
„Was?!“, rutschte Bahe der entsetzte Aufschrei hinaus.
„Ich, an deiner Stelle, würde lieber die Beine in die Hand nehmen…“, zuckte Fenrir nonchalant die Schultern und zwinkerte ihm zu.
Bahe brauchte noch einen Moment, um die ganze Situation zu verdauen, ehe er schleunigst zum nächsten Stadttor lief.
„Ah! Und komm bloß nicht auf den Gedanken hier wieder aufzutauchen, ehe du die komplette Runde nicht geschafft hast!“, schrie ihm Fenrir noch hinterher.
„…“, Bahe war sprachlos.
Was zum Henker hatte er bloß getan, um so etwas zu verdienen?!
Einmal sollte er innerhalb von eineinhalb Stunden, um die Stadt herum laufen? Der Umfang von Waldenstadt betrug doch bestimmt mehr als zwölf Kilometer! Wie sollte das zu schaffen sein?!
„Verdammte Scheiße!“, fluchte er.
Wie ein Wahnsinniger rannte er in den folgenden Minuten drauf los und ignorierte alle Blicke die irritiert in seine Richtung geworfen wurden.
Es gab für Spielanfänger keinerlei Zeitmessung, was es Bahe erheblich erschwerte einzuschätzen, wie schnell er unterwegs war, geschweige denn wie viel Zeit er noch hatte. Die Uhrfunktion, die beim Einloggen für das Charakterprofil angeboten wurde, war im Grunde nur ein Timer, der den Countdown zum automatischen Logout darstellte. Außerdem müsste man dafür ununterbrochen das Fenster des Charakterprofils offen lassen, was ihn einfach zu sehr irritierte.
Irgendwann schleppte sich Bahe nur noch am Ende seiner Kräfte vorwärts und verfluchte jeden der Schritte, die er gezwungen war zu absolvieren.
Vollkommen entkräftet kam er schließlich wieder am Trainingsgelände an, wo Fenrir schon auf ihn wartete und sackte erschöpft auf dem Boden zusammen.
„Leider zu spät, Anael. Du hast zweieinhalb Stunden gebraucht. Da du fast doppelt solange, wie gefordert, gebraucht hast, wirst du bei den zweitausend Schüssen nicht einfach von vorne anfangen. Stattdessen bekommst du noch zweitausend Schüsse oben drauf, die du zusätzlich zu den noch abzuleistenden Schüssen absolvieren musst. Hast du mich verstanden?“
Bahe nickte nur apathisch.
„Morgen wartet Krafttraining auf dich und Übermorgen wirst du wieder laufen. Bis du zwei Runden in der Zeit schaffst. Solltest du deine Ziele in den nächsten Tagen nicht erfüllen, werden jedes Mal weiter zweitausend Schuss dazu kommen, klar?“
„Das…“, wollte Bahe seinem Groll Luft verschaffen, doch Fenrir schnitt ihm das Wort ab.
„Willst du dich etwa beschweren?!“, fragte er mit grimmiger Miene.
„Ähm… nein“, sagte Bahe lieber schnell, ehe er sich noch mehr Strafschüsse einhandelte.
„Gut so! Aber tausend Extraschüsse dafür, dass du es versuchen wolltest!“, rief Fenrir streng und verschwand danach in Richtung Waffenkammer.
Bahe war einer Ohnmacht nahe.
Er checkte kurz den Questbereich in seinem Charakterprofil und stellte fest, dass sich die Schussanzahl von tausendzweihundert auf viertausendzweihundert erhöht hatte. Es war alles so gut gelaufen…
Jetzt würde er ewig für die Quest brauchen…
Stinksauer und völlig entkräftet, raffte er sich irgendwann auf, versteckte seine Tonscherben zwischen den Heuhaufen einer Zielscheibe und aktivierte eine der beiden Tutorial-Quests, die noch übrig waren.
Egal welche Rückschläge er erlitt, im Moment war es wichtig, dass er an seine nächsten geplanten Schritte dachte.
Tutorial IV: Berufe erwerben
Wie in jedem Online-Rollenspiel gibt es auch in Raoie verschiedene Berufsklassen denen Sie nachgehen können. Jeder Beruf bringt seine individuellen Fähigkeiten mit sich, die keine andere Berufsklasse hat.
Es gibt 10 Oberkategorien, die an jedem Anfangspunkt zur Verfügung stehen:
Bauern
Händler
Handwerker
Jäger/Fischer
Spielleute
Magier
Priester
Diebe
Nahkämpfer
Fernkämpfer
Desweiteren gibt es noch Spezialisierungen dieser Berufe, die entweder sofort vor Ort bereits gewählt werden können oder deren Vorkommen durch die Welt von Raoie bestimmt werden.
Jede Berufsklasse besitzt zudem einen Berufsstatus, der den Grad der Meisterung der klasseneigen Fähigkeiten beschreibt.
Tutorial-Quest!
Da Sie inzwischen wissen sollten wie man sich gegen Monster erwehrt und wie man den eigenen Speichergegenstand nutzt, können Sie zum nächsten Schritt übergehen.
Suchen Sie das Gasthaus zum platzenden Hirsch am Marktplatz im südlichen Teil der Stadt auf und sprechen Sie den Wirt darauf an, ob er immer noch frische Wildwurzelkaninchen für das Abendessen gebrauchen kann.
Natürlich wieder ein Gasthaus. Aber von diesem wusste er wenigstens wo es sich befand. So hungrig wie er war, war er für einen Moment versucht, sich dort etwas zu essen zu bestellen, entschied dann aber doch erst mal seine spärlichen Vorräte zu verspeisen. Ab Morgen würde er sich sowieso etwas kaufen müssen, aber vorerst war es besser seine vorhandenen Nahrungsmittel nicht schlecht werden zu lassen.
Nachdem Essen fühlte er sich schon etwas besser und ging diesmal ruhigen Schrittes zum vorgeschriebenen Ort. Schneller war es mit seinen verkrampften Beinen einfach nicht machbar.
Der Wirt hieß Marko und saß Bahe zwanzig Minuten später gegenüber.
So erschöpft wie er war, hatte Bahe für den Weg doppelt so lange gebraucht, wie normaler Weise.
„Nun, ich sag’s dir gleich, du bist nicht das erste Klappergestell, das ich erblicke. Alle haben von mir immer nur ein paar Kupfermünzen und etwas zu essen bekommen. Diejenigen, die sich gut gemacht haben, habe ich an für einen anständigen Beruf empfohlen. Das war es aber auch schon, Grünschnabel. Wenn dir das nicht reicht, kommen wir nicht ins Geschäft. Oh und bevor ich es vergesse, die Bezahlung hängt von der Anzahl und Qualität der Wildwurzelkaninchen ab“, erklärte sich der Wirt.
„Das ist überhaupt kein Problem“, beschwichtigte Bahe.
„Nun gut, bring mir bis zum Abend 7 Wildwurzelkaninchen und wir sehen weiter.“
Tutorial-Quest!
Der Wirt Marko braucht bis zum Abend 7 Wildwurzelkaninchen. Bring sie ihm und er wird darüber nachdenken dich längerfristig anzustellen.
„Ähm…“, druckste Bahe leicht verlegen rum.
„Was ist denn noch?“, verdrehte der Wirt die Augen, offensichtlich bereute er es bereits, sich mit einem so abgehalfterten jungen Mann eingelassen zu haben.
„Wäre es möglich, dass ihr mir ein Messer für die Jagd leiht?“
Der Wirt schaute ihn eine Sekunde lang an, ehe er lauthals zu lachen begann.
„Du glaubst allen Ernstes, dass du ein gutes Messer von mir bekommst, nur um anschließend damit zu verschwinden? Träum weiter!“
Bahe schluckte seinen Groll hinunter und sagte beim Verlassen des Gasthauses: „Erwartet mich heute Abend zurück.“
Der Wirt schüttelte nur den Kopf.
Ein gewöhnlich wirkender, junger Mann ging gemächlichen Schrittes durch die Flure der Abenteurergilde. Außer einem leicht nach oben gezogenen Mundwinkel zeugte nichts von seiner Hochstimmung, vollkommen unerwartet, einen als unmöglich zu bezeichnenden Auftrag erfüllen zu können.
„Die Tore des Schlächters…“
Es war reiner Zufall gewesen, dass er gerade durch Geheimgänge in den Wänden schlich, als dieser Anael das Beratungszimmer verließ und der Zauberer mittleren Alters eben jene Worte verlor. Wie erstarrt war er stehen geblieben und hatte mal wieder erstaunt feststellen können, wie lebensecht Raoie war. Jede Aktion eines Spielers in Raoie führte unweigerlich zu einer Reaktion der Raoie-Spielwelt und ihrer NPCs.
Er fragte sich wirklich, ob dieser Eras oder das bedienstete Mädchen überhaupt NPCs gewesen waren… Normalerweise wurden wichtige Ereignisse nur in Anwesenheit von Spielern ausgelöst, die auch für ihre Aktivierung verantwortlich waren. Zumindest hatte er früher so gedacht. Raoie war in dieser Hinsicht abstrus…
Obwohl er von sich, hinsichtlich seines Progamer-Daseins, durchaus behaupten konnte schon viel gesehen zu haben, verwirrte ihn Raoie immer noch. Hatte seine Anwesenheit in dieser sonderbaren Situation gereicht, um die Grundgeschichte weiter voran schreiten zu lassen? Oder war noch ein anderer Spieler anwesend gewesen? Vielleicht schon zu der Zeit als sich dieser Anael im Zimmer befand?
Die einzig andere Möglichkeit, wäre der Gedanke, dass NPCs in Raoie zu eigenständigen Handlungen fähig wären und unabhängig von den Spielern agieren könnten, was er aber für ziemlich absurd hielt. Trotzdem schwankte sein Verdacht in den letzten Wochen verstärkt in diese Richtung.
Sich von diesen philosophischen Fragen lösend, trat er schließlich vom Gelände der Abenteurergilde und schloss sich der Bevölkerung Waldenstadtes an, die ihrer alltäglichen Arbeit nachgingen.
Es brauchte nicht mehr als einen Gedanken und der junge Mann war in der Menge vollends verschwunden…
Zur gleichen Zeit hatte Bahe noch etwa die Hälfte seiner Spielzeit übrig und so beschloss er, sich eiligst zu den Wildwurzelkaninchen aufzumachen.
Zuletzt hatten sich die Viecher im Norden der Stadt aufgehalten und seine Elementare waren auch ganz in der Nähe. Vielleicht konnte er sie überzeugen, ihn bei der Jagd zu unterstützen.
Er musste sich sowieso was einfallen lassen, wie er die Kreaturen ohne Waffe erlegen konnte.
„Nein!“, rief Limona energisch. „Nein, nein und nochmals nein!“
„Ist ja gut, kein Grund sich direkt wieder in einen Wutanfall hinein zu steigern“, meinte Bahe genervt.
„Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass wir Geschöpfe der Natur sind? Und ausgerechnet wir sollen solche Geschöpfe töten, damit jemand anderes eine Mahlzeit mit ihnen herstellt?“, brauste sich Limona trotzdem weiter auf.
„Ich finde es auch nicht gut“, stimmte Bocken auf seine einfältige Art zu.
„Also werde ich das Seil benutzen müssen…“, stöhnte Bahe resigniert.
„Pah! Ich wünsche dir auf jeden Fall schon mal keinen Erfolg…“, sagte Limona schnippisch und stapfte launisch ein paar Schritte davon.
Bahe kam nicht umhin seine Elementare kritisch zu mustern. Während Limona ständig am rum schnauzen war, hockte Brocken meistens relativ einfältig wirkend auf dem Boden rum und starrte vor sich hin. Er hatte wirklich keine Ahnung, wie er mit ihnen umgehen sollte.
Die nächste Viertelstunde verbrachte er damit die Wildwurzelkaninchen ausfindig zu machen und eine Seilschlinge vorzubereiten.
Die einzige Idee, die ihm gekommen war, nutzte die Seilschlinge als Grundlage, um die Wildwurzelkaninchen zu fangen und möglichst einzeln aus ihrer Herde heraus zu ziehen. Im Notfall könnte er durch den Vorsprung, den ihm sein Seil verschaffte, immer noch weglaufen.
Sollte es ihm jedoch gelingen, einzelne Tiere aus der Herde zu ziehen, so hätte er die Chance ihre Köpfe brutal mit einem Stein zu zerschlagen.
Irgendwie war ihm nicht so richtig wohl bei dem Gedanken.
Andererseits würde er solche Kreaturen früher oder später sowieso töten müssen, um in diesem Spiel voran zu kommen.
Was wohl Vegetarier von so einer Quest halten würden? Letztlich jagte er die Kreaturen auch für sein Abendessen…
Die mussten es ja noch schwerer haben, lächelte Bahe bei seinem verrückten Gedanken verhalten.
Ganz egal, wie er am Ende vorgehen würde, zunächst musste er die Viecher überhaupt erst mal fangen. Und wie es zu erwarten war, zogen sich die nächsten Minuten qualvoll in die Länge.
Bahe hatte sein Seil mit der Schlinge bereits mehrmals ausgeworfen, aber die Länge von zehn Meter erlaubte ihm keinen allzu großen Abstand zu den Wildwurzelkaninchen, welche er durch seine Würfe natürlich immer wieder von sich weg trieb.
Er hatte auch schon versucht, sein Seil auszuwerfen und sich anschließend zu verstecken, aber die Viecher dachten gar nicht daran an ihren vorherigen Platz zurückzukehren. Das Gras schmeckte scheinbar überall gleich.
„Geschieht dir Recht, man tötet keine unschuldigen Kreaturen“, sagte Limona schadenfroh.
„Dir ist schon klar, dass ich auch von irgendetwas leben muss?“, meinte Bahe.
„Zufällig weiß ich, dass jemand vor nicht allzu langer Zeit ein paar Silbermünzen gefunden hat…“, säuselte Limona während sie achselzuckend mit einer ihrer Haarsträhnen spielte.
„…“, Bahe musste sich zwingen Ruhe zu bewahren. „Vielleicht sollte ich es besser so ausdrücken, wenn ich bis heute Abend nicht mindestens sieben Wildwurzelkaninchen fange, dann kann ich euch auch nicht außerhalb der Stadt begleiten und wie war das nochmal? Ihr könnt euch nicht allzu weit von mir entfernen, ja?“
„Wieso sagst du das nicht gleich?!“, rief Limona entrüstet und setzte dann noch nach. „War ja klar, dass du dich nicht an deine Abmachungen hältst…“
An Brocken gewandt fuhr sie fort: „Hilf ihm!“
„Wieso ich?“, brummte der Elementar.
„Weil ich ein Mädchen bin, willst du etwa ein weibliches Wesen arbeiten lassen?“
Brocken legte den Kopf schief und sagte nachdenklich: „So weiblich… wirkst du eigentlich nicht… bis du dir damit sicher?“
Bahe traute seinen Ohren kaum und musste mit aller Kraft einen Lachanfall unterdrücken.
Limona schien währenddessen kurz vor einer Explosion, als ihr Kopf hochrot anlief und sich ihr Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzerrte.
„Du… du…“, stotterte sie.
„Ich mach es… ja schon…“, brummte Brocken unwillig, der seinen Fehler wohl bemerkt hatte und zur Tat schritt, um Limona zu entkommen.
Bahe freute sich. Endlich konnte er einen seiner Elementare mal in Aktion erleben!
Brocken war derweil zur gegenüber liegenden Seite der Wildwurzelkaninchenherde gelaufen und blickte zu ihnen.
„Bereit?“, fragte Limona.
„Sicher!“, sagte Bahe in freudiger Erwartung.
„Leg los!“, rief Limona Brocken laut zu.
Brocken nickte und begann auf die Herde loszurennen.
Als Bahe schon glaubte, dass jetzt der erste Angriff Brockens erfolgen würde, fing dieser plötzlich an wie wild zu schreien und fuchtelte mit den Armen umher.
Die Herde reagierte erst im letzten Moment. Kurz bevor Brocken mit dem ersten Wildwurzelkaninchen zusammen stieß, machte die Herde panisch ein paar Sätze von ihm weg und nahezu alle Kreaturen starrten für einen paar Sekunden in seine Richtung. Danach ignorierten sie ihn wieder und wandten sich ihrer Lieblingsbeschäftigung zu, dem Fressen von Gras.
Limona äußerte sich fröhlich: „Worauf wartest du?“
Bahe ignorierte sie und blickte ungläubig seinen Elementar mit einem Angriff von hundert Punkten an. Ein Angriff von einhundert…
Ja, die Viecher standen jetzt auf seiner Seilschlinge, aber irgendwie war die Welt verkehrt…
Mit einem leisen Klacken öffnete sich endlich die Schatulle. Er entleerte schnell ihren Inhalt, warf sich ein Dienstbotengewand über und wanderte ohne Aufsehen zu erregen durch die Flure hinab in den Keller.
Blitzschnell machte er sich zwischen zwei alten Weinfässern zu schaffen und öffnete den Geheimgang, den er als Fluchtweg eingeplant hatte.
Etwa zehn Minuten später kam er im Keller eines verlassenen Lagerhauses wieder an die Oberfläche. Er versiegelte noch schnell alles und trat munteren Schritts auf die Straßen Waldenstadts.
Ein Lächeln umspielte seine Lippen als er an den geglückten Diebstahl dachte. Noch acht solche Einbrüche und es würde sich nicht nur seine Fähigkeit des Schleichens verbessern, er hätte außerdem noch genug Geld, sich einen besseren Satz seiner Ausrüstung zu besorgen.
Diebstähle am helllichten Tag brachten zudem viel mehr Erfahrung ein, auch wenn sie natürlich mit größeren Risiken verbunden waren.
Natürlich hatte er schon Erfahrung in Online-Rollenspielen und ihren Tücken gehabt, als er mit Raoie begonnen hatte. Er war immer noch ein begeisterter Dreamworld-Spieler, auch wenn der Reiz des Spiels neben Raoie schlicht weg verblasste. Zumal auch immer mehr berühmte Progamer Dreamworld aufgaben.
Dennoch hatte er auf die harte Tour lernen müssen, wie leicht man in Raoie von seinen Mitspielern verraten werden konnte. Der Beginn war nicht umsonst so viel schwerer als in jedem anderen Spiel, dass er jemals gespielt hatte.
Er war damals als fünfter Mann zu einem komplizierten Auftrag angeworben worden. Der Diebstahl sollte trotz Aufteilung noch ein Vermögen für einen Spielanfänger einbringen. Allerdings benötigte dieser Auftrag das Zusammenspiel von fünf Spielern. Jeder hatte seine Rolle. Zumindest wurde ihm das damals so gesagt. Schlussendlich wollten sie ihn schlicht weg als Ablenkungsmanöver für ihre Flucht nutzen.
Mit viel Glück und langer Verfolgungsjagd war er letzten Endes entkommen. Er brannte aber immer noch innerlich vor lauter Rachegedanken an diese vier Idioten! Er hatte mehrere wertvolle Ausrüstungsgegenstände verloren und sich erst Wochen später von diesem Verlust erholt.
Seither plante er alle seine Diebstähle selbst und führte sie ausschließlich allein aus. Es war zu einer Herausforderung geworden, die ihm Spaß machte, sich Möglichkeiten zur erfolgreichen Durchführung einfallen zu lassen, anstatt einfach irgendwo nach Hilfe zu suchen.
Seine Schritte trugen ihn immer weiter Richtung Schwarzmarkt, als plötzlich der einzige Ring den er an seiner linken Hand trug, eine angenehme Wärme verströmte. Er bestand aus schlichtem Metall und fiel bei näherem Hinsehen in keinster Weise auf. Was, bei seiner Herkunft, selbstverständlich Absicht war.
So gern er auch alleine spielte, manche Dinge waren allein fast unmöglich zu erreichen.
Er hatte einen Traum und für diesen einen Traum war er auch ausnahmsweise bereit gewesen seine eigene Regel zu brechen und einmalig reales Geld zu investieren, um sich seinen Wunsch zu erfüllen.
Freudig aber auch nervös, holte er schnell einen grauen Edelstein aus seinem Speichergegenstand. Mit zittrigen Fingern führte er Ring und Edelstein zusammen und sah, wie die beiden Gegenstände miteinander verschmolzen.
Kaum einen Moment später ertönte mit flüsternder Stimme die Nachricht in seinen Gedanken: „Gleiche Gasse, wie beim letzten Mal…“
Ihm gruselte es immer noch, ob der unheimlichen Kontaktierungsmethode. Aber es war schließlich alles auf die andauernde Anonymität der Klienten als auch der Spieler, die den Auftrag ausführten, ausgelegt.
Hastig holte er einen weiten Kapuzenumhang und Schal aus seinem Speichergegenstand und lief mit eiligen Schritten zu der kleinen Gasse, die nahezu den gesamten Tag im Schatten umliegender Gebäude lag und wartete im Halbdunkeln.
In seiner Not sich seinen Traum zu erfüllen, hatte er sich letztlich an die Gilde der Schattenwanderer gewandt. Kein besonders origineller Name wie er fand. Man konnte aber nicht umhin zuzugeben, dass er die Organisation bestens beschrieb.
Die Gilde nahm nur absolute Top-Spieler auf und bestand ausschließlich aus Dieben und anderen seltenen Berufsklassen, die sich der Nacht und den Schatten zuordnen ließen.
Jeder Spieler musste ein bestimmtes Level vorweisen, von dem er selbst bislang nur träumen konnte und zudem noch einen Eignungstest absolvieren, über den er leider noch nichts wusste. Er war weit unter ihren Mindestanforderungen, zumindest so viel wusste er.
Die Gilde führte so ziemlich jeden Auftrag der Informationsbeschaffung als auch Artefaktbeschaffung durch, sofern man genug zahlte. Selbst den Mord an einem Spieleravatar und dem damit verbundenen Levelabstieg desjenigen, konnte man bei ihnen in Auftrag geben. Sofern man genug Kleingeld parat hatte, konnte man einen Spieler sogar solange jagen lassen, bis dieser auf Level 0 zurück fiel.
Hinsichtlich der TNL-In-Game-Politik, dass jeder Spieler nur einen einzigen Account besitzen konnte, war dieser Gedanke wirklich Furcht einflößend.
Für ihn war es zudem nicht gerade ungefährlich sich mit dieser Gilde einzulassen. Daher auch seine Tarnung mit dem Kapuzenumhang, versteckte sie doch zumindest sein Äußeres.
Er mochte kein Spielanfänger mehr sein, weit davon entfernt war er jedoch auch noch nicht. Es hatte Fälle gegeben, als den Gildenmitgliedern der Klient zu unfähig vorkam und sie ihm für den Tag ein schnelles Ende bereiteten.
Sofern er wusste, hassten es die Gildenmitglieder regelrecht für einfältige Spieler tätig zu werden. Selbst, wenn die Bezahlung hervorragend war, nahmen sie den Auftrag nur an, wenn dieser ihr Interesse weckte.
Trotzdem beschwerte sich keiner. Sogar die großen Gilden Chinas hatten enormen Respekt vor den Schattenwanderern.
Er selbst hatte schon ein kleines Vermögen ausgegeben, ehe er überhaupt erfahren hatte, wie er mit dieser Gilde in Kontakt treten konnte.
Glücklicherweise nahm die Gilde auch Geld aus der realen Welt an. Viele der Gildenmitglieder lebten von dem Einkommen, dass sie mit Raoie generierten.
Hätte er den Betrag mit der Raoie eigenen Währung aufbringen müssen, hätte er mit Sicherheit ganze zweihundert Einbrüche vor sich gehabt, ehe er sich die Auftragssumme hätte leisten können.
Er konnte nur hoffen, dass die Informationen, die er gleich bekommen würde, ihren Preis wirklich wert waren.
Etwa fünf Minuten später vernahm er plötzlich eine tiefe Stimme aus dem dunkelsten Bereich der Gasse: „Ich habe was du verlangt hast.“
Geschockt, wäre er beinahe vor Schreck zusammen gezuckt. Nur mit Mühe behielt er seine Fassung und wendete sich der Stimme zu.
Er konnte nur grobe Umrisse einer Person im Dunkeln der Gasse ausmachen. Die Person vor ihm wusste, was sie tat.
„Was habt ihr herausgefunden?“, fragte er schließlich mit fester Stimme und überraschte sich selbst damit.
„He… neugierig, was?“, hallte die Stimme belustigt nach.
Unzählige Gedanken durchströmten sofort sein Hirn, als er sich bereits ausmalte, dass sich der Schattenwanderer es sich wohl anders überlegt hatte, als dieser nach langer Pause erneut zu sprechen begann.
„Die Tore des Schlächters… das ist der Hinweis, den du suchst.“
„Die Tore des Schlächters…“, murmelte er, um sich die Worte einzuprägen, verstand zugleich jedoch nicht, wie ihm dieser Hinweis weiter helfen sollte, doch sein Gegenüber war noch nicht fertig.
„Es gibt einen Spielanfänger… ein merkwürdiger Typ, habe mich nicht groß über ihn schlau gemacht, weil das nicht mein Auftrag war. Sein Name lautet Anael Lerua. Er ist in Besitz eines Schlüssels zu den Toren des Schlächters, wie es scheint. Genauere Information gibt es noch nicht, weil die Hintergrundgeschichte zu dieser sich anbahnenden Quest gerade erst ausgelöst worden ist. Nochmal, dieser Spieler hat den Schlüssel, aber noch nicht das dazu passende Schloss. Sollte dieser Schlüssel aber wirklich zu den Toren des Schlächters führen, oder diese gar öffnen, könnte er tatsächlich der bislang einzige Spieler in Raoie sein, der dich der Erfüllung deines Wunsches näher bringt. Noch Fragen?“
Er brauchte einen Moment, ehe er die ganze Informationsflut verdaut hatte. Er wollte schon den Kopf schütteln, hielt dann aber inne und fragte: „Wie präzise sind diese Informationen?“
Schweigen.
Er schluckte.
„Ich war anwesend als die Worte gefallen sind…“, klang es bedrohlich.
„Das reicht mir“, antwortete er schnell und wandte sich zum Gehen.
„Halt!“, zischte es plötzlich.
Er kam ruckartig zum Stehen und blickte zurück.
„Der Ring…“
Verflucht! Vor Angst, gleich um ein Level erleichtert zu werden, hatte er doch glatt vergessen, den Ring zurück zu geben.
Hastig streifte er ihn ab und warf ihn der Schattengestalt zu, ehe er sich schleunigst davon machte.
Leicht genervt blickte der gewöhnlich wirkende junge Mann der Kapuzengestalt nach, die gerade um die Ecke der Gasse verschwand. Dieser Wicht schien nicht wirklich zu wissen, was gut für ihn war, wenn er es wagte die Authentizität seiner Informationen infrage zu stellen!
Kurz blitzte in der Gasse ein schwaches Licht auf und anschließend war ein leises Flüstern zu vernehmen: „Kelea, was hälst du von ihm?“
„Unbedeutend…“, raunte es zurück. „…aber für uns wertvoll genug, um ihn vorläufig nicht anzurühren.“
„Du weißt, wie ich es hasse, mir Unverschämtheiten von solchen Vollidioten bieten zu lassen!“
„Dein Temperament hat die Gilde schon oft genug in Verruf gebracht, Drakar…“, seufzte Kelea. „Und letzten Endes brauchst du sein Geld dann doch in der Realität…“
„Dir ist klar, dass ich Leute schon für viel weniger auf Level 0 gemordet habe?“, zischte er gefährlich.
„Droh. Mir. Nie. Wieder. Drakar!“, raunte es ebenso gefährlich zurück.
„He…“, schlich sich ein kaltes Lächeln auf das Gesicht des jungen Mannes.
„Sollten wir uns um diesen Anael kümmern? Der Kerl wollte ja nur die aktuellen Informationen, wir könnten uns den Schlüssel jetzt selbst besorgen.“
„Wofür die Mühe machen… Wir wissen zwar vom Schlächter und seiner Geschichte, aber nirgends wurde etwas über seine Ruhestätte oder dem Ort der Tore erwähnt. Irgendwann, werden sich dieser Anael oder dieser Idiot von eben schon auf die Suche nach den Toren des Schlächters machen. Es ist nicht zu spät einzugreifen, wenn es soweit ist.“
„Wie du meinst…“, klang es gleichgültig zurück.
„Wie hieß der Klient?“
„Drakar!“
„Sag. Es. Mir!“, zischte der junge Mann mit Nachdruck.
„Wenn du ihn in den nächsten zwei Monaten anfasst, werde ich dich jagen, Drakar! Du kennst unsere Vereinbarungen!“
„Hör auf mit dem Quatsch und sag mir seinen Namen!“, rief Drakar erregt.
„Lass mich nachsehen…“
„…“
„Sein Name lautet… Alucard.“
Eine gute Stunde später stand Bahe keuchend über dem siebten toten Wildwurzelkaninchen und fühlte sich wie ein Monster. Es war keine schöne Erfahrung gewesen die Kreaturen umzubringen und jetzt vor den Leichnamen zu stehen, machte es auch nicht besser. Hätte er doch wenigstens eine vernünftige Waffe gehabt. Ohne sie, hatte er einen großen Stein benutzen müssen. Die an den Beinen gefesselten Wildwurzelkaninchen hatten sich natürlich gewehrt, hatten gezappelt und ihm einen Treffer so schwer wie möglich gemacht.
Bahe glaubte fast, das Quieken der verletzten Kreaturen immer noch zu hören.
Angewidert von sich selbst, schüttelte er sich. So furchtbar es auch gewesen war, es war notwendig. Er konnte nur hoffen möglichst bald eine richtige Waffe in den Händen zu halten. Dazu würde er aber sein Training zum Bogenschützen abschließen müssen. Als Belohnung winkte nämlich ein Bogen samt Pfeile. Wollte er nicht solange warten, bliebe ihm nur die Möglichkeit von seinem Geld irgendeine Stichwaffe zu kaufen. Ursprünglich hatte er sich dagegen entschieden, weil es zum momentanen Zeitpunkt noch nicht wirklich notwendig für ihn war. Mittlerweile war er jedoch am überlegen, ob er seine Entscheidung nicht noch mal überdenken sollte.
Bahe wusste nur zu gut, wie wichtig Geldreserven in Raoie werden konnten. Dennoch…
Er seufzte ein letztes Mal und band anschließend die Kadaver an den Füßen aneinander. Sein Seil reichte gerade aus, um noch eine passable Länge für den Transport zu haben, die er sich über die Schulter werfen konnte.
„Vielen Dank für deine Hilfe, Brocken“, wandte Bahe sich danach an seinen Elementar. „Ohne dich, hätte ich es nie so schnell geschafft.“
So bescheuert die Aktionen seiner Elementare auch waren, Bahe kam nicht umhin zuzugeben, dass Brocken ihm wirklich geholfen hatte. Wenn auch auf andere Weise, als ihm lieb war.
Brocken bekam bei den unerwarteten Worten große Augen und lief doch tatsächlich leicht rötlich an. Meinte abwinkend aber nur schlicht: „War ja nicht schwer.“
Bahe musste Grinsen. Dann öffnete sich plötzlich ein Benachrichtigungsfenster:
Du hast deinen Elementar aufrichtig gelobt und ihn deine Zuneigung spüren lassen.
Treue von Brocken +1
Aufrichtig gelobt, ja? Wahrscheinlich würde es nicht klappen, die Treue zu steigern, wenn er ihn jetzt einfach weiter loben würde.
Aber immerhin, so langsam bekam er ein Gespür für seine Kampfgefährten.
„Ich muss die Wildwurzelkaninchen jetzt in die Stadt bringen, danach führe ich euch, wohin immer ihr wollt, ok?“
„Ja ja… das kennen wir schon“, erklärte Limona trotzig.
„Wir warten“, antwortete Brocken, dem inzwischen ein Lächeln um die Lippen spielte.
„Bis nachher!“, rief Bahe noch über seine Schulter, während er schon so schnell er konnte zur Stadt zurück lief.
Zurück im Gasthaus zum platzenden Hirsch übergab er die Wildwurzelkaninchen dem Wirt, der überrascht die Brauen hochzog.
„Scheinbar habe ich mich diesmal geirrt“, sagte Marko. „Dachte nicht, dass ich dich nochmal wiedersehe.“
„Ich hatte einfach Glück bei der Jagd.“
„Glück? Wohl kaum. Du hast den Viechern die Schädel eingeschlagen. Ne Waffe scheinst du ja nicht zu brauchen“, meinte er Marko lachend. „Du kannst dich hinsetzen und warten, wenn du willst. Das Abendessen wird aber erst in zwei Stunden fertig sein.“
Auf diesen Moment hatte Bahe gewartet.
„Würde es schneller gehen, wenn ich aushelfe?“
„Du willst helfen? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie man die Tiere häutet und ausweidet?“
„Noch nicht, aber ihr könntet mich zuschauen lassen. Wenn ich es lerne, könnte ich euch in den nächsten Tagen behilflich sein.“
„Bist wohl auf mehr Geld aus, was? Das kannst du dir schön abschminken, Junge!“
„Ich brauche keine zusätzliche Bezahlung. Es bleibt alles beim Alten, nur dass ihr mich die Technik lehrt.“
Das brachte den Wirt zum Schweigen. Bahe sah, wie Marko ihn genau musterte und schließlich zustimmend nickte.
„Also gut, wir haben einen Deal, aber nur, wenn du dich nicht wie ein absoluter Vollidiot anstellst. Nicht, dass du mir mein bezahltes Fleisch versaust.“
Der Wirt, Marko, erklärt sich bereit dir die Fähigkeit „Ausnehmen“ beizubringen, solange nicht das Fleisch von drei oder mehr Wildwurzelkaninchenkadaver ungenießbar wird. Zudem wirst du jedes Wildwurzelkaninchen ersetzen müssen.
Bist du bereit seinen Deal anzunehmen?
„Ich werde mein Bestes geben“, versicherte Bahe schnell.
„Gut, dann komm mit nach hinten“, meinte Marko und ging in den hinteren Teil des Gasthauses voran.
Bahe beeilte sich hinterher zu kommen und durch die Küche hindurch, zu einem weiteren Raum in dem bereits zahlreiche Tiere oder ihre Einzelteile an Haken hingen.
Ein strenger Geruch schlug ihm entgegen. Nicht so sehr von Exkrementen, eher ein schaler Fleischgeruch vermischt mit dem Geschmack von Blut in der Luft… Es war schwer in Worte zu fassen.
„Der Raum ist streng aufgeteilt, damit das klar ist. Auf der einen Seite hängen wir immer die Kadaver auf, die noch gehäutet und ausgeweidet werden müssen. Auf der anderen Seite sammeln wir das Fleisch und separat die Haut samt Fell. Schließlich kann man daraus gute Leder oder warme Felle herstellen, kein Grund die wegzuschmeißen.“
„Alles klar.“
„Nichts ist klar, Junge. Sei mal nicht so voreilig“, schnaubte Marko und ging zu zwei großen Fässern.
„Das hier ist der Auffangbehälter für das Blut und dieser hier ist für die Eingeweide“, erklärte der Wirt und zeigte zuerst auf den Linken gefolgt von dem Rechten. „Sobald du ein Tier ausgeweidet hast, entleerst du das rechte Fass sofort, bevor du irgendeinen anderen der Arbeitsschritte durchführst, klar?“
Bahe nickte und fragte: „Damit es nicht so stinkt?“
„Ganz genau, der Geruch haut einen auf Dauer um.“
„Und was ist mit dem Blut?“
„Das kann man noch verwenden. Blutwurst oder andere Nutzungsmöglichkeiten. Meistens bleibt nicht allzu viel über. Was übrig bleibt, könntest du genauso wie die Eingeweide hinter dem Haus im Loch entsorgen. Allerdings spielt das nur eine Rolle, wenn du das Tier hier vor Ort schlachtest.“
„Also muss ich das mit den Wildwurzelkaninchen nicht machen?“
„Die Viecher hast du ja schon getötet und durch die Kopfwunden haben sie nicht eben wenig Blut verloren. Aber selbst, wenn augenscheinlich nicht viel Blut geflossen ist, kann es innere Blutungen geben. Deswegen ist auch das schnelle Ausweiden so wichtig. Blut verdirbt viel schneller als das Fleisch. Sobald der Verwesungsprozess einsetzt, kann ich das Fleisch niemanden mehr vorsetzen. Außer irgendeinem Bettler von der Gasse, die sich die Fleischüberreste sonst eh von hinten aus dem Loch holen würden.“
Bahe graute es bei dem widerlichen Gedanken.
„So jetzt zum Häuten und Ausweiden“, sagte der Wirt, nahm eins der Wildwurzelkaninchen, band die Hinterläufe mit einer kurzen Kordel zusammen und hängte es einen Haken.
„Zuerst zerschneidet man an den Hinterläufen das Fell und die oberste Hautschicht durch. Danach folgt ein Schnitt durch das Bauchfell“, erläuterte der Wirt und rief einen seiner Gesellen herbei. „Hey Erik, zeig es dem Burschen mal und sorg anschließend dafür, dass sich der Kerl an die Arbeit macht. Ich muss wieder nach Vorne.“
Bahe blickte sich um und entdeckte erst jetzt einen Mann mittleren Alters, der bisher vollkommen unauffällig geblieben war.
„Alles klar, Boss“, sagte der Mann und kam zu Bahe.
Der gerufene Geselle hatte leicht graubraune Haare, die sich zusehends verflüchtigten und zusammen mit seinem dumpfen Blick wirkte er nicht gerade wie der Hellste unter der Sonne. Seinen Job machte er aber gut.
Blitzschnell führte er Schnitte um die Hinterbeine herum aus, zog je einen Schnitt hinunter zum Bauch bis sie sich trafen und vollführte dort einen letzten, senkrechten Schnitt bis zum Hals.
„Bis dahin, hat es der Boss ja schon erklärt. Wichtig ist jetzt noch, dass du entscheidest, ob du das Fell des Kopfes auch noch abziehen willst oder eben nicht. Dem Boss ist das an dieser Stelle tatsächlich egal. Wir haben hier meistens kein Großwild, wo es sich lohnen würde, um es anschließend als eine Jagdtrophäe ausstopfen zu lassen. Daher lassen wir es, geht so schneller“, fügte er mit einem Augenzwinkern noch hinzu. „Wenn du die Kopfhaut also nicht brauchst, kannst du einfach wieder einen Kreisschnitt um den Hals herum durchführen. Dadurch lässt sich schon fast die gesamte Haut abziehen. Was fehlt jetzt noch?“
„Ähm… die Vorderbeine?“, vermutete Bahe, da dort noch kein Schnitt gesetzt worden war.
„Richtig, achte hier darauf, dass du wieder an der Unterseite der Beine schneidest, damit es mit dem Rest der Haut einheitlich ist. Danach kannst du auch schon mit dem Abziehen der Haut beginnen, das ist kinderleicht.“
Bahe kam kaum hinterher, als Erik auch schon begann die Haut an den Hinterläufen zu lösen und nach unten hin abzuziehen.
Es war nicht der schönste Anblick, aber bei weitem nicht so eklig, wie er gedacht hatte. Aufmerksam verfolgte er Eriks weitere Schritte. Die Haut des Wildwurzelkaninchens konnte tatsächlich bis zu den Vorderläufen in einem Stück und ohne zu sehende Widerstände abgezogen werden.
Was übrig blieb, war das rohe Muskelfleisch verbunden mit Sehnen und Knochen des Tieres. „Im Vergleich zu normalen Kaninchen sind die Wildwurzelviecher wesentlich größer“, meinte der Geselle. „Sonst tut sich da aber nicht viel. Weswegen wir sie auch so gerne jagen lassen. Vermehren sich wie die Pest und geben obendrein mehr Fleisch. Besser könnte es nicht sein.“
Nun, diese Logik fand Bahe einleuchtend.
„Achte bei deinen Schnitten immer darauf nicht zu tief zu schneiden. Sonst beschädigst du das Fleisch, was unser Boss dann nicht mehr für genug Geld verkaufen kann“, fügte Erik noch hinzu und Bahe nickte sofort.
„Der letzte Schritt ist jetzt das Ausweiden. Idealer Weise schneidet und bricht man den Brustkorb genau in der Mitte auf, um Zugang zu allen Innereien zu erhalten. Dabei musst du aber unbedingt darauf achten, dass die Verdauungstrakte der Tiere nicht verletzt werden, da ihr Inhalt sonst das Fleisch verderben würde, verstanden?“
„Sicher“, meinte Bahe.
„Gut“, raunte Eric und machte sich auch sogleich an eine Demonstration des Vorgangs. Brauchbare Organe sammelte Erik in einem Extrabehälter, während der Rest in dem Abfallfass landete, von dem der Wirt zu Beginn gesprochen hatte.
Zu Bahes Erstaunen hielt sich der Geruch in Grenzen und ehe er sich versah, war Erik auch bereits fertig.
„Nun bist du dran, Junge. Hol dir ein weiteres Wildwurzelkaninchen und übe die Schritte die ich dir gezeigt habe.“
Bahe kam der Aufforderung schnell nach. Hing ein neues Wildwurzelkaninchen auf und begann mit der Häutung des Tieres.
Die ersten Schnitte waren, wie er feststellte, viel zu zögerlich und kratzen nur die Oberfläche. Aber nach und nach bekam er ein Gefühl für die Handhabung des Messers und übte zunehmend mehr Druck aus…
Plötzlich sackte das Messer ins Bein der Kreatur bis es auf einen Knochen stieß und abrupt zum Halten kam.
Bahe zog zischend die Luft ein. Direkt ein so grober Fehler…
„Nicht weiter schlimm, das ist normal bei Anfängern“, meinte Erik hingegen und führte weiter aus: „Du hast Glück gehabt, dass du nur in den Unterschenkel gestochen hast. Marko wird dir dafür nicht gleich ein ganzes Wildwurzelkaninchen von deinem Lohn abziehen. Halte die Klinge einfach ein Bisschen senkrechter und du schneidest besser durch das Fell und die Haut.“
Bahe dankte ihm, zögerte anschließend jedoch erst einmal.
Nach einem tiefen Durchatmen traute er sich endlich einen zweiten Versuch zu starten und führte die nächsten Schnitte nun sorgfältiger aus.
Eriks Rat berücksichtigend schaffte er es schließlich das Tier zu Häuten, versagte jedoch beim Ausnehmen, da er unabsichtlich den Darm des Tieres mit verletzte.
Der Austretende Gestank trieb ihm schnell die Tränen in die Augen.
Erik schien davon jedoch nicht allzu viel zu bemerken und wies ihn nur an, den nun unbrauchbar gewordenen Kadaver in das Abfallfass zu werfen und alles draußen im Loch zu entsorgen.
Bahe kam dem nur zu gerne nach und war froh, nach getaner Arbeit erst mal durchatmen zu können.
Mit neugewonnener Konzentration setzte er sich anschließend an ein weiteres Wildwurzelkaninchen, versaute aber auch da den Prozess des Ausnehmens.
Erneut entsorgte er alles und widmete sich diesmal schon wesentlich nervöser seinem letzten Versuch. Er konnte nur hoffen, diesmal alles richtig zu machen.
Geduldig zog er nach und nach die Haut ab, ehe er sich dann noch viel langsamer daran machte, den Brustkorb aufzubrechen und sorgfältig die Innereien auszunehmen.
Mit klopfendem Herzen hielt er letztendlich den Darm in den Händen und warf ihn schnell ins Abfallfass, ehe er sich wieder Erik zu wandte.
Dieser sah auf, als er Bahes Blick auf sich ruhen spürte und nickte anschließend zustimmend.
„Sieht gut aus, Glückwunsch!“, meinte er zufrieden. „Jetzt wasche das Fleisch vorsichtig mit dem Wasser und hänge den Kadaver rüber auf die andere Seite.“
Bahe befolgte die Anweisungen und machte sich dann an die nächsten Wildwurzelkaninchen. Insgesamt brauchte er zwei Stunden ehe er mit allen Kadavern fertig war und seufzte erschöpft.
„Was, schon müde?“, fragte der Wirt, der gerade in den Schlachtbereich eintrat.
Bahe lächelte nur verhalten. Er war wirklich erstaunlich fertig mit den Nerven. Die ganze Zeit unter höchster Konzentration zu arbeiten hatte ihm mehr abverlangt als er ursprünglich gedacht hatte.
„Drei von Sechs hast du hinbekommen, ja?“, schnaubte Marko den Kopf schief legend und schien nachzudenken.
„Na, meinetwegen soll mir das reichen“, erklärte er schließlich abschätzig. „Du kannst weiterhin bei mir Tiere für’s Essen vorbereiten. Du solltest mit der Zeit schon genug Übung bekommen, nicht mehr so viele Fehler zu begehen.“
Du hast eine neue Fähigkeit erlernt:
Häuten
Du hast mehrere Wildwurzelkaninchen erfolgreich gehäutet und damit dein Können unter Beweis gestellt!
Du bist noch unsicher in deiner Ausübung der Tätigkeit.
Fähigkeitsstatus: Anfänger Level 1 | 3%
Du wirst Tiere mit der Zeit besser häuten können. Die Fähigkeit „Häuten“ steigert deine Erfolgschancen beim Häutungsprozess um 2%.
Du hast eine neue Fähigkeit erlernt:
Ausnehmen
Du hast mehrere Wildwurzelkaninchen erfolgreich ausgenommen und damit dein Können unter Beweis gestellt!
Du bist noch unsicher in deiner Handhabung der Kadaver.
Fähigkeitsstatus: Anfänger Level 1 | 3%
Du wirst Tiere mit der Zeit besser ausnehmen können. Die Fähigkeit „Ausnehmen“ steigert deine Erfolgschancen beim Häutungsprozess um 2%.
Endlich!
Jubelte Bahe innerlich.
Er hatte es endlich geschafft sich eine wichtige Fähigkeit für sein späteres Überleben in den Wäldern außerhalb Waldenstadt anzueignen.
„Aber damit eins klar ist, die drei versauten Wildwurzelkaninchen schuldest du mir, verstanden?“
„Sicher!“, grinste Bahe.
„Du brauchst gar nicht so zu grinsen“, meinte der Wirt achselzuckend und ging zur Tür zum Küchentrakt.
In der geöffneten Tür hielt er inne und sagte über seine Schulter hinweg: „Das Messer kannst du behalten, dann brauchst du den Viechern morgen nicht mehr den Schädel einzuschlagen. Und denk dran, Morgen sollten es mindestens zehn Wildwurzelkaninchen sein, um den Verlust von heute wieder wett zu machen.“
Ohne Bahes Antwort abzuwarten verschwand der Wirt auch schon durch die Tür, welche mit einem Krachen zu fiel.
Bahe konnte sein Glück kaum fassen, kostenlos hatte er sogar noch eine Waffe erhalten.
Tutorial IV war ein voller Erfolg!
„Marko, scheint dich zu mögen“, merkte Erik mit einem zuckenden Mundwinkel an. „Nun verschwinde und komm morgen bloß nicht zu spät mit dem neuen Wild, verstanden?“
„Alles klar, Erik“, rief Bahe und stürmte regelrecht aus dem Wirtshaus.
Er konnte seine Elementare nun wirklich nicht mehr länger warten lassen. Er hatte noch knappe zwei Stunden Spielzeit. Gerade noch genug, um Limona und Brocken zum Katharsee zu führen.
Als Bahe die Stadt verließ, ging er in Gedanken all seine letzten Schritte durch. Inzwischen hatte er die Tutorials III-V mehr oder weniger abgeschlossen. Tutorial I hatte er bereits in Angriff genommen, es würde bis zum erfolgreichen Beenden allerdings noch ein Bisschen dauern.
Damit blieb nur noch Tutorial II, welches er erst beginnen konnte, wenn er das erste Tutorial abgeschlossen hatte.
Im Grunde bauten alle Tutorialmissionen aufeinander auf. Doch gerade die ersten Beiden beschäftigten sich gleich mit Waffenfähigkeiten und dem Kampf gegen Monster. Kein Spielanfänger hatte zu Beginn eine Chance die Missionen innerhalb eines Tages zu absolvieren, sofern er sich nicht im realen Leben mit Kampfsport auseinander setzte oder Berufssoldat war.
War man schlau, konnte man dieses Problem umgehen und sich direkt den einfacher abzuschließenden Tutorialmissionen III-V widmen. Genau das, hatte er mit Erfolg getan.
Die nächsten Tage würden sich hauptsächlich darum drehen, die Forderungen Fenrirs zu erfüllen, um das Bogenschießen endlich zu erlernen.
Mit Brocken hatte er glücklicher Weise eine Möglichkeit Wildwurzelkaninchen zu fangen, ohne zwingend eine bessere Waffe zu benötigen.
Insofern machte es nichts, dass Bahes Ausbilder noch nicht mit ihm zufrieden war. Sicher, er war zunächst verdammt genervt gewesen. Wer wäre das nicht?
Mittlerweile wusste er Fenrirs Aufgaben jedoch zu schätzen. Bahe war sich im Klaren darüber, dass es zwei Möglichkeiten gab Spiele wie Raoie anzugehen.
Entweder man machte sich ans Speedleveln und versuchte beständig so schnell wie möglich im Level aufzusteigen oder aber man suchte nach jeder sich bietenden Gelegenheit seine Attribute zu verbessern.
Er hatte sich ohne zu zögern der zweiten Methode zugewandt.
Es war für ihn in näherer Zukunft unmöglich bei den Spielern mitzuhalten, die bereits vor einem halben Jahr gestartet waren. Level technisch waren sie ihm einfach viel zu weit voraus und konnten sich in Regionen vorwagen, die bei seinem geringen Level noch ein Ding der Unmöglichkeit waren.
Allein daher lohnte sich die erste Methode nicht. Es gab aber noch ein Problem.
Da die ersten Spieler und andere Progamer halt schon so viel weiter waren und ständig auf Entdeckungsreise gingen, nahm die Möglichkeit neue Geheimnisse und Artefakte zu finden zunehmend ab.
Daher blieb ihm nur die Möglichkeit, jede Gelegenheit zu nutzen und gerade die Kleinigkeiten mitzunehmen, die gewöhnliche Spieler oft verachteten oder ihrer überdrüssig waren.
Denn wer wollte schon stundenlang Pfeile auf einen Übungsheuhaufen schießen?
Bahe war sich sicher, dass sein Ausbilder aufgrund seiner mageren Statur und den mangelnden Attributwerten so hart mit ihm war.
Andere wären vielleicht ausgerastet und hätten das Tutorial von neuem begonnen. Bahe wusste es jedoch besser.
Das Spiel gab ihm nicht nur eine Möglichkeit sich zu verbessern. Sollte er dieses Training wirklich absolvieren, würde er an anderen Spielern mit seinem Attributwerten sogar vorbei ziehen.
Raoie gab ihm schließlich die Möglichkeit eines Trainings, dass seine Stats für immer erhöhen würde. Sofern er nebenbei auch noch in der realen Welt trainierte und sich richtig ernährte, so würde er seine lausigen Anfangsstatistiken über kurz oder lang zum Normalstatus oder sogar darüber hinaus aufwerten.
Dann würde er eines Tages die Bonuspunkte des Trainings in Raoie besitzen als auch die Standardwerte, die jedem körperlich gesunden Spieler zugeschrieben wurden.
Da er sowieso noch zwei Wochen auf Level 0 verweilen musste, hatte er auch genügend Zeit zu trainieren. Er hatte sogar schon überlegt, nachdem Tutorial I abgeschlossen war, es für eine Bezahlung mit anderer Waffe erneut zu beginnen.
Auf diese Weise konnte er seine Attribute kontinuierlich verbessern, während er darauf wartete das Tutorial V endlich endete.
Sollte er dann eines Tages einem, vom Level her, höheren Spieler begegnen, hätte er immer noch Chancen diesen zu besiegen, sofern ihre Attributwerte nicht zu sehr voneinander abwichen. Das Level war nicht alles.
Und schlussendlich hatte er mit dem Tutorial IV seine Nahrungsquelle decken können. Wasser konnte man für die nächste Zeit schlicht weg aus einem Bach oder See trinken.
Die wichtigsten Dinge waren so für den Anfang endlich geregelt.
Nur, indem er mehrere Dinge gleichzeitig vollbrachte, hatte er die Chance den großen Vorsprung anderer Gamer einzuholen.
Ein paar Minuten später kam Bahe endlich an den Wiesen der Wildwurzelkaninchen an und schaute sich um.
Nicht weit entfernt tollten seine Elementare zwischen einigen Büschen umher.
Bahe musste grinsen, als er unwillkürlich an seine kleinen Geschwister dachte. Auf ihre kindliche Art ähnelten Limona und Brocken ihnen schon sehr.
Zügigen Schrittes ging er auf sie zu und wollte zu sprechen ansetzen, als Limona ihm mal wieder zuvor kam.
„Da bist du ja endlich!“, Schimpfte sie regelrecht. „Hast du eigentlich eine Ahnung wie lange wir gewartet haben?!“
„Ähm… Ja, ziemlich genau“, sagte Bahe belustigt.
„Du… du…“, stotterte Limona vor plötzlich aufbrodelnder Wut.
„Auch jetzt lass gut sein, Limona“, unterbrach Bahe sie ungeduldig. „Oder wolltest du nicht mehr von der umliegenden Gegend sehen?“
„Ja, wir wollten… mehr… sehen“, mischte sich Brocken ein.
„Brocken!“, rief Limona aufgebracht.
Doch Bahe ließ sie diesmal nicht weiter zu Wort kommen.
„Ich habe versprochen, euch umher zu führen und ich halte mein Wort. Können wir sofort los?“
„Ja!“, rief Brocken freudig.
„Brocken!“, knirschte Limona zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor.
„Limona, du kannst dich gerne weiter aufregen… oder du kommst mit und genießt die Natur“, sagte Bahe mit bedeutungsschwerer Pause. Danach wandte er sich zum Gehen und Brocken folgte ihm.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er noch, wie Limona genervt eine Grimasse zog und vor Wut mit den Füßen auf dem Boden stapfte, ehe sie über ihren Schatten sprang und ihnen letztlich nachlief.
Bahe schüttelte erleichtert den Kopf. Scheinbar hatte seine Methode funktioniert. Er war sich nicht sicher gewesen, ob Limona ihm wirklich folgen würde. Dauerhaft beschworener Elementar hin oder her.
Die Loyalität von 1/100 machte ihm wirklich zu schaffen.
Aber vielleicht würde sich dies bald ändern. Limona war ein Wasserelementar, was lag da näher, um ihre Loyalität ihm gegenüber zu steigern als ein besonders reines und mystisches Gewässer?
Bahe war der Überzeugung, dass ihm der Katharsee erneut von Nutzen sein konnte.
Da er den Weg bereits zum dritten Mal beschritt, fiel es ihm schon wesentlich leichter den Weg auszumachen, auch, wenn es keine Wege zur Orientierung gab.
Ein wirkliches Problem war Limona. Sie brabbelte einfach unterbrochen in einer Lautstärke, dass es Bahe inzwischen schon verwunderte, noch nicht auf irgendwelche gefährlichen Kreaturen gestoßen zu sein.
„Mal ganz ehrlich, Brocken. Guck ihn dir doch an“, rief Limona schnell. „Ein gebrechlicher, kleiner Wicht, soll unser Seelenbund sein.“
„Das hast… du… schon mal gesagt“, antwortete Brocken.
„Aber es ist doch wahr!“
„Wenn du meinst…“
„Brocken!“
„Ja…?“
„Grrr…“
„Könntest du nicht einfach mal den Mund halten, Limona?!“, zischte Bahe verzweifelt. „Wir sind hier in einem ziemlich gefährlichen Gebiet. Sobald uns irgendeine der hiesigen Kreaturen bemerkt, sind wir nichts anderes als Frischfleisch.“
„Siehst du, was ich meine?!“, wandte sich Limona, Augen verdrehend, an Brocken.
„Du könntest es ihm auch sagen…“, erklärte Brocken.
„Wieso sollte ich? Hmpf!“
„Moment mal…“, mischte sich Bahe ein und schaute seine Elementare mit zusammen gekniffenen Augen an. „Was genau meint ihr damit? Was verheimlicht ihr mir?“
„Komm schon… sag es ihm… Limona. Sonst… mache ich es“, brummte Brocken.
„Du bist ein Spielverderber, weißt du das? Wieso muss ich immer von solchen Idioten umgeben sein…“
„Limona, wovon weiß ich nichts?“, fragte Bahe Zähne knirschend.
„Es werden keine Kreaturen in unsere Nähe kommen“, sagte sie schlicht.
„Wieso nicht?“, fragte Bahe verwirrt.
„Sie trauen sich nicht.“
„…“, Bahe war sprachlos, ob ihrer knappen Antworten. „Kannst du das nicht mal etwas ausführlicher erklären? Wieso trauen sich die gefährlichen Kreaturen dieses Waldes nicht in unsere Nähe?“
„Du bist wirklich schwer von Begriff, was?“, fragte Limona hochnäsig, worauf Bahe sich bemühen musste, seine aufkeimende Wut unter Kontrolle zu halten. „Um es genau zu formulieren, fürchten sich die Kreaturen nicht vor uns, sondern von etwas, dass noch immer an dir ist.“
„Und was wäre das?“, fragte Bahe mit einem gefährlich zuckenden Lächeln.
„Ein Geruch.“
Hä? Bahe verstand immer noch nichts. Soweit er wusste, stank er nicht, was ganz davon abgesehen, sowieso kein Grund für entsprechende Monstrositäten gewesen wäre, von seinem Fleisch abzulassen.
Doch Limona fuhr bereits fort: „An dir haftet noch immer ein Geruch nach Drachen.“
Jetzt dämmerte es Bahe…
„Ich habe keine Ahnung, wie du eine Begegnung mit zwei Drachen überleben konntest, aber der Geruch lässt keinen Trugschluss zu. Du hattest scheinbar ziemlich engen Kontakt mit diesen Wesen.“
Engen Kontakt?
So konnte man es wohl auch auslegen…
Nur, leider hatte er die Begegnung nicht überlebt…
„Dein einfältiges Menschendasein kann den Geruch wohl kaum wahrnehmen. Aber die Kreaturen des Waldes können es. Solange sie diesen Geruch an dir auch nur erahnen, werden sie dir alle aus dem Weg gehen wollen“, erklärte Limona bedeutungsschwer. „Hast du wirklich geglaubt, dass du sonst einfach so durch diese Wälder wandern könntest? Weit erfahrenere Leute als du, würden sich normaler Weise noch nicht mal in die Nähe dieser Wälder wagen. Dafür sind die Kreaturen hier viel zu mächtig.“
Langsam bekam vieles einen Sinn. Bahe hatte sich schon gefragt, wieso die Wälder oberhalb Waldenstadts so verschrien waren. Er selbst hatte schließlich noch nie Probleme beim Durchqueren gehabt. Aber wenn es stimmte, was ihm Limona sagte, hatte er unglaubliches Glück gehabt…
Soweit er von seinen Online-Quellen wusste, waren Kreaturen hier im Schnitt ab Level 30 aufwärts angesiedelt. Eine Auseinandersetzung mit ihnen hätte seinen sicheren Tod bedeutet.
„Verstehst du jetzt, wieso wir uns durchaus unterhalten können?“
Bahe nickte nachdenklich.
„Ihr wusstet also die ganze Zeit Bescheid?“, fragte er schließlich.
„Ja“, antwortete Brocken schlicht.
„Und ihr habt mich lieber in dem Glauben gelassen, dass wir durch den Wald schleichen müssen, um diesen Kreaturen zu entgehen?“
Während verhalten Brocken anfing zu kichern, prustete Limona los und konnte sich vor Lachen kaum noch halten.
Bahe Mundwinkel zuckte verdächtig in seinem Bemühen ruhig zu bleiben.
„Hast du denn wirklich geglaubt, dass du solch mächtigen Kreaturen durch ein Bisschen hin und her schleichen, einfach so aus dem Weg gehen kannst?“, fragte Limona immer noch kichernd. „Die können dich doch schon mindestens aus einem Kilometer Entfernung wahrnehmen, ganz zu schweigen davon, dass dein Getrampel nicht gerade als Schleichen zu bezeichnen ist!“
Limona lachte erneut schallend los.
Bahe schluckte seine aufgestaute Wut derweil runter und versuchte sachlich zu bleiben: „Aber wieso haben sie mich dann nicht angegriffen, als ich das erste Mal in diese Wälder gerannt bin? Damals war ich den Drachen noch nicht begegnet…“
„Wieso warst du denn so blöd in dieses Gebiet zu laufen?“, fragte Limona irritiert.
„Nun ja, ich wurde von einer Vielzahl von anderen Monstrositäten verfolgt und mir blieb nichts anderes über…“, wich Bahe Limonas Frage zum Teil aus.
„Meinst du etwa… die Wildwurzelkaninchen?“, fragte Brocken kichernd.
„Äh…“, als Bahe nicht wusste wie er darauf antworten sollte, lachte auch Limona los.
„Das erklärt es“, rief Limona nach Atem ringend. „Die meisten mächtigen Kreaturen betrachten es unter ihrer Würde, die Beute von Tieren zu stehlen, die soweit unter ihnen in der Nahrungskette stehen.“
Danach fing sie erneut an zu Lachen. Selbst Brocken war immer noch am Kichern, was Bahes Laune nicht wirklich verbesserte.
Aber zumindest hatte seine Elementare ihm gerade einige Fragen beantwortet, die er die ganze Zeit mich sich geschleppt hatte. Es hatte ihn nämlich gewundert, dass er doch tatsächlich der erste Spieler war, der den Katharsee gefunden hatte.
Gut, er hatte bereits gewusst, dass die Kreaturen in den Wäldern nördlich von Waldenstadt ganz schlechte Beute abgaben, da man von ihnen wohl kaum Artefakte oder besondere Ausrüstungsgegenstände bekam und sich der Aufwand daher nicht lohnte.
Aber normalerweise wurden selbst solch unwirtschaftliche und gefährliche Gebiete von dem ein oder anderen Experten aufgesucht.
Soweit er wusste, hatte es tatsächlich einen Spieler gegeben, der bis zur Drachenschlucht gekommen war und dort umdrehen musste, weil er damals keinen Weg besessen hatte, die Schlucht zu überqueren. Im Zusammenhang mit der schlechten Beute und dem scheinbar hohem Schwierigkeitsgrad hatten sich die Spieler wohl wirklich hauptsächlich den anderen Himmelsrichtung zugewandt und waren nicht weiter nach Norden vorgedrungen.
Letztlich löste er sich aus seinen Gedanken und wandte sich ein letztes Mal an seine Elementare: „Nun, da ich anscheinend immer noch nach Drachen rieche, sollten wir die Zeit lieber nutzen, anstatt hier rum zu stehen. Folgt mir.“
Damit drehte Bahe sich um und lief im regelrechten Laufschritt zum Katharsee.
Nach zwanzig Minuten kam Bahe oben an den Erhöhungen an, die zum See hinunter führten. Limona und Brocken trafen kaum einen Moment später auch ein.
„Ein Katharsee!“, rief Limona aufgeregt und selbst Brocken schaute verblüfft aus dem Häuschen.
Bahe grinste und wollte schon stolz zu einer Erwiderung ansetzen, als Limona sich kreischend hinab stürtze.
„Los, wir müssen da runter!“, schrie sie dabei aus Leibeskräften und ehe Bahe sich versah, wurde er von Brocken unsanft nach vorne gestoßen.
Vollkommen entsetzt, ruderte Bahe mit den Armen und fing sich halbwegs in der Luft, bevor er unsanft auf dem schrägen Boden landete der zum See hinunter führte.
Mehr stolpernd als rennend, schaffte er es schließlich auf den Beinen zu bleiben und keuchend auf dem weichen Rasen vor dem See zum Stehen.
„Was zum…“, wollte er seiner Wut schon lauthals Luft verschaffen, als ein zorniges Brüllen durch die Umgebung hallte.
Entsetzt riss Bahe seinen Kopf herum und entdeckte keine fünfzehn Meter von ihm entfernt eine neue Wächterkreatur des Katharsees, die in voller Geschwindigkeit heran stürmte.
„Oh, nein…“
Bahes Gedanken überschlugen sich in der Hoffnung einen Ausweg zu finden.
Im See würde er seine Berufsklasse verlieren, der Fluchtweg war ihm versperrt.
Den Hügel hinauf?
Das Monster hätte ihn eingeholt, ehe er oben angekommen wäre…
Was blieb noch? Dem ersten Hieb ausweichen und im Zick-Zack durch die Büsche das Weite suchen?
Er hatte bei seiner letzten Flucht so unglaublich viel Glück gehabt und zudem war der Vorsprung viel größer gewesen. Inzwischen trennten ihn und die Kreatur nur noch wenige Meter…
Bahe glaubte nicht mehr an ein Entkommen.
Die Pranken der Wächterkreatur fielen donnernd auf den Waldboden, während Bahe sich darauf vorbereitete, jeden Moment zerfleischt zu werden.
Noch drei Meter…
Zwei…
Bahe schloss die Augen und erwartete das Unvermeidliche…
„Stop!“, zerriss ein Schrei die gefährliche Atmosphäre und brachte alles zum Stillstand.
Es passierte... nichts.
Bahe hielt jedoch noch immer den Atem an.
Nach einem weiteren kleinen Moment öffnete er vorsichtig die Augen und erstarrte.
Keinen Schritt vor ihm stand Limona und hatte sich vor der merkwürdig drein blickenden Kreatur groß aufgebaut.
Das wolfsähnliche Geschöpf hatte wohl gerade zum Sprung auf ihn ansetzen wollen, als es von Limona überrascht wurde. Welche sich Aufmerksamkeit heischend dazwischen geworfen hatte.
Mittlerweile standen sie sich Auge in Auge gegenüber und die Kreatur schien unschlüssig zu sein, wie sie weiter vorgehen sollte.
„So ist es gut“, meinte Limona und zeigte auf Bahe und erklärte weiter. „Nur, damit das klar ist. Du wirst ihn nicht anrühren. Hast du mich verstanden?“
Die Wächterkreatur ließ sich in keinster Weise anmerken, dass sie vernommen hatte, was Limona von sich gegeben hatte und machte sich viel lieber daran an ihr vorbei zu kommen, um zu Bahe zu gelangen.
Doch das wollte Limona sich offensichtlich nicht gefallen lassen. Mit der rechten Hand, fasste sie die Kreatur an ihrem Horn auf der Stirn und zog es mit einem Ruck zu sich heran.
„Schau mich gefälligst an, wenn ich mir dir rede!“ rief Limona aufgebracht und brachte sich erneut vor der Kreatur in Stellung.
Die Wächterkreatur fing an zu knurren, was Limona dazu veranlasste dem Wesen sofort einen Klaps gegen das Maul zu verpassen.
Sichtlich schockiert und den Kopf zurück ziehend, blickte die Kreatur Limona ungläubig an. Während Bahe nicht weniger überrascht dreinschaute. Er wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte, Limonas plötzlicher Tatendrang oder das merkwürdige Verhalten der Wächterkreatur.
„Ich habe dir gesagt, dass du ihn nicht anrühren sollst, verstanden? Und wehe, du knurrst mich nochmal an. Weißt du eigentlich wer ich bin?“, machte sich Limona Luft.
„Setz dich da vorne hin“, sagte sie im Anschluss und zeigte auf ein Fleckchen Rasen drei Meter von ihnen entfernt.
Doch die Kreatur dachte gar nicht daran ihrer Aufforderung nachzukommen und wollte gerade erneut ansetzen an Limona vorbei zu kommen.
„Wag dich!“, sprach diese aber schon mit zusammen gepressten Zähnen ihre Warnung aus.
Was die Wächterkreatur veranlasste in ihrer Haltung zu verharren.
„Setz dich da vorne hin!“, wiederholte Limona ihre Anweisung bestimmt.
Bahe traute seinen Augen kaum, als die Kreatur tatsächlich Limonas Worte befolgte und den entsprechenden Rasenbereich aufsuchte.
Nur Hinsetzen wollte die Wächterkreatur sich offensichtlich nicht.
Doch Limona ließ nicht locker, zeigte mit einem Finger nach unten und rief: „Sitz!“
Widerwillig ließ sich die Kreatur nieder und blickte bösartig in Bahes Richtung.
Bahe ließ sich derweil mit einem Seufzen erleichtert auf den Hintern fallen. Er war heilfroh noch einmal mit seinem Leben davon gekommen zu sein.
Wieso Limona ohne seine Aufforderung geholfen hatte, war ihm im Moment auch völlig egal.
Die plötzliche Bewegung Bahes hatte die Wächterkreatur jedoch wieder aufspringen lassen. Sie begann erneut zu knurren und verlagerte sich in eine Angriffsstellung.
Limona ließ ihren Körper währenddessen zerfließen, floss die paar Meter in Windeseile hinüber und bildete ihren Körper vor der Schnauze des Wesens erneut aus.
Die Wächterkreatur war noch im Begriff große Augen zu kriegen, als Limona dem Maul der Kreatur den nächsten Schlag verpasste und die Kreatur anschrie, dass diese regelrecht zurück zuckte.
„Ich habe dir gesagt, du sollst dich hinsetzen! Wehe, du wagst es dich noch einmal von diesem Platz zu rühren, oder ich schwöre dir, du wirst es bereuen mir jemals begegnet zu sein! Haben wir uns verstanden?“
Die Kreatur verharrte geschockt an Ort und Stelle. Einzig das Knurren war dem Wesen scheinbar im Hals stecken geblieben.
„Ich habe gefragt, ob du mich verstanden hast…“, erklang Limonas Stimme Wut verzerrt.
Als Antwort ließ sich die Kreatur in eine liegende Position nieder und senkte den Blick.
„Dachte ich es mir doch“, rümpfte Limona genervt die Nase und wandte sich an Brocken. „Pass du auf, dass sie sitzen bleibt.“
„Mache ich“, antwortete Brocken, ging um Bahe herum und setzte sich zwischen ihn und die Wächterkreatur.
Limona grinste und rief freudig: „Ab ins Wasser!“
Danach lief sie zum Wasser und sprang mit einem Satz hinein.
Bahe saß währenddessen immer noch verdutzt am Boden. Er konnte die Geschehnisse noch nicht so ganz fassen.
Er atmete ein, zweimal tief durch, um sich zu beruhigen und überlegte dann, was gerade passiert war.
Wieso hörte die Wächterkreatur auf seine Elementare?
Das seine Elementare ein merkwürdiges Eigenleben hatten und wie wirkliche Persönlichkeiten agierten wusste er ja schon, aber er hatte noch nie darüber nachgedacht, wann und vor allem wie sie wirklich angreifen würden. Normalerweise musste ein Spieler selbst dafür sorgen, dass seine Kampfgefährten angriffen. Sie taten es nicht von selbst. Andererseits würde sowas nicht mit den Persönlichkeiten seiner Elementare zusammen passen. Und konnte man überhaupt von einem Angriff sprechen, wenn sie nur mit der Kreatur gesprochen hatte?
Wohl eher nicht… Das alles verwirrte Bahe nur noch mehr.
Er schaute Limona an und murmelte: „Überprüfen!“
Limona
Wasserelementar Level 0
Affinität mit dem Element Wasser: 100%
Rang: Legendär! Treue: 1/100
Angriff: 200 Verteidigung: 200
Gesundheit: 500 HP Energie / Mana: 1000/1000
Intelligenz: menschlich
Verfügbare Wasserfähigkeiten:
Noch unbekannt
Weitere Charakterinformationen:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Spezialisierung auf das Element Wasser
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Keine Zauber anderer Elemente möglich!
An Limonas Charakterprofil hatte sich nichts verändert… Sie war immer noch Level 0.
Hier stand er auch direkt von dem nächsten Problem… wie verhalf er eigentlich seinen Elementaren zu einem höheren Level?
Fragen über Fragen…
„Überprüfen!“, sagte er diesmal Brocken anschauend.
Brocken
Erdelementar Level 0
Affinität mit dem Element Erde: 100%
Rang: Legendär! Treue: 2/100
Angriff: 100 Verteidigung: 500
Gesundheit: 1000 HP Energie / Mana: 1000/1000
Intelligenz: menschlich
Verfügbare Erdfähigkeiten:
Noch unbekannt
Weitere Charakterinformationen:
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Spezialisierung auf das Element Erde
-- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Keine Zauber anderer Elemente möglich!
Auch hier gab es nichts Neues, wenn man mal von dem minimal gesteigerten Treuewert absah. Sein Einsatz mit dem Wildwurzelkaninchen hatte nichts gebracht… Andererseits hatte Brocken die Viecher ja auch nicht getötet.
Es gab die verschiedensten Systeme, wie Kampfgefährten an Erfahrung gewannen. Sie konnten selbst kämpfen oder halfen in Auseinandersetzungen aus. Entweder bekamen sie auf diese Weise Erfahrung oder der Spieler teilte sogar die eigene Erfahrung auf seine Kampfgefährten auf.
Aber er bekam rein gar keine Informationen darüber, wie er vorgehen sollte… Wie zum Henker, soll man in so einem Spiel erfolgreich sein?!
Bahe schüttelte abwesend den Kopf… Er musste unbedingt rauskriegen, wie mit seinen Elementaren umzugehen hatte. Seine nächste Online-Recherche würde auf jeden Fall damit zu tun haben.
Ein leichtes Grollen schreckte ihn aus seinen Gedanken und ließ seinen Blick blitzschnell zur Wächterkreatur wandern.
Sie hatte ihren Kopf im Liegen an Brocken vorbei geneigt und knurrte Bahe feindselig an.
Als Brocken den Blick auf sie richtete, zog sie ihren Kopf schnell wieder zurück und stellte das Grollen ein.
Anschließend sah Bahe, wie Brocken seine Aufmerksamkeit wieder einigen Grashalmen vor sich widmete und prompt lugte die Kreatur erneut an Brocken vorbei und knurrte Bahe an.
Brockens Blick flog erneut zu der Kreatur, welche sich sofort wieder unschuldig gab, bevor er sich abermals seinen Grashalmen zuwandte.
Während Bahe am Anfang noch nervös war, musste er wenig später grinsen, als sich dieser Vorgang noch mehrere Male wiederholte.
Der Wächterkreatur war er offensichtlich ein Dorn im Auge, aber im Beisein seiner Elementare traute sie sich nicht, sich vom Fleck zu rühren.
Irgendwie sah die Kreatur sogar seltsam niedlich aus, als sie sich so verhielt. Vielleicht sollte er aber lieber nicht so denken. Raubtiere in der realen Welt mochten durchaus auch so niedlich wirken, bis sie zu dem Schluss kamen, dass man die perfekte Beute darstellte.
Bahe schaute auf den See und sah Limona noch immer vor Freude jauchzend durch das Wasser schwimmen. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus.
Mal kindlich, mal geheimnisvoll, mal Nerv tötend… eine seltsame Mischung von Charaktereigenschaften.
Nun, er war am Katharsee. Jetzt hieß es abzuwarten. Entweder würde sich die Umgebung auf die Loyalität seiner Elementare auswirken oder nicht. Da direkt zu Beginn noch nichts passiert war, würde es entweder noch Zeit brauchen oder ihre Anwesenheit hier war nutzlos.
So oder so, daran konnte er jetzt nichts mehr ändern.
Da er aber noch etwa vierzig Minuten Spielzeit über hatte, entschloss er sich diese besser zu nutzen und ein paar andere unerledigte Dinge anzugehen.
Zunächst war da die Schriftrolle mit dem Zauber, der es Spielern ermöglichen sollte, sich mit Freunden zu unterhalten. Laut Feiying sollte ein einfaches Vorlesen zum Erlernen reichen.
Bahe hoffte inständig, dass er sich nicht irrte. Sonst würde er wahrscheinlich warten müssen, bis er sich mit Magie auskannte. Was gelinde gesagt… noch ewig dauern konnte…
Bahe entrollte die Schriftrolle und las mit zuckendem Mundwinkel den Text. Meinten die Spielentwickler das ernst?
Kopfschüttelnd begann er den ungewöhnlichen Text laut aufzusagen.
„Willkommen neues Spielerlein,
tritt herein und betrachte dein neues Heim.
Du willst mit deinen Schwestern und Brüdern reden können?
Raoie wird dir dies sehr gern gönnen.
Ein Mana pro Sekunde für jede Unterhaltung,
hab Acht vor der plötzlichen Unterbrechung bei Nichteinhaltung.
Sei gewarnt, denn Mana ist spärlich,
Worte jedoch manchmal unentbehrlich.“
Zu Bahes Erstaunen erstrahlte die Schriftrolle plötzlich in einem weißen Licht und wurde so hell, dass er für einen kurzen Moment nicht mal mehr ihre Umrisse ausmachen konnte.
Dann nahm das Leuchten wieder ab und er stellte verblüfft fest, dass die Schriftrolle verschwunden war und vor ihm eine kleine, weiße Lichtkugel schwebte.
Eine Weile bewunderte er die Schönheit des Lichtes, bis er wieder an die Schriftrolle dachte und überlegte, was er als nächstes zu tun hatte.
Vorsichtig führte er schließlich seine rechte Hand unter die Lichtkugel und merkte wenig später, dass sie tatsächlich nicht nur aus Licht bestand. Seine Hand stieß gegen einen Widerstand!
Vollkommen perplex wollte er seine Hand schon wieder wegnehmen, als die leuchtende Kugel plötzlich blitzschnell mit seiner Hand verschmolz.
Verblüfft hielt er inne und prompt klappte ein Benachrichtigungsfenster auf:
Dir wurde eine neue Funktion in deinem Charakterprofil freigeschaltet:
Chat
Akitivierungskosten: 1 Mana pro Sekunde
Beschreibung: Du hast eine spezielle magische Schriftrolle aktiviert und erfolgreich nutzen können. Ab sofort bist du in der Lage dich mit Freunden auch über große Entfernungen zu unterhalten.
Gib das Kommando: Chat + den vollständigen Avatarnamen der/s Freundin/es + Beginnen, um eine Verbindung aufzubauen.
Gib das Kommando: Chat + den Vornamen des Avatars der/s Freundin/es + Beenden, um eine Verbindung abzubrechen.
Gib das Kommando: Chat + Gruppe + Namen der Teilnehmer + Beginnen, um eine Verbindung mit mehreren Freunden aufzubauen.
Gib das Kommando: Chat + Annehmen, um eine Chatanfrage zu bestätigen.
Gib das Kommando: Chat + Name + Annehmen, um eine bestimmte Chatanfrage von mehreren möglichen Chatanfragen anzunehmen.
Gib das Kommando: Chat + Ignorieren, um eine Chatanfrage nicht anzunehmen.
Gib das Kommando: Chat + Name + Ignorieren, um eine bestimmte Chatanfrage von mehreren möglichen Chatanfragen nicht anzunehmen.
Freude strahlend schloss Bahe das Fenster und wollte schon das Kommando rufen, als ihm einfiel, dass er noch gar nicht den Avatarnamen von Feiying kannte…
Leicht genervt fasste Bahe sich an den Kopf und beschloss es Morgen direkt als erstes in Erfahrung zu bringen.
Da er in dieser Hinsicht nicht weiter kommen würde, beschloss er kurzerhand sich der anderen Problematik zu widmen. Er musste unbedingt lernen, wie man Magie einsetzen konnte. Nicht die fertigen Konstrukte, wie die Schriftrolle vielleicht eins gewesen war, sondern wie man Magie mit Gedankenkraft lenkte.
Es wurmte ihn tierisch, dass sein Meister ihm im Grunde nichts verraten hatte. Er musste meditieren und sollte seine Energie erspüren, so viel wusste er. Das war es aber auch schon.
Gut, sein Meister hatte noch Wert darauf gelegt, dass er Mana als Energie sah, aber wirklich mehr war nicht dabei heraus gekommen.
Mürrisch begab er sich in eine aufrechte Sitzposition, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Damit war sein Wissen zur Meditation auch schon erschöpft. Noch eine Sache, zu der er sich Morgen schlau machen würde, dachte er für sich und atmete ein paar weitere Male tief ein und aus.
Es tat sich jedoch nichts.
Machte er etwas falsch?
Nein, wohl eher nicht. Ilias hatte ihm gesagt, dass es wohl sehr lange dauern würde. Entschlossen blieb Bahe die letzten Minuten seiner Spielzeit so sitzen und lauschte seinem eigenen Atem.
Kurz vor dem Ende seiner Spielzeit öffnete er enttäuscht die Augen und schaute ein letztes Mal zu seinen Elementaren hinüber. Sie waren immer noch beide auf ihre Weise beschäftigt und beachteten ihn nicht weiter.
Was wohl passieren würde, wenn er sich wieder einloggte?
Es war das erste Mal, dass er sich beim Ausloggen außerhalb der Stadt aufhielt. Normaler Weise sollte man am gleichen Standort wieder materialisiert werden. Außer man befand sich in potenzieller Lebensgefahr, dann wurde der nächste sichere Standort für die Materialisation ausgewählt.
Bahe war sich nicht sicher, ob die Anwesenheit der Wächterkreatur als gefährlich eingestuft werden würde. Aber egal, Morgen würde er es eh erfahren.
Mit einem kurzen Befehl bestätigte er den Prozess des Ausloggens und die Welt um ihn herum wurde schwarz.
Bahes Tag begann im inzwischen gewohnten Trott. Gemütlich wach werden, anschließend herzhaft frühstücken bis er papp satt war, sich frisch machen und letzten Endes der Weg zum Chin-Anwesen.
Die Anfahrt per U-Bahn verlief wie im Flug, da er sich mit seinem Smartphone heute eifrig der Online-Recherche widmete.
Was ihn allerdings wurmte, war die Tatsache, dass sämtliche Erfahrungsberichte über Pets und andersartige Kampfgefährten nur äußerst oberflächlich waren.
Es schien bisher kaum Spieler mit solcherlei Kreaturen zu geben. Entsprechend waren es meist Vermutungen zum Thema, die ihm überhaupt nicht weiter halfen.
Wahrscheinlich war eine beträchtliche Dunkelziffer an Spielern mit Kampfgefährten durchaus vorhanden, aber zum momentanen Spielstand war es wohl noch zu sehr die Ausnahme, weshalb die Meisten es für sich behielten. Welcher Spieler liebte schließlich keine Geheimnisse?
So hatte Bahe nur einen wirklich brauchbaren Bericht gelesen, der sich allerdings um eine wolfsähnliche Kreatur drehte, die dem Besitzer nach umfangreicher Interaktion folgte.
Ganz zu schweigen, dass der Auslösungsprozess nahezu unmöglich war nachzuahmen, besaß das Geschöpf auch keine menschliche Intelligenz, was die wenigen Hinweise zur Interaktion wieder unbrauchbar machte.
Zuneigung zeigen… das war so ziemlich der einzige Punkt gewesen, der sich mit Bahes Erfahrungen deckte, ihn aber an dieser Stelle auch nicht weiter brachte.
Die U-Bahn hielt in diesem Moment und Bahe musste seine Recherche vorübergehend unterbrechen.
So schnell er konnte, hechtete Bahe die Treppen hinauf und kam oben keuchend zum Stehen. Hier hatte er eine Möglichkeit gesehen schon mal ein Bisschen zu trainieren, bis er jemanden fand der ihn wirklich anleitete. So versuchte er stets jegliche Treppenstufen, denen er begegnete, im Laufschritt zu absolvieren. Nun, was sollte er sagen? Es verdammt viel schwerer als es sich anhörte.
Zumal er sich auch noch Kräfte für sein abendliches Lauftraining aufsparen musste.
Nachdem Bahe zu Atem gekommen war, legte er das letzte Stück zum Chin-Anwesen zügigen Schrittes zurück.
Wie in den letzten Tagen auch, wurde er unter Gelächter ein weiteres Mal eingelassen. Bahe versuchte es jedoch zu ignorieren. Wenn er diese Situationen an sich heran lassen würde, wäre es mit seiner Motivation dahin, hatte er sich gesagt.
Mit einem Seufzen ließ er sich auf sein Kissen nieder und starrte eine Weile auf die Tür, ehe er schließlich wieder sein Smartphone heraus holte und seine Online-Recherche zu den verschiedensten Sachverhalten voran trieb.
Spezielles Augenmerk legte er diesmal auf die richtige Arte der Meditation. Es gab eine Vielzahl verschiedener Meditationsarten und entsprechender Techniken, was es schwer machte sie in irgendeiner Form einzuteilen.
Die einzige Möglichkeit die er letztlich fand, bestand darin, Meditieren als körperlich passiven oder körperlich aktiven Prozess zu sehen. Dieser Gedanke bezog sich rein auf die von außen wahrnehmbare Form und keineswegs auf die genaue körperliche Beteiligung. Gerade das Meditieren im Stillsitzen, wurde von vielen als die absolute Königsdisziplin gesehen.
Die Andere Variante bezog sich mehr darauf, dass man spezielle Bewegungen ausführte, besondere Aufmerksamkeit auf jede aktive Handlung lenkte oder verschiedene Mantras rezitierte, um seine Konzentration zu erhöhen und das Bewusstsein mehr auf sich selbst zu lenken.
Zumindest schien er im Hinblick auf die erste Variante schon mal alles richtig gemacht zu haben. Stillsitzen, Klappe halten und tief ein und aus atmen. Nicht schwer, oder?
Am besten sogar noch dem ein oder anderen Action-Streifen nachempfunden und dabei unter einem eiskalten Wasserfall sitzen... Wer hatte nicht solche Bilder im Kopf, wenn er an Meditation dachte?
Wenn es doch bloß so einfach wäre…
Bahe verstand nun wirklich nicht, wie es irgendwer Stunden lang auf einer Stelle, ohne eine körperliche Regung, aushalten konnte. Ganz zu schweigen davon, dass ihm ohne sein Smartphone sterbenslangweilig wäre, war dieses Knien vor der Tür der Chins verdammt anstrengend.
Ihm taten jedes Mal die Knochen danach weh. Bahe konnte sich das ewige Stillsitzen so mancher Yogis nur damit erklären, dass man sich wohl an alles gewöhnte.
Aber mehrere Stunden zum freien Vergnügen so sitzen? Das war nicht wirklich seine Welt. Doch jetzt stand er vor dem Problem, genau dies im Spiel umsetzen zu müssen.
Bahe musste zugeben, dass ihm die andere Variante, in der man sich bewegte, wie beispielsweise Tai Chi oder das Aufsagen von Mantras auch nicht so viel mehr zusagte.
Hauptsächlich suchte er gerade eine Methode, die er auch hier vor dem Chin-Anwesen schon mal üben konnte. Aber sich vorzustellen, hier zu sitzen und immer wieder im Singsang das Mantra Om Shanti vorzutragen…
Nee, das war wirklich nicht seins.
Und von Tai Chi verstand er nichts. Ursprünglich war er sehr daran interessiert gewesen, kursierten doch die interessantesten Bezüge zu früheren Kampftechniken. Doch überall wurde einem zu verstehen gegeben, dass es genau festgelegte Bewegungsabfolgen gab, die so und nicht anders ausgeführt werden sollten…
War ja klar, wenn du dich schon in Zeitlupe bewegst, dann aber auch so, wie es dir die Obergurus vorschreiben, sonst geht ja die Wirkung verloren…
Idiotische Obermacker gab es überall.
Und das bewusste Handeln? Irgendwie kam er sich mehr als belämmert vor, wenn er sich besonders darauf konzentrierte wie er seine Finger beim Bedienen seines Smartphone bewegte.
Es war ja nicht so, dass Bahe sich bewusst gegen diese Methoden sträubte. Vielleicht musste er auch einfach Geduld mit sich haben und es über einen gewissen Zeitraum üben.
Dennoch, bisher gefiel ihm die Methode des Stillsitzens am besten.
Nun, soweit er gelesen hatte, sollte das stille Sitzen ja sogar die Rückenmuskulatur stärken, also worauf wartete er noch?
Bahe steckte sein Smartphone weg, brachte sich kniend in eine aufrechte Sitzposition und schloss die Augen.
Im Anschluss atmete er tief ein und aus und achtete auch darauf möglichst langsam und gleichmäßig zu atmen. So vergingen die nächsten Augenblicke und als Bahe sich sicher war zehn Minuten geschafft zu haben, öffnete er mit einem Lächeln die Augen.
Vielleicht würde er sich ja doch daran gewöhnen können, dachte Bahe.
Schnell holte er sein Smartphone heraus, um den geschafften Zeitraum zu überprüfen, musste beim Anblick des Bildschirms dann jedoch mürrisch die Miene verziehen.
Zwei Minuten… nicht Zehn…
Na, super… ihm waren zwei lächerliche Minuten wie Zehn vorgekommen. Bahe schüttelte resigniert den Kopf.
Scheinbar blieb ihm nichts anderes über als die Stoppuhrfunktion seines Smartphones zu nutzen, um die Zehn-Minuten-Marke zu knacken.
Kleine Schritte, ermahnte er sich, ob seines aufgewühlten Gemütszustandes. Gerade Anfänger wurde empfohlen, mit kurzen Zeiträumen zu beginnen. Zehn Minuten waren da schon enorm, aber er hatte ja die Zeit. Wenn er die nicht mit Übern verbrachte, womit sonst?
Entschlossen ließ er schließlich erneut die Augen zu fallen und konzentrierte sich auf seine Atmung.
Üben, üben, üben… Was blieb ihm sonst schon übrig?
Nach und nach, kam Bahe in eine gewisse Routine und verbrachte die nächste Stunde nur noch damit die zehn Minuten durchzuhalten.
Es war tatsächlich schwerer als er zunächst angenommen hatte. Irgendetwas war immer. Entweder verkrampften seine Füße oder Beine, irgendetwas juckte ihn furchtbar oder seine Rückenmuskeln brannten vor Anstrengung regelrecht.
Wer davon sprach, das Meditation leicht wäre, hatte doch keine Ahnung! Für Anfänger war es die reinste Folter!
Genervt seufzte er und widmete sich dem nächsten Versuch.
Zehn Minuten bevor er zum Mittagessen nach Hause wollte, klingelte plötzlich sein altes Smartphone. Überrascht griff er in seinen Rucksack und wühlte am Boden eines kleinen Faches nach dem vibrierenden Ding.
Erstaunt darüber, dass seine Großmutter ihn anrief, äußerte er sich einen kleinen Moment später am Smartphone: „Ja?“
„…“
„Oma?“, fragte er nach, als er nichts hörte.
„…“, erneut blieb es zunächst still, bis er schließlich doch die zittrige Stimme seiner Großmutter vernahm. „…Bahe…“
„Was ist denn, Oma?“, fragte Bahe langsam nervös werdend, als er die ersten unterdrückten Schluchzer bemerkte.
„… Dein Großvater… hatte einen Herzinfarkt…“
Geschockt machte sich ein klammes Gefühl in seiner Magengrube breit. Fieberhaft suchte er nach Worten, doch seine Großmutter fuhr schon bestimmender fort: „Du musst bitte deine Geschwister abholen und kauft euch heute etwas zu essen, ja? Etwas Geld liegt in der Küche. Ich… ich muss jetzt sofort zum Krankenhaus.“
„Natürlich“, antwortete Bahe sofort. „Was ist passiert?“
„Ich weiß auch noch nicht mehr… Nur… na ja… er hatte heute Morgen einen Termin für den Verkauf eures Anwesens… Ich…“, schwere Schluchzer unterbrachen seine Großmutter am anderen Ende der Leitung für einen Moment. „Ich kann mir nur vorstellen, dass da irgendetwas schief gelaufen ist…“
„Oh, man…“, entfuhr es Bahe.
„Bahe, es tut mir Leid… ich kann jetzt nicht reden. Ich muss los. Bitte kümmere dich um deine kleinen Geschwister und kommt später zum Guangshou-Krankenhaus…“
„N… Natürlich mache ich das“, versicherte Bahe mit belegter Stimme schnell.
„Danke, Bahe. Bis später“, sagte seine Großmutter noch schnell und legte auf.
Für einen Moment vernahm Bahe nur das typische Piepen der unterbrochenen Leitung, ehe er halbwegs wieder zu sich kam und mit klammem Gefühl sein Smartphone im Rucksack unterbrachte.
Gedanklich war er aber weit weg.
Was war seinem Großvater nur zugestoßen? Wenn der Verkauf des Anwesens nicht bald über die Bühne ging, würde die Operation für seine Mutter zu spät sein…
War das der Auslöser gewesen? Gab es Probleme beim Verkauf?
Bahe konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sein Großvater, der sonst doch so gesundheitsbewusst lebte, plötzlich einen Herzinfarkt haben konnte… Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein…
Er schüttelte sich, um endlich zu Verstand zu kommen und raffte schnell seine Sachen zusammen. Ganz egal, was es war, er würde es nur heraus finden, wenn er vor Ort war.
Nachdem er alles eingepackt hatte, machte er sich eiligen Schrittes auf den Weg zum Kindergarten seiner Geschwister. Heute würde er sie mal eher abholen. Anschließend der Rückweg nach Hause, um das Geld zu holen und danach konnte er schon zum Krankenhaus. Etwas zu Mittagessen würde er sich mit seinen Geschwistern unterwegs holen. Die Kleinen würden sich darüber wahrscheinlich sowieso freuen.
Hektisch verließ endlich das Anwesen der Chins und wandte sich Richtung U-Bahn.
Zwei Stunden später erreichte er endlich mit seinen Geschwistern das Krankenhaus. Glücklicherweise hatte seine Großmutter ihm die wichtigsten Daten, wie den Gebäudetrakt, die Abteilung, den Gang und die Zimmernummer geschickt. Chinesische Krankenhäuser waren nicht wie die Deutschen. Es waren Gebäudekomplexe von monströsen Ausmaßen. Bei einer durchschnittlichen Behandlungszahl von elftausend Patienten pro Tag war das Guangshou-Krankenhaus schon eins der kleineren Exemplare.
Ohne die Informationen seiner Großmutter hätte er sich erst noch ins W-LAN des Krankenhauses einloggen müssen, um den Aufenthaltsort seiner Verwandten zu finden.
Bei einer so unglaublichen Anzahl an Patienten und der entsprechend noch viel größeren Anzahl an Verwandten, mussten die Krankenhäuser natürlich einen gigantischen Kraftakt hinsichtlich ihrer Organisation hinlegen. Schon seit Jahrzehnten war alles digitalisiert. Man checkte online ein, im Grunde bekam man auch nur noch so einen Termin. Es gab Beratungen mit den Ärzten über Videochats und selbst die Bezahlung lief offiziell vollkommen digitalisiert.
Natürlich gab es noch immer Schattenseiten. Bei der schieren Masse an Patienten und zugleich viel zu wenigen Ärzten, kam es immer wieder zu Engpässen bei der schnellen Behandlung, der hinsichtlich der digitalen Durchorganisierung eigentlich nichts im Wege gestanden hätte.
Auch heute noch, gab es nur zwei Möglichkeiten sich von der Menge abzuheben. Entweder man hatte einen enormen Status, weshalb man meistens eh nur in Privatkliniken oder zumindest von den Chefärzten behandelt wurde, oder man bestach die Ärzte.
Offiziell gab es sowas natürlich nicht. Vor allem war schon viel dagegen unternommen worden. Die Gehälter der Ärzte wurden gestärkt und auch transparentere, digitale Selektionsverfahren griffen viel mehr in die Reihenfolge der Behandlungen ein. Aber bei solchen Ausmaßen entstanden immer mal wieder Momente, wo man hier und dort offiziell ein paar Minuten länger behandeln musste, wodurch inoffiziell besonders ‚dringliche‘ Fälle vorgezogen werden konnten.
Trotzdem hatte sich das Gesundheitssystem Chinas aber schon grundsätzlich verbessert. Vor vierzig Jahren hatte man sogar noch vor der ersten Behandlung allein für die Aufnahme in das Dringlichkeitsverfahren des Krankenhauses bezahlen müssen. Hatte man gerade kein Geld parat, konnte man damals sofort wieder umdrehen.
In der Notaufnahme wurden nur die versicherten Fälle behandelt. Alle anderen notdürftig im Gang abgestellt, bis sich die Situation erledigt hatte.
Immerhin solche Problemfälle gab es inzwischen nicht mehr.
Bahe blickte noch ein letztes Mal auf sein Smartphone, um sich den Weg zu merken und steckte es in seine Hosentasche. Anschließend nahm er seine Geschwister lieber an die Hände, während er auf den Eingangsbereich zumarschierte. Er wollte sie in dem kommenden Chaos nicht verlieren.
Er blickte ein letztes Mal an dem riesigen Gebäudekomplex empor und konzentrierte sich dann auf die Richtung, die sie einschlagen mussten. Allein für den Weg, den sie nun vom Eingang bis zu ihren Großeltern zurücklegen mussten, würden sie wahrscheinlich noch mal dreißig Minuten unterwegs sein. Hastig beschleunigte er seine Schritte soweit es ging, ohne das seine Geschwister ins Stolpern gerieten.
Nach vierundzwanzig Minuten war es endlich soweit und Bahe kam zusammen mit seinen Geschwistern auf der passenden Station an.
„Sagt mir Bescheid, wenn ihr Oma seht, ok?", bat er seine Geschwister.
„Mache ich", sagte sein kleiner Bruder Leo Xiao, der sofort die Umgebung absuchte. Seine kleine Schwester, Liana Xue, nickte nur.
Die Beiden immer noch an den Händen führend, durchsuchte Bahe nach und nach die verschiedenen Gänge. Es war zwar nur eine Station, sie erstreckte sich aber über nahezu dreißig verschieden große Gänge und dass waren nur die Zimmer der Patienten. Hinzu kamen weitere Bereiche, die den Behandlungen vorbehalten waren und sich quer durch die Station zogen.
Einzig die Zimmernummer half ihnen sich mit der Zeit zurechtzufinden und so gelangten sie nach weiteren zehn Minuten endlich zum richtigen Bereich.
Unzählige Betten mit den Patienten verschiedenster Altersklassen säumten die Wände des Ganges und nur zu oft versperrten Menschentrauben von Verwandten den Weg, die entweder um Ärzte flehten oder ihrer Wut lauthals Luft verschafften, was dieses Krankenhaus denn für ein Saftladen wäre, dass man so lange warten musste.
„Da ist sie!", rief Leo Xiao plötzlich und zeigte mit seinem Arm nach vorne.
Bahe sah noch nichts. Es standen einfach zu viele Menschen im Weg.
Hastig beschleunigten die kleinen Zwillinge ihre Schritte und zogen Bahe förmlich im Zickzack hinter sich her, während sich dieser verzweifelt abmühte nicht ständig einen Ellenbogen oder eine Schulter der umstehenden Leuten zwischen die Rippen zu bekommen.
„Jetzt sehe ich sie auch!", rief Liana Xue im gleichen Moment, indem auch Bahe seine Großmutter entdeckte.
Sie sprach gerade mit einer Ärztin, wie es aussah und wirkte sichtlich angespannt.
Bahe ließ sich die letzten Schritte von seinen kleinen Geschwistern ziehen und hielt sie ein paar Meter vor ihrer Großmutter schließlich zurück.
„Wartet einen Moment, Oma spricht gerade mit der Ärztin, da sollten wir nicht stören."
„OK", kam von Leo Xiao.
„Geht's ihr nicht gut?", fragte derweil Liana Xue.
„Oma geht es gut, keine Sorge", versicherte Bahe schnell.
„Aber wieso sieht sie dann so traurig aus?"
„Nun, ich habe euch doch gesagt, dass Opa hier im Krankenhaus liegt. Sie macht sich Sorgen um ihn. Schon vergessen?"
„...", Liana Xue sah betreten zu Boden, ob der Peinlichkeit so etwas wichtiges nicht mehr im Kopf gehabt zu haben.
Bahe lächelte milde und schaute wieder zu seiner Großmutter, die sich gerade von der Ärztin löste und zu ihnen hinüber kam.
Lächelnd ließ sie sich vor den Zwillingen nieder und begrüßte sie: „Hallo meine Süßen, hat euer großer Bruder mit euch zu Mittag gegessen?"
„Ja!", rief Leo Xiao begeistert.
„Wir haben Hühnchen Kung Pao gegessen!", schloss sich Liana Xue an.
„Freut mich, dass ihr etwas Leckeres zum Mittagessen hattet", lächelte ihre Großmutter und sagte dann ganz ernsthaft: „Eurem Opa geht es schon wieder besser, aber er muss noch bis Morgen hier bleiben."
„Wieso, wenn es ihm schon wieder besser geht?", fragte Liana Xue.
„Bestimmt weil er die Krankenschwestern so hübsch findet", meinte Leo Xiao vollkommen ernst.
„Hä?", stieß Liana Xue verwirrt aus, während Bahe und seine Großmutter verblüfft die Augenbrauen hoch zogen.
„Ja, die Mutter von Ping hat zu Frau Xixi Tong gesagt, dass ihr Mann bestimmt nur deswegen solange im Krankenhaus bleiben will, weil er die Krankenschwestern so hübsch findet. Aber hier ist es doch so voll und man hat keine Spielsachen... Wer will schon hier bleiben? Kann also nur daran liegen", erklärte Leo Xiao vollkommen von sich überzeugt.
„Ah, das macht Sinn", nickte Liana Xue zustimmend.
Ihre Großmutter und Bahe mussten derweil trotz der angespannten Situation grinsen und sich mit Mühe ein Lachen verkneifen.
„Ihr dürft jetzt in Opas Zimmer, aber ihr müsst vorsichtig mit ihm sein, ok? Er darf sich nicht zu sehr aufregen oder muss im Bett liegen bleiben, verstanden?", erklärte ihre Großmutter schließlich und winkte sie dabei zur passenden Zimmertür ein paar Schritte weiter.
„Wieso muss er denn im Bett liegen, wenn er sich die Krankenschwestern anschauen will? So sieht er doch nur die, die ins Zimmer kommen?", fragte Leo Xiao verwirrt und seine Schwester sah genauso nachdenklich aus.
Bahe schüttelte nur den Kopf, während ihre Großmutter breit lächelte und ihnen sagte: „Das könnt ihr euren Opa nun selbst fragen, aber bitte seid vorsichtig mit ihm. Ab rein mit euch."
Daraufhin öffnete sie die Tür und Bahes kleine Geschwister rannten trotz aller Ermahnungen mit lautem Opa-Opa-Rufen zum Bett ihres Großvaters.
Bahe wollte das Theater schon unterbinden, als seine Großmutter ihn davon abhielt: „Lass sie ruhig. Das wird deinem Großvater schon nicht schaden und die Beiden haben es nötig ihre Gefühle ausdrücken zu können. Trotz der Situation mit eurer Mutter, ist ihr Verhalten bisher noch relativ normal. Ich möchte nicht, dass sich das ändert, sofern es möglich ist."
„Ist gut", stimmte Bahe zu und fragte anschließend zögerlich. „Wie... geht es ihm wirklich?"
Seine Großmutter blickte ihn an und zum ersten Mal in seinem Leben sah Bahe sichtliche Erschöpfung in ihren warmherzigen Zügen. Ihre sonst immer nach oben tendierenden Mundwinkel wirkten verkniffen und angespannt. Die Augen gerötet und ihr fast noch schwarzes Haar stand verstrubbelt zu den Seiten ab. Ihr ganzes Erscheinungsbild vermittelte die Anspannung, die sie über die letzten Stunden als auch Wochen wohl angesammelt hatte. Schließlich seufzte sie und straffte danach wieder die Schultern, ehe sie zu sprechen ansetzte.
„Ihm geht es wirklich den Umständen entsprechend gut", erklärte sie und schloss die Zimmertür hinter ihnen. „Er hatte wirklich ein Herzinfarkt, wobei die Ärzte der Meinung sind, dass es keine körperlichen Ursachen hatte. Euer Großvater ist ein sturer, aber den Göttern sei Dank, auch verdammt widerstandsfähiger Esel. Die Ärzte meinten, dass der Schaden an seinem Herzen wohl so gering ausgefallen ist, wie es überhaupt für ein Herzinfarkt möglich ist."
Bahes Magen entkrampfte sich bei den guten Nachrichten endlich ein wenig und er stieß ein erleichtertes Seufzen aus.
„Ist... etwas beim Verkauf des Hauses schief gegangen?", fragte er danach und blickte seine Großmutter an.
Sie nickte beklommen.
Und wenig später sah Bahe doch tatsächlich eine Träne über ihre Wangen laufen.
„Oma, was ist los?!", fragte Bahe panisch besorgt, als sich erneut ein klammes Gefühl in seiner Magengegend breit machte.
„Es... ist... nichts", meinte sie krampfhaft und wischte sich schnell die Träne weg. Kurz darauf lächelte sie wieder und murmelte: „Ich fange jetzt nicht auch noch an. Irgendjemand muss ja stark bleiben. War ja mal wieder klar, dass man sich auf diesen alten Trottel nicht verlassen kann."
„Aber du..."
„Lass gut sein. Wir werden das schon hinbekommen. Wir haben doch bisher alles geschafft", sagte sie, als ob sie es sich selbst einreden wollte.
„Was ist denn jetzt eigentlich passiert?", fragte Bahe schließlich, um das Thema zu wechseln.
„Frag das am besten gleich deinen Großvater, ich werde mir die Kleinen schnappen und in der Cafeteria nach etwas Vernünftigem zu trinken schauen."
„Na gut", nickte Bahe widerstrebend als seine Großmutter bereits auf das hinterste Bett zu ging, in dem Bahes Großvater lag und einem Ansturm von Fragen seiner Enkel ausgesetzt war.
Zwei Minuten später waren die Winzlinge mit ihrer Großmutter verschwunden und Bahe saß auf einem Stuhl neben dem Bett seines Großvaters, welcher ihn traurig anlächelte.
„Wie geht's dir?"
„Schon viel besser."
„..."
„..."
Schweigen.
Zumindest zwischen Bahe und seinem Großvater.
Die Verwandten des Patienten auf der anderen Zimmerseite ließen sich derweil lautstark über verschiedene Berichte des Senders PG aus, was die unangenehme Situation ein Wenig milderte.
„Was ist passiert, Opa?", fragte Bahe schließlich.
„...", Bahes Großvater setzte zu sprechen an, fand aber offensichtlich keine Worte und schwieg weiter.
„Gibt es Probleme mit dem Verkauf des Hauses?"
Beklommen nickte Bahes Großvater.
„Was ist los?", fragte Bahe verzweifelt. „Opa, du musst mit mir reden."
Ein weiteres Seufzen seines Großvaters verging, ehe dieser mit brüchiger Stimme zu sprechen begann: „Der Verkauf ist mehr oder weniger bereits vollzogen..."
„Und das ist offensichtlich nicht gut, weil...?"
„Weil wir viel zu wenig Geld bekommen, nur 500 000 Yuan..."
„Was?! Das reicht ja noch nicht mal für die Operation!", sagte Bahe entsetzt.
Sein Großvater nickte betrübt und fuhr fort: „Ich habe deinen Onkel Shang mit dem Verkauf des Hauses beauftragt, weil er sich damit besser auskennt... Erst hat es ewig gedauert, was mich schon gestört hat und letztlich hat dieser Mistkerl es an diesen miesen Kredithai Mai Ping Lun zu einem Spottpreis verkauft!"
Entsetzt starrte er seien Großvater an, der sich gerade weiter in Rage reden wollte als Bahe ihm zuvor kam und ihn vorsichtshalber erst mal beschwichtigte: „Opa, du darfst dich nicht so aufregen! Wir können da auch in Ruhe drüber reden."
„Hmpf, ich weiß nicht wie das gehen soll", meinte sein Opa abschätzig, zwang sich aber trotzdem dazu zunächst erst mal tief durchzuatmen.
„Ich hätte mir nie träumen lassen, dass uns Shang so hintergeht... Nicht nur, dass wir nicht das Geld bekommen, was uns zusteht, er treibt auch noch Handel mit dem Ursprung allen Übels! Wahrscheinlich sackt er selbst noch einen stattlichen Betrag ein, nur damit Mai Ping Lun es für ein Vielfaches weiterverkaufen kann... Es tut mir so Leid, Bahe... Ich bin so nutzlos...", ein Schluchzen unterdrückend, fuhr sich sein Großvater mit den Händen über sein Gesicht.
„Diesen Bastard werde ich nicht mehr Onkel nennen, Opa", presste Bahe wütend hervor. „Ich spreche mit ihm. Der kann doch nicht einfach ein Anwesen was mehrere Millionen wert ist für so einen geringen Preis verkaufen!"
„Glaubst du, dass ich das nicht schon längst getan habe, Bahe? Shang war so dreist und meinte, dass Menschen meines Standes nicht über so viel Geld verfügen sollten. Ich war so unfassbar wütend und frustriert, egal was ich sagte, er ließ überhaupt nicht mit sich reden. Es hat ihm doch tatsächlich Spaß gemacht über mich herzuziehen... Die Ärztin sagte, dass ich den Herzinfarkt wohl durch diese Stresssituation erlitten habe und jetzt liege ich hier und darf nicht aufstehen... Während meine Tochter in einer Spezialklinik darauf wartet, dass ich das Geld für ihre Operation besorge... Ich... Ich..."
Bahe sah, wie seinem Großvater die Stimme versagte.
Er selbst brannte innerlich vor Zorn. Mit seinem ‚Onkel' Shang war er im Grunde gar nicht verwandt. Shang war lediglich der Arbeitskollege und die rechte Hand seines Vaters gewesen und hatte darauf bestanden, dass Bahe ihn ganz ungezwungen Onkel Shang nannte. Bahe kannte ihn nur als netten Mann, der allen Menschen in seinem Umfeld mit Respekt und Freundlichkeit gegenüber trat. Kurz nach dem Tod von Bahes Vater hatte er Bahe und seiner Familie auch sehr geholfen. Shang organisierte damals die Beerdigung und Trauerfeier und half bei der Verwaltung des Nachlasses...
Hatte er sich damals schon an ihrem Vermögen vergriffen? Bahe traute sich kaum den Gedanken weiterzuspielen... Soweit er wusste, hatte Shang nach dem Tod seines Vaters die Firma verlassen, um seine eigene aufzubauen. Woher hatte er das Geld gehabt?
Bahe konnte sich noch genau daran erinnern, wie Shang damals Sulin schweren Herzens seine Entscheidung mitteilte, sich selbstständig machen zu wollen. Shang meinte damals noch, er hätte über die Jahre so schwer geschuftet und würde all seine Ersparnisse für diesen Lebenstraum opfern.
Bahes Mutter hatte es ihm in Anbetracht all der Hilfe und des genannten Beweggrundes einfach nicht abschlagen können und ihn aus dem noch laufenden Vertrag von zwei Jahren, ohne fällig gewordene Strafzahlung, entlassen.
Die Wut kochte in Bahe empor und er versuchte krampfhaft sich nichts anmerken zu lassen, als er sich an seinen Großvater wandte: „Ich werde mich darum kümmern, Opa."
„Bahe... was können wir schon tun? Der Vertrag ist im Grunde abgeschlossen. Shang hat mir seine Unterschrift unter der Kopie des Verkaufsvertrags gezeigt. Das Original hat er per Post an diesen Ping Lun geschickt. Der muss jetzt nur noch seine Unterschrift setzen und alles ist gelaufen", sagte sein Großvater und blickte daraufhin betrübt aus dem Fenster.
Bahe schwieg zunächst. Er wusste selbst nicht, was er tun konnte. Aber es auf sich beruhen lassen? Wie sollten sie jemals die Operation bezahlen können?
Auch mit seinen eigenen Ersparnissen durch den Account-Verkauf reichte der winzige Betrag, den sie für das Anwesen bekommen sollten, nicht für den schwierigen Eingriff bei seiner Mutter.
Nein! Er konnte es nicht auf sich beruhen lassen! Er würde es nicht akzeptieren. Irgendwie würde er einen Weg finden, dass schwor er sich in diesem Moment.
Feitong schaute in den eigenen Gedanken versunken gen Himmel und bemerkte nur am Rande, dass sein Enkel immer noch still vor sich hin starrte.
Es war ihm nicht zu verdenken. Er wusste, dass Bahe kein Dummkopf war und trotz seines Alters wahrscheinlich darauf gekommen war, dass Shang ihre Familie nur ausgenutzt hatte, solange er konnte.
Wie sollte er seine Tochter bloß retten? Feitong hatte keinen Freund, den er um dermaßen viel Geld bitten konnte. Irgendeinen Kredithai um solch eine Summe zu bitten, würde nur einem Familiensuizid bedeuten. Sie wären niemals in der Lage so etwas zurück zu zahlen. Ganz zu schweigen davon, dass die Typen nicht mal vor Organhandel zurück schreckten. Junge, unverbrauchte Organe waren ein Vermögen wert... Es fröstelte ihn allein bei dem Gedanken daran, was diese Monster mit seinen Enkeln anstellen würden.
Dann riss Bahe ihn abrupt aus seinen Gedanken.
„Opa, ich werde mich darum kümmern. Verlass dich drauf!", sagte Bahe entschlossen, stand auf und ging Richtung Tür.
Feitong schaute ihn indes verdutzt an. In dem Moment, den er brauchte, um zu sich zu kommen, war Bahe schon fast an der Tür angekommen.
„Bahe, warte! Was hast du denn vor?", rief er aufgeregt, als er erkannte, dass sein Enkel es ernst meinte und erneut die Last der Familie tragen wollte.
Fieberhaft versuchte er sich aufzurichten und rief Bahe erneut im Bedürfnis ihn aufzuhalten: „Bahe! Jetzt warte doch mal."
Zu seinem Glück blieb sein Enkel stehen und drehte sich um. Was Feitong anschließend sah, ließ ihn jedoch regelrecht zurück zucken.
Bahes Augen versprühten einen Zorn, der so zerreißend wirkte, dass Feitong seinen Enkel nicht wiedererkannte.
„Keine Sorge, Opa. Ich werde mich um Shang kümmern!", rief er hasserfüllt so laut, dass die Besucher der anderen Patienten überrascht zusammen zuckten und bei Bahes Anblick sogar noch ein wenig vor ihm zurück wichen.
Feitong rang vergebens nach Worten, während Bahe sich umdrehte und das Zimmer verließ.
Mit einem Klicken schloss sich die Tür und durchbrach die bestürzte Stille, die sich im Zimmer ausgebreitet hatte.
Wie auf Kommando fingen die Verwandten der anderen Patienten daraufhin an zu schnattern, als ob es kein Morgen gebe und ließen sich lautstark über das ungebührliche Verhalten des jungen Ausländers aus.
Feitong saß währenddessen immer noch geschockt in seinem Bett und wusste nicht was er tun sollte.
Kaum eine Minute später kam auch schon seine Frau mit den Zwillingen zurück und schaute ihn verdutzt an.
„Was ist los mit dir, Feitong? Wo ist Bahe?"
500 000 Yuan sind umgerechnet etwa 64 000 Euro ;)
Lasst mir doch einen Kommentar hier, wenn euch das Kapitel gefallen hat und vergesst nicht zu voten ;)
RiBBoN
Die Wut brodelte in Bahe, während er durch die überfüllten Krankenhausgänge schritt. Seine zornverzerrte Miene und das unterdrückte Zittern lösten sich erst auf, als er sich auf den letzten Metern vor dem Ausgang des Krankenhauses befand.
Zuletzt war er so wütend gewesen, als die Schlägertypen von Mai Ping Lun seine Mutter beschimpften und ihr anboten sich selbst zu verkaufen, um das Geld wieder rein zu holen.
Krampfhaft atmete Bahe ein paar Mal tief durch und trat schließlich auf die Straße vor dem Eingangsbereich. Egal wie wütend er war, er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Illusionen halfen ihm auch nicht weiter. Shang würde niemals mit sich reden lassen, jetzt, wo es bereits so weit gekommen war.
Was blieb ihm also übrig? Wie könnte er das Anwesen für einen vernünftigen Preis veräußern?
Bahe hatte keine Ahnung.
Missmutig stapfte er einige Meter hin und her und überlegte fieberhaft, wie er seine Familie aus dieser Lage befreien konnte…
Es war wahrlich zum wahnsinnig werden. Sie brauchten unbedingt das Geld, sonst würde das Leben seiner Mutter in den nächsten Monaten zu Ende gehen. Doch mit so einem Gedanken konnte und wollte Bahe sich nicht anfreunden…
Doch es gab einfach keinen Ausweg…
Bahe kannte keinen Menschen der ihm wirklich helfen konnte. Feiyings Großvater würde ihn, im günstigsten Fall, nur belächeln und anschließend raus schmeißen lassen. Eher wahrscheinlich war jedoch, dass dieser ihn an seine Sicherheitskräfte auslieferte, damit diese Bahe anschließend die verschiedensten Knochen brachen. Außerdem würde er seinem besten Freund dadurch nur noch mehr Probleme bereiten.
Somit schied die einzige Person aus, von der er wusste, dass sie die Möglichkeit hatte ihm genügend Geld zur Verfügung zu stellen.
Banken würden ihn und seine Familie keines Blickes würdigen und an Kredithaie wollte er in Anbetracht der Umstände nicht mal im Entferntesten denken.
Was sollte er also tun?
Während er sich zunehmend in eine ausgewachsene Panik hinein steigerte, kam ihm auf einmal ein Gedanke. Shang hatte Bahes Vater eigentlich viel zu verdanken, ganz egal wie wenig Respekt er vor dieser Tatsache hatte. Aber da gab es noch mehr Bekannte seines Vaters mit ähnlichen Umständen und einer war Polizist gewesen. Vielleicht konnte dieser Mann ihm helfen.
Bahe fasste sich geistesabwesend an den Kopf, während er sich das Hirn zermarterte, wie der Name des Mannes noch mal lautete.
Nach zwei Minuten gab er dann jedoch seufzend auf und wandte sich stattdessen zügigen Schritts Richtung U-Bahn. Der Name war ihm nicht mehr eingefallen, aber Bahe hatte sich daran erinnern können, wie er diesem Polizisten vor zwei Jahren mal mit seinem Vater einen Besuch abgestattet hatte. Die Anschrift kannte Bahe nicht, er hatte aber noch die ungefähre Gegend und Straße bildhaft im Kopf. Es sollte zu finden sein.
Letzten Endes brauchte Bahe fast drei Stunden, um die richtige Straße zu finden. Es dämmerte bereits als er schließlich an die Tür des passenden Hauses klopfte.
Zunächst rührte sich nichts und Bahe strich sich seine, inzwischen etwas länger gewordenen, Haare aus dem Gesicht.
Er wollte gerade ein zweites Mal klopfen, als im Raum hinter der Tür das Licht eingeschaltet wurde. Wenig später wurde die Tür von einer Frau mittleren Alters geöffnet.
„Ja?“, fragte sie bei Bahes Anblick sichtlich verwirrt.
„Guten Abend, ich heiße Bahe Dragon und suche einen alten Bekannten meines Vaters“, stellte Bahe sich vor.
„Ich habe noch nie von einem Herr Dragon gehört, mein Mann erzählt mir für gewöhnlich alles.“
„Vielleicht erinnern sie sich nur nicht mehr. Vor zwei Jahren kam mein Vater bei ihnen zu Besuch und nahm mich mit. Es ging…“
„Ach, vor zwei Jahren?“, unterbrach die Frau Bahes Ausführungen. „Kein Wunder, du bist hier an der falschen Adresse. Wir sind hier erst vor einem halben Jahr eingezogen.“
„Oh… verstehe…“, entfuhr es Bahe enttäuscht. „Wissen Sie vielleicht, wo die früheren Besitzer hingezogen sind?“
„Da bin ich mir nicht sicher“, zuckte die Frau mit den Schultern. „Aber der Makler meinte damals, dass die frühere Familie auf’s Land, an die äußerste Grenze von Dazu gezogen wäre.“
„Vielen Dank!“, sagte Bahe ernsthaft. „Und bitte verzeihen Sie die Störung.“
„Kein Problem“, erklärte die Frau noch und schloss die Tür.
Bahe betrat erneut die Straße und machte sich auf den Rückweg zur U-Bahn. Er hatte noch eine lange Rückfahrt bis zu seiner Großmutter vor sich. Bis nach Dazu würde er mehrere Stunden brauchen. Das würde er heute eh nicht mehr schaffen. Ganz zu schweigen davon, dass er erst mal herausfinden musste, wo in Dazu er den Bekannten seines Vaters überhaupt finden konnte.
Manchmal nervte es ihn, wie groß in China alles war… Dazu war zwar nur ein äußerer Stadtbezirk, aber die äußere Grenze war so weit von der Kernstadt entfernt, wie Köln von Hamburg.
Glücklicherweise gab es inzwischen ein umfangreiches Netzwerk an Hochgeschwindig-keitszügen, diese kosteten dann aber natürlich auch mehr. Geschwindigkeiten von 700Km/h waren inzwischen der Alltag auf allen Magnetschwebebahnen des Landes geworden. Die neuen Hoverbahnen schafften noch weit mehr, wurden bisher aber ausschließlich auf einigen geradlinigen Strecken getestet.
Die Geschwindigkeiten waren letztlich nie das Problem gewesen, sondern vielmehr der Fahrkomfort der Passagiere. Die typischen 800-900Km/h die ein Flugzeug schaffte, gingen schließlich auch mit dem dafür typischen ruckartigen Start einher.
Welcher Passagier wollte schon jedes Mal, wenn er in einen Zug einstieg, Druck auf den Ohren verspüren, in den Sitz gepresst werden und eventuell vor lauter Beschleunigungskräfte an seine letzte Mahlzeit erinnert werden?
Während er nach Hause fuhr, recherchierte Bahe mit seinem Smartphone bereits, ob und wenn ja, welche Polizeibeamten im letzten Jahr in die äußeren Bereiche Dazus gezogen waren. Natürlich konnte man die Personalverhältnisse nicht einfach so einsehen. Daher suchte er nach möglichen Polizeipräsidien und speicherte die Nummern ab. Anschließend rief er die Nummern an und erklärte sein Anliegen. Nur wenige Polizeipräsidien rückten allerdings direkt mit den entsprechenden Telefonnummern heraus. Meistens wurde Bahe nur sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass man nicht so willkürlich mit den Daten ihrer Beamten umging.
Die Nummern, die Bahe bekam, erwiesen sich alle als Sackgasse, also blieb ihm nichts anderes übrig, als am nächsten Tag nach Dazu zu fahren.
Inzwischen fragte er sich schon, ob der ganze Aufwand es überhaupt wert war. Würde ein Polizist von hier nicht auch ausreichen? Andererseits… was sollte er dem schon sagen? Letzten Endes war der Vertrag Rechtens… zumindest, soweit er das verstanden hatte.
Er konnte im Grunde nur hoffen, dass der alte Bekannte seines Vaters ihm unter der Hand helfen würde. Die meisten Chinesen machten um das Rechtssystem immer noch einen größtmöglichen Bogen, obwohl es sich in den letzten drei Jahrzehnten von korrupt und parteigeführt zunehmend zu einer selbstregulierenden Institution gewandelt hatte.
Bahes Hoffnung war es, dass allein die Anwesenheit eines höher gestellten Polizeibeamten vielleicht schon ausreichen würde, um diesen Kredithai Mai einzuschüchtern.
Beging er damit eigentlich eine Straftat…?
Bahe schüttelte, sich selbst belächelnd, den Kopf. Von so etwas hatte er erst recht keine Ahnung. Egal was er tat, für den Anfang musste er sich darauf konzentrieren seiner Familie und allen voran seiner Mutter zu helfen. Danach konnte er sich immer noch um die Konsequenzen sorgen.
Mit einem Quietschen nahm die U-Bahn weiter Fahrt auf und Bahe verlor sich in seinen Gedanken.
Anderthalb Stunden später stand er schließlich vor der Wohnungstür seiner Großeltern und hielt geschafft seine Hand auf das Türdisplay zur automatischen Entriegelung. Das Display wollte gerade seiner Funktion nachkommen, als die Tür aufgerissen wurde.
„Da bist du ja endlich!“, rief Bahes Großmutter erleichtert und beförderte ihn in eine Umarmung, noch ehe er überhaupt die Wohnungstür durchschritten hatte. „Ich habe schon gedacht, du würdest wieder untertauchen und versuchen allein zu leben.“
Ihre Befürchtung brachte Bahe zum Lächeln und er antwortete schnell beruhigend: „Keine Sorge, dass werde ich nicht nochmal versuchen. Es hat ja sowieso nichts gebracht.“
„Das will ich dir auch geraten haben, Bahe“, knurrte seine Großmutter regelrecht. „Jetzt komm erst mal rein und wasch dir die Hände. Das Essen ist längst fertig.“
Bahe folgte seiner Großmutter in die Wohnung, die bereits geschäftig in die Küche wuselte, um ihm scheinbar das Abendessen anzurichten. Er konnte nur belustigt grinsen. Wenigstens war sie hier wieder in ihrem Element. Nicht so wie im Krankenhaus…
Innerlich schalt Bahe sich selbst, wieder so negativ zu denken und zwang sich die dunklen Gedanken abzuschütteln.
Nachdem er sich seiner Schuhe erledigt hatte, ging er in die Küche und wusch sich schnell die Hände.
„Deine Geschwister sind schon am Schlafen“, erklärte seine Großmutter und wärmte mit leichtem Rühren dabei eine Portion des Abendessens auf.
Bahe nickte nur, er hatte damit gerechnet. Es war schließlich schon nach zwanzig Uhr, die Kleinen mussten früher ins Bett.
„Kann ich noch was machen, Oma?“
„Nein, nein, setzt dich ruhig schon mal. Ah, wobei… Besteck brauchst du noch.“
„Alles klar“, gab Bahe kurz zur Antwort und holte sich Essstäbchen und einen Löffel heraus.
In seiner Anfangszeit in China hatte er sich arg an die Essgewohnheiten der Chinesen gewöhnen müssen. Das Essen mit Stäbchen war hier noch immer weit verbreitet, obwohl manche Einheimischen mittlerweile auch ab und an mit dem Besteckvorstellungen der westlichen Hemisphäre experimentierten.
Inzwischen beherrschte er das Führen der Essstäbchen so gut, wie jeder andere Chinese. Nur vom Löffel wollte er sich einfach nicht trennen, da er viel zu gern die Soßen mit dem Reis vermischte und sie ihm sonst immer von den Stäbchen tropfte.
„Deinem Großvater geht’s zunehmend besser“, erzählte Bahes Oma. „Als ich wieder ins Zimmer kam und ihn aus seiner Schockstarre schreckte, wollte er sich gleich aufmachen und dir hinterher eilen. Dieser Sturkopf fing schon an die ganzen Messinstrumente von seinem Körper zu reißen… und was passiert als nächstes?“
„Äh…“, Bahe zuckte nur mit den Schultern.
„Ein ganzes Schwadron panischer Krankenschwestern kam herein gestürmt, um den sterbenden Patienten zu retten“, kicherte sie laut vor sich hin. „Als Strafe haben sie ihn schnurstracks wieder auf sein Bett befördert, alle Kabel wieder angelegt und ihm gesagt, dass sie ihm für das morgige Frühstück das komplette Fleisch streichen, wenn er sich solch eine Aktion noch ein weiteres Mal erlauben würde.“
Bahe grinste, nur um im Anschluss wieder ernst zu werden: „Tut mir Leid, dass ihr euch meinetwegen Sorgen machen musstet.“
„Mmm… Das sollte es auch“, nickte seine Großmutter und warf ihm dabei einen strengen Blick über die Schulter zu.
Bahe senkte schuldbewusst den Blick und für einen Moment herrschte betretende Stille, wenn man vom beständigen Rühren des Kochlöffels mal absah.
„Bahe…?“, erklang eine zögerliche und piepsende Stimme.
Überrascht schaute er auf und entdeckte seine kleine Schwester, die mit ihrem Kuschelbären verschlafen ins Licht blinzelte.
„Ja, ich bin es Liana“, sprach Bahe sanft und stand auf, um ihr entgegen zu gehen.
Liana Xue streckte, immer noch verträumt, die Arme nach ihrem Bruder aus und ließ sich bereitwillig hoch heben. Sie klammerte sich fest an Bahe, als dieser sie vom Boden hob und legte ihren Kopf auf seiner Schulter ab.
Bahe gab seiner Großmutter kurz ein Zeichen, dass er seine Schwester zurück ins Bett tragen würde und sah noch wie sie mit einem Lächeln nickte, ehe er mit sanften Schritten zum Kinderzimmer seiner Geschwister ging.
„Leo hat gesagt, dass du wieder lange weg gehst. Aber… aber ich habe ihm gesagt, dass du bestimmt heute noch wieder kommst“, hörte Bahe seine Schwester sacht an seiner Seite flüstern.
„Und damit hast du recht gehabt“, sagte Bahe leise und drückte seine Schwester fest.
„Ja… ich habe recht gehabt…“, wiederholte sie Bahes Worte und klammerte sich noch fester an seinen Pullover.
Bahe betrat das Zimmer seiner Geschwister so leise wie möglich, um seinen kleinen Bruder nicht aufzuwecken, während seine Schwester ununterbrochen ihre eigenen Worte wiederholte.
„Ich habe recht gehabt… Ich habe recht gehabt… Ich habe recht gehabt…“
„So da wären wir, Liana“, sagte Bahe und löste vorsichtig die Arme seiner Schwester von seinem Oberkörper. Sie ließ es geschehen und sich ins Bett legen. Anschließend zog er die Bettdecke bis zu ihren Schultern hoch und streichelte ihr noch einmal über den Kopf.
„Gute Nacht, Liana.“
„Kannst… kannst du hier bleiben, Bahe?“, fragte Liana zögerlich, als Bahe sich gerade daran machen wollte, dass Zimmer zu verlassen.
Bahe lächelte und sagte beruhigend: „Natürlich, ich setzte mich einfach eine Weile hier neben das Bett.“
Im Halbdunkeln konnte Bahe keine Reaktion seiner Schwester ausmachen, als er sich am Kopfende neben dem Bett niederließ und streichelte ihr daher noch einmal beruhigend über den Kopf.
Als er seine Hand anschließend zurückzog, spürte er plötzlich wie sich kleine Finger um die seinen schlossen.
„Willst du meine Hand halten, während du einschläfst?“
„Mmmm…“, nickte Liana.
„Alles klar. Ich bleibe bis du eingeschlafen bist.“
Danach senkte sich Schweigen über das abgedunkelte Zimmer seiner Geschwister und Bahe lauschte entspannt den ruhigen Atemzügen seines kleinen Bruders auf der anderen Seite des Zimmers. Liana hielt währenddessen weiterhin seine Hand umklammert, als ob sie Sorge hätte, dass er gleich wieder verschwinden würde.
„Bahe…?“, setzte Liana irgendwann zögerlich an.
„Ja?“
„Es tut mir Leid…“, sagte sie mit schuldbewusster Stimme und Bahe war sich nicht sicher, ob er gerade ein Schniefen heraus hörte.
„Aber was tut dir denn Leid?“
„Ich hab‘ gelogen…“, sagte Liana leise und schniefte diesmal hörbar. „Ich habe nicht recht gehabt. Leo hat gesagt, dass du zurück kommst, nicht ich. Er… er hat das immer wieder gesagt, aber… aber ich wollte ihm nicht glauben. Ich… ich habe gesagt, dass du diesmal für immer verschwindest…“
„Aber das ist doch nicht schlimm, Liana…“, sagte Bahe schnell beruhigend.
„Du darfst nicht auch noch gehen, Bahe… Papa und Mama sind schon gegangen… Und jetzt auch Opa … Ich will nicht, dass du auch noch gehst. Ich weiß, dass wenn jemand geht… dann… dann kommt man nicht mehr wieder… Ich will nicht, dass du nie wieder kommst…“
„Aber natürlich gehe ich nicht, Liana…“, sagte Bahe so sanft wie möglich und gleichzeitig auch sprachlos angesichts der Ängste seiner kleinen Schwester.
„Ich bleibe von jetzt an immer hier“, sagte er bestimmt und umarmte Liana noch einmal sanft.
„Versprichst du es?“, fragte Liana leise, während Bahe ihre Tränen an seiner Wange spürte.
„Ich verspreche es“, antwortete Bahe sofort und wiegte sie sacht hin und her.
„Oma wird auch bald gehen und dann bist nur noch du da…“, sagte sie stockend, vom Schniefen unterbrochen. „Deswegen darfst du nicht gehen…“
Bahe spürte, wie sich die kleinen Arme seiner Schwester wieder fest an ihn klammerten.
„Aber Oma wird doch nicht gehen, wie kommst du denn auf sowas? Und Opa und Mama sind doch auch noch da...?“, fragte er seine Schwester verdutzt.
„Ich weiß, dass sie gehen werden… wie Papa. Xixi aus dem Kindergarten hat mir erzählt, dass die Leute ins Krankenhaus gehen und… und… dann nie mehr wieder kommen. Das war bei ihrer Mama so... Und sie hat auch gesagt, dass Oma schon alt ist und auch bald ins Krankenhaus geht und nicht mehr wiederkommt, weil… weil… ihre Oma auch ins Krankenhaus gegangen ist und nicht mehr wiedergekommen ist… Deswegen darfst du nicht auch noch gehen, sonst sind Leo und ich ganz allein…“, schluchzte Liana.
„Das stimmt nicht, Liana“, sagte Bahe bestimmt. „Oma wird nicht gehen und Opa kommt Übermorgen schon wieder vom Krankenhaus nach Hause. Das verspreche ich dir.“
„Aber Xixi hat gesagt…“
„Xixi hat sich geirrt. Nur weil es bei ihr so war, muss es nicht bei allen Menschen so sein“, sagte Bahe ruhig. „Warte zwei Tage und Opa kommt wieder nach Hause.“
„Versprichst du es?“
„Ja, ich verspreche es. Und ich verspreche dir auch, nicht mehr weg zu gehen.“
„Und Mama ist auch noch nicht gegangen?“
„Aber natürlich nicht, Ihr geht sie doch regelmäßig besuchen.“
„Aber vielleicht ist sie ja heute gegangen, wir waren ja nicht da…“, meinte Liana leise.
„Glaub mir, sie wird nicht gehen.“
„Versprichst du es?“
„…“
„Bahe…? Versprichst du es?“, fragte Liana ängstlich. „Du musst es versprechen…“
Bahe atmete einmal tief durch und antwortete schließlich: „Ich verspreche es.“
Er wusste noch immer nicht wie, aber er würde dafür sorgen, dass seine Geschwister nicht ohne Mutter aufwachsen mussten.
Komme was wolle, er würde es schaffen.
„Ich verspreche es“, wiederholte nun auch er seine Worte.
Lin zwang mit Mühe ein paar Tränen zurück, zu sehr war sie von Bahes Verhalten gerührt. Sie hatte sich schon gewundert, wo er so lange blieb und dann stellte sich raus, dass die Kleinste der Familie solche Sorgen mit sich rumschleppte.
Die Bindung der Zwillinge zu ihrem großen Bruder war einfach etwas anderes, als die zu ihren Großeltern. Es tat gut zu sehen, dass die Kleine endlich mal ihre Ängste aussprach. Lin machte sich keinerlei Illusionen. Egal, wie jung die Kinder waren, sie verstanden schon wesentlich mehr als man glaubte.
Anfangs hatten die Zwillinge noch ständig nach ihrer Mutter und ihrem großen Bruder gefragt, aber mit der Zeit war es weniger geworden. Sie war sich ziemlich sicher, dass dies eher aus Angst vor schlechten Nachrichten geschehen war und nicht aufgrund einer Eingewöhnung.
Sie musste lächeln und gleichzeitig beinahe weinen, beim Anblick wie die Geschwister so liebevoll mit einander umgingen. In welch normaler Situation würde so etwas schon passieren?
Vermutlich würden sie sich eher um das Essen streiten und andere Kleinkriege miteinander austragen.
Lin seufzte innerlich, da sie es nicht wagte auf sich aufmerksam zu machen und zog sich von dem offenen Türspalt zurück, durch den sie zugesehen hatte. Mit leisen Schritten ging sie zurück in die Küche und schob den Topf mit dem aufgewärmten Essen auf die noch leicht warme Herdplatte zurück. Bahe würde schließlich jeden Augenblick nachkommen.
Sie schämte sich immer noch dafür, wie sehr sie heute im Krankenhaus die Fassung verloren hatte. Ausgerechnet vor dem Jungen, der sowieso schon so viel mit sich rum schleppte. Es war ein Wunder, dass Bahe bisher noch nicht an der Last all der Tragödien und Widrigkeiten seines so jungen Lebens zerbrochen war. Sie kannte Menschen, die weit weniger ausgehalten hatten.
Erst der Tod seiner leiblichen Mutter und der Umzug nach China, weit weg von allem Bekannten. Dann lernte er mit seiner neuen Familie gerade wieder zu leben, als auch noch sein Vater und seine Großeltern väterlicherseits verstarben. Anstand in Selbstmitleid zu versinken, wie es sein gutes Recht gewesen wäre, hatte er sich im Folgenden hingebungsvoll seinen Stiefgeschwistern und seiner Stiefmutter gewidmet und geholfen, wo es nur möglich war. Doch trotz all seiner Bemühungen, lag Sulin nun auch im Krankenhaus, während sie das Anwesen seines Vaters verloren und zu allem Überfluss hatte es auch noch Feitong erwischt, der nach einem Herzanfall das Bett hüten musste.
Ihr selbst war die ganze Situation heute Mittag einfach so sehr über den Kopf gewachsen, dass sie sich nicht mehr vollständig unter Kontrolle gehabt hatte. Bahe war hingegen noch immer entschlossen, die Probleme alleine zu bewältigen.
Lin wusste wirklich keinen Ausweg. Sie hatte am Vormittag bereits einen alten Bekannten angerufen, der früher für die Polizei gearbeitet hatte. Bai Tan Mao war ihr jedoch leider keine Hilfe gewesen. Soweit er wusste, hatte Shang wohl im legalen Rahmen gehandelt.
Da Feitong die entsprechenden Unterschriften geleistet hatte, konnte Shang mehr oder weniger tun was er wollte. Tan Mao vermutete, dass Shang das Anwesen später im Auftrag des Kredithais weiterverkaufen würde, um sich den Gewinn mit dem Mistkerl zu teilen. Auf legalem Weg besaß Tan Mao leider keine Möglichkeit ihnen zu helfen und hinsichtlich seines tadellosen Rufs hatte sie es einfach nicht übers Herz gebracht, ihn um ‚inoffizielle‘ Hilfe zu bitten.
Abgesehen davon hatte er ihr stark davon abgeraten sich mit diesem Kredithai Ping Lun weiter anzulegen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Er war den Behörden mit seiner Gang zwar bekannt, bisher jedoch jedem Strafersuchen erfolgreich entkommen, indem die Zeugen verschwanden. Es war offensichtlich, dass er dabei immer eine Hand im Spiel gehabt hatte. Nur nachweisen konnte man ihm nichts. Tan Mao hatte sie sehr ernst gebeten, zu berücksichtigen, dass dieser Typ eben nicht nur ein gewöhnlicher Ganganführer war.
Die schiere Hoffnungslosigkeit der Situation hatte sie im Krankenhaus dann einfach übermannt und dafür gesorgt, dass sie vor Bahe die Fassung verlor.
Es tat ihrem Herzen weh, zu sehen, wie kontrolliert sich Bahe im Gegensatz zu ihr gegeben hatte. Kein Jugendlicher sollte so etwas durchmachen. Auch wenn er nach den Sitten des Landes inzwischen volljährig war… Er hatte viel zu früh erwachsen werden müssen…
Der Inhalt des Topfes fing derweil wieder zu dampfen an und sie rührte schnell noch einige Male um.
Beinahe gleichzeitig erklangen hinter ihrem Rücken leise Schritte, ehe sie Bahes Stimme vernahm.
„Sie schläft jetzt wieder.“
„Gut, dein Essen ist jetzt auch fertig“, erklärte Lin und schaltete die Herdplatte aus.
„Super, ich habe sowas von Hunger“, sagte Bahe grinsend, während er am Esstisch Platz nahm und breit grinsend auf den Topf starrte mit dem sich Lin gerade umdrehte.
„Keine Sorge, ist noch genug da“, musste Lin lächeln und stellte den Topf auf dem Tisch ab.
„Hiermit kannst du dich bedienen“, sagte sie und reichte ihm noch einen großen Löffel.
„Danke“, antwortete ihr Enkelsohn und machte sich sofort daran seinen Teller zu füllen.
„Wir dachten wirklich alle, dass du wieder verschwinden würdest, Bahe“, sagte sie Bahe ernst.
„…“, Bahe hielt einen Moment inne. „Das hatte ich nie vor.“
„Wieso bist du dann verschwunden?“, fragte sie vorwurfsvoll.
„Ich…“
„Warte, Bahe, hör mich erst mal an“, bat sie Bahe und dachte darüber nach, wie sie es am besten zum Ausdruck brachte. „Soweit es Feitong und mich betrifft, sind wir alle eine große Familie und wir halten zusammen. Du bist einfach verschwunden, ohne uns irgendetwas zu erklären. Das geht nicht mehr… Nicht nur wir machen uns Sorgen, selbst deine kleinen Geschwister wurden panisch und wollten unbedingt nach dir suchen…“
„Tut mir Leid…“, antworte Bahe leise. „Daran habe ich gar nicht gedacht…“
„Das ist mir auch klar“, sagte Lin. Fuhr jedoch fort, als sie merkte, dass sie wahrscheinlich gerade zu streng klang. „Wieso bist du überhaupt verschwunden…?“
„Ich… ich wollte einen alten Bekannten meines Vaters aufsuchen. Er war Polizist und ich dachte, wenn uns jemand helfen kann, dann er…“
Wenn es doch bloß so einfach wäre, dachte Lin betrübt.
„Und? Hattest du Erfolg?“
„Leider nicht, er ist wohl angeblich mit seiner Familie nach Dazu gezogen. Da wollte ich Morgen hin…“
„Ich habe auch schon…“, setzte Lin an.
„Ja?“, fragte Bahe.
„Ach, vergiss es“, winkte sie ab. Sie wollte ihm nicht die Hoffnung nehmen, indem sie ihm erzählte, dass sie es mit der Polizei bereits versucht hätte. „Aber wie willst du denn in Dazu vorgehen? Er könnte doch überall stecken… Das ist ja noch schlimmer als eine Nadel im Heuhaufen zu suchen…“
„Na ja, ich gehe davon aus, dass er immer noch als Polizist arbeitet. Sofern ich die ganzen Polizeireviere abklappere, sollte ich doch eine Chance haben ihn zu finden.“
„Dir ist schon klar, dass du niemals an einem Tag ganz Dazu durchkämmen kannst?“
„Ähm, ja…?“, fragte Bahe verunsichert.
„Hast du dir mal darum Gedanken gemacht, wie das Ganze ablaufen soll? Wo schläfst du? Und was ist mit deinen Geschwistern und deiner Mutter?“, erklärte Lin fragend.
Bahe schwieg darauf, offensichtlich ertappt.
Lin fasste sich seufzend an den Kopf und schloss kurz die Augen. Ach, bei allen Himmeln… wenn der Junge damit seinen Frieden finden würde, dann soll er eben nach Dazu fahren…
„Ich erlaube es dir Morgen nach Dazu zu reisen unter einer Bedingung“, setzte Lin schließlich an.
„Und die wäre…?“, horchte Bahe auf.
„Du kommst jeden Abend zurück und isst mit deinen Geschwistern und Großeltern zu Abend“, erklärte Lin.
„Aber dann brauche ich ewig!“, versuchte es Bahe.
„Nichts da! Entweder du kommst nach Hause oder ich erzähle deiner Mutter davon. Ich bin mir sicher, dass sie sogar die Klinik verlässt, um nach dir suchen zu können.“
„Oma, das ist unfair…“, lamentierte Bahe.
Lin grinste: „Das sollte es ja auch sein.“
„…“ Bahe schien sprachlos zu sein.
Setzte nach einigen Augenblicken aber doch nochmal an: „Was machen wir denn, wenn wir den Verkauf nicht aufhalten können? Was, wenn wir wirklich nicht genug Geld für die Operation bekommen, Oma?“
„Für den absoluten Notfall, haben dein Großvater und ich noch etwas angespart. Sollte es nicht anders gehen, werden wir unser letztes Konto plündern. Das Geld reicht gerade aus, um die Operation zu bezahlen. Die Reha-Behandlungen werden dann halt hier zu Hause stattfinden müssen“, sagte sie.
„…“ Bahe schwieg zunächst und schaute sie skeptisch an.
Lin lächelte und erklärte: „Eigentlich solltest du davon noch nichts erfahren, aber wir haben für dein Studium an einer Universität gespart und dafür ein Konto angelegt. Das Geld wollten wir jedoch nicht anrühren, solange es nicht notwendig ist…“
Bei der Nachricht machte Bahe ungläubig große Augen und kaum einen Moment später stahl sich ein echtes Lächeln auf sein Gesicht.
„Das ist ja super! Wieso habt ihr das nicht schon viel eher erzählt?“, fragte Bahe freudestrahlend.
„Es sollte halt ein Geheimnis bleiben!“, antwortete Lin gespielt genervt und fuhr fort. „Jetzt iss erst mal in Ruhe und dann leg dich schlafen, wenn du wirklich Morgen nach Dazu willst. Du wirst lange unterwegs sein.“
Bahe nickte nur noch und schaufelte sich noch mehr Essen auf seinen Teller.
Zehn Minuten später verließ Bahe eifrig die Küche, unter dem Vorsatz, alles für Morgen vorbereiten zu wollen.
Lin sah ihm nach und räumte den Tisch ab. Als Bahe Anstalten gemacht hatte, sein Geschirr wegzuräumen, hatte sie ihn gebeten einfach alles liegen zu lassen.
Hätte er sich noch länger in der Küche aufgehalten, wäre ihm vielleicht doch noch etwas aufgefallen. Nur mit Mühe hatte Lin sich die ganze Zeit nichts anmerken lassen.
Natürlich verfügten sie gerade nicht über dieses besagte Konto, auf dem noch Geld vorhanden sein sollte… Ihr war nur schlicht weg keine bessere Notlüge eingefallen.
Feitong hatte nie genug verdient, um auch nur Geld für die Universitätsgebühren der eigenen Tochter ansparen zu können, ganz zu schweigen für die der Enkelkinder…
In dieser Verzweiflung hatte es Bahe kaum in Frage gestellt…
Lin hasste sich selbst für diese Lüge. Morgen würde sie als erstes sämtliche Banken der Umgebung, um einen Kredit anbetteln. Es musste irgendeine Möglichkeit geben Sulin zu retten, aber es war nicht Bahes Pflicht eine Lösung zu finden.
Feitong und sie selbst mussten sich darum kümmern. Schließlich hatten sie diese Situation erst heraufbeschworen. Würde ihr Mann sich nicht solche Vorwürfe machen, wäre sie vermutlich wütend auf ihn gewesen. So aber, konnte sie sich nur eingestehen, dass sie beide blind im Angesicht von Shangs Niederträchtigkeit gewesen waren.
Ihre Augen wurden für einen Moment feucht und die Mundwinkel zuckten, ehe sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zwang und erneut die Maske aufsetze, mit der sie Bahe in den letzten Minuten begegnet war.
Trauer oder Verzweiflung konnte sie sich nicht leisten, nicht mehr. Sie hatte mit Feitong gesprochen, sobald er entlassen wurde, würde er sich an der Suche nach einem bezahlbaren Kredit beteiligen.
Hoffnung… sie war winzig… aber noch nicht vollends gestorben.
Mit einem tiefen Atemzug und angespannter Miene spülte sie noch den Teller und machte sich danach Bett fertig. Morgen musste sie schließlich früh raus.
„Han Ning, beeil dich, du musst zur Arbeit!“
Genervt öffnete er die Augen und starrte sein Spiegelbild an.
Seine Haare färbten sich seit einigen Jahren bereits zunehmend grau. Die kleinen Fältchen um seine Augen und Mundwinkel wurden auch immer mehr. Es war nicht zu übersehen, dass der Stress der letzten Jahre ihm zugesetzt hatte. Aber wozu das alles?
Stöhnend bemerkte er ein weiteres Mal wie seine Augen ihn stumpf aus dem Badezimmerspiegel anstarrten. Solch ein lebloser Blick...
Es war der Blick eines Versagers, der sich mit dem Unvermeidlichen bereits abgefunden hatten. Seit zwölf Jahren war er nun bereits bei der Kanzlei und war doch nur Senior Associate. Was im Endeffekt hieß, dass er zwar eigene Fälle bearbeiten konnte, sich aber nicht aussuchen durfte, welche.
Würde es nicht die Reglementierungen geben, dass ein Anwalt mit zunehmendem Dienstalter mehr verdiente und diese Stellung automatisch erhielt, wäre es wahrscheinlich nicht mal dazu gekommen. Zu oft war er bei Beförderungen inzwischen übergangen worden, als dass er noch Kraft gehabt hätte, sich darüber zu beschweren.
„Han Ning! Du musst los!“, brüllte seine Frau erneut aus der Küche.
Familie… früher hatte er durch sie die Ungerechtigkeiten auf der Arbeit ertragen können. Heute erinnerte ihn das Geschrei seiner Frau nur erneut daran, wie sehr sie sich inzwischen auseinander gelebt hatten.
Er hatte noch mehr als genug Zeit die nächste Bahn zu bekommen, aber seine Frau konnte es scheinbar nicht erwarten ihn loszuwerden.
Wenigstens würde er heute die Ergebnisse seines Privatdetektives bekommen. Schon lange hegte er die Vermutung, dass seine Frau eine Affäre hatte. Wann genau es begonnen hatte, wusste er gar nicht mehr. Aber mit der Zeit hatte er festgestellt, dass seine Frau mehr Zeit außer Haus verbrachte als gewöhnlich.
Es wunderte ihn gar nicht so sehr… Sie hatten zuletzt vor knapp einem Jahr miteinander geschlafen und auch das war mehr ein Pflichtakt als alles andere gewesen.
Begehrte er sie noch? Liebte er sie noch?
Er wusste es nicht.
Im Grunde war es ihm auch egal. Im war so vieles egal geworden.
Von der Midlife-Crisis sprachen einige seiner Kollegen, wenn sie mal eine deprimierte Phase hatten. Doch die Idioten hatten keine Ahnung. Abgesehen davon, dass sie noch viel zu jung dafür waren, machte ihnen der Chef auch nicht das Leben zur Hölle. Er selbst hingegen, stand seit Jahren auf der Abschussliste des neuen und damit zugleich auch jüngsten Vollpartner der Kanzleigeschichte.
Bei En Rui der Star des Rechtssystems der Stadt! Bei En Rui, der Wohltäter! Bei En Rui, der Vollstrecker!
Es verging kaum ein Tag, an dem sich dieses Arschloch nicht in den Medien präsentierte. Wahrscheinlich bezahlte er so manchen Reporter sowieso dafür, damit sie ihm besonders wohl gesonnen waren. Pah!
Dieser Bastard hatte dafür gesorgt, dass er bereits mehrere Jahre in Folge bei den Beförderungen übergangen worden war und noch immer keine richtigen Fälle bekam. Vor Jahren hatte er einmal mit ihm zusammenarbeiten müssen. Es war einer der wichtigsten Fälle seiner Karriere gewesen. Beim Sieg hätte ihm entweder eine Junior-Partnerschaft oder zumindest die Position eines Salary-Partners zugestanden. Und was passierte?
Bei En Rui, der damals noch als Han Nings Assistent arbeitete, nutzte seine Befugnisse schamlos aus, um die Anhörung vorzuverlegen, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzten!
Doch damit nicht genug. Er gab zudem an, dass Han Ning durch einen Autounfall verhindert wäre und führte die Verteidigung ihres Klienten selbst durch. Selbstverständlich mit nichts anderem als dem von Han Ning über Wochen vorbereitetem Material.
Die Kanzlei hatte den Prozess gewonnen, wenn hinsichtlich der Unfähigkeit Bei En Ruis auch nur knapp. Aber selbstverständlich wurde damals darüber hinweg gesehen, da er eigentlich gar nicht für den Fall verantwortlich war und die Kanzlei vielmehr vor einer Blamage bewahrt hatte.
Han Ning hatte im Gegenzug sämtliche Verantwortung tragen müssen und war im Ansehen des Vorstands vollends abgesunken. Während ihm sein damaliger Chef noch darüber belehrte, dass er Bei En Rui dankbar sein sollte, dass dieser so viel Eigeninitiative gezeigt hatte, hatte dieser Mistkerl, mit dem für ihn typischen, arroganten Engelslächeln der ganzen Szene beigewohnt und nichts unternommen.
Eine solche Unverschämtheit war Han Ning noch nie untergekommen. Er hatte damals einfach nicht gewusst, wie er darauf reagieren sollte und ehe er sich versah, war Bei En Rui vom Assistenten zum vollwertigen Anwalt und weiter zum Junior-Partner aufgestiegen.
Was folgte waren Jahre der Quälerei, in denen dieser Bastard alles tat, um ihn vor der Kanzleiführung möglichst schlecht da stehen zu lassen.
Dann, vor zwei Monaten, war es soweit und Bei En Rui stieg zum vollwertigen Partner der Kanzlei auf. Seitdem war alles nur noch schlimmer geworden, da dieses Arschloch sich ihm gegenüber nun erlauben konnte was er wollte, ohne irgendjemanden Rechenschaft ablegen zu müssen.
Han Ning seuftze.
Ein furchtbarer Job… Eine untreue Ehefrau…
„Papa, kann ich in’s Bad? Ich muss mich fertig machen.“
„Aber natürlich, Mu Rui, ich bin fertig“, antwortete er schnell und öffnete die Tür.
Seine siebzehnjährige Tochter gab ihm einen flüchtigen Schmatzer auf die Wange und machte sich dann eiligst daran ihr bescheidenes Make-Up aufzutragen.
Trotz aller Widrigkeiten musste Han Ning lächeln. Seine beiden Töchter waren sein einziger Lichtblick. Ihretwegen schuftete er Tag für Tag im Büro, auch wenn es bedeutete sich weiter von En Rui erniedrigen zu lassen.
Ohne es noch länger heraus zu zögern, zog er sich seine Anzugsjacke über, prüfte ein letztes Mal, ob seine Krawatte richtig saß und ging in die Küche, um sich seine Mittagsmahlzeit abzuholen, die seine Frau immer noch aus Gewohnheit machte.
Die Küche fand er jedoch leer vor. Verdutzt schaute er sich um, entdeckte seine Frau aber nirgends. Auf dem Esstisch stand seine Lunchbox, ansonsten war nichts zu sehen. Ohne weiter drüber nachzudenken, ging er hinüber und griff bereits nach der Box als er den kleinen Zettel bemerkte, den sein Frau offensichtlich daran geklebt hatte.
Hast du in zwei Tagen Zeit? Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen.
Etwas Wichtiges, ja?
Na sicher, er hatte Zeit. Sie wird Augen machen, dachte er, wenn er ihr die Beweise für ihre Untreue vorlegen würde. Han Ning war gespannt was sie danach noch zu erzählen hatte.
Er packte die Lunchbox schnell in seine Tasche und machte sich danach auf den Weg zur Arbeit. Dann kam er eben früher, so konnte er auch früher gehen. Nicht, dass er wüsste, was er mit seiner freien Zeit an stellen sollte…
Fünfundvierzig Minuten später setzte er sich gerade mit bearbeitetem Fallmaterial auf seinen Bürostuhl, als sein Albtraum höchst selbst das Großraumbüro betrat.
„Han Ning!“, bellte das Monstrum bereits von weitem und brachte ihn innerlich vor Wut zum Kochen.
„Was gibt es, Herr Bei?“, fragte Han Ning bemüht neutral.
„Du arbeitest am Fall Shi, oder?“
„Ähm… ja…“, antwortete er nichts Gutes ahnend.
„Gib den Fall an Herrn Xing ab. Du wirst diesen Fall erledigen“, stellte der En Rui klar und warf ihm eine neue Fallmappe hin.
Han Ning schlug die Mappe auf und überflog kurz den Inhalt, ehe er große Augen machte.
„Aber der Klient wohnt ja in Dazu“, sagte er ungläubig.
„Deswegen durftest du ja auch den anderen Fall abgeben“, erklärte En Rui süffisant und fuhr fort. „Dir wird ein Bisschen Ablenkung und frische Luft gut tun. Vielleicht verbessert sich dann endlich mal deine Erfolgsquote. Die anderen Führungsmitglieder haben mir nämlich zu verstehen gegeben, dass du mindestens einen zufriedenen Kunden bis Ende der Woche vorweisen solltest. Ansonsten kann ich für die Sicherheit deines Jobs nicht mehr garantieren.“
Danach drehte En Rui sich um und ließ Han Ning geschockt zurück.
Jetzt war es also soweit, er wollte ihm auch noch seinen Job nehmen. Einen zufriedenen Kunden konnte man schließlich nur vorweisen, wenn man auch einen Prozess abschloss. En Rui hatte ihm soeben den Fall genommen, der kurz vor dem Prozessende stand. Stattdessen sollte er jetzt einen Mandanten vertreten, dessen Prozess erst in drei Wochen angesetzt war. Selbst die Chance vor Ort nach einem anderen Fall zu suchen, den er notfalls auch ohne Bezahlung übernehmen konnte, hatte En Rui ihm verwehrt… Der Termin mit seinem neuen Klienten war noch für heute Nachmittag vereinbart. Han Ning musste sich ran halten, wenn er rechtzeitig nach Dazu kommen wollte.
Was machte er jetzt?
Ein beklommenes Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihm breit.
Im Grunde hatte En Rui ihn jeder Möglichkeit beraubt, die absurden Ansprüche der Führungsriege zu erfüllen.
Wahrscheinlich war es sowieso dieser Bastard gewesen, der diese ganze Situation erst herauf beschworen hatte. Han Ning hatte noch nie davon gehört, dass irgendeinem Angestellten je ein solches Ultimatum gestellt wurde…
Bei En Rui, der Star, wer konnte ihm schon etwas abschlagen?
Han Ning machte sich keine Illusionen. Für diesen Mistkerl war es vermutlich ein Leichtes gewesen…
Konnte dieser Tag überhaupt noch schlimmer werden?
Sein Telefon klingelte und riss ihn aus den deprimierenden Gedanken.
„Hua Han Ning, von Chen Law Firm, was kann ich für sie tun?“, stellte er sich vor.
„Hallo Boss, Yongwa hier. Leider werde ich es zum vereinbarten Termin nicht schaffen können.“
„Was heißt hier, du schaffst es nicht? Wofür bezahle ich dich denn?!“, wurde Han Ning über die Worte des blöden Privatdetektivs sauer.
„Sorry Boss, ich musste mich zwischenzeitlich noch um einen anderen Auftrag kümmern. Du bekommst die Daten Übermorgen!“
„Hey, Moment ma-“
Han Ning starrte fassungslos vor sich hin, als er das typische Dauerpiepen eines beendeten Telefonats vernahm. Diese Ratte hatte doch allen Ernstes aufgelegt!
Noch vor Wut zitternd, wählte er die Nummer des Privatdetektivs, um ihn zur Rede zu stellen, doch dieser Dreckskerl nahm einfach nicht ab!
Der Tag konnte nicht mehr schlimmer werden, ja?
Er war es verdammt nochmal gerade geworden!
Heute Abend hatte er eigentlich die Mail über das Verhalten seiner Frau bekommen sollen! Jetzt musste er noch zwei Tage ausharren. Zwei verdammte Tage, von denen er nicht wusste was seine Frau wohl alles so trieb, während er nicht zu Hause war…
Innerlich fluchend, schnappte er sich die Fallakte, seine Arbeitstasche und machte sich auf zum Aufzug.
Den Himmeln sein Dank schuldete Chen Po ihm noch etwas. Als rechte Hand des einflussreichen Vorstandvorsitzenden, war er so ziemlich der Einzige, der ihm jetzt noch helfen konnte. Das aber auch nur, sofern Han Ning den Auftrag vertraglich festmachte. So oder so blieb ihm nichts anderes übrig als nach Dazu zu fahren.
Zur gleichen Zeit erwachte Bahe von seiner nächtlichen Spielaktion und packte schnell seine Reisetasche für die Fahrt nach Dazu. Anschließend ging er in die Küche, um sich Frühstück zu machen. Am Kühlschrank klebte ein Zettel. Seine Großmutter war wohl schon früh aufgebrochen, um die Zwillinge zum Kindergarten wegzubringen und nochmal mit einer Bank zu verhandeln.
Bahe nahm es nickend zur Kenntnis und setzte sich dann seinem Essen an den Esstisch. Während er frühstückte schweiften seine Gedanken immer wieder zurück zu seinen nächtlichen Aktionen.
Am Abend zuvor hatte sich die Welt von Raoie in neuer Weise um Bahe herum materialisiert. Er war tatsächlich direkt am Katharsee gespawnt[i]. Scheinbar hatten seine Elementare ausgereicht, um für eine gewisse Sicherheit zu sorgen.
Natürlich hatten seine Elementare ihn gefragt, wohin er denn die ganze Nacht über hin verschwunden wäre. Raoie war genauso von Tag und Nacht geprägt wie die reale Welt, mit dem einzigen Unterschied, dass es sich genau anders herum verhielt. Dadurch konnte sich Bahe abends einloggen und fand sich am frühen Morgen in Raoie wieder.
Damit Raoie sich allerdings möglichst lebensecht anfühlen konnte, war den NPCs aber auch durchaus bewusst, dass die Spieler zu gewissen Zeiten verschwanden.
Sie stellten Fragen nach dem Verbleib der Spieler und forderten durchaus konkrete Antworten. Übergang man die NPCs hierbei, stellten diese unter anderem jegliche Interaktionen mit den Spielern ein.
Bahe stand an dieser Stelle vor einer besonderen Herausforderung. Seine Elementare konnten sich nicht allzu weit von ihm entfernen, befanden sich aber auch in einem Dauerbeschwörungszustand. Wie konnte er ihnen also erklären, dass er sich förmlich im Nichts auflöste, ohne sich dabei zu sehr von ihnen zu entfernen?
Letzten Endes hatte er es auf eine Eigenschaft seiner Berufsklasse geschoben und seinen Elementaren oberflächlich erklärt, dass er zu diesen Zeiten schlafen müsste und dabei mit der Natur verschmolz. Das hatten ihm die beiden Elementare glücklicherweise abgekauft.
Das die Wächterkreatur verschwunden war, war eine weitere Konsequenz gewesen. Allerdings hatte es nicht lange gedauert, bis sie Bahes erneute Anwesenheit bemerkt hatte und sich wütend knurrend auf ihn stürzen wollte, nur um von Limona und Brocken ein weiteres Mal zum Platz nehmen verdonnert zu werden.
Kurz bevor sich Bahe zurück zur Stadt aufmachte, war es jedoch endlich Zeit zum Jubeln gewesen. Limonas und Brockens Treuewerte stiegen mit einem Satz um ganze 10 Punkte!
Der Aufenthalt am Katharsee hatte einiges gebracht. Leider kam jedoch auch gleich die Information, dass ein erneuter Aufenthalt an diesem oder einem anderen Katharsee keine weiteren Verbesserungen der Treuwerte bedingen würde.
Wäre auch zu schön gewesen, einfach noch neun weitere Male zum Katharsee aufbrechen zu müssen.
Den Rest des Tages verbrachte Bahe streng eingeteilt. Zuerst das Training unter Fenrir, anschließend ein längerer Aufenthalt in der Bibliothek und schließlich das erneute Jagen von Wildwurzelkaninchen.
Dieser Ablauf würde sich in den nächsten Tagen kaum ändern.
Bahe seufzte, während er sich sein Frühstück zum Mund führte. Wirklich spannend würde Raoie in den nächsten Tagen wohl nicht werden. Na ja, wenigstens machte er beim Bogenschießen Fortschritte.
Nach dem Essen, spülte er noch schnell sein Besteck und Geschirr und machte sich auf zum Bahnhof. Es wurde Zeit, dass er seine Reise nach Dazu unternahm.
[i] Gespawnt = Mit (Re-)Spawnen (vom englischen to spawn: hervorbringen) wird der (Wieder-)Einstieg einer Spielfigur, eines Nicht-Spieler-Charakters oder eines Gegenstandes an einem bestimmten oder zufälligen Spawnpunkt in einem Level eines Computerspiels bezeichnet.
Am späten Nachmittag schlurfte Bahe genervt durch die Straßen Dazus. Das Ende des Sommers war in den letzten Tagen mit dem wechselhaften Wetter zunehmend zu spüren gewesen. Auch heute, war der Himmel ein weiteres Mal bewölkt und hatte schon den einen oder anderen Regenschauer fallen lassen. Die Straßen waren noch immer feucht, die Gehwege von Pfützen gesäumt. Bahe musste aufpassen, nicht in das kühle Nass zu treten. Bei der langen Zugfahrt nach Hause, wollte er sich durch kalte Füße keine Erkältung holen.
Er hatte inzwischen bei sechs verschiedenen Polizeirevieren vorbei geschaut und war doch nur enttäuscht worden. Der Stadtteil Dazu war einfach zu groß, um an einem Tag alle neun Polizeipräsiden abzuklappern. Wobei die einzelnen Polizeireviere nicht unterschiedlicher hätten sein können. Zwei waren der reinste Witz gewesen. Einmal sieben und einmal lediglich fünf Leute, die sich vor Ort der Verbrechensbekämpfung widmen sollten. Bahe war schleierhaft, was sich die Vorgesetzten dabei dachten, fünf Polizisten für einen Bezirk mit mehr als fünfzigtausend Einwohnern abzustellen. Die winzigen Polizeireviere erinnerten auch viel mehr an alte Klischees von Stützpunkten verschiedenster Verbrecherbanden als an offizielle Abteilungen einer Strafverfolgungsbehörde. Wo sonst traf man schon fünf ausgewachsene Männer an, die sich in ein zehn Quadratmeter großes Zimmer zwängten, rauchten, tranken und lauthals ihre Lieblingsmannschaften im Fernsehen anfeuerten?
Wenigstens schien es nicht der Normalfall zu sein. Bahes restliche Besuche hatten ihn in hochmoderne und digitalisierte Bauten geführt, die von mehreren Hundertschaften von Polizisten bevölkert wurden. Die große Anzahl an Mitarbeitern dieser Präsidien war auch ein Grund, weshalb er so lange gebraucht hatte.
Bahe seufzte.
Es brachte nichts, er würde morgen ein zweites Mal nach Dazu fahren müssen.
Nach zwei Minuten Fußmarsch bog er rechts in die größte Einkaufsstraße der Umgebung ein und schlängelte sich durch die Fußgänger der belebten Straße. In etwa drei Kilometern würde die Straße direkt vor dem Hauptbahnhof des Stadtteils enden. Da Bahe aber noch vierzig Minuten Zeit hatte, bis sein Zug kam, entschloss er sich in Ruhe an den verschiedenen Ständen von fahrenden Händlern entlang zu wandern, die zusätzlich zu den normalen Geschäften überall zu finden waren.
Irgendwie war es ein komisches Gefühl. Es war lange her, dass Bahe sich für so etwas die Zeit genommen hatte. Langsam stahl sich ein Lächeln auf Bahes Gesicht, während er gemütlich von Stand zu Stand ging und sogar das eine oder andere Geschäft aufsuchte.
In einem Laden fand Bahe sogar ein neues Messerset von guter Qualität. Der Preis war zwar moderat, aber letzten Endes entschied sich Bahe es dennoch mitzunehmen. Er hatte in den letzten Tagen schon ein paar Mal mitbekommen, wie seine Großmutter über die alten stumpfen Messer klagte, als sie in der Küche das Essen zubereitete.
Bahe hatte zunächst mit sich gehadert, sie hatten schließlich eine Menge Geldprobleme, aber die paar Yuan für das Messerset, spielten in den Gelddimensionen, um die es eigentlich ging, dann auch keine Rolle mehr.
Freudigen Schrittes trat er wieder auf die Einkaufstraße und suchte nach einem Stand der lokale Süßigkeiten verkaufte. Seine kleinen Geschwister würden eine süße Nachspeise sicher zu schätzen wissen.
Es dauerte etwas, aber dann entdeckte Bahe doch noch einen passenden Stand und wollte sich gerade dahin begeben, als von hinten ein Mann gegen ihn prallte und Bahe mehrere Ausfallschritte vollführen musste, um die Wucht des Aufpralls abzufangen. Der Mann rannte indes weiter, ohne eine Entschuldigung und ohne auch nur einen Blick zu investieren.
Bahe verzog wütend die Miene und kontrollierte schnell das Geschenk für seine Großmutter. Erleichtert atmete er danach auf, es war nicht beschädigt worden.
„Hey! Pass doch auf, du Idiot!“
„Bist du verrückt geworden?!“
„Verpiss dich gefälligst von meinem Stand, du vertreibst mir meine Kunden!“
Abfällige Bemerkungen von Passanten und Standbesitzern zogen jedoch plötzlich Bahes Aufmerksamkeit auf sich.
Im Zentrum der allgemeinen Aufregung befand sich ein Mann im Anzug, der keuchend nach Luft schnappte und von mehreren Leuten scharf angegangen wurde. Es handelte sich dabei um den Typen, von dem auch Bahe angerempelt worden war. Anscheinend war es kein Einzelfall gewesen. Bahe wollte sich schon abwenden, als der nächste Satz erneut seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Bitte, sie sind hinter mir her! Kann ich mich unter der Theke eures Standes verstecken?!“
Bahe kniff die Augen zusammen. Was war hier los?
Han Ning rannte mit seiner Arbeitstasche panisch durch eine ausgestorbene Gasse hinter einem größeren Einkaufszentrum und kam an einer Gassenkreuzung kurz zum Stehen. Er hatte längst jegliche Orientierung verloren, musste sich jetzt aber dringend unter Zeitdruck zurechtfinden. Er drehte sich noch ein paar Mal im Kreis und entschied sich schließlich für die Richtung, aus der er Stimmengewirr zu vernehmen meinte.
Mit einem letzten Blick zurück, glaubte er bereits seine Verfolger zu erkennen und ihm wurde mit einem Mal ganz kalt. Fluchend beschleunigte er seine Schritte und rannte den Geräuschen von Menschenleben entgegen.
Er bog noch einmal links ab und kam dann endlich in eine Sackgasse, die bereits von zahlreichen Geschäften und Cafés gesäumt war.
Ohne darüber nachzudenken lief er gerade aus und bog ein weiteres Mal links, in die größte Einkaufsstraße Dazus, ein.
Er schaffte es noch fünfzig Meter weiter, als ihm die Puste allmählich ausging. Unkonzentriert prallte er gegen den Rücken eines Jugendlichen, was ihm noch mehr Kraft raubte. Trotzdem kämpfte er sich stoisch weiter.
Im zunehmenden Gedränge der Fußgänger rammte er aber kaum ein paar Meter später bereits zwei weitere Personen, ehe er selbst ins Stolpern geriet und mit Schwung gegen einen der Stände der Einkaufstraße fiel.
„Hey! Pass doch auf, du Idiot!“
„Bist du verrückt geworden?!“
„Verpiss dich gefälligst von meinem Stand, du vertreibst mir meine Kunden!“
Han Ning registrierte die aufgeregten Schreie der Betroffenen kaum und rang keuchend um Atem.
Es brachte alles nichts, er war fix und fertig. Viel weiter würde er seinen Verfolgern nicht entkommen können. Er musste sich verstecken!
Wie in Trance heftete sich sein Blick auf den Stand, an dem er sich immer noch festhielt. Han Ning zog zischend Luft in seine Lungen und rief flehend: „Bitte, sie sind hinter mir her! Kann ich mich unter der Theke eures Standes verstecken?!“
„Du hast sie nicht mehr alle, oder? Mach, dass du weg kommst! Ich will nichts mit deinen Problemen zu tun haben!“
Han Ning wurde klamm ums Herz als er diesmal der Ereiferung des Standbesitzers gewahr wurde.
„Aber ich werde ihnen auch bestimmt nicht zur Last fallen! Ich…“
„Nichts da! Mach, dass du fort kommst oder ich rufe die Polizei!“
„Aber…“, wollte Han Ning es ein weiteres Mal versuchen, wurde aber vom plötzlichen Geschrei des Ladenbesitzers unterbrochen.
„Hierher! Hier ist der Typ den ihr sucht! So ein bescheuerter Lackaffe im Anzug der auf der Flucht ist!“
Han Ning machte große Augen, als er sich der Auswirkungen des Gezeters bewusst wurde und stand wie vom Donner gerührt da.
Es war aus.
Er konnte nicht mehr und nach Hilfe suchte er hier vergebens.
Aufgebend schaute er zum bewölkten Himmel. Wieso war er nur so vom Pech verfolgt?
Seufzend lenkte er den Blick wieder gen Boden, als ihn ein Ruck an seinem linken Arm beinahe von den Beinen riss.
Stolpernd fing er sich gerade noch auf und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass ein junger Ausländer seinen Arm umklammert hielt und ihn hinter sich her zog.
„Was zum…“
„Halte die Klappe und tu was ich dir sage!“, sagte der Junge bestimmt und zog Han Ning weiter.
Für den Moment war er viel zu verdutzt, um etwas zu sagen. Auch, wenn ihm tausend Fragen gleichzeitig durch den Kopf schossen.
Der Junge beschleunigte sein Tempo und zog Han Ning in einem Affenzahn hinter sich her, ohne dass sie dabei rannten. Es war bemerkenswert… als ob er bereits im Vorhinein wüsste, wie er am besten durch die Menschenmenge laufen sollte, um niemanden anzurempeln.
Immer noch perplex, wurde Han Ning schließlich zu einem Stand, der Kopfbedeckungen verkaufte, geführt.
„Kauf dir eine Kappe!“, meinte der Junge bestimmt.
„Ich soll was…?“
„Du sollst dir eine Kappe kaufen, zur Tarnung.“
„Ah…“, gab Han Ning etwas verlegen zu verstehen, dass er verstanden hatte. Er hatte schon eine Kappe in der Hand, als sein Blick auf die größeren Kopfbedeckungen fiel. Zu sehen waren ausladende Hüte, teils mit Federn geschmückt oder Filmen nachempfunden. Doch eins hatten sie alle gemein, sie waren wesentlich größer und verdeckten sein Gesicht wesentlich besser.
„Wäre es nicht besser, einen von denen zu nehmen…?“
Der Junge starrte ihn nur an.
„Ähm…“, Han Ning wusste nicht so ganz, wie er das Verhalten des Jungen deuten sollte.
„Du meinst also, dass du mit einem Papagei auf dem Kopf weniger auffällst, ja?“
Langsam dämmerte es Han Ning, dass er gerade einen Gedankenaussetzer gehabt hatte und sagte schnell zum Ladenbesitzer: „Ich nehme diese Kappe.“
Der Kauf war schnell abgewickelt und er setzte die Kappe sofort auf.
„Weiter“, hörte er den Jungen und beeilte sich hinterher zu kommen. „Hast du eine Visitenkarte?“
„Ähm… ja…?“
„Her damit.“
Hastig wühlte er eine Visitenkarte aus seinem Portmanie und reichte sie dem Jungen. Er wollte schon fragen, wofür er sie denn brauchen würde, als sie zwei Stände weiter erneut zum Stehen kamen. Hier wurden Jacken verkauft und so langsam ahnte Han Ning was der junge Ausländer wohl mit ihm vor hatte.
Wahllos griff er sich ein, von der Größe passendes, Exemplar und bezahlte schnell.
„Gib mir dein Jackett und die Tasche“, sagte der Junge noch bevor er die Jacke übergezogen hatte. Han Ning wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Wieso wollte der Junge seine Arbeitstasche und sein Jackett?
„Worauf wartest du? Sie können jeden Moment hier sein!“, drängte der Junge als Han Ning zögerte.
Ach, verdammt!
Er überlegte nicht länger, händigte alles aus und warf sich schnell die Jacke über. Zu seinem Erstaunen zog sich der Junge das Jackett an und warf sich die Tasche über die Schulter. Anschließend nickte er Han Ning zu.
„Wir können los.“
Ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, setzte sich der junge Ausländer auch schon in Bewegung. Han Ning konnte nur ein weiteres Mal hinterher eilen. Er war verblüfft, wie zügig sich der Junge durch die Menschenmassen bewegte, ohne irgendjemanden anzurempeln.
Während allmählich die Freude aufkam, seinen Verfolgern entkommen zu sein, ließen ihn plötzlich Rufe hinter ihm inne halten. Sie waren unglaublich nah!
„Nicht stehen bleiben!“, forderte ihn der Junge auf und ging weiter. „Geh weiter und verhalte dich normal. Man wird dich nicht erkennen.“
Pah, der Junge hatte leicht reden. Schließlich waren sie ja nicht hinter ihm her. Dennoch versuchte Han Ning sich so normal wie möglich zu verhalten und ignorierte die stetig näher kommenden Rufe hinter ihm.
„Hey, bleib stehen!“, rief plötzlich eine tiefe Männerstimme und Han Ning lief ein Angstschauder über den Rücken. Es erforderte seine ganze Willenskraft sich nichts anmerken zu lassen und ruhigen Schritts weiter zu gehen.
„Ich sagte, du sollst stehen bleiben, Mann!“, hörte er den Mann nun wütend.
„Weiter gehen!“, zischte ihm der Junge zu.
Han Ning folgte nur noch den Anweisungen und flehte innerlich darum, dass ihn niemand erkennen möge.
Es dauerte keine zwei Sekunden mehr, da wurde Han Nings Schulter von einem Arm weg gestoßen. Geschockt blickte er sich um und entdeckte, wie einer seiner Verfolger sich den jungen Ausländer geschnappt hatte. Prompt hielt er den Blick gesenkt und zog sich die Kappe noch etwas tiefer in die Stirn. Konnte er den Jungen wirklich einfach so sich selbst überlassen? Er hatte ihm schließlich nur helfen wollen…
„Was zum…“, entfuhr es derweil dem Verfolger verdattert, als er einen jungen Ausländer vor sich entdeckte und nicht den erwarteten Anwalt. „Von wem hast du das Jackett und die Tasche bekommen!“
„Äh…“, suchte der Junge offensichtlich verängstigt nach Worten.
„Rede schon! Woher hast du die Sachen?!“, rief der Mann aufgebracht.
„Ein… ein Mann hat… hat mir 1000 Yuan gegeben, damit ich die Sachen später… später per Post an diese Adresse schicke…“, stotterte der Junge panisch und hielt ein zerknitterte Visitenkarte hoch.
„Dieser verdammte Sohn einer Schildkröte![i]“, fluchte der Mann lauthals, als mehrere seiner Kumpane ihn einholten. „Wo ist er danach hin?!
Vollkommen verängstigt von der großen Zahl an Schlägern, zeigte der Junge blitzschnell auf eine Seitengasse und stotterte: „Da… da… ist er rein… Bitte… ich wusste nicht, dass er… er gesucht wird…“
Han Ning zog innerlich die Augenbrauen hoch, während er sich äußerlich bemühte gleichgültig zu wirken und zu den Ständen auszuweichen, um sich dort augenscheinlich etwas anzugucken. Dieser junge Ausländer konnte vielleicht schauspielern…
Durch einen Spiegel an einem der Stände beobachtete er derweil, wie seine Verfolger sich verhielten.
„Ach, halt die Schnauze“, rief der Mann scheinbar angewidert von dem Jungen und stieß ihn von sich. „Wir müssen da lang, los, Beeilung! Sonst entkommt er uns noch!“
Ohne eine Antwort der restlichen Schläger abzuwarten, rannte er bereits los und wenig später war der gesamte Trupp in der Gasse verschwunden.
Han Ning schaute währenddessen bewundernd auf den Jungen, dessen Gesichtsmimik sich von panischer Angst in ein schadenfrohes Grinsen wandelte, sobald er sich umdrehte und der Gasse den Rücken zugewandt hatte.
Mit einem Nicken, forderte er Han Ning dazu auf, ihm durch die Einkaufstraße zu folgen und setze sich in Bewegung.
„Vielen Dank für deine Hilfe“, meinte Han Ning ehrlich und verbeugte sich im Gehen leicht, als er seinen Retter eingeholt hatte. „Ich heiße Hua Han Ning und bin ein Anwalt aus Dadukou. Darf ich deinen Namen erfahren?“
„Dragon Bahe und kein Problem“, sagte der Junge schlicht und verbeugte sich ebenfalls leicht im Gehen.
„Dragon… ein eindrucksvoller Name…“, schloss Han Ning, erlebte aber wie der Junge die Augen verdrehte.
„Es wird deutsch ausgesprochen und hat nicht die gleiche Bedeutung wie das englische Wort für einen Drachen.“
Ein mächtiger Name und Bescheidenheit, Han Ning kam nicht umhin, diesen jungen Ausländer von Minute zu Minute mehr zu bewundern.
Bahe schaute sich das Gesicht des Anwalts an und wusste sofort, dass der Chinese nicht so leicht von seiner Meinung über seinen Nachnamen ablassen würde. Na ja… vielleicht wirkte es sich ja tatsächlich positiv auf chinesische Bekanntschaften aus.
Wieso hatte er dem Mann eigentlich geholfen?
Hatte es an der Situation gelegen? Dass er von einem Schlägertrupp gejagt wurde?
Immerhin konnte er sich durchaus mit solch einer Situation identifizieren… Als er gesehen hatte, wie der Typ buchstäblich alles falsch machte, um unauffällig zu bleiben… Er hatte es einfach nicht mit ansehen können.
Und letzten Endes… war es nicht Schicksal? Das er ausgerechnet so einem Anwalt begegnete, dessen Dienste sich seine Familie sonst niemals leisten könnte?
[i] Sohn einer Schildkröte = Um diese Beschimpfung zu verstehen, muss man etwas über China als auch über Tiere wissen. Die weibliche Schildkröte kopuliert mit jedem Männchen. Die Beschimpfung soll also bedeuten, dass die Mutter des Beschimpften mit jedem Sex hat. Die Familienehre ist in China sehr wichtig.
„Wir sollten uns beeilen von hier weg zu kommen. Diese Idioten werden noch früh genug merken, dass ich sie rein gelegt habe“, sagte Bahe ernst, beschleunigte seine Schritte ein wenig und stellte dann die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte: „Wie kommt es denn eigentlich, dass ein Anwalt von solchen Schlägern gejagt wird?“
„Ha ha…“, lachte der Anwalt verlegen und meinte vage: „Ist eine lange Geschichte…“
„Ich habe Zeit“, grinste Bahe.
Diesmal musste Han Ning lauthals lachen, ohne jegliche Spur von Verlegenheit.
„Ich muss zum Bahnhof, sofern du einen ähnlichen Weg hast, erzähle ich dir gerne mehr“, zuckte Han Ning die Schultern
„Das passt ja perfekt. Der Bahnhof war auch mein Ziel.“
Han Ning zog bei Bahes Worten die Augenbrauen hoch, fing dann jedoch an zu erzählen: „Um es kurz zu machen… Ich wurde reingelegt.“
Han Ning lachte, als er Bahes missmutigen Blick sah.
„Keine Sorge, hier kommt die ausführliche Version“, meinte er mit einem Augenzwinkern an Bahe gewandt und fuhr fort: „Ein früherer Arbeitskollege hat mich vor einiger Zeit einmal vollkommen ausgespielt und erhielt dadurch eine Beförderung die mir zugestanden hätte. Seitdem hat er es ununterbrochen auf mich abgesehen. Wahrscheinlich fühlt er sich, mit mir immer noch in der Kanzlei, nicht richtig wohl. Er hat sich schließlich meine Arbeit für seinen Aufstieg zu Nutze gemacht. Wenn ich das nur beweisen könnte…“
Seufzend nahm Han Ning kurz seine Kappe ab, fuhr sich durch die Haare und setzte sie wieder auf, ehe er weiter erklärte: „Inzwischen ist dieser Mistkerl mein Chef und hat mir jeden Auftrag weg genommen, der kurz vorm Abschluss stand. Wir müssen in unserer Kanzlei in regelmäßigen Abständen Abschlüsse vorweisen. Deswegen…“
„Was meinen Sie mit Abschlüssen?“, fragte Bahe dazwischen.
„Oh, also abgeschlossene Fälle, erfolgreiche Verteidigungen.“
„Ach so, alles klar.“
„Na ja… wo war ich…? Ach ja, da er mir alle guten Fälle weg genommen hat, stehe ich in der Kanzlei im Moment ziemlich schlecht da. Dadurch konnte er mich zwingen hier nach Dazu zu kommen, um einen neuen Fall zu übernehmen. Wenn ich diese Woche schon keinen Fall abschließen kann, dann darf ich mich als Angestellter zumindest nicht weigern einen neuen Fall anzunehmen… Sonst hätte er sofort einen Grund mich zu entlassen. Einzig mein hohes Dienstalter hat ihn bisher davon abgehalten mich zu entlassen…“, sagte Han Ning und blickte für einen Moment in die Ferne. „Heute bin ich also nach Dazu gefahren und durfte feststellen, dass dieser „Klient“ der hiesige Boss der Kleinkriminellen ist. An sich, wäre das vermutlich kein Problem gewesen. Aber mein Boss hat mir einen Termin für den Nachmittag genannt… tatsächlich war der Termin schon für den Vormittag angesetzt… Du kannst dir wahrscheinlich denken, dass diese Leute nicht gerne warten.“
Bahe sah, wie der Anwalt den Kopf schüttelte und noch einmal ansetzte: „Als ich merkte wo ich gelandet war, befand ich mich schon in den privaten Räumlichkeiten dieses Mistkerls. Dieser Bastard hat mir natürlich noch äußerst süffisant vorgehalten, dass der Termin bereits vor mehreren Stunden gewesen war, während einige der Schläger bereits ihre Ärmel hoch krempelten… Ich habe mich in dem Moment sofort für einen Toilettengang entschuldigt. Dem Boss schien meine Panik sichtlich zu gefallen, anders kann ich mir nicht erklären, wieso er mich dahin entließ. Letztlich kletterte ich dort aus dem Fenster und ließ mich drei Meter tief in eine Hecke, eines unter dem Fenster liegenden Sportplatzes fallen. Ich war noch nie so froh, dass sie die Dinger mittlerweile aus Platzmangel auf den Dächern bauen.“
„Und anschließend haben Sie es bis zur Einkaufsstraße geschafft.“
„So in etwa… Ich bin immer noch vollkommen fertig“, lächelte Han Ning verhalten.
„Ich war ja nicht vor Ort und kann es nicht genau einschätzen… Aber seid Ihr Euch dir sicher, dass sie Euch nur etwas antun wollten, weil Sie zu spät kamen?“
„Ah, du hast ja schnell geschaltet“, meinte Han Ning zustimmend. „Du hast natürlich recht. Die eigentliche Frage ist wohl eher, wie meine Kanzlei überhaupt Verbindungen mit diesen Leuten aufgenommen hat und ob die ganze Situation nicht vielleicht sogar von meinem Chef geplant worden ist… So oder so, ist das Ergebnis mein Untergang. Kein Klient, also auch kein Abschluss bis Freitag.“
Bahe schüttelte ebenfalls den Kopf. So langsam konnte er die Panik des Mannes verstehen. Aber vielleicht ließ sich ja genau dahingehend etwas machen. Schließlich suchte er ja auch einen Anwalt!
„Eine Frage hätte…“
„Entschuldige bitte, dass ich dich unterbreche, Bahe, aber könnte ich mein Jackett und meine Tasche so langsam zurück bekommen? Ich glaube wir sind inzwischen weit genug weg.“
Bahe musste grinsen, er hatte ganz vergessen, dass er immer noch Han Nings Tasche trug.
„Klar“, antwortete er, reichte zuerst die Tasche hinüber und zog sich anschließend das Jackett aus.
Han Ning behielt vorsichtshalber die billig gekaufte Jacke an, faltete sein Jackett und stopfte es anschließend in seine Tasche.
„Also, was wolltest du mich fragen?“
„Sie brauchen doch dringend einen Klienten?“
„Ähm… ja?“
„Dann würde ich Sie gerne engagieren“, sagte Bahe. „Nur werde ich nicht allzu viel bezahlen können…“
„Mal von der Bezahlung abgesehen… worum geht es überhaupt?“, antwortete Han Ning zögerlich.
Als Bahe sah, dass er ernst genommen wurde, holte tief Luft und begann zu erzählen.
Im Laufe der nächsten paar hundert Meter, erläuterte Bahe die Umstände seiner Familie und die Problematik rund um den Verkauf des Anwesens.
Sie betraten gerade das Gelände des Bahnhofs, als er zum Ende kam.
Han Ning blieb im Eingangsbereich des Bahnhofs stehen und sah Bahe mit schwer wiegender Miene an.
„Tut mir Leid, Bahe, ich werde dir nicht helfen können.“
Als ob er es nicht bereits beim Blick Han Nings geahnt hätte, dachte Bahe niedergeschlagen.
„Bitte verstehe mich nicht falsch, ich möchte dir helfen aber rechtlich gibt es einfach keine Möglichkeit mehr dort einzuschreiten. Dein Großvater hat im Grunde alle seine Rechte an diesen Shang abgetreten… Kein Anwalt der Welt kann dort etwas ausrichten. Selbst wenn du dich an die Polizei wendest… Ich glaube nicht, dass in dieser Hinsicht etwas unternommen werden würde.“
„Also war mein Großvater an dieser Stelle einfach zu naiv? Man kann gar nichts machen?“
„Ich fürchte nicht“, erklärte Han Ning, sich sichtlich unwohl fühlend.
Bahe sah den Anwalt an und konnte nicht umhin festzustellen, dass sich dessen Blick von einer gewissen Ehrfurcht und Interesse in Mitleid verwandelt hatte.
Hatte er vorhin nicht noch gedacht, dass es das Schicksal gut mit ihm meinte?
Von wegen! Pah!
„Du bist ja wegen diesem Polizisten in Dazu, der ein Bekannter deines verstorbenen Vaters ist. Offiziell wird er auch keine Möglichkeit haben dir zu helfen, vielleicht aber unter der Hand. Die Polizei von Dadukou wird dir auf jeden Fall nicht helfen können. Dieser Kredithai Mai Ping Lun ist kein gewöhnlicher Krimineller… Er unterhält zu einigen hohen Persönlichkeiten recht enge Beziehungen. Wahrscheinlich hat er anfangs noch nicht mal selbst seine Schlägertruppen auf dich und deine Familie angesetzt und ist nur auf euch aufmerksam geworden, als er erfuhr, dass es um solch ein riesiges Anwesen geht.“
Bahe nickte nur deprimiert.
„Ich würde dich auch ohne Bezahlung vertreten, aber ich wüsste nicht, wie ich diese blöden Eier[i] in ihre Schranken verweisen sollte.“
„Ist schon gut, ich kann schon verstehen, dass Sie da nichts machen können“, sagte Bahe niedergeschlagen und verabschiedete sich: „Ich muss in fünf Minuten meinen Zug erwischen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Heimreise.“
Ohne eine Antwort abzuwarten lief er mit dem Geschenk für seine Großmutter schnell zu den Gleisen und verschwand alsbald in der Menge.
Nur mit Mühe gelang es ihm nach und nach die Tränen weg zu drücken. Er hatte es einfach nicht länger ausgehalten mit dieser mitleidigen Art behandelt zu werden. Nicht mal ein Anwalt konnte ihm helfen…
Wie sollte er seine Familie bloß aus dieser Lage retten?
Der Rückfahrt verging quälend langsam und Bahe war nur zu froh, als er zu Hause ankam. Das Abendessen zeugte auch von einer bedrückten Stimmung, wenn man mal von seinen kleinen Geschwistern absah. Seine Großmutter und er selbst, schwiegen jedoch vor sich hin. Bahe brauchte nicht nachzufragen, um zu wissen, dass seine Großmutter auch keinen richtigen Ausweg gefunden hatte. Nur Geld für die Operation zu haben, so ganz ohne Reha-Behandlung… Bahe wollte lieber nicht daran denken.
Anschließend half er noch seine Geschwister ins Bett zu bringen, flüchtete danach jedoch in sein Zimmer und loggte sich in Raoie ein.
Am nächsten Tag machte er sich früh fertig, brachte seine Geschwister zum Kindergarten und fuhr anschließend erneut nach Dazu.
Es dauerte den halben Tag bis er nachmittags und tatsächlich erst beim vorletzten Polizeirevier, fündig wurde. Auf einem Foto hatte Bahe den alten Bekannten seines Vaters wiedererkannt. Auch mit seinem Namen, Li Bang Tuo, hatte er richtig gelegen.
Bei der Auskunft bekam er aber zunächst einen Dämpfer. An der Information war ihm ausgerichtet worden, dass der Bekannte seines Vaters heute dienstfrei hatte. Das Wort, Familienfeier, war in dem ununterbrochen Redeschwall des Beamten herauszuhören gewesen. So oder so, er war nicht auf dem Revier.
Letztlich hatte Bahe Glück im Unglück, der redebegeisterte Beamte hatte ihm das Restaurant genannt, wo sich dieser am Abend wohl aufhalten würde und ihm obendrein sogar noch den Weg beschrieben.
Irgendwie passte das mitteilsame Verhalten des Beamten so gar nicht mit der telefonischen Abfuhr überein, die Bahe Vorgestern noch bekommen hatte. Der Unterschied war ja wirklich wie Tag und Nacht.
Bahe zuckte schlicht die Schultern, er war der Letzte, der sich in solch einer Situation beschweren würde.
Circa fünfundzwanzig Minuten später erreichte er sein Ziel und betrat das Restaurant. Er entdeckte Li Bang Tuo nirgends, was im Anbetracht der vielen Trennwende aber kein Wunder war.
Bahe überlegte gerade, ob er einfach so durch das Restaurant spazieren sollte, als einer der Kellner auf ihn zu kam.
„Guten Abend, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Abend, mir wurde gesagt, dass hier eine Familienfeier der Li-Familie stattfindet…?“
„…“, der Kellner schien, ob Bahes europäischer Natur zunächst verunsichert, sagte dann jedoch. „Aber sicher, folgen Sie mir einfach.“
Kaum dreißig Sekunden später stand Bahe vor der Trennwand, die zum persönlichen Bereich der Li-Familie führte und fragte sich, ob er hier nicht gerade einen Fehler beging…
Eine chinesische Familie in ihren Feierlichkeiten zu stören, wenn man eigentlich ihre Hilfe brauchte…
Schlussendlich drehte Bahe um und verließ das Restaurant. Gegenüber vom Eingang befanden sich zwei Cafés mit Sitzplätzen im Außenbereich und er entschloss sich dort zu warten.
Natürlich zog sich die Warterei in die Länge. Bahe war schon bei der vierten Cola und heimste sich allmählich merkwürde Blicke der Bediensteten ein, die sich offensichtlich fragten, wieso er seit Stunden an seinem Tisch sitzen blieb und stets nur eine Limonade bestellte.
Er ignorierte die Blicke und beobachtete weiter den Eingang. Die Abenddämmerung hatte längst eingesetzt und spätestens in einer halben Stunde würde es stockdunkel werden.
Genervt fuhr er sich durch die Haare. Seine Großmutter würde wegen seiner Verspätung wahrscheinlich wieder einen Aufstand machen…
Um zwanzig Uhr schloss auch das Café endgültig seine Pforten und Bahe musste seinen Platz räumen und sich auf den nackten Bordstein am Straßenrand setzen. Mittlerweile bereute er seine Entscheidung, warten zu wollen, zutiefst. Dennoch, er hatte damit begonnen und würde jetzt dabei bleiben.
Insgesamt dauerte es letzten Endes bis einundzwanzig Uhr, ehe die Li-Familie das Restaurant verließ. Sie waren durch die Vielzahl der Gäste glücklicherweise schnell zu erkennen gewesen.
Li Bang Tuo erschien fast als letzte Person, doch Bahe erkannte ihn sofort wieder. Bang Tuo war nicht die prägnanteste Erscheinung, aber irgendetwas an seiner Art war Bahe nie aus dem Kopf gegangen. Er konnte selbst nicht genau sagen, was es war.
Im Nu, stand Bahe auf, überquerte die Straße und stellte sich vor seinem Ziel auf.
„Guten Abend Polizeikommisar Li“, begrüßte Bahe den Mann, verbeugte sich dabei leicht und fuhr fort: „Verzeihen Sie bitte die Störung, aber ich müsste dringend mit Ihnen sprechen.“
Die umstehenden Familienmitglieder schauten verdutzt auf Bahe und auch Bahes Gegenüber war sichtlich überrascht.
„… Kennen wir uns?“, fragte der Bekannte von Bahes Vater.
„Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich, mein Name lautet Dragon, Bahe. Sie haben vor ein einiger Zeit mit meinem Vater, Dragon Aurel, zusammen gearbeitet.“
Als Bahe den Namen seines Vaters erwähnte, zog Bang Tuo erstaunt die Augenbrauen nach oben und sagte: „Was immer es ist, es muss bis Morgen warten. Ich bin mit meiner Familie hier, ich kann nicht…“
Bevor Bahe etwas erwidern konnte, legte sich plötzlich eine Hand auf Bang Tuos Arm und unterbrach ihn damit.
Die Hand gehörte einer Frau in ihren Dreißigern, die noch zwei kleine Mädchen mit sich führte.
„Rede ruhig mit ihm“, sagte sie in Ruhe. „Du hast seinem Vater einiges zu verdanken. Wir warten solange mit meinen Eltern.“
„Also gut“, antworte Bang Tuo, nickte seiner Frau zu und fuhr an Bahe gewandt fort: „Du hast sie gehört. Anscheinend kann ich dir noch etwas meiner Zeit widmen. Worum geht es?“
Li Meng Lang zog sich mit ihren Töchtern zu ihren Eltern zurück und beobachtete, wie ihr Mann sich mit dem Jungen unterhielt.
„Wer ist der Ausländer?“, fragte ihr Vater.
Meng Lang schaute zu ihrem Vater und antwortete: „Der Vater des Jungen hat Bang Tuo damals in Dadukou in zwei Fällen sehr geholfen und war letztlich mit dafür verantwortlich, dass Bang Tuo so schnell befördert wurde.“
„Ein Ausländer?“, meinte ihr Vater skeptisch.
„Ach Pa… Es gibt auch Menschen außerhalb Chinas die ganz in Ordnung sind“, rügte sie kopfschüttelnd und richtete den Blick wieder auf ihren Mann und den Jungen.
„Wem sagst du das, Meng Lang. Ich versuche schon seit fünfzig Jahren deinen Vater davon zu überzeugen“, sagte ihre Mutter seufzend.
„Trotzdem… diese Ausländer haben keine Ahnung von unseren Bräuchen. Sonst hätte er uns niemals auf einer Familienfeier gestört“, verteidigte sich ihr Vater und Meng Lang entschied sich es diesmal unkommentiert zu lassen.
Es dauerte nicht lang, da endete die Unterhaltung schon und der Junge verschwand. Meng Lang glaubte eine gewisse Niedergeschlagenheit in seinem Gang erkennen zu können. Doch ehe sie noch weiter darüber nachdenken konnte, wurde sie von ihrer neugierigen Mutter aus den Gedanken gerissen.
„Und, was wollte er?“, fragte sie aufgeregt ihren Schwiegersohn.
Bang Tuo schüttelte nur den Kopf.
„Nichts, wobei ich ihm helfen könnte“, sagte er. „Kommt, lasst uns nach Hause fahren.“
„Ich sag’s ja, Ausländer!“, meinte ihr Vater noch verächtlich, während sie innerlich die Augen verdrehte und ihrem Mann zum Auto folgte.
Nachdem die Kinder endlich tief und fest schliefen, gesellte sich Meng Lang zu ihrem Mann ins Wohnzimmer und bemerkte seine eigenartige Stimmung.
Sie starrte ihn kritisch an. Nach einer Weile, schien er es zu bemerken.
„Was?“
„Weißt du, wieso ich dich geheiratet habe?“
Verblüfft über die Frage, zog ihr Mann die Augenbrauen hoch und meinte anschließend cool: „Weil du meinen Humor… und… meine Künste im Bett so sehr magst?“
Ein wissendes Lächeln umspielte Meng Langs Lippen, als sie sich zu ihrem Mann setzte und für einen Moment so tat, als wolle sie ihn küssen, nur um sich im letzten Moment schnell zurück zu ziehen.
Belohnt wurde sie mit dem Bild, wie ihr Mann in Erwartung eines Kusses die Augen geschlossen hielt und ihr seinen Kopf leicht zuneigte.
Belustigt, konnte sie ihr Kichern nicht unterdrücken, was ihren Mann dazu brachte die Augen zu öffnen und mürrisch drein zu blicken.
Er setzte grad zu sprechen an, als sie ihm schnell die Finger auf den Mund legte und sagte: „Ich habe dich geheiratet, weil du ein ehrenvoller Mann bist. Ein Mann der niemals alte Freunde vergessen würde.“
„Ah… du spielst auf die Sache von vorhin an.“
„Aurel Dragon hat dir damals geholfen diese Stelle hier zu bekommen. Kurz bevor du sie antreten konntest, ist er jedoch gestorben. Soweit ich weiß, hast du diese Schuld niemals beglichen und jetzt fragt dich sein Sohn um Hilfe und du unternimmst nichts? Das passt doch nicht zu dir…“
„Du verstehst das falsch… Es gibt einfach nichts, was ich auf legalem Wege tun könnte, um ihn aus seiner Situation zu befreien…“
„Sowas hat dich doch auch früher nicht abgehalten etwas zu unternehmen.“
„Ja… früher“, seufzte ihr Mann. „Früher hatte ich auch nicht eine so wundervolle Familie, um die ich mich sorgen musste. Mit diesem Mai Ping Lun ist nicht zu spaßen.“
„Mai Ping Lun?“
„Ein krimineller Bastard aus Dadukou.“
„Hast du Angst vor ihm?“
Ihr Mann blickte sie stumm an. Er hatte Angst!
„Und lässt du zu, dass diese Angst dein Leben bestimmt? Soweit ich weiß, hat jemand auch seine Angst überwunden mich anzusprechen...“
„Das ist was anderes…“
„Nein, ist es nicht. Entweder du stellst dich deiner Verantwortung oder gehst mit den Konsequenzen unter.“
„Wieso willst du unbedingt, dass ich dem Jungen helfe? Doch nicht nur, um meine Ehre zu wahren oder?“
„Ich habe den Jungen… wie heißt er eigentlich?“
„Bahe.“
„Ich habe Bahe im Restaurant gesehen, als ich gerade von der Toilette zurück kam. Er stand schon vor der Trennwand und wollte gerade klopfen, doch dann hat er es sich anders überlegt und verließ das Restaurant wieder.“
„Und?“
„Zu der Zeit war es noch Nachmittag.“
„Oh…“
„Er hat mehrere Stunden auf dich gewartet und das, obwohl es scheinbar äußerst dringend war.“
„Kann man wohl sagen.“
„Weißt du was heute für ein Tag ist?“, fragte sie.
„Äh… nein…“, antwortete er auf ihren plötzlichen Themawechsel irritiert.
„Laut Horoskop sollten wir bei unserer Vereinigung heute Nacht mit einem Jungen gesegnet werden. Meine und deine Mutter haben keine Mühen gescheut, um den perfekten Tag zu finden… und wie es sich so trifft ist dieser ausgerechnet heute…“, meinte sie lasziv und fuhr dabei mit den Händen über ihre Brüste und ließ sie langsam in ihren Schoß wandern.
„…“, ihr Mann schluckte, ob der offensichtlichen Einladung, die sie soeben ausgesprochen hatte und tat sein möglichstes, seine Erregung zu verbergen.
„Wenn du mir versprichst, dass du ihm hilfst, würde ich darüber nachdenken ihren Vorschlägen nachzukommen“, quälte sie ihn noch ein Bisschen.
„Meng Lang…“, begann ihr Mann, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Versprich es mir!“
„Ich… ich verspreche es!“, zögerte Bang Tuo nicht länger und griff nach ihr.
Sie wich blitzschnell aus und sprang von der Couch.
„Du musst mich schon kriegen!“, rief sie noch über ihre Schulter und rannte anschließend zum Schlafzimmer.
Natürlich kam ihr Mann der Aufforderung nur zu gerne nach und schmiss sie kurz darauf auf das Bett. Sie kebbelten sich für einen Moment spielerisch, ehe sie schließlich auf dem Rücken lag und sich sein Gesicht unmittelbar vor dem ihren befand.
Alle Spielerei war aus seinen Zügen verschwunden, als er ganz ernst sagte: „Du weißt, dass du das hier nicht tun musst, damit ich dem Jungen helfe oder?“
„Ich weiß“, lächelte sie. „Ich wusste es ab dem Moment, wo ich ins Wohnzimmer kam und dich mit nachdenklicher Miene auf der Couch sitzen sah.“
„Wieso tust du es dann?“
„Aus zwei Gründen, zum Einen wollte ich nicht den ganzen Abend mit einem mürrischen Ehemann verbringen und zum Anderen… hatten wir nicht schon länger geplant es noch einmal für einen Jungen zu versuchen?“, neckte sie.
Ihr Mann grinste.
„Jetzt küss mich endlich!“, meinte sie ungeduldig.
Am Vormittag des nächsten Tages stieg Bahe angespannt aus seiner U-Bahn aus. Die schlechten Nachrichten des gestrigen Abends machten ihm immer noch zu schaffen. Auch Li Bang Tuo hatte ihm gesagt, dass er nicht mehr helfen könne, obwohl er gerne wollte. Doch zu allem Überschuss hatte er von seiner Großmutter gehört, dass sie immer noch Probleme hatte das angelegte Geld zu bekommen.
Das Ganze hatte diese unterschwellige Panik, die er ununterbrochen empfand, wieder hochkochen lassen. Es wurde langsam gefährlich für seine Mutter, sie konnten nicht mehr viel länger mit der Operation warten!
Abgesehen davon, hatte er natürlich auch noch ordentlich etwas zu hören bekommen, wieso er erst mitten in der Nacht wiedergekommen war. Sogar sein Großvater, der im Laufe des Tages entlassen worden war, hatte sich daran beteiligt. Letztlich hatten sie ihm sogar verboten, ein weiteres Mal nach Dazu zu fahren. Aber was hätte er da auch schon gewollt? Jetzt, da sich die Reise nach Dazu als reine Zeitverschwendung heraus gestellt hatte…
Der restliche Abend war schnell vorbei gewesen. Nach der Standpauke hatte er sich schnell in sein Schlafzimmer zurück gezogen und die Nacht mit Raoie verbracht.
Selbst im Spiel war er immer noch viel zu aufgebracht gewesen, als dass ihm wirklich viel gelungen wäre. Aber wenigstens hatte es zur Ablenkung gedient.
Heute Morgen war er in seiner ganzen Verzweiflung wieder in der Realität angekommen und hatte nicht gewusst was er tun sollte.
Er hatte sich angezogen und dabei zufällig die zerknitterte Visitenkarte des Anwalts in seiner Hosentasche gefunden, dem er in Dazu geholfen hatte.
Eine Zeit lang hatte er nur da gestanden und auf die Karte geschaut.
Letzten Endes hatte er sich dann in Bewegung gesetzt und war hierher gefahren, ganz in die Nähe der auf der Karte angegebenen Adresse.
Bahe wusste selbst nicht, was er sich davon versprach. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine Verzweiflungstat.
Mit gesengtem Kopf ging er durch die Straßen Dadukous, gesäumt von den vielen Hochhäusern der Innenstadt und kam schräg gegenüber der Adresse zum Halten. Auf der anderen Seite prangte an einem Wolkenkratzer, auf Höhe des zweiten Stockwerks und nochmal weit oben in der Luft, der Name der Kanzlei, Chen Law Firm.
So wie es aussah handelte es sich wohl um ein verdammt erfolgreiches Unternehmen.
Bahe starrte eine Weile hinüber und wusste nicht so recht, was er als nächstes tun sollte. Hinüber gehen und diesem Anwalt guten Tag sagen?
He, wohl kaum.
Abgesehen davon, dass die Idee lächerlich war, hatte er ihm ja sowieso schon mitgeteilt, dass es keine Möglichkeit gab, Bahes Familie zu helfen.
Genauso wie gestern der Polizist…
Wahrscheinlich machten ihm auch seine Großeltern was vor. Anfangs war Bahe regelrecht euphorisch gewesen, als er erfahren hatte, dass seine Großeltern noch Geld für seine Universitätsausbildung zurück gelegt hatten. Doch im Nachhinein war er skeptisch geworden. Sein Großvater hatte nie viel verdient.
Und gestern Abend wirkten die beiden viel zu verzweifelt, als dass es nur an einer Bank liegen könnte, die kein Kapital hergeben will. Natürlich hatten sie versucht es zu überspielen. Aber in dem Moment war Bahe klar geworden, dass sie wahrscheinlich nur ihm zu Liebe gelogen hatten.
So, wie er es selbst nicht ertrug seine Mutter ohne Hilfe im Krankenhaus zu sehen, ertrugen es seine Großeltern nicht ihn für eine Behandlung schuften oder auch nur hoffen zu sehen.
Ah… seine Mutter… er hatte sie in den letzten Tagen kein einziges Mal mehr besucht. Bahe beschloss sie aufzusuchen, sobald er wieder einen klaren Kopf hatte.
Seufzend schüttelte er sich und drehte um. Es war eine Schnapsidee gewesen, überhaupt her zu kommen.
Er kam genau einen Schritt weit, dann blieb er erneut stehen. Es fühlte sich so falsch an zu gehen. Aber hier stehen zu bleiben, brachte ihn auch nicht weiter.
Schließlich begab er sich in ein Café und setzte sich an einen freien Platz am Fenster. Anschließend starrte er hinüber zur anderen Straßenseite und scheuchte die Bedienung weg. Ein uralter Fernseher schallte laut von der Decke herab und hin und wieder murrte einer der Gäste über die Lautstärke, bis sie schließlich etwas runter gestellt wurde. Bahe bekam von alldem aber kaum etwas mit.
Als er sich nach einer halben Stunde immer noch nicht rührte, bekam die Bedienung zu viel und verlangte, dass er entweder gehe oder endlich etwas bestelle.
Geistesabwesend nahm er einen Kaffee, obwohl er eigentlich gar keinen trank und starrte weiter hinüber. In den letzten Minuten waren vermehrt Menschen mit Kamera-Equipment in das Gebäude geeilt und Bahe fragte sich, was wohl los sei, als erneut mehrere Leute mit Kameras und Mikrofonen zum Eingang rannten. Sie waren sogar so sehr in Eile, dass einer Frau einige Kabel aus einem Seitenfach der Kameratasche fielen und es keiner anderen Person aus ihrem Team auffiel.
In den nächsten fünf Minuten kamen noch ein paar Nachzügler, doch dann versiegte der Strom an Menschen und Bahe bot sich wieder der normale Blick auf die Straße mit ihrem geschäftigen Treiben von Büroangestellten, Zustellern und anderweitigen Personen, die ihrem Alltag hinterher rannten.
Seufzend wandte Bahe zum ersten Mal den Blick auf seinen Tisch und dem darauf stehen Kaffee. In seiner geistigen Abwesenheit hatte er nicht aufgepasst und irgendetwas bestellt, Hauptsache er konnte bleiben. Er verzog sich selbst belächelnd etwas die Mundwinkel.
Mutig hob er die Tasse und nahm einen Schluck.
Kaum einen Moment später bereute er es.
Grundgüter war das widerlich, dachte Bahe genervt und versuchte den bitteren Geschmack, durch vermehrtes Schlucken, irgendwie wieder loszuwerden.
Der Erfolg blieb aus und Bahe stellte die Tasse schnell wieder ab. Vor Jahren hatte er einmal Kaffee von seiner Stiefmutter probiert. Damals war es schon widerlich gewesen und scheinbar hatte sich sein Geschmack nicht verändert. Gequält dachte er an die glücklichen Zeiten von damals und wurde erst wieder aus seinen Gedanken gerissen, als der Fernseher plötzlich wieder lauter gestellt wurde.
Mehr genervt als aus wirklicher Neugierde schaute Bahe zum Fernseher, um zu sehen, warum die Betreiber des Cafés die Lautstärke wieder erhöhten.
Zu sehen war ein Nachrichtenstudio und eine Frau setzte gerade zum Sprechen an: „Willkommen zurück bei uns im Studio, mein Name ist Ji Dexin und wie angekündigt schalten wir jetzt live zur Pressekonferenz im Hauptsitz der Chen Law Firm in Dadukou.“
Moment mal… Doch nicht etwa nach gegenüber, oder? Dachte Bahe überrascht und verband sofort die eiligen Kamerateams mit der Pressekonferenz.
Wie um seinen Gedanken zu bestätigen, wechselte das Bild zu einer Live-Schaltung mit einem Mann am Mikrofon in einer Pressehalle, in der es von Reportern nur so wimmelte.
„Danke dir, Dexin. Und auch von mir ein Hallo an alle Zuschauer zu Hause oder Ihren jeweiligen Projektionsflächen, die zugeschaltet haben. In wenigen Augenblicken müsste es soweit sein, dass unser Stadt eigener Staranwalt, Bei En Rui, seine Pressekonferenz zu den Vorwürfen hält, dass er nur gut betuchte Klienten annehmen würde“, rief der Reporter ins Mikrofon. „In den letzten Tagen ist in der Presse und in vielen Chatforen eine heiße Diskussion darum entbrannt, ob Bei En Rui wirklich noch nach Gerechtigkeit strebt oder seine Klienten bewusst nur nach deren Brieftasche auswählt. Dem stetig wachsenden Ruf nach einer Stellungnahme will er hier und jetzt endlich nachkommen und wir sind alle gespannt, was er wohl zu sagen hat.“
Bei En Rui! Von dem hatte sogar Bahe schon mal gehört, obwohl er über die letzten Monate nicht mal einen Fernseher, geschweige denn eine Projektionsfläche gehabt hatte.
Der Typ war der Staranwalt der Stadt schlecht hin! Seit Jahren hatte er keinen einzigen Fall mehr verloren!
„Ah! Ich höre etwas. Ja, da kommt er auch schon. Meine Damen und Herren, ich verabschiede mich vorerst, um den, von den Massen geliebten aber auch kontrovers diskutierten, Staranwalt Bei En Rui, das Wort zu überlassen“, rief der Reporter plötzlich aufgeregt und trat zur Seite, um der Kamera die bestmögliche Sicht auf das Podium mit einem gut aussehenden Mann in den Dreißigern zu geben.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Bahe, wie auch andere Cafébesucher zu dem alten Fernseher empor schauten und neugierig die Rede des Anwalts erwarteten.
„Guten Tag zusammen, für all diejenigen, die mich noch nie zu Gesicht bekommen haben, mein Name ist Bei En Rui, ein bescheidener Anwalt von Chen Law Firm“, anschließend pausierte er kurz mit einem Augenzwinkern in die Kameras.
Bahe fand ihn recht sympathisch. Der Mann hatte irgendwie eine recht einehmende und ehrliche Ausstrahlung.
„In letzter Zeit haben sich vermehrt Gerüchte um meine Person empor geschaukelt, die so nicht gänzlich stimmen und die ich hier widerlegen möchte“, fuhr er schließlich fort. „Es wurde tatsächlich die Vermutung angestellt, ob ich mir, als Verfechter der Gerechtigkeit, zu Schade sei, um Fälle von Menschen anzunehmen, die lediglich über ein Durchschnittseinkommen verfügen. Dem muss ich an dieser Stelle ganz klar widersprechen! Es ist definitiv nicht so, dass ich nur Klienten beistehe, die über ein gewisses Kapital verfügen. Unsere Kanzlei, Chen Law Firm, vertritt jeden Hilfesuchenden der unsere Dienste in Anspruch nehmen will. Selbstverständlich nur – und das gebe ich offen zu, sofern er unsere Gebühren bezahlen kann. Und an dieser Stelle muss ich ganz klar mein Versagen einräumen. So gerne ich es auch bestreiten möchte, wir leisten zwar gute Arbeit, lassen uns dementsprechend aber auch bezahlen. Eine längere Prozessbegleitung durch uns, ist daher für die ein oder andere Person nicht bezahlbar. Daher erkläre ich hiermit ganz deutlich, dass unsere Kanzlei, mich eingeschlossen, sich bereit erklärt pro Monat eine bestimmte Anzahl von Fällen von Menschen zu bearbeiten, die sich unsere Dienste im Normalfall nicht leisten können.“
Bahe riss geschockt die Augen auf. Seine Gedanken rasten, als sich in seinem Geiste endlich ein Hoffnungsschimmer ausbreitete.
[i] Blöde Eier (bzw. das Pendant in Mandarin) ist im chinesischen im Grunde eine andere Bezeichnung für Idioten, Trottel oder Dummköpfe. Um die Entstehung dieser Bezeichnung verstehen zu können, muss hier etwas ausgeholt werden:
Die Bezeichnung wurde aus einer Schimpftriade aus Zeiten der Song Dynastie abgeleitet, in der die Mutter bzw. Großmutter als Schildkröte bezeichnet wurde. Wie schon einmal erwähnt kopulieren Schildkröten mit einer Vielzahl von Männchen. Jemanden also als Schildkröten-Ei zu bezeichnen, ist eine andere Art zu sagen, dass seine Mutter eine ***** (ihr wisst schon^^) ist.
Blödes Ei ist an dieser Stelle eine viel harmlosere Form, da sich diese Beleidigung nicht auf die Familie bezieht und lediglich die unmittelbar angesprochene Person meint.
Im Café war derweil aufgeregtes Gemurmel ausgebrochen und auch auf der Pressekonferenz im Fernsehen, rief eine Vielzahl von Reportern hektisch durcheinander und unterbrachen so die Ausführungen des Anwalts.
Bahe ignorierte das Chaos, warf schnell Geld für den Kaffee auf seinen Tisch und rannte zur Tür hinaus. Hochnervös und ungeduldig hastete er zwischen den Autos über die Straße und wäre dabei einmal fast überfahren worden. Das heulende Hupen hinter ihm, hörte er aber kaum.
Sein Blick war starr auf die herunter gefallenden Kabel unweit des Eingangsbereichs des Chen Law Firm-Gebäudes gerichtet. Im Nu war er da, hob die Kabel auf und lief eilig durch die Eingangstüren. Im Empfangsbereich sah er auf der linken Seite bereits die geschlossenen Türen die zum ausgeschilderten Raum der Pressekonferenz führten.
Vor den Türen standen jedoch zwei Kanzleiangestellte, wahrscheinlich um die Presseleute zu kontrollieren. Doch damit hatte Bahe gerechnet. Er zügelte seine Schritte etwas, lief aber dennoch selbstbewusst auf die Tür zu.
Wie er erwartet hatte, wurde er von einem der beiden Männer gestoppt.
„Wo wollen Sie denn hin?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Selbstverständlich zur Pressekonferenz“, antwortete Bahe schnell.
„Ihr Ausweis?“, kam eine gleichgültige Aufforderung.
„Verzeihung, aber ich habe keinen.“
„Dann werden Sie auch nicht durch diese Türen treten.“
Bahe verdrehte innerlich genervt die Augen, ob des hochnäsigen Auftretens des Mannes.
„Sehen Sie mich an, könnten Sie sich vorstellen, dass ich als Reporter bei einem hochkarätigen Sender wie GQ-TV angestellt bin?“, brachte Bahe den Namen des Senders ins Spiel, durch den er gerade auf diese Pressekonferenz aufmerksam geworden war. „Nein? Ich auch nicht. Ich bin nur ein kleiner Assistent, der hofft in ein paar Jahren als Kameramann dort einsteigen zu dürfen. Ich wurde angewiesen im Auto zu bleiben und die Aufnahmen des letzten Drehs zu kontrollieren. Doch gerade eben hat mich mein Chef, der Reporter, der für GQ hier vor Ort ist, darum gebeten ihm so schnell wie möglich diese Kabel hier vorbei zu bringen! Ich will nicht mit Ihnen streiten und ich finde es gut, dass sie solch gute Arbeit leisten, aber was wird wohl mein Sender davon halten, wenn er als einziger Sender der Gegend keine Live-Aufnahmen von dieser Pressekonferenz zeigen kann?“
Während Bahe sich im Anschluss darum bemühte möglichst überzeugend zu erscheinen, blickten die beiden Männer mürrisch drein, konnten sich aber anscheinend zu keiner klaren Entscheidung durchringen.
„Bei allen Himmeln, lasst ihn rein. Es fehlt uns noch, dass sein Sender uns verklagt“, raunte es plötzlich um die Ecke und Bahe entdeckte einen Mann hinter einer Pflanze auf einem Sofa sitzen, den er zuvor überhaupt nicht wahrgenommen hatte.
„Selbstverständlich, Boss“, antwortete der Mann, der Bahe zunächst aufgehalten hatte, wie aus der Pistole geschossen und öffnete schnell die Tür.
Bahe nickte nur knapp und betrat schnell den Saal, ehe sie es sich anders überlegen konnten.
Hinter ihm schloss sich die Tür wieder und Bahe atmete erleichtert aus. Vor ihm breiteten sich die unzähligen Kamerateams und ihre dazugehörigen Reporter aus, während an den Seiten teilweise weiteres Sicherheitspersonal positioniert war, um im Notfall eingreifen zu können.
Er musste sich also unauffällig verhalten, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzen wollte.
Ruhigen Schritts ging er von hinten auf die Menschenmenge zu und lauschte derweil auf die Fragenflut der Reporter, die scheinbar noch immer andauerte.
„Von wie vielen Fällen pro Monat sprechen Sie?!“
„Ab wann wird Ihre Kanzlei mit diesem Prozess beginnen?!“
„Wird jeder Anwalt ihrer Kanzlei dazu verpflichtet mehrere Fälle pro Monat quasi umsonst zu bearbeiten?“
„Bitte, bitte“, hob Bei En Rui beschwichtigend die Hände und beruhigte nach und nach die Reporter. „Ich werde alle ihre Fragen beantworten, aber bitte lassen Sie mich auch zu Wort kommen.“
„Wie viele Fälle unsere Kanzlei pro Monat nach diesem Muster bearbeitet, wird im Laufe des Tages auf unserer Homepage veröffentlicht, genauso wie alle anderen Informationen als auch die Vereinbarung mit den Unterschriften sämtlicher Mitarbeiter, in der sie sich dazu bereit erklären, entsprechende Fälle zu übernehmen. Also, ja, es werden alle Anwälte unserer Kanzlei mit einbezogen, wie auch meine Wenigkeit und die höchsten Führungsetagen.“
„Ab wann können Bürger der Stadt ihren Service in Anspruch nehmen?!“
„Dies wird ab sofort möglich sein.“
Während sich der Anwalt bemühte die ganzen Fragen möglichst sachlich zu beantworten, drängte sich Bahe durch den Ring aus stehenden Kameraleuten und ging zwischen den Sitzreihen der Reporter hindurch, die längst alle standen, um sich mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Glücklicherweise, dachte Bahe, so fiel er nicht weiter auf.
Die Stühle der Reporter waren in großzügigem Abstand zueinander und in zwei Feldern angeordnet, aufgestellt worden. Die Mitte war absichtlich für einen Durchgang frei, der das Betreten der Sitzreihen und des Podiums erleichterte. Und genau dort lag Bahes Ziel.
Auf den letzten Metern wurde Bahe vor Ungeduld dann doch zunehmend schneller, was auch einigen umstehenden Reportern auffiel, die verblüfft die Miene verzogen.
Im nächsten Moment trat er auch schon in den Durchgang hinaus und ging auf seine letzte Hoffnung zu. Nach und nach richteten sich die Blicke der Anwesenden auf ihn und die Fragen der Reporter erstarben für einen Moment.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Bei En Rui und Bahe verzog den Mund zu einem Lächeln, jetzt konnte ihn auch der Sicherheitsdienst nicht mehr ohne eine Antwort seinerseits von hier weg zerren. Dabei hatte sich das Personal schon in Bewegung gesetzt.
Um zu zeigen, dass er keine Gefahr darstellte, blieb er stehen und stellte dann eine Gegenfrage: „Ist Ihr Angebot, Menschen zu helfen, die sich Ihre Dienste sonst niemals leisten könnten, wirklich ernst gemeint?“
„Aber sicher!“, lächelte der Staranwalt.
Bahe nickte und ließ sich dann vor allen Versammelten auf die Knie nieder und brachte seine Hände und Stirn in einer traditionellen, chinesischen Ehrerbietung vor sich zum Boden.
„Dann flehe ich Sie an, dass Sie mir in einem Rechtsstreit helfen, dessen Ausgang über das Schicksal meiner Familie und das Leben meiner Mutter entscheidet.“
Um den Kotau[i] zu vervollständigen wiederholte er die Aktion noch zwei Mal und flehte erneut: „Bitte, helfen Sie uns!“
Mit einem Mal herrschte absolute Stille.
Bahe konnte nicht wirklich etwas sehen, da er die Stirn auf dem Boden abgelegt hatte, hörte aber plötzlich eine Vielzahl flüsternder Stimmen.
„Sag mir, dass du die Kamera drauf gehalten hast!“
„Das sind die perfekten Schlagzeilen für Morgen!“
„Mitten in einer Live-Sendung! Wie ist er hier rein gekommen?“
„Ich bin gespannt, was Bei En Rui dazu zu sagen hat!“
Bahe grinste innerlich in sich hinein. Er hatte dem Staranwalt der Stadt im Grunde keine andere Wahl gelassen als seinen Fall anzunehmen. Würde er es nicht tun, wäre es eine absolute Blamage für ihn. Jetzt hieß es abzuwarten, wie Bei En Rui reagieren würde.
Da erklang auf einmal ein schallendes Lachen vom Podium, was Bahe nahezu verführte seinen Kopf zu heben.
„Nie hätte ich gedacht, dass mein erster Klient kein Chinese, sondern eine Junge aus dem Westen ist und noch dazu einer, der unsere traditionellen Bräuche respektiert und ehrt! Steh auf, mein Junge! Lass dir gewiss sein, dass wir, von der Chen Law Firm, uns entsprechend um dich kümmern werden.“
Bahe hob vorsichtig den Kopf und entdeckte den Anwalt vor sich stehen, wie er ihm die Hand entgegenstreckte, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Er ergriff sie und wurde mit einem Ruck empor gezogen.
Der Anwalt lächelte ihn wohlwollend an und sagte: „Keine Sorge mein Junge, was immer es ist, wir werden dich aus deiner Situation schon befreien können.“
Anschließend wandte er sich erklärend an die Medien: „Da die Situation meines neuen Klienten äußerst dringlich erscheint, werde ich mich nun mit ihm zurück ziehen, um ihm selbst als auch seiner Familie schnellst möglich Hilfe zukommen lassen zu können. Bitte verstehen Sie, dass ich in zeitnaher Zukunft, aus rechtlichen Gründen noch keine weiteren Auskünfte über seine Person veröffentlichen kann.“
Der Anwalt pausierte kurz um sich zu räuspern und fuhr fort: „Mir ist bewusst, dass Sie allesamt noch eine Menge Fragen haben, die ich aber leider aufgrund der Dringlichkeit meines neuen Klienten hinten an stellen muss. Daher bitte ich Sie an dieser Stelle meinem Büro Ihre Fragen einfach per Mail zukommen lassen. Selbstverständlich werden Sie heute noch eine Rückmeldung erhalten. Bitte entschuldigen Sie uns jetzt.“
Mit dem letzten Satz verbeugte er sich leicht und bat Bahe: „Kommen mit mir, mein Junge. Wir werden uns auf direktem Wege nach oben begeben, behalte deinen Namen vorläufig besser noch für dich. Es könnte für deine Situation von Nachteil sein, wenn ganz China von deiner Situation erfährt.“
Bahe folgte seiner Aufforderung, schaute aber auch skeptisch drein. War er gerade nicht in eine Live-Sendung rein geplatzt?
„Ich weiß was du denkst“, grinste Bei En Rui. „Aber glaube mir, momentan bist du nur ein anonymer Ausländer. Sicher, Bilder von dir werden kurzzeitig in allen Medien präsent sein. Aber solange sie deinen Namen nicht erfahren, wird es den Nachrichtensendern erheblich schwieriger fallen deine Verwandten auszumachen. Oder möchtest du lieber, dass der Rest deiner Familie von Reportermassen heim gesucht wird?“
Ok, dachte Bahe, das leuchtete sein und nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte.
Bei En Rui zwinkerte ihm nur verschwörerisch zu und führte Bahe mit der Hilfe zweier Bodyguards durch die Reportermassen, die sich selbstverständlich darum rissen von Bahe oder dem Staranwalt eine Antwort zu erhalten.
Bahe beschloss sein Glück nicht überstrapazieren zu wollen und lieber den Mund zu halten. Der Anwalt hielt sich ebenfalls geschlossen und nach einigen quälenden Sekunden verließen sie den Raum und traten in den Empfangsbereich des Gebäudes.
Einer der Bodyguards blieb auf ein Nicken des Anwalts an der Tür stehen und versperrte, mit dem restlichen Sicherheitspersonal, den nachkommenden Reportern den Weg, während der andere Bodyguard Bahe und den Anwalt zum Aufzug begleitete.
Erst als sich die Aufzugtüren schlossen, fiel die Anspannung der letzten Minuten von Bahe ab. Er war so unheimlich nervös gewesen, dass etwas schief gehen oder er sich falsch verhalten könnte, dass er sich vollkommen verkrampft hatte.
Bahe rollte etwas seine Schultern nach hinten, um die Spannung aus dem Rücken zu vertreiben, als der Anwalt ihn ansprach: „Wie heißt du eigentlich?“
„Ba…“, antwortete er etwas zu schnell und brachte nur ein Krächzen zustande, bevor er sich verbesserte. „Bahe Dragon.“
„Dragon, hu? Interessanter Name…“
„…“, Bahe schwieg lieber, schaffte es aber immerhin die Miene nicht zu verziehen.
„Nun denn, Bahe… ist es ok, wenn ich dich mit dem Vornamen anspreche?“
„Sicher.“
„Gut. Also Bahe, bevor ich mich an die Arbeit mache, müssen wir ein paar Dinge besprechen“, erklärte Bei En Rui mit gutmütiger Miene und wandte sich mit einem kurzen Blick an den Bodyguard. „Chihai...“
Bahe war schon gespannt, wie der Staranwalt an die Sache heran gehen würde, als er plötzlich mit voller Wucht gegen die Wand des Aufzugs geschleudert wurde!
Vom Aufprall leicht benebelt, brauchte Bahe einen Moment, ehe er wieder klar denken konnte. Vor sich entdeckte er schließlich den Bodyguard mit stoischer Miene. Der Mann presste Bahe mit seinem linken Arm noch immer gegen die Aufzugswand, bis er plötzlich davon abließ und stattdessen Bahes Kehle umfasste. Panisch bemerkte Bahe, dass er allmählich den Boden unter den Füßen verlor, als der Bodyguard ihn scheinbar mühelos mit einer Hand vom Boden an der Wand empor schob.
Irgendwie versuchte Bahe sich am Arm des Mannes festzuhalten, während er angestrengt nach Luft schnappte und nach dem Mistkerl trat. Die Tritte schienen jedoch keine sonderlich große Wirkung zu haben und brachten ihm obendrein auch noch einen heftigen Schlag in die Magengegend ein.
Mehr nach Luft keuchend als stöhnend, verzog Bahe schmerzerfüllt das Gesicht und unterließ vorerst weitere Befreiungsversuche.
„Keine Sorge, Bahe, Chihai wird dich nicht umbringen. Aber ich sehe mich in der Pflicht, dich über einige Dinge aufzuklären“, meinte Bei En Rui währenddessen mit einem wohlwollenden Lächeln. „Zunächst muss ich dir wirklich zu Gute halten, dass du mich mit deinem Auftritt beeindruckt hast. Nicht jeder Verzweifelte weißt so viel Eigeninitiative auf und schafft es in eine geschlossene Pressekonferenz zu platzen.“
Bahe röchelte währenddessen nach Luft und machte große Augen, ob der absoluten Gleichgültigkeit des Anwalts der vorherrschenden Gewalt gegenüber.
Meinte dieser Bastard das ernst? Er lässt mich von seinem Bodyguard zusammenschlagen und die Kehle zerquetschen, aber hält mir dabei eine Predigt, wie wundervoll mein Auftritt war?! Kann er nicht endlich zum Punkt kommen?!
„Nichts desto trotz, hast du mich in eine äußerst unangenehme Lage gebracht, da ich dich und deine Familie sicherlich niemals vertreten werde“, säuselte der Anwalt. „Ursprünglich war es so geplant, dass wir ein paar Schauspieler, mit einer Verschwiegenheitsklausel, dafür bezahlen, so zu tun, als ob ich ihnen behilflich gewesen wäre. Aber das hast du vorläufig alles zunichte gemacht. Von daher kannst du sicherlich verstehen, dass ich mich momentan nicht gerade in der besten Gemütsverfassung befinde, oder Bahe?“
„S..ch…“, versuchte sich Bahe und brachte doch nur ein paar Zischlaute hervor.
„Zwinker einfach, wenn du verstanden hast.“
Bahe zwinkerte schnell.
„Sehr schön!“, grinste Bei En Rui. „Da wir das geklärt haben, erkläre ich dir nun, wie es weiter gehen wird.“
Als ob er sich selbst bestätigen würde, legte der Anwalt dabei eine bedeutungsschwere Pause ein und nickte begeistert.
„Dein Fall wird von einem unserer fähigsten Mitarbeiter erledigt werden und anschließend wirst du auf einer von mir anberaumten Pressekonferenz eine Erklärung dazu abgeben, wie ungemein beeindruckt und dankbar du über meine Arbeit bist. Was du genau sagen sollst, wirst du noch schriftlich kriegen. Lesen kannst du doch, oder?“, fragte er plötzlich doch noch besorgt.
Bahe zwinkerte erneut.
„Na wunderbar!“, hellte sich die Miene des Anwalts gleich wieder auf. „Und was meinst du? Haben wir einen Deal?“
Bahe zwinkerte. Im Moment würde er so ziemlich allem zustimmen, nur um aus diesem verfluchten Aufzug zu entkommen.
„Perfekt“, sagte Bei En Rui fröhlich und wandte sich endlich an seinen Bodyguard. „Chihai, lass ihn runter.“
Hustend und keuchend zog Bahe begierig Luft in seine brennenden Lungen, als der Mann endlich von ihm abließ. Es dauerte einen Moment, ehe er sich wieder im Griff hatte und aufrichten konnte.
Der Anwalt schaute ihn immer noch mit seinem Engelslächeln an und jagte Bahe damit einen Schauder über den Rücken. Wie konnte man sich bloß so verstellen?
„Zu guter Letzt sollte ich vielleicht noch erwähnen, was passieren könnte, wenn dich nicht an diese Abmachung hälst…“, begann Bei En Rui bedeutungsvoll. „Sagen wir so… Um in der heutigen Zeit ein guter Anwalt zu sein, hat man seine Verbindungen zu allerhand verschiedener Leute… darunter sind auch Leute, die so arme Seelen wie dich und deine Familie für kleines Geld verschwinden lassen können… Natürlich würde ich daraus dann ein großes Drama schmieden. Mein Klient ist verschwunden? Wer hat ihn auf dem Gewissen? Wurde zu solch drastischen Maßnahmen gegriffen, weil ich meine Arbeit zu gut mache und wir den Prozess gewonnen hätten?! Hach… das würde Schlagzeilen bringen. Also Bahe, führ mich nicht in Versuchung.“
Endete er mit einem Augenzwinkern und grinste ihn an. An Bahe zog sich alles zusammen, als er ein weiteres Mal mit dem Engelslächeln konfrontiert wurde.
Mit Mühe nickte er schließlich, was dem Anwalt wohl zu genügen schien. Vielleicht hatte es aber auch nur daran gelegen, dass sich die Aufzugstüren zehn Sekunden später öffneten und den Blick auf ein Großraumbüro frei gaben.
„Na, da sind wir endlich“, rief Bei En Rui plötzlich Freude strahlend und legte Bahe seinen Arm um die Schultern. „Komm mit, Bahe. Ich zeige dir jetzt, wer sich um dich kümmern wird.“
Bahe hatte sich augenblicklich verkrampft, als er den Arm auf seinen Schultern spürte. Der Arm wog schwer und hielt ihn in eiserner Umklammerung, die Bahe regelrecht zwang dem Anwalt zu folgen. Sie gingen auf die gegenüber liegende Seite und hielten schließlich am zweiten Büroplatz von rechts.
„Dieser Mann wird deinen Fall ab sofort übernehmen. Sei dir sicher, dass du bei ihm gut versorgt bist“, meinte Bei En Rui weiterhin mit seiner fröhlichen Miene, die im völligen Kontrast zu Bahes betont neutralem Blick stand.
Dennoch schaute Bahe zu dem Mann hinüber, der ihm angeblich aus dieser Situation helfen konnte. Er saß gerade noch mit dem Rücken zu ihnen, doch Bahe beschlich das merkwürdige Gefühl, den Mann schon mal irgendwo gesehen zu haben…
Diese Art der Ehrerbietung wurde traditionell auch im Zuge eines Versagens genutzt, um an die Ehre des Lehnsherrn bzw. der Respektsperson zu appelieren und dadurch nicht zu hart (z. B. Todesurteil) bestraft zu werden.
[i] Kotau = Eine traditionelle, chinesische Ehrerbietung einer Respektsperson gegenüber. Dabei kniet die Kotau ausführende Person nieder und führt die Stirn zu Boden. Das Herabführen der Stirn kann mitunter heftiger ausgeführt werden, um durch einen hörbaren Aufprall besondere Ehrerbietung zu beweisen.
Genervt verfluchte er die Enge der U-Bahn. Wie er es hasste ein jeden Morgen in dem Gedränge zur Arbeit zu fahren. Sitzplätze waren ein Luxus, die er vielleicht einmal im Monat sein eigen nennen konnte. Meistens beschenkten ihn die Himmel aber eher mit bescheidenem Glück.
So auch heute, was zur Folge hatte, dass er dicht an dicht mit den anderen morgendlichen Pendlern in der Bahn stand. Wie üblich hatte er nicht mal genug Platz, um sich an seinem Rücken zu kratzen, geschweige denn sich irgendwo festzuhalten. Wobei ein Festhalten sowieso sinnlos war, es bestand schließlich überhaupt keine Möglichkeit in irgendeine Richtung umzufallen.
Da er noch zwanzig Minuten in der Bahn zu verweilen hatte, schweiften seine Gedanken mit der Zeit nahezu zwangsläufig ab.
Betrübt dachte er an seine Frau und den Zettel, den er gestern bei seiner Lunchbox gefunden hatte. Morgen war es so weit, dass sie mit ihm sprechen wollte. Der dämliche Privatdetektiv hatte ihm die Ergebnisse auch für morgen versprochen. Han Ning konnte nicht anders als innerlich zu seufzen. War er eigentlich wirklich bereit die Wahrheit zu erfahren? Er machte sich keine Illusionen, aber natürlich fragte er sich ständig, was wenn sie doch keine Affäre hatte?
Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt und mehr als ein Jahrzehnt des Ehelebens ließen sich nicht einfach so vergessen…
Und trotzdem… Morgen dann wirklich vor vollendeten Tatsachen zu stehen… Von Unbehagen im Anbetracht dieser Erwartungen zu sprechen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.
Wann war es eigentlich passiert, dass sie sich so auseinander gelebt hatten? Hatte er etwas falsch gemacht? Wahrscheinlich fragte sich das jeder Mann…
Wütend versuchte er seinen Hass auf seine untreue Ehefrau aufrecht zu erhalten. Sie war es schließlich gewesen, die die augenscheinlich einfache Lösung gesucht hatte. Sich einen Liebhaber zu angeln, war für sie mit Sicherheit nicht schwer gewesen. Dafür sah sie einfach zu gut aus, musste Han Ning zähneknirschend zugeben.
Pah, schüttelte Han Ning den Kopf. Früher war er noch stolz darauf gewesen solch ein Glück gehabt zu haben.
Und während sich dieser schleichende Prozess abzeichnete, ackerte er auf der Arbeit... Seitdem Bei En Rui ihm das Leben zur Hölle machte, hatte er zunehmend mehr Zeit im Büro investieren müssen. War das der Grund? Hätte sie ihm nicht einfach sagen können, dass er sich mehr Zeit für die Familie nehmen sollte?
Morgen Abend würde er erfahren was Sache war… Irgendwie war er erleichtert und zugleich vollkommen niedergeschlagen…
Arg… Seine Gedanken drehten sich nur im Kreis.
Angewidert verzog er das Gesicht und suchte nach einer Ablenkung. Der Junge… ja, dieser ausländische Junge von gestern. Das war doch ein gutes Thema!
Zur Selbstbestätigung nickend, wanderten seine Gedanken zu der gestrigen Begegnung in Dazu. Er erinnerte sich noch genau, mit welcher Kreativität er vor den Schlägern gerettet worden war. Im Gespräch hatte der Junge ihm viel offenbart. Wenn jemand niedergeschlagen sein konnte, dann doch wohl dieser arme Kerl und seine Familie.
Er hatte ihm wirklich helfen wollen, auf die Schnelle aber schlicht weg keine Idee gehabt. Die anschließende Verzweiflung des Jungen war so offensichtlich gewesen… Erst hatte er ihm hinterher rennen wollen, es im Nachhinein dann aber doch gelassen. Was hätte er schon sagen können?
Die ganze Rückfahrt hatte er fieberhaft nach einer Lösung für die Probleme des Jungen gesucht und doch war ihm nichts eingefallen. Es gab einfach keinen legalen Weg etwas zu unternehmen, wenn die Eigentümer selbst sämtliche Rechte bezüglich der Verkaufsbedingungen abgab.
Han Ning verabscheute diese Art von Betrüger, die sich an der ahnungslosen, älteren Generation vergingen.
Mitten in der Nacht hatte er schlaflos im Bett gelegen und auf die Leere zu seiner Linken gestarrt. Seine Frau war noch immer nicht zu Hause gewesen…
Nein! Er durfte nicht schon wieder anfangen!
Jedenfalls war ihm in diesem Moment ein Gedankenblitz gekommen, der ihn vom Trübsal blasen abhielt. Eine regelreche Euphorie hatte von ihm Besitz ergriffen, als er sich selbst über seinen genialen Einfall beglückwünschte. Es war lange her gewesen, dass er sich so gut gefühlt hatte und im Anschluss hatte er so gut geschlafen...
Heute Morgen hatte ihn natürlich die Realität eingeholt. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, wie er den Jungen finden sollte… Gut, er kannte den Namen des Jungen, der würde ihn nur nicht wirklich weiter bringen. Seine Großeltern führten schließlich einen chinesischen Namen, den er nicht kannte… Selbst wenn er alle Krankenhäuser nach Fällen von Gehirntumoren absuchen würde, würde es in Anbetracht der Einwohnerzahl der Stadt einfach ewig dauern. Und woran sollte er die Mutter des Jungen erkennen?
Er hatte dahingehend überhaupt keinen Anhaltspunkt…
Während er sich das Hirn zermarterte wie er den Jungen finden könnte, schwanden die Minuten dahin. Gefühlt keine fünf Minuten später stieg er aus der U-Bahn und erklomm die Treppen auf seiner letzten Etappe seines Arbeitsweges.
Zwei Stunden später saß er an seinem Arbeitsplatz und beendete das Telefonat mit einem Polizisten, der ihm noch einen Gefallen geschuldet hatte. Teilweise hatte er Han Ning weiterhelfen können. Bahes letzter offizieller Wohnsitz war eben jenes Anwesen gewesen, welches verkauft werden sollte. Als Verkäufer wurde offiziell dieser Shang angegeben, durch den der Junge und seine Familie ja gerade erst die Probleme hatten. Der Typ würde ihm bestimmt keine Infos über Bahes Familie geben…
Allerdings war auch noch Bahes Stiefmutter dort gemeldet. Sie hatte zwar den Namen ihres Mannes angenommen, aber mit ein wenig Recherche hatte sein Kontakt schließlich ihren vollständigen Namen heraus bekommen.
Sulin Ma.
Es sollte nicht zu viele Frauen mit diesem Namen in den Krankenhäusern geben. Schlimmsten Falls würde er sie einfach alle besuchen und nach einem möglichen Stiefsohn fragen.
„Hey, mach mal Platz da, ich will auch was sehen!“
„Was willst du denn? Als ob hier nicht mehr als genug Platz ist! Wieso verfolgst du seinen Auftritt nicht einfach an deiner eigenen Visualisierungsfläche?!“
„Ach, jetzt hab dich nicht so, ist doch viel spaßiger es zusammen zu verfolgen.“
Irritiert schaute Han Ning auf und sah wie sich zwei seiner Kollegen drei Arbeitsbereiche weiter gegenseitig hin und her schupsten, um den bestmöglichen Blick zu erhalten.
„Was haben die denn?“
„Sag bloß, du hast vergessen, dass Bei En Rui heute seine Pressekonferenz hat?“, antwortete Liu Heng von gegenüber.
Für einen Moment schaute Han Ning verwirrt drein. Scheinbar hatte er die Frage laut ausgesprochen.
„Stimmt ja“, erinnerte er sich und dachte amüsiert an das Desaster, das diesen Mistkerl befallen hatte. Zu viel gute Presse konnte auch negative Folgen haben… Diesmal wollte er den gierigen Reportern nur zu gerne Beifall klatschen. Sie hatten seinem Arsch von Chef auf seine große Schwachstelle festgenagelt!
Denn was war schon immer sein Motto gewesen?
Du hast Erfolg als Anwalt? Dann vertrete die großen Fische!
Kleinbürgerbagatellen bringen schließlich kein großes Geld ein. Ganz davon abgesehen, dass es Bei En Rui mit Sicherheit unter seiner Würde empfindet, sich um arme Familien zu kümmern.
Fasziniert suchte Han Ning den passenden Lifestream und schaute sich die Vorstellung auf seiner Visualisierungsfläche an.
Der Sender schaltete gerade aus dem Studio zu den Reportern vor Ort und Han Ning beobachtete hasserfüllt, wie Bei En Rui seinen großen Auftritt im Fernsehen genoss.
War er anfangs noch guter Dinge gewesen, wurde Han Nings Laune von Minute zu Minute schlechter. Dieser Bastard hatte doch allen Ernstes die Nerven zu behaupten, er würde in Zukunft kostenlos Fälle übernehmen! Als ob!
An wem würden wohl diese Fälle kleben bleiben?!
Frustriert schaute sich Han Ning um und entdeckte im Büro doch nur allgemeine Zustimmung darüber, wie positiv Bei En Rui die Kanzlei verkaufte.
Mürrisch schnappte er sich sein Wasser und nahm einen tiefen Schluck als plötzlich eine Gestalt ins Bild trat, die ihm seltsam bekannt vor kam.
Es dauerte einen Augenblick bis die Kamera die Figur richtig erfasste.
Und im nächsten Moment prustete und hustete Han Ning vor Überraschung sein Wasser durch die Gegend!
„Was zum Henker macht der Junge da?!“
Für einen Moment starrte Han Ning vollkommen baff auf Bahes Abbild. Gerade noch hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie er den Jungen finden würde, da erschien der Bengel doch tatsächlich eine Minute später im gleichen Gebäude!
Aber wieso musste der Kerl ausgerechnet diesen Bastard Bei En Rui aufsuchen?!
Entsetzt beobachtete er, wie der Junge vor laufender Kamera nieder kniete und um Hilfe bettelte. Die Konsequenzen waren für ihn nur allzu offensichtlich. Bei En Rui musste ihn als Klienten annehmen. Wenige Sekunden später bestätigten sich seine Erwartungen und Han Ning beobachtete Bei En Rui und den Jungen beim Verlassen der Pressekonferenz.
Mürrisch rieb er sich über das Gesicht. Natürlich hatte der Junge Hilfe gesucht, wo er konnte… Und wenn ihm ein gewöhnlicher Anwalt, wie er selbst nun mal einer war, eben nicht weiterhelfen konnte, wieso es dann nicht beim Staranwalt der Stadt versuchen?
„Verdammt!“, schimpfte Han Ning leise.
Seine Hoffnung hatte darin gelegen, Bahes Fall schnell und im Sinne einer Vereinbarung unter der Hand abzuwickeln. Dann hätte er noch diese Woche einen abgeschlossenen Fall vorzuweisen und konnte nicht mehr gefeuert werden. Doch leider war dieser Traum geplatzt und zu allem Überfluss war Bahe auch noch bei diesem Mistkerl gelandet.
Mies gelaunt schloss Han Ning den Stream und schaute stattdessen auf die digitalen Formulare, die er für den Fall des Jungen alle schon vorbereitet hatte. Seufzend erfasste er sie alle und war kurz davor sie zu löschen, als er inne hielt. Vielleicht würde er sie noch brauchen. Spätestens, wenn Bei En Rui merkte, dass der Fall des Jungen alles andere als einfach zu lösen war. Wer würde wohl am Ehesten als Opfer herhalten müssen?
Da kam natürlich nur er selbst in Frage…
Trotzdem… es war nur eine von vielen Möglichkeiten.
So plötzlich seines Ziels beraubt, starrte er nur lethargisch vor sich hin.
Ach, scheiß drauf, dachte er sich und langte zu seinem Headset. Er wollte endlich wissen, was der Privatdetektiv zu sagen hatte.
Es erklang nur das übliche Piepen. Hinter ihm ertönte derweil die Stimme des von ihm meistgehassten Menschen der Welt und lenkte ihn vom Anruf ab.
„Na, da sind wir endlich“, erklang die Stimme wie ein böses Omen. „Komm mit, Bahe. Ich zeige dir jetzt, wer sich um dich kümmern wird.“
Han Ning nahm nur noch am Rande das Piepen des Anrufs war. Der Rest seiner Aufmerksamkeit war auf die unheilvolle Person gerichtet, die sich ihm offensichtlich näherte. Prompt vernahm er den Sohn einer Schildkröte auch schon hinter sich: „Dieser Mann wird deinen Fall ab sofort übernehmen. Sei dir sicher, dass du bei ihm gut versorgt bist.“
Nicht länger den Anruf aufrecht erhaltend, wandte er sich schließlich um und spielte Unwissenheit: „Um wen soll ich mich kümmern?“
„Das hier ist Bahe Dragon, ein besonderer Klient von mir“, stellte Bei En Rui den Jungen vor, nur um daraufhin direkt einen Vorwurf anklingen zu lassen. „Du hast nicht zufällig die Pressekonferenz der Firma mit verfolgt? Das sollte man von den erfahrenen Mitarbeitern eigentlich erwarten können…“
„Tut mir Leid Her Bei, ich versuche verzweifelt meine Deadline zu schaffen. Da bleibt nicht viel Zeit für…“
„Na, dann wird dir ein neuer Fall, der mit Leichtigkeit abzuschließen ist, doch bestimmt wie ein Wink des Schicksals erscheinen“, zwinkerte Bei En Rui ihm zu und fuhr danach an Bahe gewandt fort. „Dieser Mann wird dir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ich muss mich an dieser Stelle entschuldigen.“
Damit eilte der Staranwalt davon, drehte sich aber noch einmal um und säuselte mit einem weiteren Augenzwinkern: „Oh, und bitte Bahe, denke an die Konsequenzen…“
Danach verschwand er im Eiltempo aus dem Großraumbüro.
Han Ning beobachtete derweil den Jungen und stellte befriedigt fest, wie sich dessen Miene von der Hochstimmung während der Pressekonferenz zusehends verdunkelt hatte. Geschah ihm recht, wenn er sich mit diesem Bastard einließ.
„Lass mich raten, Bei En Rui ist dein Chef, der dich fertig macht?“, fragte Bahe mit unterdrücktem Zorn.
„Nicht so laut“, sagte Han Ning schnell und wies auf einen Stuhl. „Komm erst mal weiter rein und setz dich.“
Bahe tat wie ihm geheißen und Han Ning durchbrach schließlich das unangenehme Schweigen.
„Er hat im Aufzug also seine wahre Natur gezeigt, nehme ich an?“
„Verdammt richtig!“, schimpfte der Junge. „Ist das normal bei euch, dass ihr eure Bodyguards auf neue Klienten hetzt?“
„Das ist nur Bei En Rui, wie er leibt und lebt“, sagte Han Ning. „Aber bitte sprich wirklich etwas leiser. Ich verliere meinen Job, wenn meine Kollegen mitbekommen, wie ich dir nicht widerspreche.“
„Entschuldigung.“
„Schon gut.“
„Schon eine gewisse Ironie, nicht wahr?“
„Das du wieder bei mir landest?“
„Genau…“, meinte Bahe niedergeschlagen.
„Was hat dieser Mistkerl gemeint, als er sagte, dass du an die Konsequenzen denken sollst?“
„Er hat meine Familie bedroht“, sagte Bahe ernst und blickte ihn an.
Han Ning schluckte. So etwas hatte er nicht erwartet. Ganz egal was für ein Drecksack sein Boss war, so hatte er sich bisher noch nie wirklich die Finger schmutzig gemacht.
„Was genau hat er gesagt?“
„Sollte ich den Medien irgendetwas anderes erzählen, als dass er gute Arbeit geleistet hat, wird es Leute geben, die mich oder meine Familie verschwinden lassen können.“
Han Ning saß wie vom Donner gerührt da, war Bei En Rui nun vollkommen verrückt geworden?
„Wahrscheinlich blufft er nur.“
„Die Hand seines Bodyguards um meine Kehle war kein Bluff.“
„Verstehe mich nicht falsch, ich glaube dir. Es ist nur so, dass er bisher noch nie so weit gegangen ist. Du musst ihn mit deinem Auftritt unten wirklich wütend gemacht haben“, gluckste Han Ning schadenfroh.
„Schön, dass ich zu deiner Erheiterung beitragen konnte“, sagte der Junge gepresst, stand auf und wandte sich zum Gehen.
„Wenn du jetzt gehst, kannst du dir doch gar nicht meinen Plan zur Lösung deiner Probleme anhören.“
Bahe blieb wie angewurzelt stehen.
„Bitte machen Sie mir keine Hoffnungen mehr“, presste der Junge zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und Han Ning verstand, dass sein lapidarer Tonfall voll nach hinten los gegangen war.
„Nein, nein!“, meinte er schnell. „Ich meine es ernst. Ich habe eine Idee, wie wir dich und deine Familie aus dieser ausweglosen Situation befreien können.“
„Wie?!“, verlangte Bahe ungläubig zu wissen.
„Bitte setz dich erst mal wieder“, sagte Han Ning und fuhr fort, während sich der Junge seiner Bitte nach kam. „Du musst dich um ein paar Dinge kümmern, damit mein Plan funktioniert.“
„Was muss ich machen?!“, antwortete ihm Bahe ein Wenig zu schnell.
„Erstens, ich muss wissen, wie viel die Operation und anschließende Reha-Behandlung deiner Mutter kostet.“
„Das krieg ich raus.“
„Gut, zweitens, hast du den Polizisten gefunden? Wir brauchen für meinen Plan eine zusätzliche Autorität, die als Zeuge und gewissermaßen auch als Abschreckung dient.“
„Ich habe ihn gefunden… aber…“
„Er wollte nicht helfen?“
Bahe nickte.
„Bist du sicher, dass er nicht helfen wollte? Kann es sein, dass er nur nicht helfen konnte?“
„Oh, jetzt wo Sie es sagen… es stimmt, so war es.“
„Dann sorg dafür, dass er meine Nummer bekommt und mich anruft, sollte ich ihn nicht schon vorher erreichen.“
Bahe hörte aufmerksam zu und nickte weiter fleißig: „Alles klar.“
„Drittens, hier muss ich etwas von dir verlangen. Bist du bereit mir zu vertrauen?“, fragte Han Ning und schaute Bahe dabei ernst an.
Dieser blickte ihn für einen Moment verwirrt an und fragte: „Was meint Ihr?“
„Ich kann dir nicht mehr sagen, sonst funktioniert mein Plan eventuell nicht. Das ist der Haken.“
Für eine Weile spürte Han Ning den Blick des Jungen auf sich ruhen, es war eine merkwürdige Erfahrung. Bahe war so alt wie seine Töchter und dennoch fühlte sich Han Ning unter Bahes Blicken zunehmend unwohl. Die Intensität seiner Blicke sprach Bände über die Last die auf seinen jungen Schultern ruhte.
Schließlich gab er stillschweigend mit einem Nicken seine Zustimmung.
„Gut, du wirst es nicht bereuen.“
„Wann können Sie etwas unternehmen?“
„Sobald ich mit dem Polizisten gesprochen habe. Kannst du mir nochmal seinen Namen geben?“
„Er heißt Li Bang Tuo.“
„Gut, das habe ich auch. Ich werde versuchen ihn zu erreichen, aber auf Streife sind Polizisten manchmal schwer zu erwischen. Dir steht es natürlich frei nochmal nach Dazu zu fahren, auch wenn ich darin keinen großen Erfolg sehe“, sagte Han Ning und nahm anschließend noch Bahes Smartphone-Daten auf. So konnte er ihn demnächst telefonisch und per Chat erreichen.
Bahe stand auf und verbeugte sich anschließend: „Herr Hua, ich weiß nicht wie ich ihnen danken soll.“
Han Ning deutete ihm schnell die Verbeugung zu unterlassen.
„Danke mir erst, wenn wir deine Probleme wirklich gelöst haben“, meinte er mit einem Augenzwinkern. „Wobei… da fällt mir noch eine letzte Sache ein. Ich muss wissen, wie groß das Anwesen ist, dass verkauft werden soll.“
„Hmm…“, überlegte Bahe. „Ich meine etwa siebentausend Quadratmeter und dreihunderzwanzig Quadratmeter Wohnfläche. Sonst noch etwas?“
„Nein, du kannst erst mal gehen…“, antwortete Han Ning geschockt.
„Nochmal vielen Dank“, sagte Bahe zum Abschied und Han Ning nickte zunächst nur.
Wer zum Henker war sein Vater gewesen, dass er sich solch ein riesen Anwesen in der Stadt leisten konnte?
„Ich melde mich, sobald ich den Polizisten erreicht habe“, rief er dem Jungen noch von weitem hinterher. Im nächsten Moment sah er doch tatsächlich etwas zum ersten Mal. Bahe winkte zur Bestätigung, dass er gehört hatte und lächelte. Ein echtes Lächeln, welches seine Augen erreichte. Dann verschwand er im Aufzug.
Es war ein seltsames Gefühl als Bahe im Erdgeschoss aus dem Aufzug stieg. Ihm kam es so vor, dass es Monate her war, in denen er sich zuletzt so wohl gefühlt hatte. Das kleine Dauergrinsen, das sich oben auf sein Gesicht geschlichen hatte, thronte auch noch immer auf seinem Gesicht.
Was eine Lösungsaussicht allein schon alles bewirken konnte…
„Verzeihen Sie, Herr Dragon…?“
Überrascht aus seinen Gedanken gerissen, hob Bahe den Kopf. Vor ihm stand einer der Männer, die sich zuvor um den Einlass in den Presseraum gekümmert hatten.
„Ja?“, antwortete er fragend.
„Eventuell werden Sie es vorziehen die Kanzlei über den Hinterausgang zu verlassen“, meinte der Mann mit einer Andeutung zum Haupteingang.
Sobald Bahe sich den Bereich anschaute, wusste er, wieso ihm geraten wurde einen anderen Weg zu nehmen. Noch immer standen unzählige Kamerateams und Reporter vor dem Haupteingang. Dort durch zu marschieren, wäre in Anbetracht Bei En Ruis Kommentare nicht allzu ratsam. Mal ganz davon abgesehen, dass er sowieso keine Lust hatte sich mit diesen Leuten abzugeben.
„Sehr gerne“, antwortete er schließlich und der Mann quittierte dies mit einem Nicken.
„Dann folgen Sie mir.“
Der Mann führte Bahe durch mehrere Gänge, bis sie schließlich in einer Art Lager ankamen.
„Ich hoffe es hat sich für Sie gelohnt“, meinte der Mann plötzlich und öffnete währenddessen die Tür, durch die man scheinbar das Gebäude verlassen konnte. „Es kommt nicht alle Tage vor, dass man mich und meinen Boss dermaßen für dumm verkauft.“
„Entschuldigen Sie das bitte…“, meinte Bahe etwas kleinlaut.
Zu Bahes Überraschung lachte der Mann lauthals los.
„Keine Sorge“, sagte er schließlich. „Unser lieber Staranwalt hat schon lange einen Dämpfer nötig gehabt. Nicht alle sind ihm so positiv gegenüber eingestellt. Was glauben Sie wohl, weshalb ich hier unten die Lobby überwachen darf und nicht als Anwalt praktiziere?“
Bahe starrte ihn verblüfft an, wusste jedoch nicht so recht, was er sagen sollte. War es nicht ziemlich gewagt, solche Behauptungen aufzustellen? Zumal er doch gerade erst ein Klient desselben Staranwalts geworden war, über den sich dieser Mann so ausließ?
„Ist schon gut, Han Ning hat mich eingeweiht. Er ist einer der wenigen guten Menschen in diesem Gebäude“, erklärte der Mann mit einem Augenzwinkern, scheinbar war ihm Bahes fragender Blick nicht entgangen. „Er wollte nicht, dass Sie sich durch die Menschentraube vorm Haupteingang kämpfen mussten.“
„Dann bin ich ja beruhigt und… vielen Dank“, sagte Bahe ernst gemeint.
Der Mann nickte ihm noch ein weiteres Mal zu, ehe Bahe sich dann in Bewegung setzte und die Tür durchschritt. Er fand sich in einer Art Hinterhof wieder. Eine Straße, gerade groß genug für die alltäglichen Belieferungen, führte in einiger Entfernung schließlich zurück auf die Hauptstraßen der Stadt.
Mit einen Klicken schloss sich die Tür hinter ihm und Bahe beschloss schnellst möglich den Heimweg anzutreten. Er musste seien Großeltern die wunderbare Nachricht überbringen, dass endlich eine Lösung in Sicht war.
Die U-Bahnfahrt dauerte unter Bahes Ungeduld natürlich viel zu lange. Mehrmals drehten sich seine Gedanken im Kreis, bis er schließlich versuchte sich mit willkürlichen Beobachtungen abzulenken, was ihm jedoch nur halbherzig gelang.
Als er am Mittag endlich bei seinen Großeltern ankam, lief er schleunigst die Treppen empor und stürmte euphorisch in die Wohnung.
„Oma, Opa, seid ihr da?“
„Wir sind im Wohnzimmer, Bahe“, erklang die Stimme seines Großvaters.
Bahe riss sich noch schnell die Schuhe von den Füßen, ehe er ins Wohnzimmer rannte. Kaum durch die Tür, blieb er aber überrascht stehen. Seine Großeltern saßen ausgerechnet mit dem Mann am Tisch, den er am Wenigsten hier vermutet hätte und doch unbedingt sprechen musste.
„Schön, dass du wieder hier bist, Bahe. Polizist Li solltest du von gestern ja noch kennen, nicht wahr?“, sagte Bahes Großmutter Freude strahlend.
„Ähm… sicher“, meinte Bahe noch immer etwas verblüfft. „Guten Tag, Herr Li.“
Meinte das Schicksal es endlich gut mit ihm?
Bis vorhin hatte er sich noch Gedanken dazu gemacht, wie er den Bekannten seines Vaters am Schnellsten zu sprechen bekam und nun saß er hier, im Wohnzimmer seiner Großeltern!
„Du musst mich wirklich nicht so förmlich anreden, mein Junge. Dein Vater und ich haben uns schon lange geduzt. Wir können das genauso halten“, erklärte er mit einem Lächeln. „Nenne mich einfach Bang Tuo.“
„Alles klar“, antwortete Bahe.
„Stell dir vor, Bahe, Polizist Li war von deinem Charakter so begeistert, dass er es sich anders überlegt hat und heute Morgen direkt zu uns gefahren ist, um uns mit Shang zu helfen“, sagte Bahes Großvater begeistert.
„Tatsächlich?“, fragte Bahe überrascht.
„Nun, nicht jeder verbringt in einer solchen Notsituation den halben Tag mit Warten, nur um eine Feier nicht zu stören…“, ließ Bang Tuo seinen Satz ausklingen, während er mit den Achseln zuckte.
Scheinbar hatte es doch sein Gutes gehabt, nicht die Feier gestört zu haben, dachte Bahe erleichtert. Bang Tuos Erscheinen erleichterte einiges.
„Seid ihr denn schon zu einer Lösung gekommen?“, fragte Bahe neugierig.
„Bisher noch nicht, aber Polizist Li erklärte gerade, dass er ein paar alte Gefallen einholen wollte und dann bist auch schon nach Hause gekommen“, klärte ihn seine Großmutter auf.
„Bitte, Lin und Feitong, ihr habt mir das Du angeboten, dann haltet es auch selbst so. Nennt mich einfach Bang Tuo“, beschwor Bang Tuo Bahes Großeltern, bis diese endlich nickten und fuhr dann an Bahe gewandt fort. „Es ist genauso, wie deine Großeltern sagten. Es gibt da noch die eine oder andere Person, die mir vielleicht hinsichtlich Mai Ping Lun helfen kann. Eins solltest du jedoch wissen, Mai Ping Lun ist nicht irgendein Bandenboss… Man sollte mit dem Mann verdammt vorsichtig sein. Morgen Abend wird er in einem seiner Stammrestaurants essen. Früher hat er dort oft alle zwielichtigen Deals abgewickelt. Heute hat er das allerdings längst nicht mehr nötig. Sein Einfluss reicht viel zu weit, als dass er noch an solchen Plätzen verhandelt. Es scheint einfach eine Art Tradition für ihn zu sein, an jedem ersten Samstag im Monat in einem seiner alten Stammlokale zu speisen. Genau diese Angewohnheit wollte ich mir morgen zu Nutze machen, um ihn unvorbereitet erwischen zu können.“
Nun, anscheinend meinte es das Schicksal wirklich gut mit ihm. Schon morgen bot sich eine Möglichkeit diesen Verbrecher zu konfrontieren.
„Bang Tuo, du solltest so schnell wie möglich mal diese Nummer anrufen“, meinte Bahe und rechte ihm die Telefonnummer des Anwalts.
„Ein Anwalt?“, sagte Bang Tuo und zog dabei die Brauen hoch.
„Wie? Ein Anwalt? Bahe, den werden wir uns niemals leisten können!“, rief Bahes Großvater entsetzt.
„Keine Sorge“, erläuterte Bahe schnell. „Der Anwalt übernimmt den Fall komplett kostenlos und eine Möglichkeit an das Geld zu kommen, hat er wohl auch schon. Allerdings braucht er dafür dich, Bang Tuo. Er hat mir aufgetragen vorsichtshalber zu dir zu fahren, nur für den Fall, dass er dich nicht erreichen würde.“
Speziell an seine Großeltern gewandt fuhr Bahe fort: „Eigentlich bin ich auch nur deswegen nach Hause gekommen. Zum Einen wollte ich euch kurz die gute Nachricht überbringen, zum Anderen wollte ich mich so schnell wie möglich ein weiteres Mal nach Dazu aufmachen.“
„Der Anwalt hat tatsächlich versucht mich zu erreichen“, merkte Bang Tuo an, während er die Visualisierungsfläche seines Prophone studierte. „Ich habe doch glatt sieben verpasste Anrufe. Da ich hier zu Besuch war, habe ich den Ton und die Visualisierung ausgeschaltet. Kann ich hier irgendwo in Ruhe telefonieren?“
„Ja, sicher. Am besten auf dem Balkon“, meinte Bahes Großmutter und stand schnell auf, um die Balkontür zu öffnen.
Der Polizist stand ebenfalls auf und machte sich, auf dem Weg hinaus, an der dreidimensionalen Visualisierungsfläche seines Prophone zu schaffen. Bahe schaute dabei interessiert zu. Er hatte noch nie ein richtiges Prophone besessen. Zu den Lebzeiten seines Vaters, war dieser immer gegen die neuste Technik gewesen. Er hatte immer gemeint, dass Bahe selbst in der Lage sein sollte, sich dergleichen zu kaufen und vorher würde eben keine Not bestehen, diese Dinger zu besitzen. In Anbetracht der Kosten der Prophones, hatte Bahe als Dreizehnjähriger aber schnell aufgegeben.
Bang Tuo hingegen benutzte sein Prophone so flüssig, dass Bahe aufgrund seiner Unerfahrenheit in der Handhabung schnell den Überblick verlor. Dann trat der Polizist aber auch schon auf den Balkon und seine Oma zog die Tür zu.
„So Bahe, jetzt erklär mir doch mal genau, wie du es angestellt hast, dass der Anwalt kein Geld verlangt“, forderte ihn sein Großvater auf.
„Oh…“, lächelte Bahe verhalten und begann die gesamte Geschichte, um die letzten drei Tage zu erzählen.
Er berichtete von dem Anwalt Hua Han Ning, dem er zufällig über den Weg gelaufen war. Wie er ihm geholfen hatte, weil er sich in dessen Situation des Verfolgten so sehr hatte hinein fühlen können. Von der Pleite gestern Abend in Dazu, als ihm Bang Tuo noch abgesagt hatte und wie er heute Morgen in seiner Verzweiflung mit den Bahnen durch die Stadt fuhr, ehe er sich in dieses Café setzte und von der Pressekonferenz erfuhr.
Als er erzählte, wie dieser Bodyguard von Bei En Rui mit ihm umgegangen war, explodierte sein Großvater regelrecht vor Wut und Bahe und seine Großmutter mussten die nächsten Augenblicke damit verbringen, ihn möglichst schnell wieder zu beruhigen. So kurz nach einem leichten Herzinfarkt war Aufregung das Letzte was er brauchte.
Zum Schluss erläuterte Bahe dann noch, wie er erneut dem Anwalt Hua Han Ning begegnet war, welcher diesmal sogar in der Lage war zu helfen.
„Bahe…“
„Ich…“
Seine Großeltern suchten sprachlos nach Worten, nachdem Bahe seine Ausführungen beendet hatte. Wurden dann jedoch durch den herein kommenden Polizisten unterbrochen.
„Bahe, ich habe deinen Anwalt erreicht. Er erwartet dich und meine Wenigkeit morgen um 19:30 Uhr am Restaurant Wanshang Hao. Dann werden wir diese Sache aus der Welt schaffen. Ich muss mich jetzt entschuldigen, bis morgen muss ich noch ein paar Leute auftreiben.“
„Er wird mit Sicherheit nicht alleine gehen!“, rief Bahes Großvater sofort.
„Feitong, sowohl ich als auch der Anwalt sind dabei. In Anbetracht der Umstände ist es für dich sowieso besser zu Hause zu bleiben, oder?“, meinte Bang Tuo beschwichtigend. „Abgesehen davon, bestand der Anwalt darauf, dass Bahe alleine kommt. Sonst kann es passieren, dass sein Plan nicht funktioniert.“
„Was hat er eigentlich vor, Bang Tuo?“, fragte Bahe.
„Er hat mich beschworen dir nichts zu sagen“, zuckte Bang Tuo die Achseln. „Er meinte, dass es für den Erfolg der morgigen Aktion von größter Wichtigkeit ist und nachdem er mich eingeweiht hat, muss ich ihm an dieser Stelle zustimmen.“
„Woher soll Bahe denn wissen wie er sich verhalten soll?“, fragte Bahes Großmutter Lin.
„Er soll sich ganz normal verhalten, alles Weitere kommt dann von selbst und letzten Endes geht es genau darum. So, jetzt quatsche ich hier schon viel zu viel. Bahe, vertraust du uns?“
Bahe nickte stumm.
„Dann bitte ich euch, Lin und Feitong, schließt euch euren Enkel an.“
Bahe sah, wie die Blicke seiner Großeltern von ihm zum Polizisten wanderten und sich schließlich trafen. Sie schauten sich einen Moment an und kamen scheinbar zu einem gemeinsamen Einverständnis als Feitong seufzte und Lin grimmig nickte.
Bang Tuo lächelte daraufhin und sagte: „Ich muss mich jetzt wirklich verabschieden.“
„Sicher“, meinte Lin und stand auf, um ihn hinaus zu begleiten.
„Hier Bahe“, sagte Bang Tuo und Bahe bemerkte, wie er eine WE-Chat-Nachricht[i] bekam. „Der Anwalt hat mir deine Nummer gegeben. Wenn irgendetwas sein sollte, melde dich bei mir oder ihm. In der Nachricht steht der Name und die genaue Anschrift des Restaurants. Wir treffen uns wie gesagt um 19:30 Uhr.“
„Ok, danke.“
„Auf Wiedersehen, Feitong. Bis morgen, Bahe“, verabschiedete sich Bang Tuo und verließ das Zimmer.
„Sei mir morgen bloß vorsichtig, Bahe“, mahnte sein Großvater seufzend.
„Natürlich.“
„Opa, es wird morgen schon alles gut gehen.“
„Ich hoffe es wirklich, Bahe. Die Ärzte können nicht mehr länger warten, haben sie uns gestern gesagt. Wenn sie nicht in den nächsten drei Tagen operiert wird, schwinden die Heilungschancen auf unter zwanzig Prozent.“
Bahe wusste nicht, was er darauf sagen sollte und nickte nur stumm.
„Bahe, steh mal auf und lass dich drücken“, sagte seine Großmutter als sie wieder ins Wohnzimmer kam.
Bahe tat ihr den Gefallen gerne und wurde sogleich in eine herzliche Umarmung gerissen. Einen Moment verharrten sie beide in der Haltung, ehe seine Großmutter ihn auf Armeslänge von sich schob und lächelnd sagte: „Vielen Dank. Wirklich vielen Dank, Bahe. Wir haben Glück einen jungen Mann wie dich unseren Enkelsohn nennen zu dürfen.“
„Ist doch selbstverständlich“, meinte Bahe seltsam berührt.
„Nein, das ist es nicht“, widersprach sein Großvater und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. „Wir sind wirklich sehr stolz auf dich und dein Vater wäre es auch.“
Bahe lächelte nur. Er wusste nicht wirklich mit der ganzen Herzlichkeit umzugehen.
„Wenn morgen alles gut geht, werde ich ein Festmahl zaubern. Dein Anwalt und Bang Tuo sind dann selbstverständlich eingeladen“, erklärte seine Großmutter und Bahe nickte zustimmend.
„Was hast du heute noch vor?“, fragte sein Großvater.
„Puh… darüber habe ich mir eigentlich noch gar keine Gedanken gemacht.“
„Müsstest du nicht mal langsam wieder zu diesem Anwesen? Zu diesem besoffenen Martial-Arts-Meister? Dann könntest du später auch wieder die Zwillinge vom Kindergarten abholen“, meinte sein Großmutter.
„Ah, da sollte ich wohl wirklich mal wieder auftauchen“, antwortete Bahe. Hoffentlich sah es ihm der Meister nach, dass er dort so unregelmäßig auftauchte.
„In der Tat, mach dass du dahin kommst, Bahe“, schupste sein Großvater ihn lachend an und Bahe rannte schnell in sein Zimmer, um ein paar Sachen zu packen, ehe er sich verabschiedete und zur nächsten U-Bahn rannte.
Lin lächelte, als sich die Tür hinter ihrem Enkel schloss.
„Feitong, Sulin kann sich wahrhaft glücklich schätzen solch einen Stiefsohn zu haben.“
„Da hast du Recht“, meinte ihr Mann und sie spürte, wie er sie von hinten in die Arme nahm.
Seufzend lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter und sagte leise: „Sobald Sulin wieder gesund ist, müssen wir dafür sorgen, dass er nie wieder solche Lasten tragen muss. Ich weiß, wir haben nicht viel Geld, aber…“
„Sch…sch…“, brachte Feiton sie zum Schweigen. „Denke jetzt nicht an sowas. Freue dich einfach darauf, dass bald alles gut wird. Wir werden schon einen Weg finden, ihn in Zukunft vernünftig unterstützen zu können.“
„Ich sollte für das Mittagessen einkaufen gehen.“
„Soll ich dich begleiten?“
„Du sollst dich doch schonen!“
„Ach, komm schon. Schonen heißt ja nicht den ganzen Tag nur im Bett zu liegen.“
Lin musste beim mürrischen Tonfall ihres Mannes grinsen. Das der Mann auch nicht mal einen Tag zu Hause bleiben konnte.
„Na gut, dann komm mit. Aber ziehe dich bloß warm genug an!“, meinte sie warnend.
„Ja doch!“, rief ihr Mann noch mürrischer als zuvor und Lins Grinsen wurde breiter.
Selbst nach vierzig Jahren Ehe, machte es immer noch Spaß ihn aufzuziehen.
Bahe verbrachte den restlichen Mittag und Teile des Nachmittags auf den Knien vor der Haustür der Chin-Familie. Glücklicherweise hatte ihm die Tochter, Huilan, geöffnet. Er war sich ziemlich sicher, dass ihr Trunkenbold von Vater wieder eine ewig lange Diskussion angefangen hätte. Zumeist gab er Bahe eigentlich nur deutlich zu verstehen, dass er ihn nie wiedersehen wollte, was Bahe selbstverständlich gepflegt ignorierte.
In Anbetracht der Umstände zogen sich die Stunden vor Ort heute besonders in die Länge und Bahe war heilfroh, als er am späten Nachmittag endlich seine Geschwister abholen konnte.
Auf dem Rückweg versuchte er hauptsächlich für seine Geschwister da zu sein, doch seine Gedanken wichen immer wieder ab. Er dachte über die letzten Tage nach. Es war einfach so unendlich viel passiert. Die gute Woche, in der er regelmäßig zum Chin-Anwesen gekommen war, kam ihm so viel länger vor. Dabei warteten noch ganze sechs Tage auf ihn.
Nächste Woche sollte zudem seine Schulzeit wieder anfangen.
Tja, wahrscheinlich nur, wenn der morgige Tag positiv verlaufen würde…
Und dann war da noch Raoie. Bahe loggte sich jede Nacht ein und war mehr als froh diese Ablenkung zu haben. Er glaubte nicht, dass er ohne das Spiel zu seiner nächtlichen Ruhe gekommen wäre. Aber auch in Raoie, verging die Zeit quälend langsam. Im Grunde herrschte dort stets der gleiche Trott. Bogenschießen trainieren, Wildwurzelkaninchen fangen, erlegen und ausweiden und dazwischen Zeit in der Bibliothek verbringen.
Natürlich lief es immer noch nicht glatt, da der Ausbilder Fenrir wohl einen Narren an ihm gefressen hatte. Tag für Tag wurde Bahe von diesem durch die Gegend gescheucht. Zumindest brachte es seinen Stats etwas. Seine Ausdauer, Kraft, Widerstandsfähigkeit und Physische Konstitution verbesserten sich mittlerweile täglich um einen Attributpunkt, während Willensstärke und Konzentration über die letzte Woche hinweg immerhin einen Punkt hinzu gewonnen hatten.
Genau diese Attributpunkte waren schließlich auch der Grund dafür, dass Bahe nicht längst aufgegeben hatte. Viele wählten den einfachen Weg und starteten das Tutorial I schlicht weg erneut. Dadurch entgingen ihnen jedoch auch diese möglichen Punkte. Es war letztlich die Frage, wie viel Arbeit man in diese Tutorialmission stecken wollte; umso mehr Anstrengung, umso bessere Ergebnisse.
Innerlich rieb er sich bereits die Hände. Nach Abschluss des Tutorial I würden seine Attributwerte wahrscheinlich schon mit Spielern gleichziehen, die bereits Level 4 oder Level 5 waren, während er sein Dasein immer noch auf Level 0 fristete.
Der monotone Tagesablauf in Raoie wurde nur von seinen Elementaren unterbrochen, da sie sich so unberechenbar verhielten, dass Bahe nie wusste, was als nächstes kam. Die Unterhaltungen mit diesen Weggefährten waren das Einzige, was ihn in den angespannten letzten Tagen zum Lachen gebracht hatte. Mit einem Schmunzeln dachte Bahe an Limona, die sich stets über irgendetwas aufregen musste und an Brocken, der meistens nur stumpf in die Gegend starrte.
„Was grinst du so, Bahe?“, holte ihn die Frage seiner kleinen Schwester in die Wirklichkeit zurück.
„Ach, ich habe nur bewundert wie hübsch du heute aussiehst“, meinte er schnell zu seiner Rettung.
„Ich werde ja nicht umsonst immer zur Prinzessin gewählt!“, ereiferte sich Liana Xue und begann aufgeregt und voller Stolz davon zu erzählen, wie die Mädchen im Kindergarten regelmäßig einen Kaiserhof einer ausgedachten Dynastie darstellten.
Leo Xiao rümpfte darüber nur die Nase und brachte Bahe damit zum Lachen.
Scheinbar gab es auch in der Realität noch genügend Augenblicke, die die Stimmung heben konnten, dachte Bahe vergnügt.
Der Rest der Bahnfahrt verging unter Lianas Ausführungen nur allzu schnell.
Zu Hause angekommen nutzte Bahe die übrige Zeit, um ein Bisschen Sport zu machen, musste nach fünf Liegestützen, fünfzehn Sit-Ups und sechzehn Kniebeugen aber erschöpft aufgeben. Sein schmächtiger und vernachlässigter Körper zitterte am ganzen Leib, während er schwer atmend nach Luft rang.
Es war geradezu beängstigend wie schwach er geworden war. Wie kam es, dass es ihm vorher nie aufgefallen war?
Sicher, auch auf den Baustellen war er schnell aus der Puste gewesen, aber das?
Vorerst musste er seiner Großmutter recht geben, er musste dringend mehr auf die Rippen bekommen. Woher sollte er sonst neue Kraft schöpfen?
Beim Abendessen hieß es also, ordentlich rein zu hauen und Bahe hielt sich an seine Vorsätze. Seine Großeltern schauten ihm verblüfft dabei zu, wie er wie vom Wahnsinn getrieben den Gemüsereis samt Fleisch in sich hinein stopfte. Bahe ignorierte die erstaunten Blicke seiner Großeltern und entschuldigte sich im Anschluss eiligst, um wieder in Raoie einzutauchen.
Vorher versuchte er sich aber noch ein weiteres Mal an seinen Sportübungen. Was er kaum fünf Minuten später auch schon bereute. Es war eine hirnrissige Idee gewesen, mit vollem Magen zu trainieren. Die Folge waren zehn Minuten grandioser Übelkeit, die er in gequälter, halb liegender, halb sitzender Position verbrachte, ehe er sich überwinden konnte in das Dimensional Leap-System zu steigen.
In Raoie materialisiert, ging Bahe beschwingten Schritts durch die Straßen. Die Hoffnung, den morgigen Tag betreffend, trieb ihn an, in Raoie heute besonders erfolgreich sein zu wollen.
Kaiwen ließ sich geschafft auf ihre Couch fallen. In den morgigen PG-Nachrichten würde endlich über den Anael-Account und die Entscheidungen des jungen Spielers berichtet werden.
Eigentlich war es ein Ding der Unmöglichkeit erst eine Woche nach dem Verkauf des Accounts über diese Tatsache zu berichten. Schließlich hatte sich die Aufregung in den Foren bereits wieder gelegt. Aber was sollte sie schon sagen? Sie war naiv gewesen.
Der Konkurrenzkampf im Sender PG hatte sie eiskalt erwischt. Zunächst war ihr Chef von ihrer Eigeninitiative angetan gewesen, doch zwei andere Journalisten hatten unter der Hand dafür gesorgt, dass es ihr vorgefertigter Bericht nie in die News schaffte.
Mal lag es an der falschen Zustellung zwischen den Abteilungen, dann war die Formatierung mit geringer Qualität absolut unbrauchbar. Die Gründe für das Nichtsenden waren so vielseitig, dass es niemals eine Person alleine organisieren konnte. Offensichtlich hatten sich die Beiden abgesprochen und zusammen gearbeitet.
Das viel größere Problem bestand jedoch darin, dass sie es so aussehen ließen, als ob diese haarsträubenden Gründe des Versagens ein direktes Resultat ihrer Unzulänglichkeit waren. Ihr Chef hatte ihr heute doch tatsächlich das Ultimatum gestellt, dass sie bis zum Ende der nächsten Woche gefälligst eine neue Geschichte aufzutreiben hatte, die brauchbar war. Ansonsten konnte sie sich nach einem neuen Job umschauen.
Ihre jämmerlichen Versuche die eigentliche Sachlage zu erklären und das Fehlverhalten ihrer Kollegen zu beleuchten, hatte ihr Chef doch tatsächlich mit einem Lachen abgetan und nur gemeint, dass sie für diesen Job wohl noch viel zu grün hinter den Ohren wäre, wenn sie nicht einmal mit solchen Vollidioten fertig würde.
Und was war mit einer gerechten Strafe für diese Idioten?
Fehlanzeige!
PG begrüßte die Kaltschnäuzigkeit und Dreistigkeit ihrer Mitarbeiter. Kaiwen erinnerte sich nur allzu gut an ihr damaliges Einstellungsgespräch…
Hätte sie diesen Satz damals doch bloß als Warnung verstanden. Jetzt blieb ihr erneut nichts anderes übrig als schnellst möglich eine Story aufzutreiben, die für die Nachrichten geeignet war.
Seufzend raffte sie sich auf, machte sich noch schnell etwas zu Abendessen und suchte anschließend beim Essen im Internet nach möglichen Storys. Zu ihrer Enttäuschung wurde sie aber vorerst nicht fündig. Frustriert ließ sie ihren Teller und Besteck in die Spüle fallen und kümmerte sich nicht weiter um den Abwasch.
Selbst das Zähneputzen ließ sie heute aus und legte sich stattdessen schnell in ihr Dimensional Leap-System. Mit Raoie würde sie wenigstens auf andere Gedanken kommen.
Dimensional Leap wird nun mit Ihrem 3D-Scan fortfahren.
Bitte bleiben Sie ruhig liegen und entspannen Sie sich. Sobald der Scan abgeschlossen ist, werden Sie benachrichtigt.
Obligatorischer 3D-Scan abgeschlossen.
Anmeldedaten stimmen mit Ergebnis des 3D-Scans überein.
Willkommen bei Dimensional Leap Kaiwen Chao!
Anmeldeprozess abgeschlossen!
Charaktername: Angel Eye
Geschlechtserkennung: Weiblich
Alter: 25 Jahre
Körperbau: zierlich / gesund -- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Startattribute entsprechend der körperlichen
Verfassung angepasst
Volkszugehörigkeit: Mensch
Die Vorbereitungen zum Dimensional Leap beginnen nun.
Bitte entspannen Sie sich,
schließen Sie die Augen und zählen im Geiste von 1-10.
Um sich zu entspannen atmete Kaiwen langsam aus und zählte wie immer in Gedanken mit.
1…
2…
3…
4…
5…
…
Dann verschwamm für einen Augenblick alles, ehe sich ihr Raoie in aller Pracht eröffnete.
Mit einem Lächeln trat sie von der Materialisierungsplattform und atmete tief ein. Hier in Raoie konnte sie all ihre Sorgen vergessen.
Vor ihr erstreckte sich der übliche Marktplatz Waldenstadts. Wie immer war er voller Spieler, die auf Teammitglieder warteten oder sich über Spielanfänger belustigen wollten. Doch bevor Kaiwen sich in Bewegung setzte klappte auch schon ein Benachrichtigungsfenster auf.
Moorg möchte mit dir in magische Verbindung treten. Möchtest du seine Aufforderung annehmen?
Ja? / Nein?
„Ja“, bestätigte Kaiwen und wurde gleich auf die stürmische Art Moorgs begrüßt.
„Angel Eye, endlich bist du mal wieder online!“
„Ich habe doch nur zwei Nächte ausgesetzt“, meinte sie Augen verdrehend, als sie Moorgs Stimme vernahm. Der Typ wurde langsam anhänglich.
„Haha“, lachte Moorg verhalten und setzte eine Tonlage ein, von der er vermutlich meinte, dass sie besonders cool wirkte: „Die zwei Tage in denen wir nicht gesprochen haben, kamen mir halt wie eine Ewigkeit vor.“
Echt jetzt?!
Würde sie dem Typen jetzt gegenüber stehen, würde er ihr wahrscheinlich auch noch zu zwinkern. Angewidert schüttelte sie sich und versuchte ihn abzuwürgen.
„Also, wenn nichts ist, dann kappe ich jetzt die Verbindung“, sagte sie.
„Hey, hey, Moment mal!“, antwortete Moorg schnell.
„Was ist denn?“
„Eigentlich wollte ich fragen, ob du dich mit mir und meinem Trupp zu den südlichen Jagdgründen aufmachen willst…?“
„Tut mir leid, ich kann heute nicht.“
„Was hast du denn vor?“
Ließ dieser Idiot denn nie locker? Innerlich seufzend antwortete sie: „Ich muss heute zwei Fähigkeiten für meine Berufsklasse trainieren und abgesehen davon, weißt du doch genauso gut wie ich, dass ich in einem Kampf vollkommen unbrauchbar bin.“
„Ach, quatsch“, meinte Moorg aufbauend. „Jede Klasse hat ihren Nutzen.“
Ja, dem stimmte Kaiwen zu. Nur ihre eben nicht, im üblichen Farmen bei der Monsterjagd.
„Trotzdem, heute kann ich nicht.“
„Schade…“, antwortete Moorg hörbar geknickt. „Aber kein Problem, du kannst ja beim nächsten Mal mitkommen.“
„Sicher“, antwortete Kaiwen knapp, nur um ihn möglichst schnell loszuwerden.
„Super! Dann sehen wir uns bald“, erklärte Moorg schon wieder deutlich fröhlicher.
„Ja, bis bald!“
„Bis bald“, verabschiedete er sich noch und kappte die Verbindung.
Kaiwen atmete auf. Den Himmeln sei Dank, dieser Vollidiot hatte endlich den Chat beendet. Sie suchte in ihrem Charakterprofil schnell Moorgs Namen und wählte Verbindung blockieren aus.
Möchtest du die magische Verbindung zu Moorg wirklich dauerhaft blockieren?
Ja? / Nein?
Kaiwen wollte ihre Aktion schon bestätigen, zögerte dann jedoch. So sehr Moorg auch nervte, sie brauchte ihn… oder nicht?
Seufzend fuhr sie sich durch die Haare. Nach Wochen hatte sie endlich mal wieder eine Gruppe gefunden, die sie auf ihre Jagd- und Trainingsausflüge mitnahm. Aber war es die Gruppenzugehörigkeit wirklich wert, sich ständig den Annäherungsversuchen dieses Idioten aussetzen zu müssen?
Ach scheiß drauf, dachte sie und gab den Befehl: „Ja.“
Die magische Verbindung zu Moorg ist nun dauerhaft blockiert. Sprich den Befehl „Verbindung zu Moorg wieder freigeben“, um die Chatfunktion mit dieser Person wieder zu ermöglichen.
„Wenigstens wird er jetzt nicht mehr nerven können“, sprach sie mit sich selbst und setzte sich am Rande des Marktplatzes an einen freien Tisch von einem der vielen verfügbaren Restaurants.
Es war ein ungewöhnlich schöner Tag in dieser virtuellen Welt, dachte Kaiwen und blickte zwischendurch gen Himmel. Die Sonne schien und nur sehr vereinzelt ließen sich kleine Wolken ausmachen. Das Wetter Raoies stand so im Gegensatz zur Realität, denn dort bedeckte in den letzten Tagen nur eine dichte Wolkendecke den Himmel.
Kaiwen beschloss später noch ein Bisschen durch die belebten Straßen Waldenstadts zu schlendern.
„Was kann ich Ihnen bringen?“
Kaiwen wandte den Blick zur Magd und sagte: „Ein Fruchtwasser mit Apfel bitte.“
„Kommt sofort“, erklärte die Frau mit einem Lächeln und verschwand im Restaurant.
Fruchtwasser war im Grunde nichts anderes als stilles Wasser, welches mit klein geschnittenem Obst vermischt wurde. Wirklichen Saft gab es in dieser mittelalterlichen Fantasy-Welt nicht. Oder zumindest bis jetzt noch nicht, überlegte sie.
Es war halt das Leid der Startstädte, dass es außer Wasser, Bier und Wein nicht wirklich etwas anderes zu trinken gab. Das Fruchtwasser war da schon etwas Besonderes, was natürlich dafür sorgte, dass sich die Tavernen und Restaurants den Aufwand entsprechend vergüten ließen. Fünf Kupfermünzen pro Becher war etwas, das nicht jeder bezahlen konnte, geschweige denn wollte.
Die Spielanfänger hüteten ihre kleines Vermögen und dachten gar nicht erst daran, es für Luxusgüter auszugeben. Waffen und die bescheidenste Nahrung, die es führ Geld zu kaufen gab, waren meistens die Güter der Wahl. Was im Klartext nichts anderes bedeutete als Wasser und Brot, sowie irgendwelche gebrauchten Zahnstocher von Artefakten, an denen selbst der Rang Gewöhnlich noch verfehlt war.
Kaiwen schüttelte den Kopf, als sie an den Vorfall vor zwei Tagen zurück dachte, an dem ein Spielanfänger Freudensprünge vollführt hatte, nachdem er sich sein erstes Schwert gekauft hatte.
Ihre Identifikationsfähigkeit hatte ihr gleich gezeigt, dass es selbst für einen Gegenstand des Gewöhnlich-Ranges absolut unterirdische Werte aufwies. Wahrscheinlich war das Schwert inzwischen zerbrochen.
Kaiwen wurde aus ihren Gedanken aufgeschreckt, als die Magd ihr das Fruchtwasser im Metallbecher servierte. Sie bedankte sich und nahm einen Schluck.
Der Metallbecher störte sie ein wenig. Ein Glas wäre ihrem Getränk viel besser bekommen, aber soweit sie wusste, fand man solche Luxusgegenstände nur in Gegenwart des Adelsstandes oder äußerst betuchter Kaufleute.
Das Wasser schmeckte erfrischend und leicht nach Apfel, gerade richtig an einem so schönen Tag wie heute.
Worin lag denn der Sinn in Raoie, wenn man nicht auch die schönen Seiten dieser virtuellen Welt genoss?
Die meisten Spieler strebten immer nur nach besseren Stats, Fähigkeiten und höheren Leveln, doch sie war da anders. Vor allem da ihr Level inzwischen hoch genug war, um sich gewisse Annehmlichkeiten zu gönnen.
Sie hatte natürlich auch schon Bier und Wein ausprobiert, doch wer wollte sich schon ständig zu Beginn der eigenen Spielzeit besaufen?
Denn was viele Spieler zunächst nicht erwarteten, war die Tatsache, dass man durchaus besoffen werden konnte. Kaiwen war es selbst auch passiert. Irgendwann war sie im Rausch durch die Straßen Waldenstadts gewandert und kurz vor Ende ihrer Spielzeit am anderen Ende der Stadt wieder zur Besinnung gekommen. Sie hatte sich doch tatsächlich übergeben müssen, ehe sie sich ausloggen konnte und zu ihrer Bestürzung hatte sie obendrein festgestellt, dass sie bis auf das letzte Artefakt ausgeraubt worden war. Selbst ihre Stiefel hatte irgendjemand an sich genommen. Ganze fünf Tage war sie in Raoie Barfuß durch die Gegend gelaufen, ehe sie sich genug Geld verdient hatte, um ihre wunden Füße wieder in weichem Schuhwerk betten zu können.
Wie sie den Realtitätsgrad Raoies in diesen Tagen gehasst hatte… Wahrscheinlich hätte sie damals das Spiel hin geschmissen, wenn sie nicht durch ihren Job darauf angewiesen wäre, auch hier vor Ort brauchbare Informationen finden zu können. Ihr Ziel war nicht als Spielerin erfolgreich zu sein, sondern vielmehr immer über die aktuellen Gerüchte und bemerkenswerten Situationen im Bilde zu sein. Sollte unerwartet ein Kampf zwischen zwei führenden Spielern stattfinden, würde man es hier zuerst erfahren. Wenn sie eins in ihrer kurzen Laufbahn gelernt hatte, dann, dass man für bemerkenswerte Schlagzeilen schnell sein musste.
Nicht zuletzt deswegen, hatte sie sich für ihre eher ungewöhnliche Klasse entschieden. Ihre Fähigkeiten als Orakel waren im Kampf nur leider alles andere als gefragt. So begeistert sie die spezialisierte Klasse der Orakel anfangs angenommen hatte, die Euphorie war schnell geschwunden.
Manasicht und Eingebungen, dass waren die Startfähigkeiten die ihr bei Klassenerhalt freigeschaltet wurden. Manasicht erlaubte ihr die Aura aller Lebewesen zu sehen, von der sie umgeben waren. Kaiwen wusste bis heute nicht was sie mit solch einer nutzlosen Fähigkeit anfangen sollte, dabei hatte sie zunächst vielversprechend geklungen.
Die andere Fähigkeit hatte sich hingegen als viel nützlicher heraus gestellt, als sie ursprünglich angenommen hatte. Nach den Informationen in ihrem Charakterprofil spielte ihr das Schicksal ab und an Hinweise zu, die ihr zum Vorteil gereichten. Eben in Form von Eingebungen, wie der Name schon sagte.
So wirr das Ganze klang, so beeindruckend waren die Ergebnisse. Nun ja… es klang nicht nur wirr, es war verwirrend. Kaiwen konnte es kaum in Worte fassen. Vielleicht war das beste Beispiel eine Straßenkreuzung. War der ursprüngliche Plan gewesen links lang zu gehen, gab ihr eine Eingebung das dringliche Gefühl die Entscheidung noch einmal zu überdenken. Es war eine Art Bauchgefühl, ein flaues Gefühl im Magen, welches aber auch recht schnell wieder verschwand. Dabei war es ganz egal, ob sie die richtige Richtung wählte oder nicht. Es hatte lange gedauert, bis sie diesen Punkt verstanden hatte.
Stand sie also vor solch einer Kreuzung und wollte nach links, es setzte aber ein merkwürdiges Gefühl ein, blieb sie mittlerweile stehen und überlegte genau welche anderen Möglichkeiten es sonst noch gab.
Einmal hatte sie doch tatsächlich in ein, für sie damals noch, lebensgefährliches Jagdgebiet aufbrechen sollen. Sie hatte sich zum ersten Mal auf diese Eingebung verlassen und war einer Gruppe von Spielern über den Weg gelaufen, mit deren Hilfe sie in kürzester Zeit von Level 6 zu Level 17 aufgestiegen war.
Inzwischen war sie Level 26, was sie allein dieser sonderbaren Fähigkeit zu verdanken hatte.
Die Fähigkeit war auch der Grund, weshalb sie sich hier an den Rand des Marktplatzes gesetzt hatte. Eigentlich hatte sie sofort durch die Straßen schlendern wollen, aber irgendetwas sagte ihr, dass dies im Moment ein Fehler wäre.
Na ja, in der Sonne zu sitzen und ein Bisschen Fruchtwasser zu trinken war auch nicht schlecht, egal was passieren würde.
Seufzend lehnte sie in ihrem Stuhl zurück, ließ die Sonne auf ihr Gesicht scheinen und lauschte entspannt ihrer Umgebung.
„Lauschen“, flüsterte sie den Befehl und aktivierte eine Fähigkeit, die rein gar nichts mit ihrer Klasse zu tun hatte. Sie hatte schon oft so da gesessen und auf ihre Umgebung gehört, bis sie sich diese Fähigkeit irgendwann von alleine angeeignet hatte. Dabei hatte sie es nicht einmal darauf angelegt, grinste sie in sich hinein.
Es war erstaunlich, wie schnell sie diese Fähigkeit auf ihr momentanes Niveau verbessert hatte. Inzwischen verstärkte der Lernstatus ihrer Fähigkeit ihr Hörvermögen bei Aktivierung um weitere 46%, wenn man mal von den Standard-10% der eigentlichen Fähigkeit absah.
Im Klartext bedeutete das, dass sie ein Flüstern in zwanzig Metern Entfernung immer noch verstehen konnte, wenn sie es darauf anlegte.
Abwechselnd hörte sie den verschiedenen Restaurantbesuchern oder vorbei laufendem Gesindel zu, bis sich schließlich drei junge Männer vier Tische weiter zusammen setzten.
„Wollt ihr auch was trinken? Ich nehm ein Bier.“
„Ich auch“, meinte der Zweite.
„Nee, hab kein Geld dafür“, erklärte der Dritte genervt.
„Ach, kein Problem. Ich lade dich ein“, hörte sie die erste Stimme.
„Danke, Mann!“
„Hey, Magd! Drei Bier bitte!“
Kaiwen zuckte bei dem plötzlichen Geschrei beinahe zusammen. Nun… es gab eben auch Nachteile, wenn man so gut hören konnte.
Da kam ihr der Gedanke eine weitere ihrer Fähigkeiten einzusetzen. Vor zwei Wochen war sie nämlich vor die Wahl gestellt worden. Sie hatte sich für eine von drei verschiedenen Fähigkeiten entscheiden müssen.
Zur Auswahl standen damals Visionsempfang, die Möglichkeit auf Zukunftsvisionen in einer Glaskugel; Weitsicht, die es ihr ermöglichen sollte in weite Entfernungen zu schauen und schlussendlich noch Schicksalsfindung, eine Fähigkeit die dem Benutzer ermöglichen sollte, Antworten auf alle Fragen zu finden.
Kaiwen hatte kaum einen Moment gezögert und Weitsicht genommen. Zukunftsvisionen in einer Glaskugel zu erhaschen, erschien ihr wie ein schlechter Jahrmarktwitz. Schicksalsfindung klang nach einer ähnlichen Funktionsweise, wie ihre Fähigkeit Eingebung. So gesehen war Weitsicht die beste Wahl, da es ihre Fähigkeiten sinnvoll erweiterte. Ganz zu schweigen davon, dass es für sie als Reporterin äußerst verlockend war über große Entfernungen den Überblick behalten zu können.
Gut, sie musste zugeben, dass Zukunftsvisionen auch einen gewissen Reiz hatten, aber die Wörter ‚Möglichkeit auf Zukunftsvisionen‘ hatten sie abgeschreckt. Ihr war es lieber eine sichere Fähigkeit zu haben, die auch funktionierte und nicht wann immer sie wollte den Geist aufgab.
„Weitsicht“, sprach sie leise den nächsten Befehl.
Noch immer musste sie über das seltsame Gefühl staunen, als sie plötzlich wieder etwas sah, obwohl sie die Augen geschlossen hielt. Ihr Blickfeld verschob sich auf ihren Willen hin zu den drei jungen Männern, wie sie nun erkannte.
Es hatte verdammt viel Übung benötigt dieses Verschieben richtig hin zu bekommen. Überhaupt war es bei weitem die am schwersten zu handhabende Fähigkeit, die sie bisher erlernt hatte.
Ganz zu Beginn fehlte von ‚Weitsicht‘ auch jede Spur. Es hatte keinerlei Unterschied gemacht, ob sie ihr normales Augenlicht benutzte oder ihre Fähigkeit. Erst nach zehn Minuten intensivem Ausprobieren und zugegebener Maßen auch mehr durch Zufall, war sie darauf aufmerksam geworden, dass sie ihr Blickfeld verschieben konnte.
Dummer Weise hatte sie damals die Augen offen gehabt und somit gleichzeitig nach vorn als auch nach hinten schauen können. Man war das gruselig gewesen… Und die unmittelbar darauf folgende Übelkeit.
Kaiwen versank bei dem Gedanken daran, dass sie sich damals mitten auf Straße vor allen möglichen Passanten übergeben hatte, immer noch in Grund und Boden.
Seitdem schloss sie vorsichthalber immer vorher die Augen. Über die nächsten Tage hinweg hatte sie intensiv mit der Fähigkeit experimentiert und war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass sich mit zunehmender Verbesserung der Fähigkeit auch ihre Reichweite verbesserte. Konnte sie zu Beginn die Fähigkeit lediglich dazu nutzen hinter sich zu blicken, so konnte sie mittlerweile mit der Fähigkeit bereits zwanzig Meter weiter schauen als mit ihrem normalen Augenlicht.
Wahrscheinlich hätte sie diesen Unterschied gar nicht weiter bemerkt, wenn es da nicht noch den Aspekt der Blickfeldverschiebung gegeben hätte. Die Fähigkeit erlaubte es ihr, das eigene Blickfeld wie bei einer Art Kamerafahrt zu verschieben. Blickwinkel aus der Vogelperspektive oder um eine Straßenecke spähen, während sie noch einige Meter entfernt war, stellten kein Problem mehr dar.
Mithilfe ihrer Fähigkeiten war es nahezu, als ob sie mit diesen drei jungen Männern am Tisch saß.
Kaiwen beobachtete, wie die Magd die Getränke brachte und sich die Männer bedankten. Die drei waren jung, wahrscheinlich gerade erst zwanzig oder so und sahen relativ gewöhnlich aus.
„Schon irgendwie geil bereits am Morgen zu trinken, nicht wahr?“, meinte der Erste.
„Nun ja, wenn man es genau nimmt, ist es ja eigentlich schon später Abend in der Realität“, grinste der zweite Mann.
Ah… Spieler also und keine NPCs.
Andererseits hatte Kaiwen es sich eh schon gedacht. Da es in Raoie noch früher Morgen war, sah man nur äußerst selten NPCs zu solcher Stunde alkoholische Getränke zu sich nehmen.
„Ich find es einfach so geil, dass man sich hier besaufen kann und in der Realität dann keinen Kater hat“, meinte der Letzte.
„Ha, da sagst du was!“ stimmte der Dritte mit ein.
„Überprüfen!“, flüsterte sie einen neuen Befehl.
Prompt eröffneten sich ihr auch schon die Stats samt Level und Berufsklassen aller Spieler.
Nur Anfängerlevel dachte Kaiwen abschätzig, nichts Besonderes. Zwei Level 6 Schwertkämpfer und ein Level 8 Axtkämpfer. Ihre Fähigkeiten waren auch allesamt gewöhnlich und nicht weiter ihrer Aufmerksamkeit wert.
Sie wollte Weitsicht schon wieder deaktivieren, als sie den verschwörerischen Blick des Zweiten entdeckte.
„Habt ihr eigentlich von diesem Irren gehört?“, fragte der Zweite und Kaiwen spitzte die Ohren.
„Was meinst du?“, fragte der Erste und nahm einem dicken Schluck aus seinem Krug.
„Na, ich meine diesen Verrückten, der in den letzten Tagen ständig um Waldenstadt rennt.“
„Stimmt, davon habe ich auch schon gehört“, meinte der Dritte.
Ein Verrückter der um Waldenstadt rennt? Jetzt hatten sie ihre Aufmerksamkeit, dachte Kaiwen interessiert.
„Wie, da rennt einer um die Stadt?“, fragte der erste verwirrt.
„Es ist, wie ich sagte. Dieser Bekloppte rennt jeden Tag um die Stadt, als sei irgendein Dämon hinter ihm her, heißt es.“
„Als ob.“
„Doch, es ist wirklich so“, klärte der Dritte den Ersten auf. „Ich habe ihn vorgestern, um die Stadt laufen sehen, als ich von den Wildwurzelkaninchen zurück kam. Auch, wenn ich nicht wirklich sagen kann, dass er wie ein Wahnsinniger rennt. Er läuft eher wie ne lahme Schnecke.“
„Ein Spieler?“, fragte der Erste
„Das weiß ich nicht so genau. Es nervt wirklich, dass man die Fähigkeit Überprüfen nach Level 5 verliert… Persönlich glaube ich, dass es ein NPC ist. Welcher Spieler will schon seine Spielzeit damit verschwenden, täglich die gleiche Strecke auf und ab zu rennen?“, meinte der Dritte.
„Wenn du dich jetzt vor die Stadttore stellst, kannst du den Bekloppten wahrscheinlich wieder bei seiner stumpfsinnigen Aktion beobachten“, schloss sich der Zweite an.
„Nee, lass mal“, winkte der Erste ab. „Ich trinke lieber in Ruhe mein Bier.“
Die anderen Beiden nickten, bis der Zweite etwas später fragte: „Sagt mal, wollen wir später einen der Trainingsplätze aufsuchen?“
Den Themenwechsel nahm Kaiwen zum Anlass ihre Fähigkeiten zu deaktivieren und dachte nach. War ein Irrer, der jeden Tag um Waldenstadt rannte, für ihren Boss Aufhänger genug? Zumindest einen Versuch war es wert.
Sie bezahlte schnell und begab sich außerhalb der Stadtmauern. Im Süden bestieg sie eine Hügelkette, von der sie die umliegende Gegend gut überblicken konnte und setzte sich ins Gras.
Jetzt hieß es wohl warten.
Im Laufe der nächsten fünfzehn Minuten verließen eine Menge Spieler die Stadt, um sich zu den Jagdgebieten mit den moderat gefährlichen Monstern aufzumachen. Meistens handelte es sich um Trupps von fünf bis sechs Leuten. Zwei, drei Nahkämpfer zum Blocken der Monster, ein Magier und ein Fernkämpfer, um Schaden zu verursachen und ein Priester für die Heilung der Verwundeten, waren die üblichsten Aufstellungen.
Kaiwen schüttelte dabei immer nur den Kopf. All diese Spieler hatten immer noch nicht begriffen, dass Raoie nicht den gleichen Regeln folgte, wie die üblichen MMORPG[i]. In Raoie verhielten sich die Monster nicht wie dumme Kreaturen, deren Aggressivität erst ab einem gewissen Radius oder Schadenswert ausgelöst wurde.
Die Kreaturen griffen keineswegs nur die Nahkämpfer an. Sobald der erste Pfeil oder magische Angriff eine Kreatur traf, tat diese im Normalfall ihr Möglichstes, um die Quelle dieser Schmerzen auszulöschen. Nahkämpfer, denen sie ausweichen konnten, stellten für die Kreaturen Raoies meist kein großes Problem dar.
Kaiwen hatte schon so oft erlebt, wie eine Unzahl an Spielern verreckt war, nur weil sie an ihren alten Spielvorstellungen festhielten.
Nach zwanzig Minuten der Warterei hätte Kaiwen vermutlich schon aufgegeben, wenn nicht eine große Anzahl an Spielern plötzlich aus dem Stadttor getreten wäre.
Die Spieler verteilten sich an der Stadtmauer entlang. Manche setzten sich, andere lehnten sich nur an die Mauer. Verblüfft hielt Kaiwen inne. Die Stadttorwachen schienen sich an dem Menschenauflauf hingegen nicht weiter zu stören. Wahrscheinlich waren sie schon weit Merkwürdigeres gewohnt.
„Lauschen“, aktivierte Kaiwen schnell ihre Fähigkeit und verschaffte sich so die Möglichkeit den Unterhaltungen der Spieler vor der Stadt zu folgen.
„Blademaster, worauf wettest du? Kommt er von links oder von rechts?“
„Ich sage von rechts.“
„Ok, dann wette ich fünf Kupfermünzen dagegen. Bist du dabei?“
„Haha, sicher!“
An anderer Stelle fragte ein junges Ding ihre wesentlich älter wirkende Freundin: „Phönixfeder, was meinst du, ist der Läufer ein NPC oder Spieler?“
„Es ist Spieler.“
„Was macht dich da so sicher?“
„Ich habe den Läufer schon einmal gesehen, Pandamäuschen. Er trägt den Speichergegenstand der Spielanfänger, den Gürtel.“
„Ah…“, meinte das Mädchen, welches auf Kaiwen noch keinen allzu erwachsenen Eindruck machte. „Ich habe mich schon gefragt, wie du ohne die Fähigkeit Überprüfen so sicher sein konntest.“
„Du musst dir angewöhnen aufmerksamer zu sein, Pandamäuschen. Ansonsten bringst du es in Raoie nicht weit.“
So langsam beschlich Kaiwen das merkwürdige Gefühl, dass die ganzen Spieler aus dem gleichen Grund wie sie hier waren. Sie schüttelte nur ungläubig den Kopf.
Scheinbar diente dieser Läufer zum allgemeinen Zeitvertreib der Spieler. Vielleicht war es doch eine gute Idee gewesen hierher zu kommen, grinste sie in sich hinein.
„Hey, da kommt er!“
Der Schrei riss nicht nur Kaiwen aus ihren Gedanken, als sämtlich Spieler sich plötzlich erhoben oder von der Stadtmauer abstießen, um sich einen besseren Blick zu ermöglichen.
Kaiwen folgte dem ausgestreckten Arm des Schreihalses und entdeckte zu ihrer Linken tatsächlich eine Person, die mit mittelmäßiger Geschwindigkeit an der Stadtmauer entlang joggte.
„Das soll ein Irrer sein, der um sein Leben rennt?“, entfuhr es ihr ungläubig, ob des lockeren Tempos der Person.
„Wooohoooo!“
„Da kommt er!“
„Lauf verdammt nochmal schneller! Sonst verliere ich meine Wette!“
„Er kommt von links! Her mit den fünf Kupfermünzen!“
„Ah, so ein Mist…“
„Wirklich schnell ist er ja nicht…“
„Warum klatschen wir eigentlich?“
Kaiwen fühlte sich, als ob sie in einem schlechten Theaterstück wäre. Es war merkwürdig surreal, wie sich eine solche Vielzahl an Leuten über eine einfache Aktion eines Spielers ausließ. Sie klatschten, feuerten ihn an oder kreischten einfach nur, um sich gegenseitig zu übertönen. Ihre Beweggründe waren dabei so vielseitig, wie verrückt.
Kaiwen entschloss sich den Haufen an Spielern zu ignorieren, als der Läufer bei ihnen ankam.
Sie wollte schon den nächsten Befehl geben, als es wieder passierte. Eine Eingebung brachte ihren Bauch zum grummeln und für einen Moment hatte sie den Eindruck, um den Spieler etwas zu sehen, was nicht wirklich vorhanden war.
„Manasicht!“, rief sie hektisch aus und starrte gebannt auf das Farbspektakel, dass sich vor ihren Augen ausbreitete.
„Was zum…“, sprachlos verstummte sie.
Sie hatte noch nie eine so weitreichende Aura, um eine Person wahrgenommen. Vor ihren Augen wechselten sich Braun und Blau in einem wolkenartigen Gebilde ab, welches bis zu zwei Meter vom Läufer weg ragte.
„Überprüfen“, nannte sie schnell den nächsten Befehl.
Charakter: Anael Lerua
Beruf: ??? Level: 0
Rang der Berufsklasse: ??? Erfahrungspunkte: 56/1000
Titel: Morgentau Gesundheit / HP: 110/110
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 300/300
Volkszugehörigkeit: Mensch Ruhm: 110
Kaum war ein Schock vorbei, hielt sie der Nächste gefangen.
„Level 0?!“
Und sie konnte die Berufsklasse nicht einsehen?!
Und wie konnte der Läufer eine solche Aura haben, wenn er noch Level 0 war?!
Kaiwen hatte schon Spieler gesehen, die Level 36 waren und noch nicht mal ansatzweise eine so ausgeprägte Aura besessen hatten…
„300 Mana…“, Kaiwen starrte gebannt auf ihre Anzeige und fragte sich wirklich langsam, ob mit ihrer Fähigkeit Überprüfen nicht alles in Ordnung war.
Einen Moment später, löste sich der Läufer schon wieder von der Menge und setzte seinen Weg an der Stadtmauer entlang fort.
Kaiwen war von den Ergebnissen ihrer Fähigkeiten so verblüfft gewesen, dass sie ganz vergessen hatte sich das Gesicht des Spielers genauer anzusehen und ohrfeigte sich innerlich dafür selbst. Scheinbar musste sie bis Morgen warten, wenn sie ein genaues Bild von ihm bekommen wollte.
Das Dimensional Leap-System zeichnete nämlich alle Spielverläufe aus der Perspektive des Avatars auf und ermöglichte Fernsehsendern der E-Sportsszene[ii] so die Veröffentlichung der spielinternen Erlebnisse einzelner Spieler.
„Ärgerlich…“, murmelte sie.
Natürlich hätte sie ihm hinterher rennen können, aber ihre Ausdauer war wirklich ein Witz, wie sie konsequenter Weise zugeben musste. Sie hatte ihre Attributpunkte immer in andere Bereiche gesteckt. Es wäre doch zu peinlich, nicht mal einen Level 0-Spieler einholen zu können, oder?
Beim Aufstehen dachte sie noch einmal über die Informationen nach, die sie vorhin bekommen hatte. Sie konnte sich wirklich keinen Reim darauf machen.
„Wie lautete sein Name noch gleich…? Anael…? Anael Lerua! Ja, ich glaube, dass war es“, dachte sie laut vor sich hin, als sie plötzlich geschockt in der Bewegung verharrte.
„Anael?!“, rief sie laut aus, als ihr ein gewisser junger Ausländer in den Sinn kam. „Nein, das kann nicht sein…“
Wie unwahrscheinlich war es denn bitte, dass sie unter den Millionen von Spielern ausgerechnet diesem Jungen wieder über den Weg laufen würde?
Außerdem war der Kerl ein Progamer und würde sicherlich nicht nach Tagen immer noch auf Level 0 verweilen.
Kopfschüttelnd über ihre eigene Dummheit machte sie sich auf den Rückweg in die Stadt. Es wurde Zeit ihre Fähigkeiten zu trainieren.
[i] MMORPG -- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Massively Multiplayer Online Role-Playing Game
[ii] E-Sportsszene -- oncontextmenu="return false;" onmousedown="return false;" onmousemove="return false;" oncopy="return false;" unselectable="on"> Eletronic-Sports à Computerspiele werden in einigen Ländern schon heute als offizielle Sportarten anerkannt. Ein Beispiel ist hier z. B. Korea, wo solche Spiele schon seit Jahren im Fernsehen übertragen werden und die Profispieler als richtige Stars in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.
Bahe war heilfroh, als er die Menschenmenge hinter sich gelassen hatte. Er war sich nicht sicher, wann das Ganze angefangen hatte, aber scheinbar war er für Spieler von Raoie inzwischen Teil der allgemeinen Belustigung.
Zwischendurch hatte er sich auch richtig nackt gefühlt, als ob irgendjemand durch ihn hindurch gesehen hätte. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen…
Und hatte er da vorhin richtig gehört? Es wurden schon Wetten auf ihn abgeschlossen?
Wenn er doch bloß auf die Idee gekommen wäre, jemanden zu engagieren, um einen Wettstand vor der Stadtmauer zu eröffnen… Er hätte eine Menge Geld machen können…
Die bescheuerten Gedanken aus seinem Kopf verbannend, setzte er seinen Lauf um die Stadtmauer fort und konzentrierte sich auf seine Atmung.
Sein Avatar Anael hatte in den letzten Tagen durchaus an Leistungsfähigkeit zugelegt. Die wenigen Attributpunkte die er pro Tag dazu bekam, waren bei seinem niedrigen Grundniveau durchaus zu spüren.
Klar, er lief immer noch langsam. Aber nicht mehr vollends wie eine Schnecke.
Ganz zu schweigen davon, dass er nach seinen täglichen Laufeinheiten nicht mehr vollends erschöpft war. Zu Beginn war er nach jedem Lauf zusammen gebrochen und hatte eine halbe Stunde seiner Spielzeit mit dem Bemühen zugebracht, sich überhaupt wieder hinstellen zu können. So sehr hatten seine Beine gezittert.
Ihn graute es nur ein Bisschen bei dem Gedanken, dass es in der Realität immer noch so war.
Nach vierzig Minuten kam er endlich an dem Stadttor wieder an, an dem er vor etwa zwei Stunden gestartet war. An jedem Tag in Raoie, startete er seine Spielzeit mit diesem Lauf, um irgendwann die irrsinnigen Forderungen des Ausbilders Fenrirs bewältigen zu können.
Allein der Gedanke, dass sich seine Attributpunkte durch diese langweiligen Laufaktionen stetig verbesserten, brachte ihn dazu, sich Tag für Tag weiter zu quälen.
Immerhin hatte sich seine Zeit auch schon wesentlich verbessert. Zu Beginn hatte er noch hundertsechzig Minuten gebraucht. Von den über zweieinhalb Stunden hatte er sich inzwischen auf zwei Stunden herunter gearbeitet. Die starke Verbesserung lag aber wahrscheinlich einfach darin begründet, dass bei seinen schlechten Attributwerten jedwede Erhöhung einen enormen Unterschied machte. Gestern hatten sich seine Ausdauer, Physische Konstitution und Widerstandsfähigkeit auf die Werte der durchschnittlichen Spieler des Levels 10 erhöht. Zumindest, wenn Bahe seinen Online-Quellen vertrauen konnte.
Da jeder Spieler pro Levelaufstieg nur 2 Attributpunkte zur freien Einteilung bekam, war diese Vermutung gar nicht so unwahrscheinlich. Bei vierzehn verschiedenen Werten die man verbessern konnte, war allein durch Levelaufstieg keine allzu große Verbesserung der eigenen Avatarwerte gegeben. Gut, Bahe vernachlässigte an dieser Stelle, dass andere Spieler durch ihre Jagd auf Monster auch an Zusatzattributpunkte gelangen, aber man musste sich ja irgendwie selbst motivieren, oder?
Selbst Fenrir, der er ihn bisher immer nur runter gemacht hatte, konnte sich ein knappes Nicken angesichts seiner gestrigen Leistung abringen, ehe er erneut zu einer Standpauke ansetzte.
Letzten Endes würden die zwei Wochen, die er für das Tutorial V ohne gekaufte Nahrung und Wasser verbringen musste, wahrscheinlich nicht ausreichen, um die Strecke in der verlangten Zeit, von eineinhalb Stunden zu schaffen. Aber durch seine stetig anwachsende Ausdauer, würde es immerhin auch nicht viel länger unmöglich bleiben.
Auf dem Ausbildungsgelände ließ er seine Zeit noch kurz von Fenrir abnehmen, der dies mal wieder mit einem Nicken und der stumpfen Bemerkung, dass er jetzt bloß nicht übermütig werden sollte, quittierte, ehe sich wieder auf den Weg zum Stadttor machte.
Außerhalb des Stadttors angekommen, lief Bahe noch einige Meter weiter und kam zu dem Fluss, der ganz Waldenstadt durchquerte. Mit zittrigen Beinen ließ er sich auf den Boden fallen und atmete hektisch ein und aus. Es war unglaublich, wie real ihm dieser schwächliche Zustand seines Avatars vorkam. Er spürte, wie seine Beine vor Anstrengung schmerzten und sich verkrampft hatten und fragte sich insgeheim, ob diese Tatsache vielleicht auch etwas mit seinem Schmerzempfinden zu tun hatte.
Er konnte kaum glauben, dass Spieler ohne dieses hohe Schmerzempfinden, auf solche Dinge aufmerksam würden. Konnte ihm das im weiteren Spielverlauf Vorteile bringen?
Bahe zuckte die Schultern, in dieser Hinsicht konnte er wahrscheinlich nur schauen, was ihm die Zukunft brachte.
Da er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, zog er den Hauptteil seiner neuen Kleidung aus und sprang ins Wasser. Er schwamm ein paar Meter durch den Fluss, ehe er an den Uferbereich zurückkehrte, wo er stehen konnte und begann sich mit dem Flusswasser so gut es ging zu waschen. Anschließend holte er noch seine neu erstandene Kleidung und wusch auch diese ordentlich im Wasser aus.
Vor einigen Tagen hatte er doch tatsächlich feststellen müssen, dass man in Raoie einen gewissen Eigengeruch annehmen konnte, der in Interaktionen mit NPCs und Spielern alles andere als förderlich war. Sein früheres Erscheinungsbild hatte sein übriges dazu getan. Deswegen hatte er sich schließlich überwunden und neue Kleidung gekauft. Auch das Waschen im Fluss gehörte seither zu seinem Tagesablauf. In dieser Hinsicht war Bahe heilfroh, dass es in Raoie zur Zeit auf den Sommer zuging und nicht der Winter mit seiner Eiseskälte die Natur beherrschte. Als Spielanfänger mit wenig Geld hätte er keine Ahnung gehabt, wie er diese Probleme sonst gelöst hätte.
Das einzige körperliche Bedürfnis, das Raoie bisher nicht thematisierte, war der Toilettengang. Und Bahe war verdammt froh darüber. Man musste sich das nur mal vorstellen, was sollte man schon anstelle von Toilettenpapier benutzen?
Blätter von Bäumen? Ein Tuch? Wusch man Selbiges im Anschluss aus?
Bahe schüttelte sich allein bei der Vorstellung…
Nachdem er mit dem Waschen fertig war, hing er seine nasse Kleidung zum Trocknen über die Äste eines Busches und begann mit seinem Schwimmtraining, dass er für nützlich erachtete. Es brachte ihn nicht nur ab und an Attributpunkte ein. Es verbesserte auch stetig seine Schwimmfähigkeit.
In der nächsten Stunde, schwamm er so schnell sein Körper es ihm noch ermöglichte, immer wieder im Fluss auf und ab. Als er beim fünfzehnten Mal gegen die Strömung schwamm, klappte endlich ein Benachrichtigungsfenster auf:
Du hast deine Fähigkeit „Schwimmen“ verbessert!
Fähigkeitsstatus: + 6%
Neuer Fähigkeitsstatus: Anfänger Level 2 | 46%
Du bewegst dich im Wasser um 4% schneller.
Schwimme größere Strecken, um dein Level zu erhöhen.
Begeistert schwamm er daraufhin schnell zum Ufer und schüttelte das Wasser so gut es ging von seinem Körper, ehe er in seine fast trockenen Klamotten schlüpfte. Es war wirklich umständlich, dass er seinen Speichergegenstand nicht nutzen konnte. Ein Handtuch wäre echt hilfreich gewesen. Doch Bahe hatte sich dagegen entschieden eins zu kaufen, ehe die zwei Wochen vorbei waren. Allein der Gedanke, noch eine ganze Woche mit einem Handtuch über den Schultern durch die Gegend rennen zu müssen, hatte ihn davon abgeschreckt.
Nachdem er vollständig bekleidet war, rieb er sich die kalten Gliedmaßen. Es ging zwar auf den Sommer zu, aber das Wasser war bei so langem Aufenthalt immer noch verdammt kalt.
Erschöpft machte er sich auf, zum Terrain der Wildwurzelkaninchen. Es wurde Zeit, dass er sich sein Abendessen verdiente.
Den Rest seiner Spielzeit verbrachte er wie üblich mit der Jagd nach Wildwurzelkaninchen, ihrem Ausnehmen und anschließend mit seinem Besuch in der Bibliothek.
Es kam ihm manchmal so vor, als ob es schlicht weg keine Atempause gab. Jede Minute seiner Lebenszeit nutzte er für eine ganz bestimmte Aufgabe, ganz egal ob Realität oder Raoie. Und verdammt, er hatte schon wieder vergessen Feiying nach seinem In-Game-Namen zu fragen. Es wurmte ihn tierisch, dass er die Schriftrolle gekauft hatte, ihren Zauber bisher aber noch nicht ein einziges Mal hatte nutzen können.
In den letzten dreißig Minuten seiner Spielzeit befand er sich mit seinen Elementaren wieder am Katharsee nördlich von Waldenstadt. Ein Besuch dieser Idylle war irgendwie zum rituellen Abschluss ein jeder Spieleinheit geworden.
Brocken spielte im Knie hohem Gras, während er nebenbei noch die Wächterkreatur in Schach hielt und Limona plantschte derweil aufgeregt im See, während sie sich ab und an mit Enten oder anderen Seebewohnern ein Wettrennen lieferte.
Bahe begann unterdessen mal wieder das Meditieren und versuchte die Energie seiner selbst und seiner Umgebung zu erfühlen. Nun, abgesehen von einem leichten Kribbeln auf seiner Haut nahm er nicht wirklich etwas wahr. Wobei er sich nicht mal wirklich sicher war, ob er sich das Kribbeln vielleicht auch nur eingebildete.
„Bahe!“, schrie Limona vom See herüber und ließ ihn vor Schreck zusammen zucken.
„Ich meditiere gerade!“, raunte er missmutig zurück, konnte die Fassade aber nicht lange aufrecht erhalten, da er innerlich froh darüber war, von der langweiligen Aktion abgelenkt zu werden.
„Was bist du bloß immer so negativ veranlagt?“, meinte Limona am Ufer ankommend und zog höchst energisch die Augenbrauen nach oben.
„Was wolltest du denn sagen?“, fragte Bahe, dessen Mundwinkel belustigt zuckten.
„Nun, ich wollte dir eigentlich nur raten, dass wir ab Morgen besser nicht mehr hier her kommen.“
„Hä… wieso denn das?“
„Na ja, seitdem du jeden Tag außerhalb der Stadt im Fluss schwimmst, hat der Drachengeruch stark abgenommen. Heute haben bereits ein paar der Kreaturen des Waldes unsere Witterung aufgenommen“, erklärte sie hochnäsig und fuhr dann fort: „Zurück kommen wir wahrscheinlich noch, aber das war es dann wohl auch. Solange du im Umgang mit den Wesen Raoies nicht wesentlich erfahrener bist, würde ich dir stark davon abraten nochmal diesen Wald zu betreten.“
Bahes Mundwinkel zogen sich nach oben. Scheinbar konnte auch Limona ganz nützlich sein, wenn sie wollte.
„Danke dir“, antwortete Bahe schlicht und Limona nickte knapp.
„Schade… dass wir den Luaris lange Zeit… nicht mehr… wiedersehen“, schaltete sich auch Brocken ein.
„Was meinst du mit Luaris?“, fragte Bahe entgeistert.
„Na, Blaufell“, erklärte Brocken und zeigte dabei auf die Wächterkreatur.
„Die Kreatur ist ein Luaris…? Moment mal, es hat einen Namen?!“
„Hat nicht… jeder einen Namen…?“
„Ich weiß auch nicht, was unsere Dumpfbacke von Elementflüsterer schon wieder für ein Problem hat!“, ereiferte sich Limona.
„Was ich für ein Problem habe?!“, rief Bahe lauthals. „Wieso habt ihr mir nicht sofort gesagt, dass ihr wisst, um was für ein Wesen es sich bei dieser Wächterkreatur handelt? Luaris… richtig?“
Brocken nickte.
„Ja“, seufzte Limona herablassend.
Bahe entschied sich ihr Benehmen zu ignorieren.
„Und es heißt Blaufell?“
„Er… heißt Blaufell“, stellte Brocken richtig.
„…“, Bahe hielt es für besser nichts mehr hinzuzufügen.
Jetzt, wo er einen Namen hatte, besaß er endlich die Möglichkeit mehr über die Wächterkreatur herauszufinden. Zumindest hatte er eindeutig bessere Anhaltspunkte, um in der Bibliothek fündig zu werden.
„Ich habe mich das schon die ganze Zeit gefragt, aber wieso hört… Blaufell… eigentlich auf euch?“, verlangte Bahe zu wissen.
„Bist wohl mal wieder auf den Kopf gefallen?“, meinte Limona abschätzig.
Bahe wollte schon etwas erwidern, als Brocken ihm zuvor kam.
„Wir sind… Elementare.“
„Zumindest so viel weiß ich auch…“
„Wir sind… mit bin der… Natur verbunden. Mein Element… ist das der Erde und Limonas Element… ist das Wasser. Dieser Ort… besteht zum Großteil aus diesen Elementen, weshalb… Blaufell sich auch so viel Mühe… gibt… den See und seine Umgebung zu schützen. Da er sich hier… besonders zu Hause fühlt.“
„Der Luaris hört auf uns, weil er uns als das anerkennt, was wir sind. Wir sind Elementare, die natürlichste Lebensform Raoies. Kein anderes Lebewesen ist so sehr mit seinem Element verbunden wie wir. Blaufell ist ein Wesen, das sich unseren Elementen verschrieben hat. Er erweist uns den nötigen Respekt, weil er erkannt hat, dass wir weit mächtiger sind als er“, ergänzte Limona.
„Ihr seid mächtiger als dieser Luaris?“, fragte Bahe zweifelnd. „Wieso helft ihr mir dann nie wirklich aus?“
„Ich habe… dir… doch mit den Wildwurzelkaninchen geholfen!“, empörte sich Brocken.
„Was ich meinte, war diese Tiere schnell zu erlegen, anstatt mich zu zwingen sie mit einem Stein zu erschlagen, nachdem du sie in meine Falle getrieben hast.“
„Sowas tun wir nicht! Wir sind Elementare! Wir werden uns nicht an den Verbrechen an der Natur beteiligen, die ihr Menschen ständig begeht!“, rief Limona.
„In der Natur gibt es doch auch Raubtiere, die für ihr Überleben andere Tiere jagen…?“
„Das… das…“, stotterte Limona, die offenbar aus dem Konzept gebracht worden war.
Hmpf, dachte Bahe, endlich hatte er sie auch mal erwischt.
„Wir können… sowas… noch nicht“, setzte Brocken an.
„Was meinst du damit?“
„Sie uns doch an… wir sind noch jung…“
„Sei still, Brocken!“, rief Limona entsetzt.
Jetzt wurde Bahe neugierig: „Wieso spielt es eine Rolle, ob ihr jung seid oder nicht?“
„Brocken hat dir nichts mehr zu sagen!“, rief Limona hektisch.
„Aber er muss es… doch wissen…“
„Nichts muss er wissen!“
„Hör mal Limona…“, wollte Bahe gerade seine Elementarin zurechtweisen, als es dunkel um ihn wurde und ein Fenster vor ihm aufklappte:
Deine täglich zur Verfügung stehende Spielzeit in Raoie ist abgelaufen.
Das nächste Zeitfenster, indem dir dein Account mit neuer Spielzeit zur Verfügung stehen wird, beginnt in 4 Stunden.
Du wirst automatisch ausgeloggt.
„So ein Mist!“, fluchte Bahe verärgert.
Ausgerechnet in solch einem Moment musste mal wieder seine Spielzeit enden…
Als das Dimensional Leap-System aufklappte, lag Bahe für einen Moment nur so dar. Der heutige Tag würde über sein zukünftiges Leben entscheiden. Er sehnte den Abend herbei und hatte gleichzeitig Angst vor einem schlechten Ausgang.
Irgendwann raffte er sich schließlich doch auf und begann sich eiligst mit selbst gestellten Aufgaben zu beschäftigen, um nicht länger an seinen Termin am Abend denken zu müssen.
Er brachte seine Geschwister zum Kindergarten, kaufte danach ein und kniete anschließend vor dem Chin-Anwesen. Am Nachmittag holte er seine Geschwister wieder ab und spielte mit ihnen bis das Abendessen diesmal besonders früh auf den Tisch kam.
Als sich Bahe am Abend die Schuhe anzog, konnte er nicht anders als mit Gedanken ganz wo anders zu sein. Er war den ganzen Tag so nervös gewesen, dass selbst die Stunden vor dem Chin-Anwesen im Nu verflogen waren.
Bahe verabschiedete sich noch schnell von seinen Großeltern und begab sich danach schleunigst zum vereinbarten Treffpunkt.
Letztlich kam er zehn Minuten zu früh am Restaurant an, aber sowohl Han Ning als auch Polizist Bang Tuo waren schon da.
„Hallo Bahe“, begrüßte ihn der Anwalt, der sich scheinbar in seinem besten Anzug zurechtgemacht hatte.
„Hi“, erwiderte Bahe die Begrüßung.
Bang Tuo nickte nur locker, auch er hatte sich herausgeputzt und seine Polizeiuniform angezogen.
Bahe fragte sich langsam, ob er sich vielleicht auch besser etwas anderes als Jeans und T-Shirt hätte anziehen sollen… Die einfache Jacke, die er sich übergeworfen hatte, machte es auch nicht wirklich besser…
„Wir haben Glück, Mai Ping Lun sitzt schon an seinem Tisch und Polizist Lis Informationen waren auch korrekt. Dieser Shang, von dem du mir erzählt hast ist ebenfalls vor Ort“, klärte ihn Han Ning auf. „Bist du bereit?“
„Ich glaube schon“, sagte Bahe, auch wenn er sich nicht bereit fühlte. Er wollte es nur endlich hinter sich bringen.
„Dann lasst uns hinein gehen“, meinte Bang Tuo.
Han Ning nickte, bat aber noch: „Wenn wir drinnen sind, überlass mir das Reden Bahe, verstanden?“
„Sicher.“
„Gut.“
Bang Tuo ging vor und führte sie im Restaurant bis zum fünften Stockwerk, welches für besondere Gäste vorbehalten war. Mehrere Bedienstete wollten sie zwischenzeitlich aufhalten, mussten sich Bang Tuos Stellung aber schließlich geschlagen geben.
Etwa fünf Minuten später fanden sie sich schließlich oben ein und Bahe betrat mit einem Klopfen von Han Ning und Bang Tuo gemeinsam die Privatbereich von Mai Ping Lun.
Bahes Augen fanden sofort den Mann, den er bis vor einiger Zeit immer noch als ‚Onkel‘ Shang gesehen hatte.
Der Mistkerl hatte scheinbar schon einiges intus, wenn Bahe seine geröteten Wangen und das glucksend bis schallende Lachen richtig deutete, als sie den Raum betraten. Er hatte zu jeder Seite eine Frau um sich, die ihn scheinbar liebreizend umgarnten, während er sich gerade wieder nachschenkte.
Die anderen Männer an dem runden Tisch erkannte Bahe nicht, aber bis auf zwei waren sie alle von irgendwelchen Frauen umgeben.
An diesen Beiden blieb Bahes Blick schließlich hängen. Der eine sah mit zwei Narben, die sich quer durch sein Gesicht zogen, gefährlich aus, während der Andere die Harmlosigkeit in Person war.
Ein Mann Anfang vierzig, dessen kurzes Haar sich an den Schläfen leicht grau färbte, aber im gesamten einen gutmütigen Eindruck machte. Sein Körperbau ließ sich im Sitzen nicht wirklich erkennen, doch er wirkte schlank und insgesamt eher durchschnittlich, um nicht zu sagen unauffällig.
Der Mann mit den Narben zu seiner Rechten hingegen, war das genaue Gegenteil. Die schwarzen Haare waren mittellang und nach hinten frisiert. Ein Bart akzentuierte seine starken Kieferpartien und gab ihm ein äußerst markantes Äußeres. Zudem konnte seine Sitzhaltung nicht die Muskeln verstecken, die sich unter seinem Anzug wölbten.
Noch vorgestern hätte Bahe diesen Mann eindeutig als Mai Ping Lun identifiziert, aber nach seinen Erlebnissen mit diesem Staranwalt wusste er es besser.
Bahe schaute zurück zu dem gutmütig wirkenden Mann, welcher Han Ning und Bang Tuo nur eines kurzen Blickes würdigte, ehe er Bahe aufmerksam musterte. Als sich ihre Blicke trafen, spürte Bahe plötzlich wie sich dieser gewöhnliche Mann in etwas verwandelte, was ihm eisige Schauer über den Rücken jagte. Er konnte es nicht genau festmachen was es war, aber Bahe war sich sicher, dass dieser Mann die gefährlichste Person im Raum war.
Das musste Mai Ping Lun sein!
„Was erlaubt ihr euch hier einfach reinzuplatzen?!“, rief plötzlich ein Mann, der wohl neben der Tür gestanden hatte. Sein Aussehen als auch sein Auftreten, ließen darauf schließen, dass es sich bei ihm wahrscheinlich um einen Bodyguard handelte.
Durch den lautstarken Auftritt war selbst der lachende Shang vor Schreck verstummt, der die Neuankömmlinge bis dahin noch gar nicht wahrgenommen hatte.
Han Ning wollte ihr Erscheinen gerade erklären, als ihm der gefährlich aussehende Mann zuvor kam und den Bodyguard beschwichtigte: „Lass gut sein, Chu. Wir wollen die örtliche Polizei doch nicht verärgern.“
„Wie Sie meinen“, nickte der Bodyguard knapp und zog sich wieder an die Wand des Raumes zurück.
„Meine Herren, was kann ich für Sie tun?“, wandte sich der Mann mit den Narben anschließend an Bahe und seine Begleiter.
„Guten Abend, meine Wenigkeit ist Hua Han Ning, ich bin Anwalt der Kanzelei Chen Law Firm und bin heute zu Ihnen gekommen, um eine Angelegenheit bezüglich eines größeren Anwesens innerhalb der Stadt zu klären“, äußerte sich Han Ning und fuhr fort: „Mit dabei habe ich den ehrenwerten Polizisten Li, der lediglich als Zeuge des heutigen Vertragsabschlusses fungieren soll, als auch den Grund meines Erscheinens, den jungen Mann Bahe Dragon, welcher sich schlicht um das Wohlergehen eines gewissen Mai Ping Lun sorgt.“
Was zum Henker sagte Han Ning denn da? Hoffentlich diente dieser Smalltalk nur dazu, die Wogen zu glätten, die ihr plötzliches Auftauchen verursacht hatte…
„Wohlergehen…? So… so…“, erklang die Stimme des gefährlich wirkenden Mannes belustigt.
„In der Tat, Wohlergehen“, bestätigte Han Ning. „Dürfte ich wohl nachfragen, ob entsprechende Persönlichkeit hier heute Abend anwesend ist?“
„Was wäre denn, wenn Sie anwesend wäre…?“
„Nun, dann würde ich dieser Person gerne die Sachlage darlegen.“
„Dann lassen Sie mal hören, was Sie zu sagen haben.“
„Nun gut“, sagte Han Ning und räusperte sich. „Dieser junge Mann zu meiner Linken vertritt die Familie, die ihr Anwesen über einen gewissen Herrn Shang zu veräußern gedachte. Leider hatte dieser Herr Shang die Absicht das Anwesen weit unter dem Mindestwert zu verkaufen. Er sagte, dass die Vertragsunterlagen per Eilbote direkt an den Herrn Mai versendet worden waren. Stimmt dies soweit?“
„Oh, in der Tat, Herr Mai erhielt die Unterlagen bereits und er hat den Kauf auch bereits schriftlich bestätigt…“, säuselte der Mann mit den Narben und brachte Bahe damit innerlich zur Weißglut.
„Ah…“, entfuhr es dem Anwalt bedauernd. „Wie ich es befürchtet hatte… wie ich es befürchtet hatte…“
„Nun… für Ihren Klienten gab es mit Sicherheit schon bessere Tage. Da muss ich Ihnen zustimmen“, antwortete der ebenfalls bedauernd. „Aber mit Sicherheit wird es irgendwann auch wieder aufwärts gehen.“
Bahe musste all seine Willenskraft aufbringen, um nach außen hin gelassen zu bleiben, als er sah, mit welch süffisantem Grinsen dieser Mistkerl seinen Satz zu Ende brachte.
„Nun, leider muss ich Sie an dieser Stelle davon in Kenntnis setzen, dass der Vertragsabschluss auf diese Art und Weise höchst illegal war und vor allem noch immer ist.“
„So, müssen Sie das?“, zog der narbengesichtige Mann die Augenbrauen hoch.
„Das ist doch völliger Schwachsinn! Der Vertrag ist vollkommen rechtens, was erzählen Sie für einen Mist?!“, ereiferte sich Shang und warf Bahe einen abschätzigen Blick zu, der in keinster Weise sein wahres Wesen verbarg.
Scheinbar war ihm nicht mehr daran gelegen, Bahes Familie zu gefallen.
„Worin genau liegt denn das Vergehen vom Herrn Shang und Herrn Mai, wenn ich mich erkundigen darf?“
„Selbstverständlich dürfen Sie“, antwortete Han Ning der seinen Tonfall aber plötzlich änderte. „Nur antworten muss ich nicht.“
„Wie bitte?!“, machte Shang große Augen.
„Sie haben mich schon richtig verstanden.“
„Hören Sie mal, Sie sind hier her gekom…“, begann der Narbengesichtige.
„Nein, Sie hören mir zu. Ich werde den Rest des Gesprächs nur noch mit den beteiligten Personen führen und nicht mehr mit einem Stellvertreter, dessen einziges Vermögen darin besteht, ein unablässiges Wortgeplänkel zu führen.“
Eine Faust landete krachend auf dem Tisch, während sich der gefährlich aussehende Mann erhob und Han Ning unheilvoll anstarrte.
„Es ist lange her, seitdem es jemand gewagt hat so mit mir zu sprechen. Chu, scheinbar kommen wir heute Abend doch noch auf unsere Kosten. Wärst du so freundlich und begleitest diese Männer schon mal in den Hinterh…“
„Es reicht.“
Brachte eine viel zu ruhige Stimme den gefährlich wirkenden Mann zum Verstummen.
Bahes Aufmerksamkeit wandte sich sofort dem unauffälligen Mann zu.
„Setz dich wieder“, sagte dieser zum narbengesichtigen Mann.
Und Bahe musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass dieser Kerl der Aufforderung mit einem Achselzucken nachkam und ihnen mitleidig zulächelte.
Der Mann mit dem unauffälligen Äußeren wandte sich währenddessen an Han Ning und bestätigte Bahes Verdacht: „Ich bin Mai Ping Lun und habe es verdammt nochmal satt, dass mein Abendessen auf solche Art und Weise gestört wird. Also kommen Sie endlich zum Punkt und sagen Sie weshalb Sie hier sind!“
„Sie und ich wissen, dass sie die Familien Dragon und Ma um ihr Anwesen betrogen haben.“
„Können Sie das beweisen?“
„Wenn so etwas möglich wäre, wären wir mit Sicherheit heute nicht hier, oder?“
„Also?“, raunte Mai Ping Lun bedrohlich.
„Ihr Fehler lag darin begründet, dass sie das Anwesen zu günstig erworben haben.“
„Fehler…?“
Bahe bemerkte, wie Mai Ping Luns linke Augenbraue verdächtig zuckte, als er dieses Wort zwischen seinen Lippen hervor presste.
„Der Staat verlangt Steuern, wie sie sehr wohl wissen. Diese Steuern fallen für alles Mögliche an, Gehälter, Firmen und eben auch Häuser, egal ob Vererbung oder Verkauf. Die Vertragsunterzeichner des Kaufvertrags über einen Betrag von 100 000 Yuan, das wären also Sie und Herr Shang, haben sich somit in der Hinsicht strafbar gemacht, als dass sie den Staat um einen großen Prozentsatz der Grunderwerbssteuer betrogen haben, indem Sie den Verkauf des Grundstücks für einen absolut unterirdischen Preis abgewickelt haben. Der Mindestbetrag für einen Quadratmeter übersteigt in der Summe bereits ihren Kaufpreis, um das Zwanzigfache. Sollte die zuständige Bezirksregierung also davon erfahren, werden die Folgen eher unangenehmer Natur sein…“, ließ Han Ning seine Ausführungen unheilvoll ausklingen.
Bahe sah, wie Mai Ping Lun mit bedrohlicher Gelassenheit seinen Blick von Han Ning abwandte und Shang ins Visier nahm, der plötzlich kreidebleich wurde.
„Das wird noch ein Nachspiel haben. Ich hasse Schlampereien“, bemerkte Mai Ping Lun trocken und wandte sich mit zunehmend bedrohlicheren Ton wieder an Han Ning: „Äußerst bemerkenswert von Ihnen dieses kleine Schlupfloch gefunden zu haben. Aber sie ziehen doch nicht wirklich in Betracht mich, auf der von Ihnen dargelegten Sachlage, unter Druck setzen zu wollen, oder?“
„Haha, selbstverständlich nicht“, winkte Han Ning ab und Bahe schaute ihn zunehmend verwirrt an. Was führte der Anwalt im Schilde?
„Ich habe keine Lust irgendwann auf dem Grund des Jangtse[i] zu landen, nur weil der Kleine und seine Familie ihr Anwesen richtig veräußert wissen wollen“, erklärte sich Han Ning.
Unsicherheit machte sich in Bahe breit, bis er an die Worte dachte, die sowohl der Anwalt als Bang Tuo so sorgfältig gewählt hatten. Er musste ihnen vertrauen… Scheinbar war es jetzt soweit…
Grimmig richtete Bahe seine Aufmerksamkeit wieder auf die aktuelle Situation und überlegte, wie er am besten mitspielen konnte.
„Ich weiß nicht wovon sie sprechen, Anwalt Hua“, erklärte Mai Ping Lun ungerührt.
„Selbstverständlich nicht, selbstverständlich nicht“, ereiferte sich Han Ning unterwürfig und beteuerte: „Ich möchte nur zum Ausdruck bringen, dass ich vielmehr für Sie arbeiten möchte, wenn Sie erlauben.“
„Han Ning, was soll der Mist?!“, versuchte Bahe sich in aufgebrachter Stimmlage.
Mai Ping Lun zeigte sich jedoch vollkommen unbeeindruckt: „Wie stellen Sie sich unsere Zusammenarbeit vor?“
„Nun, der Kleine will den Gesamtbetrag. Was selbstverständlich vollkommener Schwachsinn ist. Ich habe mir erlaubt ein Schreiben aufzusetzen, was beide Parteien zufrieden stellen wird“, meinte Han Ning mit einem eiskalten Lächeln in Bahes Richtung.
Bahe bemühte sich indes besonders fassungslos drein zu blicken, als ob er nicht wahrhaben wolle, was soeben passierte. Mit gespielt verzweifeltem Blick beobachtete Bahe wie Han Ning die Unterlagen aus seiner Aktentasche holte und seine Ausführungen fortsetzte.
„Mit diesem Schreiben sichern Sie, Herr Mai, den ursprünglichen Verkäufern der Familie Ma, einen Betrag von 3 000 000Yuan zu. Im Gegenzug verpflichten sich die Familie Ma, sowie der junge Bahe Dragon dazu, dass sie über die gesamte Transaktion Stillschweigen bewahren und nie wieder rechtliche Schritte bezüglich dieser Sachlage einleiten.“
„Ho…“, entfuhr es Mai Ping Lun verblüfft, ob der Dreistigkeit Han Nings.
Bahes nahm die Reaktion des Mistkerls als Stichwort und fuhr den Anwalt mit wütender Miene laut an: „Han Ning, was soll das? Unser Anwesen ist mehrere Millionen Yuan mehr wert!“
„Bang Tuo, bring den Kleinen nach draußen, hier müssen sich die Erwachsenen unterhalten“, vernahm Bahe den wie ausgewechselten Anwalt und erstarrte diesmal vollkommen ungespielt. War er zu weit gegangen? Bisher hatte er angenommen recht glaubhaft gewesen zu sein…
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie Bang Tuo auf ihn zukam und entdeckte ein verdammt echt aussehendes, schadenfrohes Grinsen in dessen Gesicht.
Du musst uns vertrauen, Bahe… Du musst uns vertrauen Bahe…
Bahe wiederholte den Satz mehrere Male innerlich und konnte sich dennoch kaum beruhigen. Han Nings und Bang Tuos Verhalten wirkte so echt, dass er sich nur schwer aus seiner Schockstarre befreien konnte.
Ohne noch länger zu zögern, warf er sich schließlich mit all der Wut und Verzweiflung der letzten Tage dem Anwalt entgegen.
„Du Bastard!“, schrie er aus Leibeskräften, während er Han Ning am Kragen packte. „Du hast mir gesagt ich soll dir vertrauen! Wieso tust du meiner Familie das an?!“
„Vertrauen… oh ja…“, meinte der Anwalt grinsend, nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte. „Es war so leicht dir diese Idee von der allumfassenden Lösung vorzugaukeln. Ein paar Worte hier, ein paar Worte da und schon hast du mir förmlich aus der Hand gefressen…“
„Du… du…“, stotterte Bahe und spielte das blanke Entsetzen so gut er konnte.
Er wollte gerade zu einem Schlag ansetzen als ihn jemand von hinten packte. Mit Schwung wurde er vom Anwalt weggerissen, während ihm gleichzeitig ein Arm schmerzhaft auf den Rücken gedreht wurde.
Der stechende Schmerz trieb ihn auf die Zehenspitzen und Bahe musste die Zähne fest zusammen beißen, um nicht aufzuschreien.
„Wir werden jetzt einen kleinen Spaziergang machen und an deiner Stelle, würde ich mich ruhig verhalten“, sprach Bang Tuo ihn von hinten kalt an.
Dann wurde er am schmerzenden Arm nach hinten gezogen und Bahe konnte auf Zehenspitzen nur eiligst versuchen Schritt zu halten. Hätte Bang Tuo nicht ein Bisschen weniger feste zugreifen können?!
Frustriert blickte er ein letztes Mal durch den Raum. Die spöttischen und kalten Blicke der Männer Mai Ping Luns brannten sich sie wie heißes Eisen in sein Gedächtnis, während er sich immer wieder einredete, dass dies von Han Ning und Bang Tuo alles nur gespielt war.
Dennoch ließen die spöttischen Minen der Männer so unvorstellbarem Zorn in ihm aufwallen, dass er seinen Gefühlszustand diesmal einfach freien Lauf lassen konnte. Sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzehrt, sagte weit mehr als tausend Worte.
Bahe prägte sich speziell Shangs arrogante Gesichtszüge ein und schaute anschließend noch zu Mai Ping Lun, der Ursache allen Übels.
Hoffentlich funktionierte der Plan, den sich Han Ning ausgedacht hatte. Bahe wusste nicht was er sonst tun würde…
In dem Moment spürte er plötzlich, wie der Griff an seinem Arm sich etwas lockerte. Sollte er sich etwa wehren?
Bahe entschied, dass er sich die Skepsis nicht leisten konnte und versuchte weiterhin, seine wütende Grimmasse, aufrecht zu erhalten. Danach sprang er hoch und trat mit dem rechten Bein mit voller Wucht nach hinten. Bang Tuos Griff löste sich noch weiter und Bahe konnte ihm schnell seinen Arm entreißen. Anschließend wirbelte er herum und wandte sich zur Tür. Er musste einen verzweifelten Jugendlichen spielen. So jemand würde nur noch von hier verschwinden wollen. Also sollte er zusehen, dass er unbeschadet aus diesem Restaurant heraus kam.
Er sprang an Bang Tuo vorbei, der sich den schmerzenden Bauch hielt und wollte gerade die Tür öffnen, als sich eine Faust fest in seine Magengegend bohrte. Ächzend wurde er von den Beinen gerissen und gegen eine der Seitenwände des Raumes geworfen.
Bahe prallte verwirrt auf den Boden, während er keuchend nach Atem rang. Pochende Schmerzen in seinem Bauch und am Hinterkopf ließen ihn nicht klar denken, als er an den Haaren gepackt und in eine Richtung gezerrt wurde. Wie im Wahn versuchte er fieberhaft seine schmerzende Kopfhaut zu entlasten und krabbelte mehr als das er sich mit den Füßen abstoß, hinter der unbekannten Hand hinterher.
Kaum einen Augenblick später wurde er hochgerissen und aus dem Raum gestoßen. Taumelnd krachte Bahe gegen das Geländer, welches die offene Galerie vor dem Raum von der unteren Etage abtrennte und brach davor zusammen.
„Schnapp dir diesen Dreck, du nutzloser Vollidiot!“, vernahm Bahe die Stimme des Bodyguards, der neben der Tür gestanden hatte und begriff allmählich, dass dieser ihn wohl gerade außer Gefecht gesetzt hatte.
Schmerzerfüllt kniff Bahe die Augen zusammen, um seinen Blick zu klären und entdeckte Bang Tuo, wie dieser grimmig auf ihn zuging und Bahe mit einem Griff zu seiner Jacke gewaltsam auf die Beine zwang. Scheinbar hatte Bang Tuo seinen Tritt doch recht gut weg gesteckt, dachte Bahe erleichtert.
Der Bodyguard baute sich ein weiteres Mal vor Bahe auf, packte seinen Kiefer und drehte sein Gesicht zur unteren Etage.
„Schau genau hin, du Hurensohn. Glaubst du wirklich, dass du auch nur den Hauch einer Chance hättest von hier zu entkommen?“, raunte der Mann ihm verächtlich ins Ohr.
Doch Bahe hörte ihn kaum. Wie vom Donner gerührt blickte er auf die gesamte untere Etage. Jeder Mann und jede Frau, egal wie unscheinbar sie auch aussehen mochten, hatten sich erhoben und blickten ausdruckslos nach oben. In einigen Händen dieser Leute entdeckte Bahe Messer, die so gar nicht zum normalen Tischbesteck passen wollten. Andere hatten ihre Hände unheilvoll in die Jacketts oder unter den Rock geschoben.
Bahe schluckte schwer, als er zum ersten Mal gewahr wurde, dass hier wesentlich mehr auf dem Spiel stand als nur der reine Verkauf des Anwesens.
„Ihr könnt euch wieder setzen. Nur ein kleiner Idiot, der sich gerade verabschieden wollte“, wandte sich der Bodyguard an die Besetzung des unteren Stockwerks und sagte anschließend zu Bang Tuo: „Bring diesen Bastard raus, ehe mein Boss es sich noch einmal anders überlegt.“
Han Ning schaute schockiert zu Bahe. Durch die Worte des Bodyguards, konnte er sich in etwa denken, wieso der Junge mit einem Mal erstarrt war.
Bahes vorheriges Verhalten hatte ihn jedoch viel mehr umgehauen.
Erst war ihre Überlegung gewesen, ihn solch eine Reaktion spielen zu lassen. In Anbetracht ihres Gegenspielers hatten sie sich aber lieber dagegen entschieden. Mai Ping Lun hätte Bahe mit Sicherheit durchschaut.
Bang Tuo und er hatten ihm daher absichtlich nichts von dem Deal erzählt, den sie umsetzen wollten, um Bahe zu verunsichern und ihn zum Ausrasten zu bewegen. Aber das es so verdammt gut laufen würde?!
Han Ning konnte wirklich nicht beschwören, ob Bahe ihn und Bang Tuo gerade hasste oder vielleicht doch den Überblick über die Situation behalten hatte…
Sie hatten Bahe gesagt, dass er ihnen vertrauen solle… Nur um ihn daraufhin scheinbar zu enttäuschen…
Nun ja, er hatte schon bessere Einfälle gehabt…
Aber anscheinend hatte es geklappt?
Einmal tief durchatmend straffte er sich wieder und setzte erneut die höhnisch grinsende Maske auf, mit der er Bahe zuvor schon begegnet war. Er durfte sein eigenes Schauspiel in so einem Schlüsselmoment nicht vernachlässigen.
Bang Tuo führte derweil Bahe, unter dem strengen Blick des Bodyguards, nach draußen und ließ Han Ning allein mit den gefährlichen Männern zurück.
„Ich bin mir sicher, dass Sie mir noch erklären wollen, wofür genau ich Ihnen 3 000 000Yuan bezahlen sollte, oder?“, wandte sich Mai Ping Lun belustigt an Han Ning, als sich die Tür hinter dem Bodyguard geschlossen hatte.
„Aber selbstverständlich!“, versicherte er schnell und schenkte Mai Ping Lun sein bestes Lächeln. „Die 3 000 000Yuan decken schlicht weg die Grunderwerbssteuer, als auch die unmittelbaren Ausgaben der Familie Ma. Sofern Sie sich also dazu bereit erklären den angesprochenen Vertrag zu unterzeichnen, wird niemand sie je wieder für diese Sache belangen können.“
„Nun… wieso sollte ich das tun, wenn es niemand je wagen würde sich mit mir anzulegen? Ich möchte doch wirklich bezweifeln, dass es irgendjemanden gibt, der dumm genug ist, mich beim Staat bezüglich der Grunderwerbssteuer zu melden…?“, ließ Mai Ping Lun seine Ausführungen bedrohlich fragend ausklingen.
„Nun, normalerweise wäre das mit Sicherheit der Fall. Nur leider…“
„Nur…?“, knurrte Mai Ping Lun unterschwellig dazwischen.
Han Ning weigerte sich zwanghaft nicht zu Schlucken oder sich anderweitig seine Nervosität anmerken zu lassen und fasste seinen Gegenspieler stattdessen fest in die Augen.
„Ihr Partner in dieser Angelegenheit, Herr Shang, hat Ihnen vermutlich nicht erklärt, in welcher Lage sich die Familie Ma befindet, oder?“
„Was meinen Sie?“, hob Mai Ping Lung eine Augenbraue.
„Die Mutter des Jungen liegt in einer Spezialklinik für Gehirntumore und das Geld vom Verkauf des Anwesens wird für die dringend notwendige Behandlung benötigt…“, versuchte sich Han Ning zu erklären.
„Was geht es uns an, wenn die blöde Schlampe verreckt?!“, rief Shang arrogant dazwischen.
Han Ning wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, als er bemerkte wie Mai Ping Lun den Kopf schüttelte und sich dabei Shang wandte: „Shang, halt die Klappe.“
„Aber Herr, es ist doch…“
„Sei still.“
Han Ning lief es eisig den Rücken hinunter als er Mai Ping Luns todesruhige Stimme beim zweiten Mal vernahm. War dieser Shang denn vollkommen wahnsinnig?! Merkte er nicht, dass er sich lieber vornehm zurück halten sollte?
„Verzeihen Sie mir die Ausbrüche dieses Idioten. Es handelt sich bei ihm um eine Fehleinschätzung meinerseits. Andernfalls wäre es nie zu dieser verzwickten Situation gekommen“, führte der unscheinbare Mai Ping Lun an Han Ning gewandt aus. „Im Gegensatz zu diesem Dummkopf verstehe ich durchaus, dass eine Familie, die bis an den Rand der Verzweiflung getrieben wurde und nichts mehr zu verlieren hat, durchaus problematisch werden könnte. Dennoch frage ich mich, wie Sie annehmen können, dass ich Ihren geforderten Betrag bezahle und mich nicht viel lieber selbst um dieses ‚Problem‘ kümmern werde?“
Natürlich betonte dieser Drecksack das Wort Problem noch einmal in aller Deutlichkeit. Als ob ihm die Gefahr nicht schon bewusst genug gewesen wäre.
„Schicken Sie alle ‚Idioten‘ aus diesem Zimmer und wir können uns der eigentlichen Verhandlung zuwenden“, sagte Han Ning kalt und blickte seinen Gegenspieler ruhig an.
„Hoo…“, bemerkte Han Nings Gegenüber, ehe er zu grinsen begann. „Shang, geh nach unten.“
„Aber Herr…“
Der eiskalte Blick Mai Ping Luns brachte Shang nahezu sofort zum Schweigen, der es auf einmal äußerst eilig hatte, nach unten zu kommen.
„Die Anderen bleiben.“
Han Ning nickte schlicht und erklärte: „Wie Sie wissen, arbeite ich für die Chen Law Firm. Mein unmittelbarer Chef ist Bei En Rui, haben Sie schon mal von ihm gehört?“
„Natürlich, der junge Staranwalt der Stadt“, bestätigte Mai Ping Lun.
„Nun, mein Chef strebt an seine Verbindungen zu erweitern und zu festigen… Dummer Weise war er gezwungen den Fall des jungen Mannes zu übernehmen. Sollte er den Fall verlieren, würde seine erstklassige Erfolgsbilanz darunter leiden. Insofern hofft mein Boss zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er möchte sich Ihnen gerne als Partner anbieten, da er davon überzeugt ist, dass Sie einander in vielerlei Hinsicht gegenseitig unterstützen könnten. Im Gegenzug und als Zeichen des guten Willens erhofft er sich schlicht weg…“
„Das ich dem Deal zustimme?“
„Genau, immerhin… sind 3 000 000Yuan für Sie wirklich nur ein Bisschen Taschengeld…“, sagte Han Ning ein letztes Mal ruhig und beobachtete aufmerksam Mai Ping Lun. Würde der ausgelegte Köder ausreichen, dass der Bastard anbiss?
Frustriert versuchte Bahe seinen Arm zu entlasten, den Bang Tuo ihm, beim Verlassen des Restaurants, immer noch auf dem Rücken verdreht hatte.
„An deiner Stelle, würde ich dafür Sorge tragen, dass der Junge vorläufig nicht verschwindet. Mein Boss kann äußerst unangenehm werden, wenn sich jemand ohne seine Erlaubnis aus dem Staub macht“, raunte der Bodyguard Bang Tuo zu und schlug hinter sich die Tür zu.
Erst danach spürte Bahe, wie sich Bang Tuos Griff endlich löste. Stöhnend rieb Bahe sich anschließend den Arm und die Schulter im Versuch den dumpf zurück gebliebenen Schmerz zu vertreiben.
„Hast du dich jetzt endlich beruhigt?“, fragte Bang Tuo.
„Verdammt, musstest du so fest zu packen?!“, entrüstete sich Bahe jedoch, ohne auf die Frage einzugehen.
„Du hast gut Reden, Bahe. Weißt du eigentlich wie feste du vorhin zugetreten hast?!“ Beschwerte sich Bang Tuo.
„Aber ihr wolltet doch, dass es echt wirkt!“
„Hä? Wie… Moment mal! Das gerade war alles nur gespielt?!“
„Wofür sonst habt ihr mir gesagt, ich soll euch vertrauen?“
Bang Tuo rieb sich mit den Händen über das Gesicht und stöhnte anschließend Kopf schüttelnd: „Und ich dachte doch tatsächlich, Han Ning und ich, hätten dich mit unserem Verhalten zum Ausrasten gebracht…“
„Hä? Haltet ihr mich für blöd oder was?!“
Bang Tuo faste sich erneut ans Gesicht und wandte sich von ihm ab, während er ein ungläubiges Lachen von sich gab.
Hatte er es mit seinem Schauspiel vielleicht doch ein wenig übertrieben?
Bahe war sich nicht sicher. Aber selbst wenn, war es in ihrer Situation wahrscheinlich nur von Vorteil.
Plötzlich durch wuschelte Bang Tuos Hand Bahes Haare, ehe dieser bemerkte: „Du bist wirklich ganz der Sohn deines Vaters, Bahe. Auch ihn habe ich ständig unterschätzt.“
„Ihr habt also wirklich gedacht, ich wüsste nicht Bescheid?“
Die Frage brachte Bang Tuo zum Lachen.
„Tja, wir wollten dich ja eigentlich unbewusst zum Ausrasten bringen, damit deine Reaktion authentisch wirken konnte. Das wir uns die ganze Mühe hätten sparen können, war uns nicht ganz klar… Na ja, ich für meinen Teil, war von deiner Darbietung gerade eben ziemlich überzeugt und dabei war ich eingeweiht“, sagte Bang Tuo, als er sich beruhigt hatte. „Diesen Arsch, Mai Ping Lun, hast du mit Sicherheit auch für dich einnehmen können. Jetzt hängt es nur noch davon ab, wie Han Ning sich dort oben schlägt.“
„Schauspiel hin oder her… was hat Han Ning eigentlich mit den 3 000 000Yuan gemeint?“, fragte Bahe unsicher.
„Nun… so viel kann ich dir wohl erzählen…“, meinte Bang Tuo ernst. „Er wird dir niemals den Betrag heraus holen können, den das Anwesen eigentlich wert ist… Von den 3 000 000Yuan wird euch wahrscheinlich gerade mal genug übrig bleiben, um die Operation deiner Mutter und die Reha-Gebühren zu bezahlen.“
Die Offenbarung verpasste Bahes Stimmung dann doch schlagartig einen Dämpfer, ganz egal wie gefasst er gewesen war.
Nach einer kurzen Pause fuhr Bang Tuo fort: „Han Ning hat ein Schlupfloch gefunden, wodurch er dir den nötigen Betrag für deine Familie erschwindeln kann. Du hast gesehen, über welche Leute dieser Mistkerl verfügt. Sich mit Mai Ping Lun anzulegen ist so ziemlich das Letzte, was wir wollen. Deine Familie könnte sich im ganzen Regierungsbezirk nicht mehr sicher fühlen. Der Deal, den Han Ning hofft umzusetzen, wird Mai Ping Lun genug Anreize geben, um über den lächerlich kleinen Geldbetrag von 3 000 000Yuan hinweg zu sehen. Letztlich wird der Deal rechtens sein und auch wenn Mai Ping Lun später mit Sicherheit rausbekommen wird, dass wir ihn verarscht haben, so ist er doch viel zu sehr an seiner politischen Karriere interessiert, als dass er es für eine arme Familie riskieren würde, entlarvt zu werden.“
„Also wird das Anwesen meines Vaters doch mehr oder weniger verschenkt werden…“, raunte Bahe bedrückt.
„Tut mir Leid, Bahe.“
„Schon gut… ich hoffe Han Ning bekommt es hin… Ich weiß nicht, ob ich eine weitere Enttäuschung verkrafte...“
„Seid ihr euch sicher?“, fragte der Narbengesichtige.
„Zweifelst du an meinem Urteil, Bonu?“, erklang Mai Ping Luns Stimme ruhig.
„Ich frage mich nur, ob man nicht besser ein Exempel statuieren sollte…“
„Früher hätte ich es mit Sicherheit getan, aber in der Politik laufen die Dinge anders… unscheinbarer…“, erklärte Mai Ping Lun und trat an ein Fenster, dass den Blick hinunter zu Straße offenbarte. „Es wird der Tag kommen, an dem wir unsere alten Fähigkeiten gebrauchen können, aber vorerst ist es besser ein erfolgreicher Geschäftsmann zu sein, der sich für sein Land engagieren möchte.“
„Wie ihr meint…“, zuckte Bonu mit den Schultern. „Aber was machen wir mit Shang?“
„Lass diesen Idioten rauf kommen“, meinte Mai Ping Lun grimmig, als er entdeckte, wie der Junge von der Straße mit intensivem Blick nach oben starrte.
Kaum zwei Minuten später beeilte sich Shang in den VIP-Bereich zu kommen.
„Komm her“, rief Mai Ping Lun ihn zu seiner Seite.
„Herr Mai?“
„Schau aus dem Fenster und sag mir was du siehst.“
Shang tat wie ihm geheißen und wandte sich anschließend zögerlich an Mai Ping Lun: „Ich sehe die Stadt…“
„Sieh genauer hin.“
„Ähm… Ich sehe die Straßen… ah… den Jungen mit diesem Polizisten, wie sie auf den Anwalt warten.“
„Das ist der Unterschied zwischen einem meiner Leute und einem Narren. Meine Gefolgsmänner achten auf ihre Umgebung und schauen vor allem auch nach unten. Schließlich kommen wir alle von dort. Welch eine Überheblichkeit wäre es doch, nicht nach unten zu sehen, in Anbetracht unseres eigenen Erfolges.“
„Ähm… natürlich, Herr Mai“, versuchte Shang sofort seinem Gegenüber zu schmeicheln.
„Ist dir der Blick des Jungen aufgefallen, Shang?“
„Was meinen…“
„Was ich meine sind seine Augen, Shang. Diese Wut und der unvorstellbare Hass uns gegenüber, der aus den Augen des Jungen sprüht…“, meinte Mai Ping Lun bedeutungsschwer. „Unterschätze niemals eine Person, die dich mit solchen Augen anblickt…“
„Selbstverständlich…“
„Es wird deine Aufgabe sein, diesen jungen Mann im Auge zu behalten. Vorübergehend kann ich es nicht wagen mich um ihn zu kümmern, von daher wird dieser Job dir übertragen… Hast du mich verstanden?“, Mai Ping Lun unterbrach Shang ein weiteres Mal, ehe er nach einem Nicken Shangs fortfuhr: „Du kannst jetzt gehen.“
„Danke, Herr Mai“, antwortete Shang nur zu sehr bemüht den Raum möglichst schnell zu verlassen.
Shang öffnete gerade die Tür, als er die Stimme des gefährlichsten Mann des Raumes ein weiteres Mal vernahm.
„Du warst einmal ein Narr… Shang, sei kein zweites Mal ein Narr…“
Shang schluckte als es ihm eisig den Rücken hinunter lief. Er nickte knapp und verschwand anschließend sofort aus dem VIP-Bereich.
„Mir gefällt das nicht…“, äußerte sich Bonu.
Mai Ping Lun lachte auf.
„Du machst dir manchmal zu viele Sorgen Bonu… Manchmal muss man die Bauern einfach ein wenig spielen lassen, ehe sich die Ernte lohnt…“
Bahe fluchte im Stillen vor sich hin. Wie lange wollte Han Ning noch brauchen?
Sein Blick war immer noch Hass erfüllt nach oben gerichtet. Dahin, wo er die VIP-Lounge vermutete. Vor einem Moment hätte er schwören können, eine Bewegung hinter den Fenstern gesehen zu haben.
Mit einem sanften Klicken öffnete sich die Eingangstür des Restaurants und Bahe sah Han Ning heraus treten.
„Und?! Hat es geklappt?“, fragte er sofort aufgeregt.
Han Ning bedeutete ihnen grimmig mit einem Kopfnicken zu folgen, ohne weiter auf Bahes Frage einzugehen.
„Wir sollten erst mal von hier verschwinden“, meinte er nur.
„Was zum…“, wollte Bahe schon ansetzen, wurde aber von Bang Tuo unterbrochen.
„Bahe, er hat recht. Wir sollten zusehen, dass wir Land gewinnen solange wir noch können.“
„Hmpf“, schnaubte Bahe missmutig, folgte den beiden Männern aber.
In den anschließenden Sekunden wurde Bahe vor Neugier regelrecht wahnsinnig. Han Ning führte sie auf dem schnellsten Weg zum nächsten U-Bahnhof, betrat dort ohne nach Bang Tuos oder Bahes Meinung zu fragen einen der Züge und lief bis zum letzten Abteil.
Bahe und Bang Tuo hatten wirklich Mühe mit ihm Schritt zu halten.
Das letzte Abteil war zu dieser Uhrzeit nahezu leer und Han Ning ließ sich mit einem Seufzen in einem Vierer-Sitzbereich nieder. Bang Tuo und Bahe nahmen schnell gegenüber von ihm Platz, so dass ihm zugewandt saßen.
„Und?!“, fragte Bahe wissbegierig.
„Um es in deinen Worten auszudrücken, es hat geklappt“, erklärte Han Ning, während er sich mit den Händen über sein Gesicht fuhr.
„Es… es…“, kam Bahe verblüfft ins Stottern. Unterbewusst hatte er gar nicht mehr damit gerechnet, dass sich die Situation seiner Familie noch mal zum Positiven wenden würde.
„Dieser Mai Ping Lun hat sich nicht nur bereit erklärt, den gewünschten Betrag von 3 000 000Yuan zu zahlen, er hat das Geld bereits überwiesen. Ich werde den Anteil deiner Familie jetzt gleich per Direktüberweisung an dich weiterleiten, wodurch deine Mutter noch heute Nacht operiert werden kann. Aber bitte verstehe, dass ich im Gegenzug damit werben musste, dass weder du noch deine Familie diesen Mai Ping Lung jemals wieder Probleme in dieser Sache machen werdet.“
Bahe nickte mit großen Augen und konnte nur mit Mühe die Tränen der Erleichterung unterdrücken.
„Ich weiß, dass euer Anwesen mit Sicherheit viele Millionen Yuan wert gewesen ist. Aber unter diesen Umständen sind 300 000Yuan und die Tilgung eurer Schulden das Einzige was ich für euch herausholen konnte. Damit sollten sich sowohl die Operation als auch die Reha-Behandlung der Klinik finanzieren lassen…“
„…“, Bahe stockte, als er fieberhaft nach den richtigen Worten suchte.
„Hat er dir das mit Bei En Rui abgekauft?“, fragte Bang Tuo den Anwalt ernst.
„Glücklicher Weise, ja“, nickte Han Ning.
„Wovon sprecht ihr?“, wollte Bahe verwirrt wissen.
„Mai Ping Lun ist ein berechnender Bastard, dem man nicht einfach drohen kann, um seine Meinung zu ändern, Bahe. Allein die Problematik, dass die Grunderwerbssteuer beim Kauf des Anwesens übergangen wurde, wäre niemals genug gewesen, um ihn zum Einlenken zu bewegen. Wahrscheinlicher wäre viel mehr gewesen, dass er mit Gewalt auf unser Handeln geantwortet hätte“, erklärte Bang Tuo. „Deswegen mussten wir ihm einen Anreiz geben, der ihm wertvoll genug erscheint, um über unsere Forderung hinweg sehen zu können.“
„Und das war?“, fragte Bahe.
„Ich habe ihm erzählt, dass ich meinen Chef, Bei En Rui, bei der Durchführung deines Falles vertrete, was ja noch nicht mal eine Lüge war“, merkte Han Ning an und fuhr fort: „Und das dieser sich gut vorstellen könnte, dass ihre Zusammenarbeit für beide Seiten auf Dauer von Vorteil seien könnte.“
Allmählich verstand Bahe die Tragweite des Abends…
„Wirst du deswegen Probleme kriegen?“, fragte Bahe.
„Ich hatte das vorher schon mit Bang Tuo besprochen… Bei En Rui wird innerlich zunächst toben, aber was kann er offiziell schon machen? Ich habe ihm seinen Fall gewonnen. Da hat er vor seinen Partnern der Kanzlei keinerlei Handhabe um mich zu entlassen“, zuckte Han Ning mit den Schultern. „Wahrscheinlich wird er sich schneller mit dieser Situation anfreunden als uns lieb sein kann.“
Dann herrschte für einen Moment Schweigen, als Bahe überlegte, was er sagen sollte.
Bahe sah den erleichterten Ausdruck auf Han Nings Gesicht, während Bang Tuos Züge ein breites Grinsen zur Schau trugen, während das Rattern der Bahn durch das Abteil hallte.
Irgendwie war dieser Moment so unwirklich, dachte Bahe. War es wirklich vorbei? Ihre Schulden getilgt? Seine Mutter konnte operiert werden? Sie würden nicht mehr von irgendwelchen Schlägern verfolgt werden?
Diese Gedanken wirkten einfach noch so fremd…
Bahe nahm sich vor, nicht länger so naiv zu sein und zu glauben, dass sein Leben nie wieder Probleme bereithalten würde. Und diesem Bastard, Shang, wie auch Mai Ping Lun, würde er es eines Tages heimzahlen. Eines Tages, dass schwor er sich hasserfüllt, würden sie für ihre Verbrechen büßen. Für sie mochten ein paar Millionen Yuan nichts sein, für seine Familie entschieden sie aber über Leben und Tod… Er würde niemals vergessen, dass seine Mutter um ein Haar dem Tode ausgeliefert gewesen wäre.
„Was ist, du sagst ja gar nichts?“, meinte Bang Tuo mit hoch gezogenen Brauen und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ich… ich weiß einfach nicht was ich sagen soll…“, versuchte Bahe sich zu erklären. „Es ist kaum zu glauben, dass alles… einfach… endlich vorbei ist…“
„Na, wie wär’s dann mit einem Danke“, zwinkerte Bang Tuo ihm zu.
„Natürlich“, grinste Bahe. „Vielen Dank für Alles! Danke für eure Hilfe!“
„Nicht der Rede wert“, meinte Bang Tuo schlicht.
„Gern geschehen, Bahe“, schloss sich auch Han Ning mit einem Lächeln an.
Was folgte war ein zweiter merkwürdiger Moment, indem sich die drei Männer stillschweigend anlächelten, während die U-Bahn in die Zukunft ratterte. Eine Zukunft, der Bahe zum ersten Mal seit langer Zeit, positiv entgegen blickte.
[i] Der Jangtse (im Englischen Yangtze) ist der größte Fluss Chinas.
Gute zwei Stunden nach Bahes bedeutsamen Gespräch mit den beiden Männern in der U-Bahn, befand er sich schon mit seinen Großeltern und den, inzwischen schlafenden, Geschwistern im Warteraum der Spezialklinik.
Die Kleinen lagen zusammengerollt auf einer halbwegs weichen Sitzbank und Bahes Großeltern hatten sie provisorisch mit ihren Jacken zugedeckt. Bahe hatte sich neben sie gesetzt, um sie im Auge zu behalten.
Seine Großeltern waren völlig durch den Wind. Die Nervosität war ihnen ohne Zweifel anzumerken. Egal, ob eine Tumorentfernung am Gehirn in der heutigen Zeit schon nahezu einem Standardeingriff gleich kam oder nicht, es blieb die Sorge, dass etwas schief gehen könnte.
Bahes Großmutter besorgte sich nach drei Toilettengängen bereits zum vierten Mal etwas zu trinken, während sein Großvater gedankenverloren auf die Tür blickte, aus der die Ärzte nach der Operation kamen.
Anfangs war sein Großvater noch ständig auf und ab gelaufen, aber irgendwann hatte seine Großmutter dann doch zu viel bekommen und ihm befohlen sich endlich auf seinen Allerwertesten zu setzen.
Han Ning hatte sein Wort gehalten und ihm noch im Zug das Geld überwiesen. Telefonisch hatten sie seine Großeltern informiert, die sich sofort seine kleinen Geschwister geschnappt hatten und zur Klinik fuhren, um vor Ort sofort alles regeln zu können.
Als Bahe erfahren hatte, dass eine Transplantation wegen eines fehlenden Organs verschoben werden musste und die Operation seiner Mutter dadurch vorgezogen wurde, hatte er den beiden Männern ein letztes Mal gedankt und sich von der nächsten U-Bahn-Zweigstelle sofort zur Klinik aufgemacht.
Erst jetzt, eine halbe Stunde nachdem seine Mutter in den OP-Raum verlegt worden war, kam er allmählich zur Ruhe. So paradox es sich auch anhörte. Eigentlich sollte er doch ebenfalls nervös sein, oder?
Vielleicht machte sich auch einfach die Erschöpfung bemerkbar, die er in den letzten Tagen und Stunden vor lauter Anspannung stets ignoriert hatte.
Ständig mit den Sorgen der eigenen Familie konfrontiert zu sein, konnte auf Dauer, für die eigene Gesundheit einfach nicht zuträglich sein.
Bahe musste allmählich mit der Müdigkeit kämpfen, die ihn seit einiger Zeit zu übermannen drohte und seine Großeltern gerieten in ihrem nervösen Benehmen noch ein paar Mal aneinander, während die Minuten nur zu quälend verstrichen…
Zwei Stunden vorher verabschiedete sich Han Ning gerade von dem Polizisten: „Mach’s gut. Ohne dich wäre heute wahrscheinlich nicht alles so einwandfrei verlaufen.“
„Danke, aber solch eine große Hilfe war ich nun auch wieder nicht“, meinte Bang Tuo.
„Glaub mir, es wäre bei weitem nicht so realistisch rüber gekommen, wenn dich nicht dabei gehabt hätten. Ganz zu schweigen davon, dass mir von dem Schauspieltalent des Jungen zwischenzeitlich das Herz stehen geblieben ist“, schüttelte Han Ning den Kopf.
„Ja, oder?“, lachte Bang Tuo. „Die Stelle, an der er meinen Bauch erwischt hat, schmerzt auch immer noch.“
„Und ich dachte, er ist wirklich absolut verzweifelt…“, grinste Han Ning.
„Dir eine gute Heimreise, Han Ning. Es war schön deine Bekanntschaft gemacht zu haben“, verabschiedete sich nun auch Bang Tuo und Han Ning nickte ihm noch ein letztes Mal zu, ehe sich die U-Bahntüren hinter Bang Tuo schlossen.
Mit einem Seufzen rutschte er noch tiefer in seinen Sitz und lehnte den Kopf erschöpft nach hinten. Der heutige Abend hatte ihm mehr abverlangt als die Fälle der letzten fünf Monate zusammen.
Dennoch… irgendwie fühlte er sich so glücklich wie lange nicht mehr. Es war das Gefühl nach langer Zeit endlich mal wieder etwas Sinnvolles vollbracht zu haben. Zu lange hatte er dieses Gefühl unter Bei En Rui missen müssen.
Trotzdem… diesem Bastard Mai Ping Lun wollte er lieber nicht nochmal begegnen. Es lief ihm immer noch eisig den Rücken hinunter, wenn er an seine Begegnung mit dieser gefährlichen Person dachte.
Das Rattern der Bahn ließ seine Gedanken schließlich weiterwandern, bis ihm plötzlich einfiel, dass der Privatdetektiv ihm heute seine Ergebnisse schicken wollte!
Durch die ganze Aufregung mit Bahes Fall, hatte er es vollkommen vergessen!
Schnell griff er sich sein Prophone und begann seine E-Mails zu checken. In Sekunden hatte er die richtige Mail geöffnet.
Doch egal wie gefasst er gewesen war… Wie auch immer er sich innerlich vorbereitet hatte… Beim Anblick des Inhalts, stockte ihm schließlich doch der Atem und die Tränen brannten in seinen Augen…
Li Meng Lang schaute gerade einen Film, als ihr Prophone klingelte. Ihr Mann rief sie an, wie sie schnell an der dreidimensionalen Visualisierung einer Aufnahme ihres Gatten erkannte. Diese Teile waren wirklich schon tolle Dinger, dachte sie lächelnd.
„Hey, mein Schatz!“, nahm sie den Videoanruf an. „Alles gut gelaufen?“
„Hi! Joar… kann man so sagen. Im Grunde habe ich mich heute teilweise etwas überflüssig gefühlt.“
„Oh? Wieso das?“
„Dieser Anwalt, Hua Han Ning, hatte alles so sehr durchgeplant… Letzten Ende wurde ich viel mehr im Vorfeld gebraucht, um den Aufenthaltsort von diesem Mai Ping Lun herauszufinden und dergleichen.“, erwiderte ihr Mann und sie hätte schwören können, dass er am anderen Ende gerade mit den Schultern zuckte. Es war so typisch für ihn, dass er immer alles herunter spielte.
„Also hattest du ja doch deinen Nutzen“, zog sie ihn auf.
„Na ja…“, meinte ihr Mann ausweichend. „Ich glaube, dieser Verbrecher hat uns alles nur dank der Schauspielleistung des Jungen abgekauft. Zwischenzeitlich, dachte ich echt er wäre verzweifelt und am Ende stellte sich heraus, dass er alles nur gespielt hatte.“
„Was hast du denn vom Sohn von Aurel Dragon erwartet“, antwortete Meng Lang wenig überrascht mit einer Gegenfrage.
„Haha“, lachte ihr Mann am anderen Ende auf. „Nein Schatz, dass hättest du erleben müssen, um zu verstehen, wie intensiv die ganze Situation war.“
„Wie du meinst“, sagte Meng Lang wenig überzeugt und fragte: „Wann kommst du denn nach Hause?“
„Hmm… ich hatte überlegt noch einmal im Hotel zu übernachten… Bis nach Dazu fahre ich ein paar Stunden und ich bin völlig fertig.“
„Oh… das ist schade…“, antwortete Meng Lang enttäuscht.
„Ich bin doch Morgen wieder da“, versuchte Bang Tuo sie zu besänftigen.
„Und dabei habe ich mir doch gerade schon so ein heißes neues Etwas angezogen“, meinte Meng Lang vielversprechend.
„Du hast was…?“, hörte sie ihren Mann zögerlich fragen.
„Nun… es gab da so ein besonderes Angebot im Unterwäsche-Laden, wo ich so gerne einkaufe…“, gab sie lasziv zu verstehen, während sie sich mit einem Finger am Hals hinunterfuhr und den Blickwinkel der Kamera des Prophones gerade soweit senkte, dass der erste Ansatz ihres besagten Etwas zu sehen war.
„Ich bin in drei Stunden und 10 Minuten da“, rief ihr Mann plötzlich todernst und brach die Verbindung ab.
„Hmmm…“, scheinbar konnte sie ihn immer noch um den Finger wickeln, kicherte Meng Lang vergnügt in sich hinein.
Vierzig Minuten später kam Han Ning zu Hause an und wurde freudig von seiner Frau und seinen Töchtern empfangen. Es zerriss ihm das Herz seine Frau dabei zu sehen, wie sie ihm seine Jacke und seine Aktentasche abnahm und ihn in die Küche bat.
Wie in Trance ließ er sich von seinen Töchtern an die Hände nehmen und in die Küche führen. Sie bedeuteten ihm Platz zu nehmen und setzten sich ihm gegenüber. Die fröhlichen Mienen seiner Mädchen trieben ihm die Tränen in die Augen, doch er kämpfte dagegen an und unterdrückte sie. Kaum einen Wimpernschlag später kam seine Frau aufgeregt dazu und setzte sich neben ihm.
„Ich hatte dir ja gesagt, dass ich ja mit dir sprechen wollte“, fing sie an.
Jetzt kommt es, dachte Han Ning, dessen Tränen ihm bereits die Sicht trübten.
„Aber eigentlich wollen wir mit dir sprechen“, betonte sie das wir besonders und zeigte dabei auf ihre Töchter.
„Genau“, grinste seine ältere Tochter Mu Rui.
„Wenn du mal darüber nachdenkst, dann hast du Mama, genauso wie uns, in den letzten Wochen kaum gesehen, oder?“, meinte seine Jüngste, Xi Cai.
„Hmm…“, nickte Han Ning, der einfach kein Wort hervor bringen konnte, während er krampfhaft darum kämpfte keine Tränen zu vergießen.
„Wir sind alle im Geheimen Nebenjobs nachgegangen, um dir heute an deinem Geburtstag dies hier schenken zu können“, meinte seine Frau verschmitzt und schob ihm einen, im Geschenkpapier verpackten, Umschlag zu. „Wir haben sogar ein separates Konto angelegt, damit du uns nicht auf die Schliche kommen konntest“, fügte sie noch stolz hinzu.
Wie gebannt starrte Han Ning auf das Geschenk, das vor seiner Nase lag und wusste nicht, ob er sich trauen sollte es zu öffnen…
„Na los, mach schon auf, Pá“, meinte seine Jüngste.
Letztlich bewegten sich seine Hände wie von selbst, zogen das Geschenkpapier ab und öffneten den Umschlag.
Wie vom Donner gerührt blickte er auf die Karte, die er in den Händen hielt und bemerkte nicht mal mehr, wie ihm die Tränen von den Wangen liefen.
„Na, was hältst du von unserem Ge… Schatz, was ist los?!“, begann seine Frau, nur um dann geschockt nachzufragen.
„…“, Han Ning brachte nur ein unterdrücktes Schluchzen zu Stande, als er auf die besorgte Stimme seiner Frau vernahm. Sein Blick war aber noch immer auf die Karte gerichtet.
Er hielt einen Gutschein in den Händen. Einen Gutschein für eine zehn tägige Reise zu den Malediven. Ein fünf Sterne Hotel mit All-Inklusive für ihn und seine Frau…
Seine Hände zitterten, während er fassungslos da saß. Wie sollte er ihnen bloß erklären wie er sich fühlte?
Es war so beschämend… Er fühlte sich so schuldig, dass er keine Worte finden konnte…
Wie konnte er schon erklären, dass er an seiner eigenen Frau gezweifelt hatte? Wie sollte er den Privatdetektiv erklären…?
„Schatz, was ist los?!“, fragte seine Frau diesmal drängender und rutschte zu ihm hinüber.
„Pá?“, meldeten sich auch seine beiden Töchter gleichzeitig zu Wort.
„Ich… Es ist nur…“, versuchte sich Han Ning, geriet aber doch ins Stocken.
„Freust du dich nicht über…“, begann seine Frau.
„Nein!“, fuhr er zwischen zwei Schluchzern dazwischen. „Das Geschenk ist wunderbar! Es ist nur… ich… weiß nicht wie ich es sagen soll… Ich bin so gerührt…“
„Ach, Schatz…“, zerschmolz seine Frau bei seinen Worten regelrecht und umarmte ihn.
„Und ich habe ge… gedacht…“, versuchte Han Ning es über sich zu bringen, scheiterte aber an den liebevollen Blicken seiner Töchter.
„Ja?“, meinte seine Frau lächelnd.
Verdammt, dass macht es jetzt auch nicht leichter, dachte Han Ning.
Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und sagte kleinlaut, während ihm noch immer die Tränen über die Wangen liefen: „Ich dachte, du hättest eine Affäre…“
Für einen Moment herrschte Stille.
Seine drei Mädels sahen ihn vollkommen verblüfft an, ehe sie plötzlich in schallendes Gelächter ausbrachen.
Nun war es an Han Ning überrascht drein zu blicken.
Na ja, dachte er, zumindest nahmen sie es ihm scheinbar nicht übel. Auch, wenn ihm die Tatsache, dass sie sich über sein Verhalten amüsierten, nicht wirklich gefallen wollte.
„Du hast wirklich gedacht, dass Má eine Affaire hat?“, fragte seine ältere Tochter Mu Rui.
„Na ja“, versuchte Han Ning sich irgendwie zu retten. „Eure Mutter ist immer noch schön und ich bin immer mit der Arbeit beschäftigt...“
„Aber Pá!“, meinte seine Jüngste, gespielt entrüstet. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie ihn nicht wirklich verurteilte, sondern einfach viel zu viel Spaß an der Situation hatte.
„Als ich dich in den letzten Monaten kaum gesehen habe… da habe ich irgendwann einfach an das Schlimmste gedacht…“, sagte er zerknirscht an seine Frau gewandt.
„Liebling, ich liebe dich doch!“, schob sich seine Frau an ihn heran und umarmte ihn mit einem Lächeln.
„Tut mir Leid, dass ich sowas gedacht habe“, antwortete Han Ning und erwiderte die Umarmung.
Nach einem kurzen Moment lösten sie sich von einander und seine Frau meinte verschmitzt: „Du sagst also, dass ich immer noch so schön bin, dass ich mir ohne Probleme einen Lover angeln kann?“
„Pá, langsam verstehe ich, wie du früher bei Má gelandet bist“, kicherte Mu Rui.
„Ja, scheinbar haben wir ein ganz falsches Bild von dir!“, schloss sich auch Xi Cai an.
„Oh, euer Vater weiß durchaus mit Worten umzugehen“, grinste seine Frau und fügte dann mit verruchter Stimme und wissender Miene hinzu: „Und auch noch mit so viel mehr…“
Han Ning errötete beinahe und schaute seine Frau verblüfft an. Hatte sie das gerade wirklich vor ihren Kindern gesagt?!
„Má, das ist eklig!“, beschwerte sich Xi Cai.
„Was hast du denn, wir sind doch keine zwölf mehr“, grinste Mu Rui.
„Ähem…“, räusperte sich Han Ning, um von der merkwürdigen Stimmung abzulenken. „Dabei fällt mir ein, ich habe vollkommen vergessen, dass heute mein Geburtstag ist.“
„Das realisierst du erst jetzt?“, lachte seine Frau. „Du bist ein grandioser Anwalt, wenn es drauf an kommt, aber zu der Zeit vergisst du absolut alles andere um dich herum. Ich bin ja schon gerührt, dass du wenigstens bemerkt hast, dass ich kaum zu Hause bin.“
„Wie lange habt ihr denn eigentlich für diesen Gutschein gearbeitet?“
„Insgesamt etwa vier Monate“, erklärte seine Jüngste, Xi Cai. „Wobei es bei jeder von uns etwas unterschiedlich war, wann genau wir angefangen haben. Ich habe meinen Job auf jeden Fall gekündigt. Für die nächsten Jahre habe ich genug vom Kellnern.“
„Vielen Dank, euch allen“, erklärte sich Han Ning. „Ich freue mich wirklich sehr, über euer Geschenk.“
„Sieh es einfach als einmaligen Denkzettel, dass du dir endlich mal Urlaub nehmen musst. Egal wie stressig es im Büro auch immer sein mag“, zwinkerte seine Frau ihm zu.
Das brachte Han Ning zum ersten Mal zum Lachen.
„Alles klar, den Wink habe ich verstanden“, antwortete er inzwischen gelassener. „Wobei ich euch noch etwas beichten muss…“
„Wie? Da kommt noch mehr?“, fragte seine Jüngste sofort neugierig. „Bist du etwa fremdgegangen, um es Má heimzuzahlen?!“
„Xi Cai, was quatscht du für einen Blödsinn!“, bemerkte Mu Rui Augen verdrehend.
„Ja, du hast recht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es eine Geliebte gibt, die Pá verführen will und umgekehrt schon gar nicht!“, erklärte Xi Cai todernst.
„Xi Cai!“, rief Mu Rui schockiert aus.
„…“, Han Ning saß nur sprachlos da. Hatte seine Jüngste schon immer so ein loses Mundwerk gehabt?
„Und was genau, wolltest du uns jetzt noch sagen?“, fragte seine Frau mit hochgezogenen Brauen.
Han Ning sah sie an und erkannte sofort an ihren zuckenden Mundwinkeln, das die Worte ihrer Tochter sie durchaus amüsiert hatten.
Er verwarf die ablenkenden Gedanken und straffte sich noch ein letztes Mal. Wenn er schon damit angefangen hatte, wollte er sich wenigstens alles von der Seele reden.
„Also, ich habe vermutet, dass du eine Affäre hast. Aber ich war mir nicht sicher… daher wollte ich Beweise und habe deswegen einen Privatdetektiv engagiert, der dich die letzten zwei Wochen überwacht hat…“
Han Ning hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als seine Mädels schon wieder in schallendes Gelächter ausbrachen und seine Jüngste diesmal beinahe vom Stuhl viel.
Na toll… aber hatte er es anders verdient?
Frustriert seufzte er und ergab sich seinem kurzlebigen Elend.
Nachdem sich alle beruhigt hatten, aßen sie gemeinsam zu Abend und zum ersten Mal seit Monaten war die Stimmung ausgelassen und von einer Fröhlichkeit, die Han Ning wirklich glücklich stimmte.
Die Mädchen räumten gerade den Tisch ab, um sich anschließend bettfertig zu machen, als seine Frau zu ihm heran rutschte und ihm ins Ohr flüsterte: „Na, wie wär’s, kannst du mir heute Nacht zeigen, womit du sonst noch gut umzugehen verstehst?“
Grundgütiger!
Dachte er nur, während er rot anlief.
Was war nur plötzlich mit seiner Frau los?!
Nicht, dass er sich nicht freute, aber vor den Kindern, um Himmels Willen!
„Und?“, raunte sie ihm noch verführerischer entgegen, was dafür sorgte, dass sich seine Nackenhaare aufstellten und sich eine fast vergessene Körperregion regte.
Han Ning kam sich wie ein grinsender Teenager vor, als er mit hochrotem Kopf eifrig nickte. Aber bei allen Himmeln! Seine Frau wollte ihn! Wer wäre er denn, da nein zu sagen!
„Oh, und bevor ich es vergesse“, raunte seine Frau ein zweites Mal hinüber. „Über den Privatdetektiv reden wir noch, Freundchen!“
Als Bahe erwachte, brauchte er einen Moment um zu verstehen, dass er sich immer noch im Wartebereich der Klinik befand. Ein Blick an die Wand verriet ihm, dass es bereits früh am Morgen war.
„04:25Uhr…“, murmelte er geistesabwesend, während er nach seinen Großeltern Ausschau hielt.
Seine Großmutter saß in einer gegenüberliegenden Sitzreihe und las auf ihrem Smartphone. Sie wurde durch seine Regungen auf ihn aufmerksam und bat ihn, mit einem Zeigefinger über den Lippen, leise zu sein und deutete anschließend auf Bahes Großvater, der unweit von ihnen schlafend auf einer Bank lag.
Bahe nickte und richtete sich langsam auf. Er unterdrückte ein Stöhnen. Verdammt hatte er ungünstig gelegen… Sein ganzer Rücken schmerzte.
„Schläft er schon lange?“, fragte Bahe leise, nachdem er seine Schultern ein Bisschen bewegt hatte.
„Etwa seit 2Uhr Morgens…“, antwortete seine Großmutter. „Er ließ sich anfangs einfach nicht beruhigen. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich ihn soweit hatte, dass er sich endlich hingelegt hat.“
„So ist Opa halt“, meinte Bahe mit einem Lächeln.
Seine Großmutter nickte zustimmend, meinte aber: „Die ganze Aufregung ist momentan nur einfach nicht gut für ihn.“
„Hmmm“, stimmte diesmal Bahe zu.
Mit einem Klicken öffnete sich plötzlich die Tür, die zu den Operationssälen führte und gab den Blick auf eine Frau mittleren Alters frei. Sie trug zum Teil noch ihre Operationskleidung und kam geradewegs auf sie zu.
„Frau Ma“, begann sie an Bahes Großmutter gewandt.
„Ja!“, richtete sich Bahes Großmutter schnell auf und auch Bahe machte schnell ein paar Schritte an ihre Seite.
„Die Operation ihrer Tochter verlief ohne Komplikationen. Wir sind zuversichtlich, dass sie im Laufe des Tages ohne bleibende Schäden aufwacht.“
„Dann… dann wird sie wieder gesund…?“, fragte Bahes Großmutter mit zittriger Stimme.
„Ja, wir gehen davon aus, dass sie sich wieder komplett erholen wird“, nickte die Ärztin mit einem Lächeln.
„Sie… sie… sie wird wieder gesund…“, wiederholte Bahes Großmutter die hoffnungsvollen Worte ungläubig, während ihr die Tränen in Strömen über die Wangen liefen.
Bahe hatte auch nicht lange an sich halten können. Glücklich wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, während er seine Großmutter in den Arm nahm und sich an die Ärztin wandte: „Vielen Dank, dass sie meine Mutter gerettet haben.“
Dieser Satz zerbrach irgendwie den letzten Schutzwall, den seine Großmutter um sich aufgebaut hatte. Sie ging schnell noch einen Schritt auf die Ärztin zu, nahm ihre Hand zwischen die Ihren und sagte vor Erleichterung schluchzend: „Vielen Dank… dass… sie meine Tochter… gerettet haben!“
„Wir haben nur unsere Pflicht getan“, meinte die Ärztin mit einem Lächeln und zugleich seltsam berührt, ob des plötzlichen Gefühlsausbruchs ihres Gegenübers.
„Ich kann… Ihnen… gar nicht… genug danken…“, rang Bahes Großmutter zwischen ihren Schluchzern nach Worten.
Bahe sah die Hilfslosigkeit in den Augen der Ärztin, die nicht so recht wusste, wie sie mit der älteren Dame vor ihr umgehen sollte und nahm seine Großmutter schnell in den Arm, damit sie von der Ärztin abließ.
Die kleinen Hände seiner Großmutter schlossen sich nur zu schnell um seinen Rücken, während sie ihren Kopf in seiner Schulter vergrub.
„Sie wird gesund… Sie wird… wieder gesund…“, schluchzte sie weiter, während Bahe sich mit einem verweinten Nicken ein letztes Mal bei der Ärztin bedankte, die sich daraufhin mit einem Lächeln zurückzog und ihnen Privatsphäre gönnte.
„Was… was ist los?!“, ertönte plötzlich die Stimme seines Großvaters und Bahe drehte sich um.
Sein Großvater war scheinbar von dem Tumult erwacht und blickte ihnen panisch entgegen. Was bei ihrem in Tränen aufgelösten Zustand wohl kaum verwunderlich war. Wahrscheinlich malte er sich gerade das Schlimmste aus.
„Sie wird wieder gesund!“, löste sich seine Großmutter von ihm und fiel ihrem Mann in die Arme. „Sie wird… wieder gesund… Sie… wird… wieder… gesund…“
Wie ein Mantra wiederholte sie immer und immer wieder die gleichen Worte, während sie ihren Kopf an den ihres Mannes schmiegte.
Bahes Großvater blickte ihn ungläubig an. Es war, als ob er nach der Erlaubnis fragen würde, sich freuen zu dürfen…
Bahe nickte mit Tränen überflutetem Gesicht und sah, wie sich mit einem Mal alle Anspannung in den Zügen seines Großvaters auflöste. Seine Lippen und Augenwinkel begannen zu zucken, als er die Umarmung seiner Frau genauso fest erwiderte und kaum einen Moment später lösten sich auch Schluchzer aus seiner Kehle, während sich die Freudentränen ihre Wege über seine Wangen bahnten.
Für einen Augenblick war Bahe vom Anblick seiner Großeltern wie gebannt, wie sie sich, in ihrer Erleichterung und Liebe, aneinander festhielten.
Dann wanderte sein Blick zu seinen kleinen Geschwistern, die noch immer gemeinsam auf ihrer Bank schliefen. Scheinbar kann ich unser Versprechen halten, Liana Xue, dachte Bahe an die Unterhaltung mit seiner kleinen Schwester.
Unter all der Erleichterung schob sich langsam ein kleines Lächeln auf seine Lippen.
Es hatte bis zum Mittag gedauert, bis seine Mutter schließlich erwacht war. Was folgte, war eine zweite Heulerei mit der ganzen Familie gewesen, bis Bahes Mutter irgendwann so erschöpft war, dass sie vorübergehend Ruhe brauchte. Inzwischen war es früher Abend und Bahes Großeltern gingen gerade mit seinen kleinen Geschwistern etwas zu Abendessen kaufen, während er seiner Mutter Gesellschaft leistete.
Seine Mutter trug natürlich noch einen Verband um den Kopf, aber bis auf leichte Kopfschmerzen, meinte sie bisher keine Beeinträchtigungen zu spüren.
Nach Aussage der Ärzte, waren die leichten Kopfschmerzen völlig normal, immerhin hatten sie ihren Schädelknochen auf sägen müssen. Aber nach ein paar Tagen sollten diese wieder vollständig abklingen.
„Es war eine wirklich abenteuerliche Geschichte, die Bang Tuo mir gestern am Telefon erzählt hat.“
„Wieso?“, fragte Bahe.
„Meinst du das ernst?“, zog seine Mutter die Augenbrauen hoch. „Du hast dich in eine Pressekonferenz gemogelt und dadurch den Staranwalt der Stadt dazu gezwungen etwas für dich zu unternehmen… Klingelt da was?“
„Ach das…“, sagte Bahe abwertend.
„Oh“, meinte seine Mutter. „Und dann war da noch die Geschichte, mit diesem Kredithai… Scheinbar hast du dich auch darum noch gekümmert.“
„Was hat Bang Tuo dir erzählt?“
„Alles!“
„Oh…“
„Ganz genau!“, grinste seine Mutter. „Oh!“
„So schlimm, wie er es darstellt, war es gar nicht.“
„Bahe, du musst mir eine Sache versprechen“, meinte seine Mutter diesmal im strengen Tonfall.
„Was…?“, fragte Bahe zögerlich.
„Bang Tuo hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, was für ein Mann dieser Mai Ping Lun eigentlich ist. Ich habe damals bei einem Bekannten von Shang das Geld geliehen und dachte eigentlich, dass diese Sache unter Freunden bleiben würde. Nenn es meine eigene Naivität oder Dummheit… wie auch immer du willst, aber damals wusste ich nicht, dass dieser Bekannte von Shang ein Handlanger von Mai Ping Lun war. Ansonsten hätte ich mich nie mit ihm eingelassen. Und nachdem, was mir Bang Tuo erzählt hat, weiß ich nun wie viel Glück unsere Familie eigentlich hatte. Verkaufte Organe wäre noch das geringste Übel gewesen, wenn du verstehst was ich meine.“
Bahe nickte nur.
„Was ich von dir möchte, ist, dass du mir versprichst, dass du dich nie wieder mit diesen Mai Ping Lun anlegen wirst. Dieser Mistkerl wird wohl bald in die Politik gehen und dann wird er nur noch gefährlicher. Solange du nicht genauso einflussreich bist wie er, will ich, dass du noch nicht mal in seine Richtung schaust. Hast du mich verstanden?“
„Natürlich“, erklärte Bahe schnell. Er war mittlerweile nicht mehr naiv genug, um zu glauben in näherer Zeit eine Chance gegen diesen Bastard zu haben.
„Also?“
„Ich verspreche es“, sprach Bahe schließlich die Worte aus, auch wenn es ihn innerlich wurmte. Aber immerhin hatte sie ihm ein Hintertürchen offen gelassen. Was, wenn er eines Tage genug Einfluss hätte?
Bahe grinste innerlich bei dem idiotischen Gedanken.
„Perfekt, ich kenne dich und deinen Gerechtigkeitssinn nur zu gut“, meinte seine Mutter sichtlich erleichtert.
„Keine Ahnung wovon du sprichst…“, rümpfte Bahe die Nase, was seine Mutter zum Lachen brachte.
Es war ein fröhliches Lachen. Frei von all den Sorgen, die seine Familie seit so vielen Monaten gequält hatten.
Dachte Bahe innerlich, bis er den liebevollen Blick seiner Stiefmutter bemerkte.
„Bahe.“
„Ja?“
„Danke“, sagte sie lächelnd.
„Ich weiß nicht wofür…“, zuckte er nur mit den Schultern und lächelte ebenfalls.
Der Wecker seines Smartphones riss Bahe unsanft aus dem Schlaf. Er stand schon halb, als er bemerkte, dass er sich bei seinen Großeltern zu Hause befand.
Das merkwürdige Gefühl von Irritation, wenn er hier aufwachte, war noch nicht verschwunden. Aber viel merkwürdiger war die Tatsache, dass er noch immer das Gefühl hatte, etwas unternehmen zu müssen. Es war so ungewohnt nicht mit deprimierenden Gedanken aufzuwachen…
Musste er Geld verdienen?
Nein!
Musste er eine Lösung für die Behandlung seiner Mutter finden?
Auch das nicht…
Sich über sich selbst wundert, stand Bahe vor dem Dimensional Leap-System und wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte. So merkwürdig…
Drei Tage waren vergangen, seit die Operation seiner Mutter erfolgreich verlaufen war. Schon morgen sollte sie entlassen werden. Natürlich unter der Bedingung, dass sie täglich für ihre Check-Ups und Reha-Behandlungen vorbei kam.
Aber seine kleinen Geschwister freuten sich trotzdem schon seit Montag auf den morgigen Tag. Ein großes Festmahl mit all ihren Lieblingsspeisen sollte es geben. Bahe dachte amüsiert daran, dass dieses Essen vielmehr eine Geste für die Kleinen war als für seine Mutter, da sie noch darauf achten musste, was sie essen durfte. Die Ärzte hatten sie ausdrücklich auf die, vorübergehend erhöhte, Gefahr von Blutgerinnseln aufmerksam gemacht, die durch besonders fettige oder ungesunde Ernährung begünstigt werden konnten.
Daher war Bahes Großmutter seit zwei Tagen damit beschäftigt alles Mögliche an gesundheitsfördernden Zutaten aufzutreiben. Im Anblick der Fischköpfe, Gallenblasen verschiedenster Tiere und anderer exotischer Zutaten, an die sich Bahe, dank seiner europäischen Herkunft, noch immer nicht gewöhnen konnte, hatte er schließlich Reißaus genommen und seinen Großvater gebeten, der sich zu Hause eh nur langweilte, an seiner Statt mit ihr einkaufen zu gehen.
Er hatte die Zeit genutzt, um sich vormittags wieder beim Chin-Anwesen einzufinden und dort vor der Haustür nieder zu knien.
Bahe war klar, dass er auf ein Wunder hoffte, so unregelmäßig wie er dort zugegen war. Aber besser als gar nicht, oder?
Egal, wie sich der Mann letztlich entschied, er wollte wenigstens für sich sagen können, dass er alles versucht hatte.
Nachmittags saß er dann meistens mit seinen Geschwistern bei seiner Mutter, bis sie sich für das Abendessen auf den Weg nach Hause machten.
Am Sonntagabend hatten sie zufällig einen kurzen Live-Bericht über Anaels offizielles Verlassen von Dreamworld im Fernsehen gesehen. Doch der Bericht war so kurz ausgefallen, dass sich Bahe wirklich wunderte, dass sie ihm damals 7 500Yuan für die zweiminütige Erwähnung im Fernsehen gezahlt hatten. Aber umso unscheinbarer umso besser für ihn, dachte er. Er würde eh noch einmal ordentlich im Rampenlicht stehen.
Für den Montag der nächsten Woche war eine neue Pressekonferenz der Chen Law-Firm angesetzt, bei der er sich offiziell für den wunderbaren Einsatz seines Wohltäter Bei En Rui bedanken sollte…
Wenn Han Nings Job nicht davon abhing, dass er hin ging, hätte er vermutlich versucht, das Ganze irgendwie zu umgehen… Vor allem jetzt, da er seine Schulzeit wieder antreten sollte.
Bahe wollte gar nicht daran denken, wie seine Klasse reagieren würde, wenn sie von der Sache Wind bekamen.
Aber genau, das war es! Heute sollte er zum ersten Mal wieder zur Schule!
Endlich den richtigen Gedanken gefunden, machte er sich sofort auf den Weg ins Bad, um sich fertig zu machen.
Fünfzehn Minuten später schlüpfte er in die Schuluniform der Sun Jingse Schule und betrachtete sich im Spiegel. Die deutsche Übersetzung des Namens der Schule hieß so viel wie Sonnenlandschaft. Passender Weise waren die Uniformen daher in Gelb- und Rottönen gehalten. Für chinesische Verhältnisse sehr bedeutsame Farben, die unter anderem auch die Nationalflagge zierten.
Dennoch, so wirklich wollten ihm die Farben nicht stehen.
Natürlich hatte es auch damit zu tun, dass seine Uniform locker zwei Nummern zu groß wirkte. Aber das war tatsächlich noch immer so von der Regierung beabsichtigt. Jogginganzüge sollten es sein, denn sie waren bequem und im Idealfall in sackartigem Zustand, damit sich niemand wegen seinem Gewicht oder dergleichen gehänselt fühlte.
Unzählige Schülerinnen und Schüler hatten sich bereits gefragt, wie lange diese Führungspersönlichkeiten schon nicht mehr bei klarem Verstand seien.
Fragte man einen Einheimischen nach einer wichtigen Sache die in seinem Land geändert werden sollte, so war bis heute noch stets von den Schuluniformen die Rede.
Im Hier und Jetzt konnte Bahe zumindest feststellen, dass die dunklen Schatten unter seinen Augen verschwunden waren. Die hervor stehenden Wangenknochen stachen aber in Anbetracht der weiten Kleidung noch besonders hervor. Er wirkte ausgezehrt und spindeldürr in dem Zelt der Schuluniform.
Am Montag hatte ihn seine Großmutter gemessen, damit sie wussten, welche Größe sie bestellen sollten. Er war mit seinen 1,62m nicht nur für deutsche Verhältnisse klein. Bahe hoffte wirklich, dass er noch einmal einen Wachstumsschub bekam…
Seine Haare hatte er sich in einen lockeren Scheitel gekämmt. Gel und Haarspray war zwar durchaus erlaubt, aber bei den Lehrern kam ein naturbelassenes Äußeres als erster Eindruck meistens besser an.
Zumal er ja sowieso schon mit seinen blonden Haaren auffallen würde. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er Europäer war. Bahe rechnete fest damit für die nächsten Wochen die Klassenattraktion schlecht hin zu sein. Wann begegnete ein Durchschnittschinese schon mal einem Deutschen im eigenen Land?
Oh, seine Klassenkameraden würden was zu erzählen haben…
Wenn Bahe etwas mochte, dann waren es seine Augen. Die fielen mit dem dunklen Braun wenigstens nicht weiter auf.
Seufzend drehte er sich noch ein, zwei Mal und nickte schließlich sich seinem Schicksal ergebend. Das gute Aussehen seines Vaters hatte er mit solch geringer Größe und den hageren Zügen wohl irgendwo liegen lassen.
Im Anschluss frühstückte er noch schnell und machte sich auf zur Schule. Sein Großvater hatte ihm gestern bereits den stellvertretenen Schulleiter vorgestellt und mit ihm zusammen alle organisatorischen Aspekte geregelt.
Bücher gab es keine. Bahe hatte stattdessen ein Tablett bekommen, welches er im Rucksack mit sich führte. Dort waren alle Schulbücher in digitaler Form gespeichert. Doch soweit er wusste, brauchten sie das Tablett lediglich als Speichermedium, da sie vor Ort die modernen, dreidimensionalen Visualisierungsflächen hatten, die Bahe bisher nie sein Eigentum nennen durfte. Er war gespannt, wie er mit dem Zeug klar kommen würde.
Pünktlich um zehn vor acht kam er am Schulkomplex an und betrat mit hunderten anderer Schüler das Gelände. Man merkte, dass die Schule über finanzielle Mittel verfügte, da an vielen Stellen grüne Bereiche mit reichlich Bepflanzung eingerichtet worden waren.
Die Schüler hielten sich hier jedoch gar nicht auf. Mit schnellen Schritten und munteren Unterhaltungen suchten sie alle ihre Klassenräume auf, um ja nicht unpünktlich zu sein.
Bereits vor Jahrzehnten waren die Schuluniformen mit Identifikations- und Ortungschip ausgestattet worden. Diese Methode zur Überwachung hatte sich bis heute gehalten. Die Folge war natürlich, dass es so gut wie nie Schüler gab, die noch zu spät kamen oder gar schwänzten. Was sollte man schon machen, wenn nicht nur die Lehrer sondern auch gleichzeitig die Eltern auf ihren Prophones sehen konnten, wenn man sich hier etwas erlaubte?
Bahe ließ sich absichtlich etwas Zeit, um die Schülermassen an sich vorbei ziehen zu lassen, bis er schließlich kurz vor seinem Klassenraum zum Stehen kam.
Den Lehrer der ersten Stunde hatte er gerade herein treten sehen. Er sollte sich wirklich nicht mehr Zeit lassen, dachte er seltsam nervös.
Mit einem tiefen Atemzug öffnete er schließlich die Tür und trat ein.
Es geschah genau das, was er erwartet hatte. Alle Personen im Raum schauten ihn verblüfft an, wenn man mal vom Lehrer absah.
„Ah, du kommst genau richtig, um dich vorzustellen“, meinte der Lehrer mit einem wohlwollenden Lächeln und bat ihn mit einer Geste neben das Pult zu treten.
Bahe nickte, schloss die Tür hinter sich und gesellte sich zu seinem Lehrer.
„Dieser junge Mann heißt Bahe Dragon und hat das Glück ab heute diese Schule besuchen zu dürfen. Bitte nehmt ihn gut auf und erklärt ihm bei Zeiten alles. Nun kann er sich aber erst mal selbst vorstellen“, erklärte Bahes Lehrer und nickte ihm aufmunternd zu.
„Hast du gehört? Er heißt mit Nachnamen Dragon! Wer weiß, vielleicht waren seine Vorfahren großartige Generäle. Nur die einflussreichsten Persönlichkeiten unserer Vergangenheit durften solche Titel in ihren Namen führen“, flüsterte einer der Jungs.
„Du schon wieder mit deinem Schwachsinn von Vorfahren, hörst du jemals auf?“, meinte sein Sitznachbar.
„Was denn? Geschichte ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens!“
An anderer Stelle unterhielten sich zwei Mädchen.
„Hey, ist er nicht ein Europäer?“
„Ich glaube… Das ist das erste Mal, dass ich jemanden mit natürlichen, blonden Haaren sehe!“
„Haltet die Schnauze, ich will wissen was er zu sagen hat“, schaltete sich ein kräftig gebauter Schüler ein.
„Ach, tu doch nicht schon wieder so besserwisserisch, Bowan.“
Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, fing die Tuschelei schon an, dachte Bahe, bemüht sich nichts anmerken zu lassen. Durch sein Äußeres war er in China einfach schon immer hervor gestochen. Und natürlich, hatte der Lehrer seinen Nachnamen wieder wie Drache ausgesprochen… Es war zum verrückt werden.
Da es allerdings unhöflich gewesen wäre, seinen Lehrer vor der gesamten Klasse auf seinen Fehler hinzuweisen, da er hier eine Respektsperson darstellte, musste Bahe zunächst damit leben und stellte sich ebenfalls mit der entsprechenden Betonung vor.
„Wie schon gesagt, ist mein Name Bahe Dragon, ich bin in Deutschland geboren und aufgrund der Firma meines Vaters nach China gezogen. Ich lebe jetzt seit etwa sechs Jahren hier in China, insofern verzeiht mir bitte, wenn ich die ein oder andere Tradition oder Verhaltensweise noch nicht kenne.“
Anschließend verbeugte er sich leicht.
„Gibt es Fragen an unseren neuen Schüler?“, schaltete sich der Lehrer noch einmal ein.
Siebenzwanzig Arme schnellten nach oben.
„Ähm… vielleicht sollten wir die Fragen doch lieber hinten an stellen“, meinte der Lehrer verlegen lächelnd, ob der unerwarteten Reaktion seiner Schüler. „Die morgendliche Sporteinheit beginnt gleich, bitte startet schon mal eure Visualisierungssysteme und präsentiert eure Lernaufgaben. Ich werde sie während eurer Abwesenheit kontrollieren.“
Anschließend wandte er sich an Bahe: „Bahe, du kannst dort hinten in der vorletzten Reihe am Fenster Platz nehmen. Oh und bitte entschuldige, ich habe mich selbst noch gar nicht vorgestellt. Du kannst mich mit Herr Shi ansprechen.“
„Alles klar und vielen Dank, Herr Shi“, sagte Bahe und verbeugte sich erneut leicht. Danach suchte er den ihm zugewiesenen Platz auf.
Achtundzwanzig Paar Augen bewegten sich mit ihm und beobachteten Bahe auf Schritt und Tritt. Scheinbar sollte dies sein Los für die nächsten Wochen sein, dachte er resigniert.
„Nachdem ihr unseren neuen Schüler nun genug beäugt habt, wärt ihr vielleicht so freundlich und startet eure Visualisierungsflächen? Die Sporteinheit startet in drei Minuten!“, verlangte der Lehrer im strengen Tonfall.
Eilig, wenn auch widerstrebend kamen die Schüler seiner Aufforderung nach.
Da Bahe derweil nichts zu tun hatte, beäugte er die Schüler nun seinerseits. Bisher war ihm nur eine Schülerin aufgefallen und das vermutlich auch nur ungewollt. Als der Lehrer vorhin nachfragte, ob seine Schüler noch mehr wissen wollten, hatte sich nur dieses Mädchen nicht gemeldet. Sie wirkte recht unscheinbar. Lange, dunkelbraune Haare, die ihr bis über die Schultern hingen, verbargen ihr Gesicht im Schatten, dass sie scheinbar konzentriert auf ihre Visualisierungsfläche gerichtet hatte. Bahe meinte zuvor eine dicke Brille auf ihrer Nase gesehen zu haben. Zusammen mit ihrer krummen Haltung und der schlaffen Schuluniform schrie alles an ihr einfach nur nach dem typisch schüchternen Mädchen, welches sich in der Klasse am liebsten unsichtbar machen möchte.
Ansonsten sah die Mehrheit relativ normal aus.
Natürlich gab es ein paar Mädels, dich sich besonders stylten und so viel wie nur möglich aus der Schuluniform heraus holten, indem sie diese mit Bändchen oder Gürteln taillierten. Scheinbar hatte die Schule eine eher milde Handhabung mit der Durchsetzung einer korrekten Kleidungsordnung.
Von den Jungs fiel, bis auf den offensichtlichen Nerd, der vorhin allen Ernstes über Vorfahren gesprochen hatte, niemand besonders auf. Der Nerd war das absolute Klischee in Person. Übergewichtig, nicht allzu sehr gepflegte, schwarze Haare und Brille auf einer Hakennase. Doch das es tatsächlich eine Schuluniform gab, die selbst ihm noch zu groß war, ließ Bahe staunen.
Ein paar Augenblicke später wurde Musik eingespielt und der Lehrer klärte ihn auf, dass dieses Stück wohl das Signal für die morgendliche Sporteinheit war.
Ein Kerl namens Tanren nahm ihn unter seine Fittiche und erklärte ihm auf dem Weg und während des Trainings alles. Sämtliche Schülerinnen und Schüler der ganzen Schule führten die Sporteinheit auf den Schulhof vor dem Gebäude zusammen durch. Die Ältesten ganz vorne, die Jüngsten ganz hinten, so hatten die Neuzugänge stets jemanden vor sich, von dem sie lernen konnten.
Wie sich heraus stellte, war die morgendliche Sporteinheit, im Grunde nur ein zehnminütiges Bewegungsprogramm um den Körper wenigstens ein Bisschen in Bewegung zu versetzen. Die Schüler setzten dies zudem mit ganz unterschiedlicher Begeisterung um.
Während die stilsicheren Mädels seiner Klasse nur das Nötigste taten, gab es offensichtlich ein paar Sportbegeisterte, die ihre Übungen mit aller Ernsthaftigkeit umsetzten. Sein gut gelauntes, sprechendes Lexikon namens Tanren, war definitiv einer von ihnen.
Der übergewichtige Nerd kämpfte sich nach kürzester Zeit bereits qualvoll mit den Übungen ab und auch Bahe musste sich eingestehen, dass ihn die kurzen, aber anspruchsvollen Übungen ungemein schlauchten. Zumindest, wenn man sie auch richtig umsetzte. Insofern musste er dem Nerd zu Gute halten, dass er jede Trainingsübung, allen Widrigkeiten zum Trotz, in nahezu perfekter Ausführung vollbrachte.
Im Anschluss begaben sich die Schüler wieder in ihre Klassenräume und Bahe durfte den ersten Unterricht seit fast einem Jahr genießen. Wie sich heraus stellte, nichts, was er wirklich vermisst hatte.
Andererseits waren diese modernen Visualisierungsflächen durchaus interessant für ihn. Dank Tanrens Hilfe kam er gegen Ende der zweiten Stunde allmählich mit diesen Dingern zurecht.
Man brauchte außer den eigenen Händen keine weiteren Hilfsmittel. Früher hatte man noch Fingermodule benötigt, um mit den dreidimensionalen Hologrammen interagieren zu können. Doch scheinbar was dies inzwischen eine Technik von gestern.
Laut Tanren konnte man die Visualisierungsflächen auch komplett sprachgesteuert bedienen, aber aus offensichtlichen Gründen hatte die Schule diese Funktion deaktiviert.
Im Laufe des Tages merkte Bahe, dass ihm Tanren keinesfalls zufällig zugeordnet worden war. Immerhin war er der Klassensprecher, eine Position die nur den zuverlässigen Schülern zugesprochen wurde und dies merkte man auch an seinem Benehmen. Er war stets bemüht es allen recht zu machen.
Während der Mittagspause führte er Bahe daher in die Kantine und sorgte zugleich dafür, dass die gesamte Klasse davon erfuhr. Natürlich sah sich Bahe im Anschluss den zahlreichen Fragen seiner Klassenkameraden ausgesetzt.
Sogar die Klassenschönheit, Xukun, war dazu gekommen, wie ihm Tanren im Flüsterton samt Augenzwinkern vermittelte.
Als der Gong zum Ende der Mittagspause ertönte, zerstreute sich die Menge endlich und ließ Bahe seufzend und schließlich auch allein zurück. Tanren hatte sich soeben noch für einen schnellen Toilettengang verabschiedet.
„Du bist neu hier, was?“, kam eine herausfordernd gestellte Frage von hinten.
Bahe drehte sich um und sah einen Schüler von 1,80m vor sich aufragen, groß, für chinesische Verhältnisse. Schwarze Haare waren in einem mittellangen Haarschnitt zu einem wilden Wirrwarr gestylt und… war das Make-Up?
Bahe war sich nicht sicher… Es gab durchaus andere Gepflogenheiten im asiatischen Raum, gerade auch vom Schönheitsideal… aber es war dennoch alles andere als alltäglich.
Sein Gesicht wirkte elegant, fast schon feminin und bildete zusammen mit seiner Schuluniform, die perfekt angepasst war und der arroganten Haltung wie das Abbild eines Teenie-Schwarms.
„Ja, heute ist mein erster Tag“, bestätigte Bahe.
„Dann willkommen an der Sun Jingse Schule“, meinte der Typ mit aufgesetzter Freundlichkeit. „Aber nur damit du es weißt, Xukun gehört mir.“
Ohne eine Antwort Bahes abzuwarten, wandte er sich daraufhin ab und verließ die Mensa.
Zurück blieb ein verwirrter Bahe, der sprachlos vor sich hin schaute.
War das gerade eben wirklich passiert?
Bahe fühlte sich wie in einem schlechten Jugendroman oder wie in einem Shoujo-Manga, in dem der Liebesrivale der Hauptperson soeben vorgestellt worden war.
Kopfschüttelnd stand er schließlich auf und machte sich ebenfalls auf den Rückweg zum Klassenraum.
Es war Donnerstag, Bahes zweiter Tag an der neuen Schule. Die Mehrheit seiner Klasse hatte ihn aufgeregt aufgenommen. Aber inzwischen hatte das Interesse der Allgemeinheit schon deutlich nachgelassen.
Der Wissensdurst des Nerds war hingegen ungebrochen. Und natürlich durfte Bahe daher seine Mittagspause in dessen Gesellschaft verbringen.
Tanren schien froh zu sein, dass Bahe sich in guten Händen befand und hatte sich schon früh entschuldigt. Nach eigener Aussage wollte er wohl noch etwas in der Bibliothek nachschlagen. Bahe hatte sich wirklich gefragt, ob er das ernst meinte…
Im Hier und jetzt hatte er inzwischen erfahren, dass der Nerd Ni Muning hieß. Der gesprächige Kerl hatte ihm direkt angeboten, ihn einfach nur Muning zu nennen, wie alle Freunde es taten.
Bahe kam nicht umhin zuzugeben, dass ihm der Kerl irgendwie sympathisch war. Nachdem er zunächst einige seiner Fragen beantwortet hatte, revanchierte sich Muning nun und gab ihm einen groben Überblick über die Schule.
„Der Typ, nach dem du mich gefragt hast, ist mit Sicherheit Niu Munu“, erklärte Muning gerade. „Er ist der Sohn einer verdammt reichen Familie, die ihr Geld mit der Produktion und Vermarktung von Filmen verdient. Und damit meine ich nicht irgendwelches einschlägiges Material, sondern wahre Blockbuster.“
Anschließend sah Muning Bahe warnend an: „An deiner Stelle würde ich mich nicht mit ihm anlegen. Man könnte sagen, dass er sowas wie der Obermacho der Schule ist. Die Mädels fahren alle total auf ihn ab. Bei seiner Größe und Aussehen und so… Im Sport ist er auch noch begabt… Für die ist er halt das Gesamtpaket. Reich, gut aussehend, sportlich… der Ideale Freund… Dabei haben die meisten Mädchen hier eh keine Chance bei ihm, da er speziell auf Xukun wohl ein Auge gelegt hat. Sie tut so als wisse sie von nichts… Spielt wahrscheinlich schwer zu kriegen oder so…“, schnaubte Muning verächtlich und fuhr fort: „Ihr Eltern haben wohl eine eigene, ziemlich erfolgreiche Agrarfirma und das schon in der vierten Generation. Da ist es kein Wunder, dass sich Munu für sie interessiert. Alle anderen Mädels der Schule kommen hinsichtlich ihres Reichtums nicht gegen sie an. Na ja… sie sieht obendrein ja auch noch ziemlich gut aus. Da liegt sie wohl schultechnisch gesehen auch ganz vorne“, zuckte Muning abschließend mit den Schultern.
„Scheinbar hat sich da ja ein Pärchen gefunden“, sagte Bahe.
„Und ob!“, bestätigte Muning. „Sogar die Schülerzeitung hat schon über dieses Ereignis berichtet. Wobei das kein Wunder ist, da es in den Online-Foren schon seit der 7. Klasse Wetten darüber gibt, mit welchem Mädchen Munu letztlich zusammen kommt und umgekehrt natürlich auch, wen sich Xukun erwählt. Ihre Bewunderer hat sie in dreistelligen Zahlen bereits verschmäht. Aber so wie es aussieht, könnte es diesmal etwas werden.“
„Hey, du hörst dich ja wie die reinste Klatschtante an“, grinste Bahe.
„Oh ja, dafür habe ich ein Talent“, grinste Muning verschwörerisch und fragte: „Wie sieht’s eigentlich mit deinen Familienverhältnissen aus? Dein Vater hat eine Firma? Du hattest erwähnt, dass ihr deswegen nach China gezogen seid…?“
„Mein Vater ist vor einiger Zeit gestorben“, antworte Bahe, dessen Grinsen nun verflogen war.
„Oh, das tut mir Leid…“, meinte Muning sich sichtlich unwohl fühlend. „Ich wollte nicht…“
„Ist schon gut, wie gesagt, es ist schon eine Weile her“, beschwichtigte Bahe den verlegenen Muning.
„Also führt dein Großvater jetzt die Firma? Oder deine Mutter?“
„Nee… Die Firma ist Konkurs gegangen.“
„Oh…“, gab Muning von sich und überlegte scheinbar, was er sagen sollte. „Aber ihr habt noch genügend Vermögenswerte? Ich meine diese Schule ist nicht billig…“
Diesmal musste Bahe lachen.
„Nein, haben wir nicht“, antwortete Bahe schlicht. „Der stellvertretene Schulleiter schuldete meinem Großvater wohl noch einen Gefallen.“
„…“, Muning stand der Mund offen, als er Bahe mit großen Augen anstarrte.
„Was ist?“, fragte Bahe.
„… Ähm…“, räusperte sich Muning. „Du solltest das vielleicht lieber für dich behalten, Bahe. Fast jeder an dieser Schule hat in irgendwelcher Form relativ betuchte Eltern… Und es ist teilweise wirklich so, dass sie auf die weniger Vermögenden ziemlich krass herab blicken…“, ließ er seine Ausführungen bedeutungsschwer ausklingen.
„…“, Bahe wusste zunächst nicht was er sagen sollte. Meinte Muning das ernst? Es war ja nicht so, dass Bahe sich nicht vorstellen konnte, was eventuell die Konsequenzen wären…
„Was meinst du genau?“, fragte er schließlich um sicher zu gehen.
„Na ja…“, Muning wusste scheinbar nicht so recht, wie er auf Bahes Frage antworten sollte. Letztlich seufzte er und begann: „Wir hatten mal zwei Schüler, die über ein Stipendium hier an diese Schule durften… Einigen der anderen Schüler ging das ganz schön gegen den Strich… Sie…“
„Meinst du Munu?“
„Pssst!“, zischte Muning ihn panisch an und blickte sich schnell in alle Richtungen um.
„Du glaubst gar nicht, wo Nu Munu überall seine Ohren hat“, flüsterte er Bahe anschließend zu. „Die Hälfte der Schüler dieser Schule hat er auf die ein oder andere Art und Weise in der Tasche. Entweder droht er ihnen und ihren Eltern mit seinen Beziehungen oder terrorisiert sie ganz einfach auf brutale Weise mit seinen Fäusten oder viel mehr mit denen seiner Handlanger…“
„Aber ich dachte, seine Eltern sind nur Filmproduzenten…?“, flüsterte Bahe ebenso leise zurück.
„He…“, grinste Muning erfreut, dass er mal wieder mit seinem Wissen punkten konnte. „Das denkt jeder zuerst, aber hast du mal darüber nachgedacht, mit wem diese ganzen Stars liiert oder verheiratet sind, die sie für ihre Filme engagieren? Mit reichen Industriellen, einflussreichen Persönlichkeiten aus der Armee oder sogar Regierungsvertretern mit den verschiedensten Ämtern…“
Muning legte hier eine bedeutungsschwer Pause ein, ehe er fortfuhr: „Glaub mir… mit der Familie der Nus willst du dich nicht anlegen. Die geben einfach irgendeinem ihrer Stars eine besondere Rolle und bitten dessen Familie sich um die deine zu kümmern… Problem gelöst, verstehst du?“
Bahe lief es eisig über den Rücken… Er verstand nur zu gut.
„Nu Munu ist völlig egal, was mit den Leuten geschieht…“, meinte Muning wütend. „Mit einem der beiden Stipendiaten bin ich damals ganz gut klar gekommen. Er hat nie irgendjemanden verärgert… Nur ein einziges Mal ist er im Gang aus Versehen mit Munu zusammen gestoßen… leider hat Munu so eine Himbeermilch von einem der Mädchen abbekommen... Das hat gereicht. In den folgenden Wochen taten Munu oder seine Handlanger alles Mögliche, um ihn und den anderen Stipendiaten fertig zu machen, bis sie schließlich die Schule verließen.“
„Rosige Aussichten für mich…“, meinte Bahe deprimiert.
„Pass einfach auf, dass niemand außer mir, davon Wind kriegt“, versuchte Muning ihn aufzumuntern.
Doch Bahe blieb skeptisch. Nächste Woche würde die Live-Veranstaltung mit dem Anwalt stattfinden… Es wäre ein Wunder, wenn nicht raus käme, wie es um seine Familie bestellt war.
„Heißt das eigentlich, dass die Eltern von allen Schülern unserer Klasse vermögend sind?“, stellte Bahe die Frage, die ihm noch immer auf der Zunge brannte.
„Im Grunde genommen… ja“, sagte Muning überlegend.
„Womit verdient denn deine Familie ihr Geld?“, fragte Bahe.
„Wir besitzen eine große Lebensmittelkette“, grinste Muning zwinkernd.
„…“
Nun, das ergab Sinn.
„In unserer Klasse sind aber gar nicht so viele erwähnenswert…“, erläuterte Muning nachdenkend. „Außer Xukun gibt es noch unseren Klassensprecher Tanren, seine Familie besitzt Anteile an verschiedenen großen Restaurantketten und dann gibt es noch Munus Handlanger Bowan, dessen Familie eine Baufirma besitzt. Alle anderen sind wohl vermögend, aber nicht in dem Maße, wie es jemand wie Munu als akzeptabel empfinden würde.“
„Wo bin ich hier nur hinein geraten…“, schüttelte Bahe den Kopf.
Nun musste Muning lachen.
„Ah, da fällt mir noch Ruomei ein!“, brach Muning seinen Lachanfall ab plötzlich.
„Äh, wer?“
„Ruomei ist das schüchterne Mädchen in unserer Klasse, du weißt schon, lange Haare, riesen Brille, krumme Haltung?“
„Ah“, jetzt wusste Bahe von wem Muning redete.
„Über sie ist nicht viel bekannt, was angesichts der Beziehungen einiger Schüler hier schon eine Seltenheit ist…“, erklärte Muning aufgeregt. „Angeblich ist ihr Vater äußerst wohlhabend. Aber mehr weiß ich nicht über sie“, zuckte er noch die Schultern.
„Ich schätze mal, dass sie für Munu eh unter seiner Würde ist, oder?“
„Das kannst du laut sagen“, bestätigte Muning. „Der würde für so ein hässliches Entlein nicht mal den kleinen Finger rühren. Ganz egal wie reich, die Familie ist. Aber jetzt wo ich so darüber nachdenke… schon merkwürdig, dass ich über sie noch nicht mehr weiß… Ihr muss ich auf jeden Fall die Tage mal auf den Grund gehen.“
„Du bist wirklich die Klatschtante der Nation“, meinte Bahe lachend.
„Was denn, die vermögenden Leute müssen informiert sein“, zwinkerte Muning Bahe grinsend zu, nur um daraufhin offensichtlich ein schlechtes Gewissen zu haben. „Also, ich meinte nicht, dass wir was Besseres wären oder so…“
„Schon klar, dass du das nicht so gemeint hast“, beruhigte Bahe den Chinesen, dessen Gesichtsausdruck sich dadurch sofort wieder zu einem Grinsen wandelte.
„Du wirst schon klar kommen, so schlimm ist es hier eigentlich gar nicht“, sagte Muning noch, ehe er sich mal wieder einen Löffel seines Essens in den Mund schob.
Bahe schüttelte nur belustigt den Kopf.
Hoffentlich irrte sich sein neuer Freund nicht.
Nach der Schule besuchte Bahe noch ein vorletztes Mal das Chin-Anwesen und kniete vor der Tür bis zum Abend. Morgen war es endlich soweit, dass er erfahren würde, wie sich der Trunkenbold entschieden hatte.
Anschließend genoss er mit seiner Familie das große Festessen. In ausgelassener Stimmung gab es die Lieblingsspeisen der Zwillinge, sowie all die exotischen Lebensmittel in Gerichten, die gut für die Gesundheit sein sollten. Bahe versuchte dabei so gut wie es ging, weg zu sehen, als seine Großeltern und Mutter sich an diesen Dingen versuchten.
Vor der Nachspeise sorgte Leo Xiao dann für einen Gänsehaut Moment, als er ein extra einstudiertes Gedicht für ihre Mutter vortrug. Bahe lächelte, als er sah, wie gerührt seine Mutter war. Versonnen schnappte sie sich Leo Xiao und knuddelte ihn ordentlich durch, ehe er sich unter Protest wieder von ihr lösen konnte.
Liana Xue kicherte während der ganzen Zeit und flüsterte Bahe zu, dass sie schon genau wüsste, wieso sie nichts vorbereitet hatte. Bahe musste sich an dieser Stelle wirklich ein Lachen verkneifen, da ihm klar war, dass sie einfach nicht genug geübt hatte, um ihr eigenes Gedicht vortragen zu können.
Es war ein schöner Abend, der dann doch etwas eher zu Ende ging, da sich Bahes Mutter vorläufig noch schonen sollte. Er half seinen Großeltern noch beim Abräumen und Spülen, ehe er sich in Raoie einloggte.
Zu seinem Leidwesen nur eine weitere monotone Spieleinheit. Man, war er froh, wenn Fenrir ihm endlich seine Ausbildung als bestanden attestierte.
Der nächste Schultag erfolgte zum Großteil ereignislos, wenn man mal von Muning absah, der sich auf Schritt und Tritt wie eine Klette an ihn heftete. Der Kerl konnte einfach nicht die Klappe halten, wie ein Computer strömten aus ihm die wahnwitzigsten Informationen über die Schüler der Parallelklassen, vor wem er sich in Acht nehmen sollte und wer vollkommen irrelevant war. Dazwischen stellte er immer wieder Fragen zu seinem früheren Leben in Deutschland, das Bahe mittlerweile seltsam fremd vorkam. Man gewöhnte sich einfach an die neue Heimat, oder?
Nach der Schule begab er sich dann endlich auf dem kürzesten Weg zum Chin-Anwesen. Huilan öffnete ihm das Tor und Bahe kniete das letzte Mal vor der Haustür der Chins nieder.
Im Haus sah Huilan am Abend aus dem Fenster und beobachtete den jungen Ausländer, wie er mal wieder vor ihrer Haustür kniete. Er war zwar nicht jeden Tag gekommen und natürlich auch nie von morgens bis abends geblieben, aber er suchte sie wirklich regelmäßig auf.
Was wohl ihr Vater dazu sagen würde…?
Huilan seufzte als sie ihren Vater im Wohnzimmer aufstoßen hörte. Scheinbar soff er schon wieder.
Vor gut einem Jahr hatte er aufgehört irgendwelche Kampfsportschüler zu unterrichten. Davor waren sie beinahe jedes Wochenende von seinen Schülern besucht worden. Sie wusste bis heute nicht, was ihn dazu veranlasst hatte, alles aufzugeben. Aber seitdem war es mit ihm zunehmend bergab gegangen…
Ein halbes Jahr danach hatte er dann angefangen zu trinken und kurze Zeit später dadurch seinen Job verloren…
Ihnen ging es gut, dass wusste Huilan. Ihre Familie hatte genügend Rücklagen, um lange davon leben zu können. Doch ihr Vater suchte nicht mal nach Arbeit, stattdessen war er viel mehr darum bemüht, stets Alkohol im Haus zu haben.
Zum Frühstück gab es Bier, manchmal sogar Stärkeres und so verhielt es sich auch für den restlichen Tag. Huilan war froh, wenn er ab und an ihre selbst gemachten Mahlzeiten zu sich nahm. Es war ein Wunder, dass er bei seiner einseitigen Ernährung noch nicht krank geworden war…
Vor einigen Wochen war es dann sogar ihrer Mutter zu viel geworden. Sie hatte ihre Sachen gepackt, in die City gezogen und arbeitete wieder. Sie kam am Wochenende immer noch zu ihnen, um nach ihr zu sehen und Huilan war dankbar darüber. Ihre Mutter hatte ihr mehrere Male angeboten, mit ihr in die Innenstadt zu ziehen. Die Wohnung war wirklich mehr als groß genug. Doch Huilan hatte abgelehnt. Sie selbst konnte ihren Vater einfach nicht komplett alleine lassen.
Und dann war dieser junge Ausländer gekommen. Er war irgendwie ein Hoffnungsschimmer, dass er ihren Vater vielleicht aus seiner Lethargie reißen konnte…
Sie atmete einmal tief ein, um sich selbst Mut zu machen und ging ins Wohnzimmer.
„Pá, der junge Ausländer ist wieder hier. Heute ist es soweit, dass du dich entscheiden musst“, sprach sie ihn an.
„Was? Welcher Ausländer?!“, blaffte er genervt, mitten in seiner Fernsehserie gestört worden zu sein.
„…“, Huilan schüttelte nur den Kopf. Hatte sie sich wirklich Hoffnung gemacht?
„Jetzt sag schon, was ist los?!“, verlangte er zu wissen, während er weiterhin auf die Visualisierungsfläche starrte.
„Du erinnerst dich nicht mehr? Der junge Ausländer, der dich vor zwei Wochen nach Hause gebracht hat. Du hattest versprochen ihn zu unterrichten, wenn er das macht.“
„Pah! Das habe ich nie versprochen!“, ereiferte sich ihr Vater. „Ich habe nur gesagt, dass ich es mir überlege!“
„Ja, und seitdem kniet er täglich vor unserer Haustür, um dich zu überzeugen! Wer macht sowas schon noch in der heutigen Zeit, Pá?“
„Hahaha“, brach es schallend aus ihrem Vater hervor. „So ein Dummkopf, als ob ich es mir deswegen anders überlegen würde.“
„Pá!“
„Was denn?!“
„Wie kannst du nur…“
„Wie kann ich nur was?“, fragte ihr Vater plötzlich wütend und erhob sich.
„…“ Huilan schaute bedrückt zu Boden und wusste nicht, was sie sagen sollte.
Ihr Vater schwankte merklich, als er ein paar Schritte auf sie zu machte und sagte: „Mir reicht es langsam mit deinen Wunschvorstellungen! Ich trainiere keine Leute mehr! Basta! Und du bist mir gefällig noch mal Respekt schuldig, anstatt an mir zu zweifeln! Hörst du dich eigentlich selbst reden? Pá dies, Pá das… Pá iss mehr Gemüse… Ich mag diesen scheiß Fraß nicht! Und diesem Mist mit dem Ausländer bereite ich jetzt ein Ende! Ich bin es leid, dass du mir wegen einem Wildfremden in den Ohren liegst!“
Damit stapfte er an ihr vorbei und Huilan zuckte vor seiner gewaltvollen Ausstrahlung zurück.
Wie hatte es bloß so sehr nach hinten los gehen können…?
Einen Moment später folgte sie ihm, nur um festzustellen, wie er gerade die Haustür aufriss.
„Meister Chin“, hörte sie den Ausländer noch von draußen, da donnerte ihr Vater auch schon los.
„Nenn mich verdammt nochmal nicht Meister! Ich dachte, du checkst, dass ich dich nur verarscht hab, aber du bist scheinbar selten dämlich! Mach das du davon kommst und lass dich bloß nie wieder hier blicken! Hast du mich verstanden?!“
„Aber Meister…“
„NENN MICH NICHT MEISTER!“, schrie ihr Vater plötzlich aus Leibeskräften und war drauf und dran auf den Jungen loszugehen, als Huilan panisch einschritt und ihren Vater am Arm packte.
„Geh, es tut mir leid, aber er wird dich nicht trainieren“, richtete sie sich kurz an den Ausländer und richtete anschließend ihre Aufmerksamkeit auf ihren Vater.
„Lass mich los, Huilan! Ich werde diesen Sohn einer Schildkröte zusammenschlagen, wenn es das ist, was es braucht, damit er endlich von hier verschwindet!“
„Nein, Pá, tu das nicht. Er wird gehen. Aber du musst dich beruhigen“, drängte Huilan ihren Vater und sah aus den Augenwinkeln, wie sich der Ausländer endlich aufrichtete und mit niedergeschlagener Miene den Rückweg antrat.
Doch ihrem besoffenen Vater ging das alles wohl nicht schnell genug.
„Schreibst du mir schon wieder vor, was ich zu tun und zu lassen hab?“, schrie er sie an und riss sich mit einer schwungvollen Armbewegung los.
Huilan verlor das Gleichgewicht und fiel hart gegen den Türrahmen, wo sie kurzzeitig benommen liegen blieb.
Ihr Vater, der dem Ausländer schon hinterher rennen wollte, hielt plötzlich in der Bewegung inne. Scheinbar geschockt über sich selbst rümpfte er schließlich die Nase und sagte: „Sie zu, dass du deinen Kopf kühlst. Fehlt mir noch, dass deine Mutter mir die Hölle heißt macht, weil du dich wie eine Idiotin aufführst.“
Danach stapfte er wieder ins Haus und Huilan hörte wenig später erneut das so bekannte Zischen einer neu geöffneten Flasche Bier.
Mit Mühe kämpfte sie die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten und blickte in die Richtung, in der der Ausländer verschwunden war.
„Es tut mir leid, ich habe alles versucht…“, murmelte sie leise und deprimiert vor sich hin.
Enttäuscht kam Bahe am Tor des Chin-Anwesens an. Ein Blick zurück bestätigte ihm, dass er keine Hoffnung hegen sollte, niemand war da. Schließlich hatte der Trunkenbold ihn gerade erst davon gescheucht.
Bahe war lieber schnell verschwunden, als er bemerkte, wie der Kerl seine eigene Tochter zu Boden schubste. Hatte er sich so sehr in seinem Urteil geirrt?
Na ja… Wenn er ehrlich mit sich war, kannte er diesen Baihu gar nicht. Er hatte ihn im besoffenen Zustand kennen gelernt und es waren nur seine Kampfkünste gewesen, die Bahe ursprünglich dazu bewogen hatten sein Schüler zu werden.
So hart es auch klang, vielleicht war es besser so?
Seufzend betrat er die Straße und das Tor schloss automatisch hinter ihm. Egal wie lange er sich in seiner Niedergeschlagenheit suhlte, was machte er jetzt?
Die Kampfsportschulen in der Gegend waren allesamt zu teuer für ihn und seine Familie. Die Operation und die Reha-Behandlungen seiner Mutter konnten durch den gesamten Betrag vom Verkauf des Anwesens als auch vom Verkauf seines Accounts jetzt bezahlt werden. Aber danach war einfach nichts mehr über…
Vielleicht gab es in der Schule irgendeine AG, die sich mit Kampfsport beschäftigte?! Dachte Bahe mit einem Mal ganz aufgeregt über seinen Einfall.
„…he…“
Plötzlich hielt Bahe inne. Hatte da gerade jemand seinen Namen gerufen?
„…ahe!“
Es klang weit weg, aber auch verdächtig nach seinem Namen… Verwirrt blickte er sich um, auf der Straße war nirgends jemand zu sehen.
„Warte, Bahe!“, rief eine weibliche Stimme und Bahe konnte diesmal ausmachen, dass die Schreie vom Grundstück der Chins kamen, welches bereits ein paar Meter hinter ihm lag.
Was wollte Huilan von ihm? Fragte Bahe sich skeptisch.
Mittlerweile glaubte er nicht mehr dran, dass sich ihr Vater es nochmal anders überlegt hatte…
Trotzdem ging er die paar Schritte zurück und sah, durch das inzwischen wieder offene Tor, wie Huilan auf ihn zugerannt kam und ein paar Meter vor ihm stehen blieb.
„Bahe, es tut mir Leid…“, fing Huilan ein wenig außer Atem an. „Mein Vater war nicht immer so…“
„Ist schon gut“, meinte Bahe nur, der bemerkte, wie unangenehm es dem Mädchen war, ihren Vater verteidigen zu müssen.
„Nein, ist es nicht!“, entgegnete sie. „Mein Vater hat dir in Aussicht gestellt dich zu trainieren und ich hatte schon Hoffnung, dass es ihn endlich aus diesem Mist mit dem Alkohol retten würde, aber…“
Bedrückt brach sie ab und blickte für einen Moment zu Boden, ehe sie fortfuhr: „Ich schweife ab. Also, mein Vater hat ja einige Leute trainiert… und… was ich dich eigentlich fragen wollte… Wofür willst du Kampfsport erlernen? Und wieso hast du dich ausgerechnet an meinen Vater gewandt?“
„Na ja… es war mehr ein Zufall, als alles andere, ihm im Park zu begegnen. Die Kampfsportschulen verlangen von mir ein Vermögen, da ich europäischer Herkunft bin und das kann sich meine Familie nicht leisten. Von daher…“, erklärte er die zweite Frage zuerst. „Und wieso will ich Kampfsport lernen… Auf der einen Seite schlicht weg, um mich vernünftig verteidigen zu können. Es waren eine Zeit Schlägertrupps hinter mir und meiner Familie her und alles was ich tun konnte, war mich zusammenschlagen zu lassen, wenn ich ihnen begegnete. Ich möchte mich nie wieder so hilflos fühlen... Auf der anderen Seite, gibt es da ein besonderes Online-Spiel, bei dem es möglich ist, seine Fähigkeiten aus dem realen Leben in das Spiel zu übertragen. Im Spiel kann man dadurch enorme Vorteile erlangen.“
„So, so… Du bist also ein Nerd?“, meinte Huilan mit hochgezogenen Augenbrauen. Doch ihr belustigter Tonfall ließ erkennen, dass sie ihre Aussage nicht wirklich ernst meinte. „Deinen ersten Grund kann ich verstehen, den Zweiten zugegebener Maßen weniger. Aber was, wenn ich jemanden kennen würde, der dich eventuell trainieren könnte?“
Bahe traute seinen Ohren kaum bei der erfreulichen Nachricht.
„An wen hast du gedacht?!“, fragte er aufgeregt.
„Nun… wenn es dir nur darum geht, dass du lernst, wie du dich verteidigen kannst…“
„Ja?“
„Nun, dann würde ich mich anbieten dich zu trainieren…“, meinte Huilan kleinlaut.
„…“, Bahe blickte sie verblüfft an.
„Und, was sagst du?“, fragte Huilan unsicher, ob Bahes fehlender Reaktion.
„Ähm…“, räusperte sich Bahe. „Du meinst das ernst, du wirst mich trainieren?“
„Wenn du das willst…?“, ließ Huilan ihren Satz zu einer Frage ausklingen und erklärte: „Mein Vater hat mich trainiert seitdem ich drei Jahre alt war. Bis er mit dem Trinken angefangen hat, habe ich jeden Tag mit ihm trainieren müssen… Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich mehr als genug weiß, um einen Anfänger in Selbstverteidigung und Kampfsporttechniken unterrichten zu können.“
Bahe konnte fast nicht glauben, welche Situation sich da vor ihm auftat, aber wer wäre er denn hier nein zu sagen?!
„Natürlich will ich!“, rief Bahe begeistert aus, kniete sich hin und vollzog den Kotau, um seiner Meisterin alle Ehre zu erweisen. „Meisterin!“
Ein helles Lachen ertönte, ehe Huilan sich an ihn wandte: „Lass den Quatsch und steh auf, du bist doch viel älter als ich.“
„Auch, wenn du jünger bist, es gehört sich seiner Meisterin Ehre zu erweisen“, meinte Bahe, stand aber auf.
„Nun, immerhin hat du gute Vorsätze“, grinste Huilan.
„Natürlich, Meisterin!“
„Bitte… ich bin erst vierzehn… wenn du mich weiter Meisterin nennst, komm ich mir uralt vor. Nenn mich einfach Huilan.“
„Sehr wohl, Huilan.“
„Und lass dieses geschwollene Gequatsche!“
„Wie du wünscht, Huilan!“
„…“
Am späteren Abend kam Bahe euphorisch zu Hause an. Auf der Rückfahrt hatte er sein Glück noch immer kaum fassen können. Seine Meisterin… Moment… Huilan, hatte ihm ein paar Aufgaben mit an die Hand gegeben, die er bis Sonntag erledigen sollte.
Daran, dass er sie mit dem Vornamen ansprechen sollte, musste er sich erst noch gewöhnen, grinste er verschmitzt. Dabei fand er ja, dass Meisterin ziemlich cool klang…
Wie dem auch sei, er musste sich wiegen, seine Körpergröße noch einmal messen… darauf hatte er so gar keine Lust… und die Vorräte seiner Großeltern durchforsten, um zu schauen, welche Nahrungsmittel zu Hause waren. Huilan schien es in dieser Hinsicht verdammt ernst zu nehmen.
Also machte er sich, zu Hause angekommen, direkt an die Arbeit. Etwas später wollte er sich schon einloggen, als Feiying endlich auf seine WE-Chat-Frage reagierte und Bahe seinen Nickname für Raoie sendete.
„Gold Digger…“, las Bahe und dachte nach. Hatte Feiying nicht davon geschwärmt, dass er eine versteckte Klasse eines Schatzsuchers gefunden hatte?
Das passte ja wie die Faust aufs Auge!
Andererseits… konnte man den Nickname im Englischen nicht nur zu leicht missverstehen?[i]
Bahe musste grinsen, welche Auswirkungen das später noch für Feiying haben könnte… Danach legte er sich aber endlich in sein Dimensional Leap-System und loggte sich ein.
Heute war es endlich soweit, dass er die wichtige Tutorial-Mission V abschließen würde. Gestern waren die zwei Wochen verstrichen, in denen er seine Speichergegenstände nicht benutzen durfte.
Daher begab er sich diesmal ausnahmsweise zu allererst zu dem Trunkenbold, der ihm diesen Mist eingebrockt hatte, anstatt direkt mit seinem Training anzufangen.
„Du hast’s tatsächlich geschafft, huh?“, gluckste Karl, der trotz des frühen Morgens schon wieder viel zu besoffen war. Oder war er gar nicht erst nüchtern geworden?
„Sieht so aus“, grinste Bahe.
„Na bild‘ dir mal nix drauf ein, Grünschnabel! Ich hab sc’on diese Wälda bereist bevor dux überhaupt geboren wars“, sprach Karl, dem es offensichtlich Mühe bereitete, nicht zu lallen. „Aber komm’n wir mal zu deinen Belohlungen…“, fuhr er fort und griff unter den Tisch. Hervor holte er eine große Schriftrolle, von der Bahe wirklich nicht wusste, wie Karl sie unter dem Tisch versteckt hatte. „Dieses schniiieeke Ex…emplar ist von nu‘ an deins.“
„Vielen Dank“, demonstrierte Bahe seine Manieren und ergriff die ihm gereichte Schriftrolle. Allem Anschein nach handelte es sich hierbei um die versprochene Landkarte, von den Gebieten rund um Waldenstadt.
„Nix da, du hast es verdinnt!“, rief Karl viel zu laut, dass Bahe zusammen zuckte und sagte dann unwirsch: „Komm ma‘ näher, ich muss deine Stirn anfasse‘ könne‘ und nimm diese‘ dämliche Stirnband ab.“
Bahe tat wie ihm geheißen und trat näher an den betrunkenen Mann heran. Karl legte, wie angedeutet, die Hand auf Bahes Stirn und sprach dann erregt: „Dachte ich es mir doch! Du warst kurz davor.“
„Wovor?“
„Ach, wirste schon seh’n“, winkte Karl ab, ehe seine Hand plötzlich zu leuchten begann. Ein warmes Kribbeln breitete sich von Karls Hand über Bahes Stirn aus, bis es schließlich den ganzen Kopf umfasste. Dann öffneten sich plötzlich Benachrichtigungsfenster:
Du hast eine neue Fähigkeit erlernt!
Erinnerungsvermögen (passiv)
Durch wiederholte Auseinandersetzung mit dem Allgemeinwissen Raoies hat sich dein Erinnerungsvermögen dauerhaft verbessert. Karl hat dir als Bonus den letzten Schwung gegeben, um diese Fähigkeit zu erlernen. Eigne dir mehr Wissen an, um diese Fähigkeit zu verbessern.
Du hast eine neue Fähigkeit erlernt!
Identifizieren
Karl hat dir als Belohnung für den erfolgreichen Abschluss seiner Quest die Fähigkeit Identifizieren beigebracht. Ab sofort steht die kostenlose Variante nicht mehr zur Verfügung. Jede Aktivierung von Identifizieren kostet nun mindestens 20 Mana.
Bahe staunte nicht schlecht, als er gewahr wurde, dass er soeben zwei Fähigkeiten erlernt hatte und bedankte sich gleich: „Vielen Dank, Karl!“
„Ach, nich‘ der Rede wert“, winkte dieser lallend ab. „Zur letzten Sache, die ic‘ dir versprochen hab‘… Waffen kannst du heut‘ am besten im Laden, Zur fliegenden Guillotine, erwerben und jetzt mach, dass du verschwindest. Ic‘ verliere nich‘ gern meine Wetten und will erst recht nich‘ dran erinnert werden!“
Bahe bedankte sich noch ein zweites Mal und verließ eilig die Taverne.
Endlich kam er mal vorwärts! Die letzten Wochen waren in Raoie einfach zu monoton gewesen. Der Abschluss dieser Quest versetzte ihn endlich in die Lage, wieder einige neue Wege zu gehen. Zum Einen konnte er jetzt Power-Leveln[ii] und zum Anderen endlich wieder seinen Speichergegenstand nutzen!
Dadurch war er nicht mehr so abhängig vom Gasthaus zum platzenden Hirsch, wo er in den letzten Wochen stets seine Mahlzeiten eingenommen hatte. Nun konnte er endlich wieder über unbestimmte Zeiträume Nahrung mit sich führen und musste sich nicht ständig Gedanken machen, wann diese wohl nicht mehr genießbar waren.
Auch ein Handtuch und einen zweiten, oder vielleicht sogar einen dritten, Satz an Kleidung wollte er sich zulegen. Er war es leid, nach dem Schwimmen immer noch in die halb nassen Klamotten schlüpfen zu müssen.
Insgesamt ließ sich vielleicht festhalten, dass sich sein Lebensstandard erheblich verbessern würde.
Mit beschwingtem Schritt, machte er sich anschließend zum Trainingsgelände auf, um sein heutiges Training unter Fenrir abzuschließen.
Bahe konnte inzwischen durchaus Verbesserungen vorweisen. Durch einige neue Attributpunkte war er inzwischen wesentlich schneller unterwegs, als zu Beginn der Ausbildung. Es würde vermutlich nicht mehr lange dauern, bis er endlich die Anforderungen von Fenrir erfüllen konnte. Auch seine Handhabung von Pfeil und Bogen war inzwischen wesentlich ausgereifter. Das Spannen bereitete ihm zu Beginn keinerlei Probleme mehr und selbst seine Trefferquote konnte sich sehen lassen.
Kaum zwanzig Minuten später befand sich Bahe daher wieder auf seiner üblichen Runde um die Stadt und gab das Kommando, um sich mit seinem Freund Feiying zu verbinden: „Chat, Gold Digger, beginnen!“
Verbindung wird aufgebaut, bitte warte einen Moment, während Gold Digger gefragt wird, ob er die Verbindung annehmen möchte.
Gold Digger hat deine Verbindungsanfrage angenommen. Du wirst jetzt mit ihm Verbunden.
Für einen Moment erklang in Bahes Ohren das typische Piepen, ehe sich eine bekannte Stimme zu Wort meldete.
„Anael? Bist du das, Bahe?“
„Ganz genau“, grinste Bahe.
„Ha, endlich können wir uns im Game unterhalten!“
„Ja, hat lange genug gedauert.“
„Sorry, habe total vergessen dir meinen Nickname zu schicken“, meinte Feiying entschuldigend.
„Ach, kein Problem“, winkte Bahe ab. „Was machst du zur Zeit?“
„Ich farme gerade mit einem Trupp Soldaten die hiesigen Monster ab. Und selbst?“
„Ich renne gerade um Waldenstadt herum.“
„Hä? Wieso denn das?“
„Damit ich die Fähigkeit Bogenschießen erlernen kann, muss ich zuerst ein gewisses Maß an Fitness erreicht haben, meint mein Ausbilder.“
Feiying lachte lauthals, ehe er sagte: „Und wieso hast du die Tutorial-Quest nicht einfach neu gestartet? Du hast so ziemlich die nervigste Aufgabe aufgebrummt bekommen, die es gibt!“
„Nun… meine Attributpunkte verbessern sich nicht nur durch das Training, es gibt ab und an noch Bonusattributpunkte, weil ich an der Tutorial-Quest dran geblieben bin. Es ist quasi so, dass honoriert wird, welchen Aufwand ich hier betreibe. Die wenigsten Spieler würden sich solch einer Qual aussetzen und erst recht nicht die ganzen Progamer, denen es nur darum geht, so schnell wie möglich im Level aufzusteigen, um anschließend in die noch unerforschten Gebiete vorstoßen zu können.“
„Ok, macht Sinn. Wir sind im Vergleich zu den ersten Spielern so viel später gestartet, da hast du keine Chance mehr hinterher zu kommen. Aber ich weiß nicht, ob ich es aushalten würde im Spiel Sport zu machen“, meinte Feiying lachend.
„Ja, ist schon nervig…“, schnaubte Bahe, dessen Atem langsam etwas schwerer wurde.
„Wenn ich Level 20 erreicht habe, wollte ich mich ja zu den Belungaminen aufmachen. Für meine Berufsquest, weißt du noch? Ich soll die Minen erforsch-“
Die Verbindung zu Gold Digger wurde unterbrochen.
Grund: Unzureichendes Mana bei einer der beiden Parteien.
„Was zum…“, sagte Bahe verblüfft, ob des plötzlichen Verbindungsabbruchs und untersuchte direkt sein Charakterprofil.
„210/300 Mana…“, murmelte er.
An ihm lag es allem Anschein nach nicht. Feiying besaß also nur 90 Mana?! Dabei sollte er doch einige Level Vorsprung haben…
Irritiert setzte Bahe seinen Lauf fort und wartete darauf, dass Feiying sich noch mal meldete. Was ein paar Minuten später passierte.
Gold Digger möchte mit dir in magische Verbindung treten. Möchtest du seine Aufforderung annehmen?
Ja? / Nein?
Bahe gab sofort sein OK und Feiying plapperte sofort los: „Fuck! Ich habe vergessen, dass die Manakosten so hoch sind.“
„Hast du nur neunzig Mana?“
„Ja, sicher. Das ist gar nicht mal so wenig.“
„…“, Bahe war sprachlos.
„Wie viel hast du denn?“
„300.“
„Erzähl keinen Quatsch!“
„Nein, wirklich“, versuchte Bahe Feiying zu überzeugen.
„Bahe…“
„Ja?“
„Welches Level bist du?“
„Level 0.“
„What the Fuck! Das ist doch unmöglich! Kein Spieler kann so früh so viel Mana haben!“, regte sich Feiying auf. „Wie hast du das gemacht, Bahe?!“
„Äh… das hängt vermutlich mit meiner Berufsklasse zusammen…“, meinte Bahe zögerlich.
„Oh, du hast eine Berufsklasse erworben? Welche?“
„Das kann ich dir nicht sagen.“
„Hä? Wieso denn nicht?“
„Also, genau genommen, darf ich es dir nicht sagen…“, meinte Bahe kleinlaut.
„Wieso denn das nicht?“
„Erzähle ich irgendjemanden von meiner Berufsklasse, verliere ich nicht nur meine Klasse, sondern auch sämtliche Erfahrung, die ich bis dahin gesammelt habe…“, klärte Bahe seinen Freund auf.
„Unglaublich… Was TNL sich für Raoie ausgedacht hat, ist manchmal so absurd. Also hast du mit Sicherheit auch irgendeine versteckte Klasse gefunden, oder? Verdammt, vielleicht sogar eine Geheime! Wieso hast du immer so ein Glück, Bahe?!“
Bahe wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte, da fuhr Feiying schon fort: „Ah, sag lieber nichts! Nachher werde ich nur noch deprimierter.“
„Was wolltest du vor dem Verbindungsabbruch eigentlich noch sagen?“, versuchte Bahe das Thema zu wechseln.
„Ah, stimmt ja, ich habe schon wieder kaum noch Mana…“, seufzte Feiying resigniert. „Ich soll ja die Minen erforschen und wollte fragen, ob wir versuchen sollen uns dort treffen?“
„Können wir gerne machen, aber sind dort nicht schon mal andere Spieler gewesen?“
„Bestimmt, so Spieler wie der Donnergott Tallios und andere große Gilden stürmen schon Level 40 Gefilde. Aber es ist halt meine Berufsklassenquest, egal wie viele Leute schon da waren, ich muss den Ort trotzdem aufsuchen.“
„Kein Problem, ich fa-“, setzte Bahe an, ehe plötzlich erneut die Verbindung abbrach.
Die Verbindung zu Gold Digger wurde unterbrochen.
Grund: Unzureichendes Mana bei einer der beiden Parteien.
So langsam nervte es, dachte Bahe und schloss das Fenster. Einige Minuten später öffnete sich dann wieder das bereits bekannte Benachrichtigungsfenster zur Verbindungsaufnahme und Bahe nahm die Verbindung schnell wieder an.
„Sorry, Bahe. Ich muss zusehen, dass ich mir mehr Mana anschaffe. Kann ja nicht angehen, ständig unterbrochen zu werden.“
„Ach, kein Thema“, winkte Bahe ab und fuhr fort. „Was ich sagen wollte, war, dass ich ab heute anfange mein Level so schnell wie möglich zu steigern, um dir dann hoffentlich bald in diesen Minen helfen zu können.“
„Hört sich cool an“, meinte Feiying. „Aber mach dir mal nicht zu viele Hoffnungen. Trotz mehrerer Wochen, die ich Raoie jetzt schon spiele, bin ich erst Level 8. In den Leveln aufzusteigen dauert so unglaublich lange.“
„Ja, ich weiß“, lachte Bahe. „Habe die letzten Tagen Wildwurzelkaninchen jagen dürfen. Pro Wildwurzelkaninchen habe ich genau einen Erfahrungspunkt bekommen!“
„Genau, das ist einfach nur dumm.“
„Na ja, sieh es mal so“, meinte Bahe. „Dadurch haben die anderen Spieler noch nicht so einen wahnsinnigen Vorsprung.“
„Sowas kannst auch nur du schön reden, Bahe. Dir ist schon klar, was zwanzig bis dreißig Level an Unterschied in den Fähigkeiten ausmachen?“
„Und du musst immer alles so negativ sehen“, grummelte Bahe.
„Nüchtern, nicht negativ“, erklärte sich Feiying stolz, was Bahe zum Grinsen brachte.
„Aber sag mal, Feiying, ist neunzig Mana wirklich so normal für den Anfang?“
„Na ja, ich muss zugeben in den ersten Leveln meine ganzen Attributpunkte immer nur in meine physischen Stats gepackt zu haben. Ohne sie, hätte mich zu Beginn wirklich jedes Monster gekillt.“
„Ah, dann lässt sich das ja doch relativ schnell ändern.“
„Joar. Aber dir ist schon klar, dass dreihundert Mana für einen quasi Spielanfänger mit Level 0 geradezu utopisch sind, oder?“, erklärte sich Feiying. „Selbst Level 10-Spieler die alle ihre Attributpunkte in den Stat Gelehrtheit stecken, kommen noch nicht mal Ansatzweise an deine Werte heran.“
Bahe konnte nicht anders, als einen Anflug von Stolz zu empfinden. Andererseits hatte er ja schlicht weg Glück gehabt? In Anbetracht seiner eigentlichen Situation mit all ihren merkwürdigen Eigenheiten, schien auch diese Aussage seltsam fehl am Platz…
War er wirklich vom Glück gesegnet?
Bahe vermochte es nicht zu sagen.
„Mein Mana ist so gut wie verbraucht, Bahe. Ich gehe mal wieder farmen, dir auch weiterhin viel Erfolg und lass uns die Tage mal wieder quatschen!“
„Klar, machen wir und dir auch viel Erfolg!“
Unmittelbar auf Bahes Antwort brach die Verbindung auch schon ein weiteres Mal ab. Doch diesmal störte es ihn nicht weiter. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf sein Lauftempo und joggte weiter um Waldenstadt herum.
Irgendwie fühlte er sich wenig später von einem Hochgefühl ergriffen. Es war merkwürdig zu beschreiben. Er hatte schlicht weg, dass Gefühl endlich vorwärts zu kommen. Sowohl in Raoie als auch in seinem wirklichen Leben.
Heute hatte er ein Tutorial abgeschlossen, endlich den Zauber der Schriftrolle genutzt und mit Feiying gesprochen und auch, wenn er die Kampftutorials noch nicht abgeschlossen hatte, wollte er sich nach dem Training zum ersten Mal so richtig dem Levelaufstieg widmen. Eifrig überlegte er, wie er am besten vorgehen könnte, während ihn seine Schritte immer zügiger vorwärts trugen.
[i] Gold Digger = Im Englischen auch ein Slang-Ausdruck, der eine Person beschreibt, die anstrebt durch Beziehungen bzw. Liebschaften an Reichtum zu gelangen.
[ii] Power-Leveln = Ein Computerspieleigener Ausdruck, der ausdauerndes Farmen beschreibt. Sprich, die fortdauernde Bekämpfung von Monstern und erfolgreiche Absolvierung von Questen, um möglichst schnell im Level aufzusteigen.
Ein paar Spielstunden später, sackte Bahe erschöpft neben dem leblosen Körper eines Wildwurzelkaninchens zusammen.
Nach seinem Gespräch mit Feiying hatte er seinen Trainingslauf hinter sich gebracht und war anschließend in die nördlichen Gebiete aufgebrochen, um höchst motiviert Wildwurzelkaninchen zu erlegen. Doch obwohl er inzwischen schon eine gewisse Routine in der Erlegung der Level 0 Kreaturen sein Eigen nennen konnte, war er seinem Ziel der Level-Steigerung noch nicht wirklich näher gekommen.
In seinem Speichergegenstand befanden sich bereits zweiundzwanzig Wildwurzelkaninchen und über den Rasen verstreut, lagen noch sechsundfünfzig weitere Exemplare, die er schlicht weg nicht mehr in seinen Speichergegenstand stopfen konnte.
Das Gemetzel, welches seine Elementare nur äußerst widerwillig hingenommen hatten, brachte ihn jedoch nicht wirklich voran.
„78 Exp für so viele Monster… puh…“, murmelte Bahe vor sich hin.
Der hohe Zeitaufwand rechnete sich natürlich nicht mit dem geringen Gewinn.
Dennoch hatte er sich zunächst dafür entschieden hier her zu kommen. Es ging ihm gar nicht darum viel Exp zu sammeln, sondern vielmehr darum, in der Handhabung mit mehreren Monstern auf einmal klar zu kommen.
Er konnte sich noch zu gut erinnern, wie er übermütig wurde und an seinem ersten Tag in Raoie mitten in eine Horde von Wildwurzelkaninchen gefallen war. Ihm lief bei dem Gedanken daran immer noch ein Schauer über den Rücken.
Manch Anderer mochte jetzt argumentieren, was die Auseinandersetzung mit Level 0-Kreaturen ihm im Kampf gegen Level 3- oder Level 5-Kreaturen bringen sollte. Doch Bahe war klar geworden, das es nicht allein auf die grundlegenden Kampffähigkeiten seines Avatars ankam, sondern vor allem auf die eigene Kampferfahrung, die man sich wiederum nur über immer wiederkehrende Gefahrensituationen aneignen konnte.
Welche Monster waren für den Anfang also besser geeignet, als Level 0-Kreaturen, wenn er selbst noch Level 0 war?
Trotzdem hatte er langsam genug. Zwei Stunden des Gemetzels, inmitten dieser seltsamen Hybridvariante einfacher Kaninchen, fingen allmählich an ihn zu langweilen.
Erst war er noch etwas zögerlich, ob der Gefahren, die seine nächsten Schritte mit sich bringen würden, entschied sich jedoch schließlich es durchzuziehen.
Er machte sich auf den Rückweg zum Spawnpunkt der Stadt, dem großen Marktplatz von Waldenstadt. Am einen Ende spawnten all die neu eingeloggten Spieler, die gerade erst mit Raoie begannen und am anderen Ende des Platzes riefen auch heute wieder viele Raoie-Neulinge nach Verstärkung, indem sie die positiven Eigenschaften ihrer Gruppen lautstark anpriesen.
„Wir, die Reißwölfe, suchen noch einen Heiler und Schildschwertkämpfer oder jemand mit einer anderen Klasse, der als Tank in der vordersten Angriffsreihe stehen kann! Geplant ist ein Besuch der Level 10 Monstergefilde im Süden Waldenstadts!“
„Die Arschversohler suchen noch einen Feuermagier als Angriffsunterstützung! Wir sind bereit ihm immer die erste Wahl bei der Beute zu überlassen!“
„Neulinge wollen das erste Mal auf die Jagd gehen! Wir nehmen jeden auf, egal welches Level! Sind selbst Level 0-Level 3!“
Es war schwer bei der Fülle der Angebote den Überblick zu behalten. Doch das Meiste war für Bahe nutzlos. Eine Gruppe voller Spielanfänger würde ihn nur behindern und ihm jegliches leveln erheblich erschweren. Während die Anforderungen vieler anderer Gruppen zu spezifisch oder zu hoch angelegt waren.
Es dauerte eine Weile, bis er sich durch die meisten Gruppierungen durchgearbeitet hatte. Doch schließlich blieb er bei einem Level 26 Bogenschützen hängen.
Bahes Fähigkeit Überprüfen war an dieser Stelle wirklich Gold wert. Da er sich für die gegenläufige Fähigkeit Identifizieren entschieden hatte, würde er Überprüfen mit Level 5 verlieren. Vorher konnte er sie jedoch kostenfrei nutzen. Was ihm bei der Einschätzung der Gruppe rund um den Bogenschützen, sehr geholfen hatte.
Es gab einen Level 19 Berserker, zwei Speerträger, beide waren Level 22, einen noch ganz frischen gebackenen Priester mit Level 11, vier Magier, die von Level 5 bis Level 16 ragten und fünf Level 7 bis Level 18 Schwertkämpfer, die enorme Schilde mit sich trugen.
Einer von ihnen hatte zudem die spezialisierte Klasse der Paladine angenommen. Paladine waren eine Ritterklasse, die sich dem Schutz des Klerus verschrieben hatten und im Gegenzug über den Segen der jeweiligen Gottheit verfügten. Bahe wusste nur zu gut, dass man solch einen Segen nicht unterschätzen sollte. Der Paladin mochte nur Level 13 sein, konnte es aber wahrscheinlich ohne Probleme mit dem Level 18 Schwertkämpfer aufnehmen, der bisher nur die einfache Klasse eines Nahkampfsoldaten angenommen hatte.
Außerdem gab es neben dem Gruppenanführer noch acht weitere Bogenschützen, die sich vom Level stark unterschieden. Es gab zwei Neulinge mit Level 2, während die Level der restlichen Schützen von Level 8 bis Level 20 ragten.
Auffallend war, dass der Gruppenanführer besonders eng mit den Speerträgern und dem Level 20 Bogenschützen zusammen stand. Nach Bahes Einschätzung kannten die vier sich bereits, was kurze Zeit später durch die Schreie des Anführers auch bestätigt wurde.
„Wir sind vier Mitglieder der Wolfsunion und heißen heute zu unserer ersten Monsterjagd jeden willkommen, der ganz entspannt ein paar Level farmen möchte! Wenn ihr zu uns stoßen wollt, dann beeilt euch, wir haben nur noch acht Plätze frei! Eure Klasse als auch euer Level sind vollkommen egal. Uns geht es nur um ein Bisschen Zeitvertreib, bis unser Gildenanführer online kommt!“
„Hey, hat er gerade Wolfsunion gesagt?“
„Ja, ich hab’s auch gehört!“
„Das ist doch eine der größten Gilden in Waldenstadt!“
„Nicht nur eine der Größten! Es geht das Gerücht um, dass sie sogar die Mächtigste in ganz Waldenstadt ist! Ihr Gildenanführer ist schon Level 39, obwohl er kaum am Leveln ist!“
Bahe zögerte nicht lange, als er das plötzliche Getuschel in seiner Umgebung bemerkte.
„Ich würde gerne mitkommen“, rief er lautstark und lief auf die Gruppe zu.
„Willkommen bei uns“, meinte der Gruppenanführer mit einem Lächeln. „Welche Waffe führst du bei dir?“
„Ähm…“, Bahe konnte nur verlegen sein Messer empor halten.
„Ah, ein Dieb“, nickte der Bogenschütze und meinte aufmunternd. „Dich können wir gut gebrauchen. Du kannst nachher die Monster einzeln zu uns locken.“
„Also, da hast du etwas-“, wollte Bahe gerade den Bogenschützen aufklären.
„Ach, keine Sorge“, meinte der Bogenschütze Augen zwinkernd. „Ich habe sofort gesehen, dass du noch relativ neu dabei bist. Dein Diebesmesser ist schon relativ abgenutzt und von eher schlechter Qualität. Aber du wirst es für den Anfang kaum brauchen und wer weiß? Vielleicht finden wir ja heute noch einen besseren Ausrüstungsgegenstand für dich.“
„…“, etwas sprachlos nickte Bahe nur und wurde plötzlich von einem Ansturm anderer Spieler zur Seite gedrückt.
Scheinbar hatte er es seiner schnellen Reaktionsfähigkeit zu verdanken, dass er einen der freien Plätze bekommen hatte. Nachdem klar geworden war, um wen es sich bei den vier Gildenmitgliedern handelte, hatte sich plötzlich eine regelrechte Menschentraube um den Bogenschützen gebildet, voll mit Spielern, die sich die Gelegenheit mit der Wolfsunion auf die Jagd zu gehen, nicht entgehen lassen wollten.
Der Speerträger, vor dem Bahe danach gelandet war, sprach ihn mit einem wissenden Grinsen, ob Bahes Beobachtung an: „Tja, so ist das immer bei uns, wenn wir unsere Gilde erwähnen. Aber du hast ja Glück gehabt und bist dabei. Du kannst mich Fel nennen. Gibst du mir auch deinen Nickname? Dann kann ich dich in unsere Truppe einladen.“
„Sicher, ich heiße Anael Lerua.“
„Ok, gib mir einen Moment“, meinte der Speerträger und öffnete ein Fenster vor ihm, indem Bahe eine digitale Tastatur erkannte. Der Speerträger begann eifrig zu tippen und sagte dann: „So, damit haben wir’s.“
Prompt öffnete sich vor Bahe ein Benachrichtgungsfenster:
Faster lädt dich ein, seinem Team beizutreten. Willst du beitreten?
Ja / Nein
Bahe nahm die Einladung natürlich sofort an. Doch da öffnete sich direkt noch ein weiteres Fenster:
Du bist im Begriff zum ersten Mal einem Team beizutreten. In Raoie gibt es verschiedene Offenbarungsgrade, die bei einem Teambeitritt oder einer Partnerschaft von Belang sind.
Wähle zwischen folgenden Offenbarungsgraden:
Erste Bekanntschaften
Wähle diese Option, wenn nur dein Level und dein Nickname angezeigt werden soll.
Gilde oder Clan
a) Wähle diese Option, wenn dein Nickname, Level und deine Berufsklasse offenbart werden sollen.
b) Wähle diese Option, wenn du deinen Gilden- oder Clanmitgliedern deinen Nickname, dein Level, deine Berufsklasse, sowie deine Fähigkeiten offenbaren möchtest.
c) Wähle in Ausnahmefällen diese Option, wenn eine Quest es dir unmöglich macht, deine Berufsklasse zu offenbaren. Hier werden nur dein Nickname und dein Level offenbart.
Das soll Freundschaft sein?
Wähle diese Option, wenn du deinen Freunden nur deinen Nickname und dein Level offenbaren möchtest.
Wahre Freundschaft
Wähle diese Option, wenn du deinen Freunden deinen Nickname, dein Level und deine Fähigkeiten offenbaren möchtest.
Liebesbeziehung
Wähle diese Option, wenn du deinem Partner dein gesamtes Charakterprofil offenbaren möchtest, inklusive sämtlicher klassenspezifischer Tipps.
Ehe
Wähle diese Option, wenn du deinem Partner dein gesamtes Charakterprofil offenbaren möchtest und zudem sämtliche Speichergegenstände und Ressourcen (Geld, Nahrung, Wasser und Ähnliches) mit deinem Partner teilen möchtest.
Diese Option kann nur während der Zeremonie der Eheschließung ausgewählt werden!
Er wählte schnell den Grad erste Bekanntschaften aus und schloss auch dieses Fenster wieder.
„Gut“, nickte der Speerträger. „Stell dich ruhig noch einen Moment zu den anderen. Wir müssen noch eben die anderen sieben Plätze füllen, bevor es los geht.“
Bahe nickte nur und stellte sich zu seinen restlichen Teammitgliedern, von denen ihm zwar einige zu nickten, ansonsten aber für sich blieben.
Für Bahe war das vollkommen in Ordnung. Er nutzte die Zeit lieber, um nachzudenken und um sich mit dem neuen Teamprofil auseinander zu setzen.
Es war schon merkwürdig, dass sie ihn aufgenommen hatten, ohne nach seiner Berufsklasse oder Level zu fragen. Bahe hatte genau aufgepasst, keiner der Gildenmitglieder hatte die Fähigkeit Überprüfen eingesetzt und selbst nachdem er ins Team aufgenommen wurde, hatte niemand ihn auf sein geringes Level angesprochen. Dabei war es nun für jedermann im Teamprofil einsehbar.
Das Teamprofil war im Grunde einer Übersicht sämtlicher Teammitglieder, die mit Nickname, Level und teils auch Berufsklasse in einer Tabellenübersicht dargestellt wurden. Per Kommando konnte man es jederzeit einsehen oder schließen. Gruppenführer war der Level 26 Bogenschütze, dessen Nickname einfach nur Lef lautete. Die anderen Unionsmitglieder waren stellvertretende Gruppenführer, denen die restlichen Teammitglieder untergeordnet waren. Er selbst war scheinbar unter dem Kommando von Fel.
Lef und Fel? Waren die Beiden Brüder oder beste Freunde?
Amüsiert schüttelte Bahe den Kopf.
Verrückter Weise schien der Gruppenführer ihn für einen Dieb zu halten. Bahe dachte jedoch gar nicht daran, ihn eines Besseren zu belehren. Er konnte zwar nachvollziehen, dass man durch sein bescheidenes Messer direkt an einen Dieb mit geringem Level dachte, aber waren die Gildenmitglieder wirklich so sehr von sich eingenommen, dass sie glaubten, gegen jede Art von Monster bestehen zu können, ohne die Fähigkeiten ihrer Teammitglieder zu kennen?
Es mochte zu der Tatsache passen, dass sie nur entspannt farmen wollten. Aber Bahe fragte sich dennoch, wie so hohe Spieler mit solch einer Sorglosigkeit agieren konnten.
Die restliche Wartezeit nutze er dazu sein Team noch einmal in Ruhe in Augenschein zu nehmen.
Die Anderen waren mehr oder weniger wahllos zusammen gewürfelt. Hier und da, handelte es sich offensichtlich um Freunde, die einfach eine Gruppe suchten, mit denen sie auf sichere Art und Weise farmen konnten, ohne sich besonders anstrengen zu müssen.
Während die letzten Neuzugänge offensichtlich allesamt Spieler waren, die sich einen größtmöglichen Erfolg durch die vier Gildenmitglieder der Wolfsunion erhofften.
Nachdem die Truppe mit dreißig Leuten komplett war, gab Lef einen kurzen Überblick über die geplante Aktion. Sie würden etwa fünfzehn Kilometer südlich an den ersten Ausläufern des Lungagebirges Jagd auf eine Bergbärenkolonie machen.
Die Bären gaben laut Aussagen der Wolfsunionsmitglieder eine ganz gute Beute und für ihre Felle konnte man, je nach Zustand, bis zu eine Silbermünze verlangen.
Allein diese Tatsache sorgte für einen regelrechten Aufruhr zwischen den Raoie Neulingen unter den Anwesenden.
Bahe blieb jedoch skeptisch. Die meisten anderen Gruppenmitglieder vergaßen, dass diese Bergbären im Durchschnitt Level 15 waren, ganz zu schweigen von den größeren Exemplaren, die sich Bahes Vermutung nach, bestimmt noch einige Level darüber befanden.
Außerdem war er bei dem Namen der Kreaturen sofort hellhörig geworden. Mit den Bergbären hatte sich TNL etwas einfallen lassen, um dem enormen Spielerandrang Herr zu werden.
Fakt ist, dass man Monster und andere Kreaturen bezwingen musste, um im Level aufzusteigen. Es musste also ausreichend Nachschub geben und so wurden auch Lebensformen geschaffen, die es so, oft noch nicht gegeben hatte.
Bären lebten in der Realität meist eher allein, was es für Spieler enorm erschwerte ihrer habhaft werden zu können. Deswegen hatte TNL dafür gesorgt, dass es in Raoie auch große Rudel von Bären gab, hier unter dem Namen der Bergbären.
Sie waren immer noch mächtige Kreaturen, auch wenn sie keinen Vergleich zu den Einzelgängern ihrer Art darstellten.
Das Problem lag viel mehr darin, dass eine Bergbärenkolonie mindestens über fünfzig Exemplare verfügte. Eine Größenordnung, die für ihre unerfahrene und zusammengewürfelte Truppe einem Todesurteil gleich kam.
Aber selbst die Frage, wie sie gegen solch eine Macht antreten würden, stellte sich nur, wenn sie den Weg dorthin überlebten… Die ersten Ausläufer des Lungagebirges befanden sich bereits mitten in Level 20 und Level 30 Jagdgebieten….
Was dachten sich die Gildenmitglieder der Wolfsunion bloß dabei in solch eine Region aufzubrechen?
Bahe kam nicht umhin zu vermuten, dass diese Aktion keineswegs so entspannt verlaufen würde, wie die Gildenmitglieder es die Mehrheit glauben lassen wollten.
Seine sämtlichen Alarmglocken schrillten. Lef und die Anderen mussten etwas planen, so viel war sicher. Die Frage war nur, ob er rechtzeitig dahinter kommen würde…
Kurz überlegte er sogar, ob er die Gruppe lieber verließ, aber in Anbetracht der Tatsache, dass er eh nur Level 0 war, hatte er kaum etwas zu verlieren. Im Gegenteil, er hatte viel mehr zu gewinnen, wenn er die Situation richtig ausnutzte.
Zwanzig Minuten später, verlief die Wanderung zum Jagdgebiet schon wesentlich aufregender als dem einen oder anderen Spieler lieb war.
Ihre Gruppe war von einem Rudel Wölfe überrascht worden und zwei ihrer Spieler erlitten so schwere Verletzungen, dass sie in kürzester Zeit verblutet wären, wenn sie keinen Priester dabei gehabt hätten.
Ähnliche Situationen wiederholten sich im Laufe der nächsten Stunde noch mehrere Male, was dem Priester ein verdammt gutes Training gab. Tatsächlich war er bereits ein Level aufgestiegen bevor sie auch nur die Hälfte der Strecke hinter sich hatten.
Bahe hielt sich die meiste Zeit weitestgehend zurück und farmte passiv, durch die Teamzugehörigkeit, Erfahrung.
Hier konnte er die wichtigste Funktion des Teams, das sämtliche, erspielte Erfahrung unter allen Teammitgliedern aufgeteilt wurde, vollends ausnutzen. Natürlich hing der Anteil der Erfahrung auch von der Beteiligung im Kampf ab, was erklärte, warum der Priester als Einziger bereits ein Level hinzu gewonnen hatte.
Für die, im Level hohen, Spieler wiederum, waren die Erfahrungswerte bei diesen Plänkeleien kaum erwähnenswert.
Gute neunzig Minuten nach dem Start ihrer Wanderung veränderte sich die Situation. Die Gildenmitglieder versammelten sich auf einmal in regelmäßigen Abständen und schienen etwas zu besprechen, ehe sie die Gruppe zu immer neuen Richtungswechseln anleiteten. Bahe und der Rest liefen daraufhin in merkwürdigen Schlangenlinien und Zickzackrouten, begegneten jedoch plötzlich keinen Monstern mehr. Während einige Neulinge des Teams nervös eine Diskussion darüber anfingen, woran es wohl liegen könnte, war sich Bahe ziemlich sicher, dass die Wolfsunionsmitglieder eine Karte oder etwas Ähnliches haben mussten, was diesen Weg genauestens beschrieb.
Die Frage, wie sie ihre Destination lebend erreichen sollten, war somit geklärt. Jetzt blieb ihm nur noch heraus zu finden, was die die Lef und seine Freunde wirklich vor hatten.
Entschlossen nahm er die Beine in die Hand und stellte sich neben eins der schweigsamsten Teammitglieder.
„Hallo“, begrüßte Bahe den Berserker, der mit Level 19 den höchsten Rang unter allen Teammitgliedern hatte, die nicht zur Wolfsunion gehörten.
„…“, der Berserker sah ihn für einen Moment nur stumm, ehe er wieder gerade aus blickte und ihn ignorierte.
„Ich nehme an, dir ist klar, dass die Gildenmitglieder da vorne keine Jagd auf Bergbären machen wollen, oder?“
Ein Mundwinkel zuckte abschätzig im Gesicht des Berserkers.
„Dachte ich es mir doch“, stellte Bahe fest. „Hast du Interesse an einem Bündnis, für den Fall, dass es nötig sein sollte?“
„Mit einem Level 0-Spieler? Nein, danke“, meinte der Berserker trocken.
„Bist du dir sicher?“
„Ja.“
„Auch, wenn ich die restlichen Teammitglieder auf unsere Seite ziehe?“
„Auch dann nicht! Und jetzt lass mich in Ruhe.“
Bahe zuckte nur die Schultern und winkte ab, während er sich zurück an das Ende der Gruppe reihte.
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er jedoch, wie sich die Minen der Level 5- und Level 9-Bogenschützen hinter dem Berserker verdüsterten. Wie beabsichtigt hatten sie alles mitbekommen.
Einen Grundstein für allgemeine Skepsis hatte er somit erfolgreich gelegt. Jetzt hieß es warten…
In den folgenden Minuten folgte das Team weiter den Anweisungen der Wolfsunionsmitglieder und bahnte sich so einen Weg durch ein Gelände, dass Bahe ansonsten niemals betreten hätte. Unterschwellig jedoch, konnte Bahe zu seinem Vergnügen beobachten, wie sich verschiedene Gruppen rund um die beiden Bogenschützen bildeten.
Dabei hatte der Level 9-Bogenschütze ganz klar das bessere Los gezogen, er schaffte es nahezu alle Spieler zu rekrutieren, die ein höheres Level besaßen als er selbst. Die Spieler unter seinem eigenen Level ignorierte er vollends. Bahe konnte darüber nur den Kopf schütteln. Solche Arroganz bereits bei Level 9?
Entsprechend musste der Level 5-Bogenschütze mit dem Rest vorlieb nehmen, hatte dafür jedoch mehr Beteiligte in seiner Gruppe.
Bahe selbst, war sogar von beiden Gruppierungen angesprochen worden. Ob es vielleicht damit zu tun hatte, dass er für die Teilung des Teams ausschlaggebend gewesen war?
Letztlich war es ihm egal. Er hatte einfach beiden Parteien zugesagt, wenn auch jeweils so, dass die andere Gruppe keinen Verdacht schöpfte.
Er hatte solche Situationen schon viel zu oft erlebt, um noch ein schlechtes Gewissen bei den Auswirkungen seines Handelns zu verspüren. Äußerlich wirkten die beiden Gruppierungen sehr geeint, doch sobald ein Problem auftrat oder ein besonderes Artefakt auftauchte, würden sich die einzelnen Mitglieder gegeneinander wenden. Das entstehende Chaos konnte Bahe dann nutzen, um seine eigenen Ziele zu verfolgen.
Es dauerte noch einmal zwanzig Minuten, ehe sie an ihrem Bestimmungsort ankamen. Vor ihnen eröffnete sich eine große, verwilderte Wiesenfläche, die an den ersten Ausläufern des Lungagebirges endete. Massive, dunkle Felsen erhoben sich vor ihnen aus dem saftigen Grün und ragten allein in ihren Anfängen schon an die fünfzehn Meter empor.
Etwas zur Rechten des Teams, befand sich offensichtlich der Eingang zu einer Höhle und ein Bär passte auf zwei Jungtiere auf, die vor dem Eingang der Höhle im Gras herum tollten.
Das waren wohl die Bergbären, dachte Bahe und nahm sie ein Bisschen genauer in Augenschein.
„Überprüfen“, gab er den Befehl, der seine Vermutung bestätigte.
Bergbär
(weiblich)
Level 15 HP: 2989/2989
Angriff: 299 Verteidigung: 299
Fähigkeitsstärke: 0 Magieresistenz: 299
Beschreibung: Bergbären, eine hauptsächlich friedliebende Gattung der Bären, die im Gegensatz zu ihren Verwandten in einer Art Rudel zusammen leben. Durch ihr Leben im Rudel haben sich ihre Überlebensfähigkeiten beachtlich zurück gebildet. Dennoch sollte man nie vergessen, dass es sich bei ihnen noch immer um beachtliche Kreaturen handelt.
Besondere Fähigkeiten: Bergbären sind Rudeltiere. Werden sie angegriffen, eilen sie einander zu Hilfe. Ihre Verteidigung und Magieresistenz steigt pro verbündeten Bergbär um 1.
„Verdammt…“, fluchte Bahe leise vor sich hin. Er war absolut kein Gegner für solch ein ausgewachsenes Exemplar. Wie zum Henker sollte er mit seinem minimalen Angriff eine Verteidigung von fast 300 durchbrechen?!
Schnell überprüfte er auch noch die beiden Jungtiere:
Bergbär
(Jungtier)
Level 7 HP: 1377/1377
Angriff: 138 Verteidigung: 138
Fähigkeitsstärke: 0 Magieresistenz: 138
Beschreibung: Bergbären, eine hauptsächlich friedliebende Gattung der Bären, die im Gegensatz zu ihren Verwandten in einer Art Rudel zusammen leben. Durch ihr Leben im Rudel haben sich ihre Überlebensfähigkeiten beachtlich zurück gebildet. Dennoch sollte man nie vergessen, dass es sich bei ihnen noch immer um beachtliche Kreaturen handelt.
Besondere Fähigkeiten: Die Jungtiere der Bergbären stehen unter besonderem Schutz des Rudels. Werden sie angegriffen, steigt die Verteidigung aller Bergbären in der Nähe pro Jungtier um 2.
„…“, Bahe konnte nur den Kopf schütteln, sogar die Kinder der Bären konnten ihn problemlos auseinander nehmen.
Gut, er war Level 0 und hatte keine vernünftige Waffe, aber der Levelunterschied war dennoch viel zu enorm, als dass eine kämpferische Aktivität seinerseits etwas bringen würde. Bahe blieb nur übrig sich so unscheinbar wir möglich zu verhalten, um nicht schon in den ersten Sekunden drauf zu gehen.
„So, wie ihr seht, sind wir endlich angekommen. Die Höhle dort vorne ist ihr Territorium, in das sie sich in der Nacht zurückziehen. Die Bären haben ein relativ hohes Level, deswegen müssen wir taktisch vorgehen, um sie ohne Verluste erlegen zu können“, erklärte Lef und deutete auf ein paar Bäume in ihrer Umgebung. „Die ersten drei Bären locken wir hierher. Die Fernkämpfer sollten sich auf die dicken Äste der umliegenden Bäume schwingen, die Nahkämpfer bleiben am Boden und sorgen für genügend Ablenkung, damit unsere Leute, die den meisten Schaden raus hauen, freie Bahn haben. Priester, wo bist du?“
„Ich bin hier“, meldete sich der einzige Heiler des Teams enthusiastisch.
„Deine einzige Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass unsere Nahkämpfer nicht sterben. Ohne sie, werden die Fernkämpfer in Stücke gerissen. Kriegst du das hin?“
„Ich gebe mein Bestes“, antwortete der Priester, der nun doch etwas nervös wurde, als er begriff, dass die gesamte Operation von ihm abhing.
„Keine Sorge“, meinte Lef mit einem selbstbewussten Lächeln. „Wir von der Wolfsunion werden schon auf euch aufpassen.“
Bahe verdrehte ob der Theatralik nur die Augen, während er sich versuchte weiter Richtung Büsche zu schieben.
„So… wie heißt er noch mal…“, hörte er Lef murmeln, der gerade das Teamprofil geöffnet hatte und ahnte augenblicklich Böses.
„Ah, da ist er ja! Anael Lerua! Unser einziger Level 0-Spieler! Wo steckst du?“
Innerlich fluchte Bahe, wieso musste dieser Lef sich ausgerechnet an ihn erinnern?!
„Hier“, meldete er sich schließlich resigniert zu Wort.
„Ah, sehr gut“, sagte Lef und zog bei Bahes Gesichtsausdruck die Brauen hoch, ehe er zu grinsen begann. „Hat’s dich mit der Angst gepackt, nachdem du gesehen hast, über welch einen Angriff die Bären verfügen?“
Bahe nickte einfach, um mitzuspielen.
„Du musst dir keine Sorgen machen. Ich verlange nichts von dir, was deinen sicheren Tod bedeuten würde“, erklärte Lef mit einem Augenzwinkern.
So so… nichts was meinen sicheren Tod bedeuten würde, ja?
Diese Aussage konnte man auslegen wie man wollte, dachte Bahe. Entschied sich aber nicht weiter darauf einzugehen.
„Da du im Kampf selbst noch nutzlos bist, wird es deine Aufgabe sein, die drei Bären zu uns zu locken. Wenn du es sogar schaffst, sie einzeln hierher zu locken, wäre es perfekt!“
Bahe wollte noch widersprechen, doch Lef kam ihm zuvor: „Mit deiner Diebesklasse bist du für den Job perfekt geeignet und jetzt leg los, während der Rest von uns Stellung bezieht.“
Daraufhin wandte sich Lef schon von ihm ab und gab den Nahkämpfern noch Anweisungen, wie sich zunächst zu verstecken hatten.
Na toll, dachte Bahe zerknirscht. Er konnte jetzt kneifen, dass würde aber höchst wahrscheinlich mit seinem Rauswurf aus dem Team enden. Was im Anbetracht des Rückwegs auch seinem Todesurteil gleich kam. Oder aber, er würde es durchziehen und probieren die Bären anzulocken.
Wieso gab es in solchen Situationen nie eine dritte Möglichkeit?
Behutsam arbeitete er sich während seiner innerlichen Auseinandersetzung vorwärts und versuchte möglichst keine schnellen oder ruckartigen Bewegungen zu machen.
Er besaß keine Fähigkeiten die einer vernünftigen Tarnung oder gar Unsichtbarkeit gleich kamen, was im Endeffekt bedeutete, dass er sich den Bären durch das hohe Gras der Wiesenflächen nähern musste, wo es überhaupt keine Deckung gab.
Als er ungefähr die Hälfte der Strecke, mehr robbend und auf allen Vieren, als gehend, zurück gelegt hatte, tauchte plötzlich Limona neben ihm auf und rief aus Leibeskräften: „Oh, sind die süß!“
Vor Schreck und gleichzeitiger Verzweiflung warf Bahe sich vollends zu Boden, in der Hoffnung, dass die Bären nichts mitbekommen hatten oder zumindest seine Position nicht ausmachen konnten.
„Kannst du verflucht noch mal die Klappe halten?!“, zischte er Limona wütend an.
„Was erlaubst du dir? Wie kannst du es wagen so mit mir zu sprechen!“, ereiferte sich Limona bereits, als Bahe seinen Fehler leider zu spät bemerkte und schnell hinterher setzte: „Liebe Limona, wärst du bitte etwas leiser, damit die süßen Bärchen dort vorne mich nicht bei lebendigen Leibe fressen?“
„Ha, wieso nicht gleich so?“, ließ Limona die Frage hochnäsig ausklingen und hockte sich neben Bahe.
„Wo kommst du denn auf einmal her?“, verlangte Bahe zu wissen.
„Wir waren doch die ganze Zeit neben dir in den Wäldern. Du weißt doch, mit Menschen haben wir es nicht so. Besonders nicht mit solch hinterhältigen Bastarden, wie die dort hinten es sind.“
Bahe zog die Brauen hoch? Limona hatte sie bereits durchschaut?
„Die haben doch allen Ernstes eine magische Karte benutzt, um all den liebevollen Kreaturen der Wälder auszuweichen… Dabei hätten sie wirklich eine Mahlzeit verdient. Eine Schande ist das…“
Soviel zum Thema durchschaut…
Aber manchmal fragte sich Bahe wirklich, auf wessen Seite Limona eigentlich stand…
„Ist Brocken auch in der Nähe?“
„Ja, sicher. Er ist schon vor gelaufen.“
„Wie meinst du da-“, wollte Bahe zu einer Frage ansetzen, als er eine Mischung aus Fauchen und Brüllen vernahm, dass ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Mit einem Ruck hob er den Kopf und entdeckte Brocken, wie er auf dem Rücken von einem der Jungtiere saß, welches in wahnwitzigem Tempo auf ihn zu raste. Das, die Bärin und das andere Jungtier, sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatten, registrierte er nur noch am Rande.
„Tja, was soll ich dazu sagen…“, nickte Limona leichtfertig, mit in die Hüfte gestemmten Händen. „Bären sind Brockens Lieblingstiere.“
Bahe schaffte es nicht mal mehr die Augen zu verdrehen. Zu einem anderen Zeitpunkt und mit genügend Abstand, hätte Bahe vielleicht über die Situation gelacht, aber im Moment war ihm so gar nicht danach zu Mute.
Seine Deckung vollkommen fallen lassend, rappelte er sich auf und sprintete in Richtung seiner Teammitglieder.
Die ganze Zeit verfolgte ihn dabei die seltsame Mischung aus dem Fauchen und Brüllen der Bären und den Freudeschreien seines Elementars Brocken. Er riskierte einen Blick über die Schulter und starrte ungläubig seinen Elementar an, der sich in weltbester Torero-Manier bemühte, auf dem Rücken des Bärenjungtiers sitzen zu bleiben.
Das Bärenjunge dachte jedoch gar nicht daran, sich dergleichen gefallen zu lassen und versuchte ununterbrochen und im vollen Lauf, Brocken abzuschütteln.
Zudem bemerkte Bahe zu seinem Schrecken, dass dieses Bärenjunge verdammt schnell näher kam! Ohne noch länger einen Gedanken an etwas anderes zu verschwenden, konzentrierte er sich stattdessen auf die Flucht und rannte seinen Teammitgliedern entgegen.
In seiner Panik bemerkte er jedoch erst viel zu spät, dass selbst die Nahkämpfer verschwunden waren.
Hatten diese Bastarde sich ernsthaft versteckt? Wollten sie ihn umbringen?!
Seine Gedanken rasten, während Bahe fieberhaft nach einer Rettung suchte. Bäume hochklettern brachte nichts, Bären konnten hervorragend Bäume erklimmen. Aber auf Dauer würde er den Tieren nicht entkommen…
Letztlich fiel ihm einfach keine Lösung ein und so lief er mit voller Geschwindigkeit durch das Gebiet, in dem sein Team zuvor noch gestanden hatte und rannte geradewegs in den Wald hinein.
Das Fauchen und Brüllen hinter ihm wurde plötzlich lauter, doch Bahe wagte es nicht sich noch einmal umzudrehen. Im schnellsten Tempo, dass er zu Stande brachte, hechtete er durch den Wald und dankte den Himmeln, dass Fenrir ihn gezwungen hatte, jeden Tag in Raoie laufen zu gehen. Ohne das Training, wäre er schon längst zusammengebrochen.
Etwa fünfhundert Meter später, die Bahe allerdings wie eine Ewigkeit vorkamen, verstummten die Geräusche beinahe komplett, was Bahe veranlasste sich umzudrehen und Brocken auf seinem erschöpften Jungtier sitzen zu sehen. Von der Mutter und dem Geschwistertier fehlte jede Spur.
Brockens Jungtier hechelte nach Atemluft und war erschöpft zusammengebrochen. Dennoch wollte Bahe lieber nicht zu nah an diese Kreatur heran gehen.
Ungläubig blickte er seinen Elementar an, der sich gerade im Abstieg vom Bärenjungen machte und dabei drein schaute, als wäre es die normalste Sache der Welt.
Aus sicherem Abstand fragte er Brocken frustriert: „Was hast du dir dabei gedacht?!“
Brocken sah kleinlaut zu ihm herüber und meinte dann: „Ich wollte… wenigstens ein Exemplar retten… Ich weiß, dass du jagen wirst… das du jagen musst… aber ich wollte nicht, dass die ganze Bärenkolonie stirbt…“
Selbst in seinem genervten Zustand musste Bahe sich zusammen reißen, um nicht dem süßen Bild nachzugeben, dass Brocken mit seinen, vor Verlegenheit triefenden, Knopfaugen und am Boden scharrenden Füßen abgab.
„Nächstes Mal warne mich bevor du sowas machst!“, war schließlich alles was er raus brachte und Brocken nickte schnell.
„Was machen wir jetzt mit dem Bärenjungen?“, verlangte Bahe aber anschließend noch zu wissen. Es nicht für Erfahrung töten zu dürfen, war eine Sache, er war sich sowieso nicht sicher, ob er inzwischen überhaupt noch dazu in der Lage gewesen wäre. Das erschöpfte Bärenjunge wirkte so niedlich, dass es Bahe zunehmend schwer fiel, Abstand zu halten.
Aber er hatte auch keinerlei Interesse es noch zusätzlich durchfüttern zu müssen. Dabei fiel ihm ein, was aßen seine Elementare eigentlich? So realistisch wie Raoie nun mal war, müssten die Beiden doch auch etwas zu sich nehmen…
Scheinbar wurde es höchste Zeit, dass sich Bahe mal ganz genau mit ihnen auseinander setzte.
„Ich werde mich um ihn kümmern… und aufpassen… dass er keinem was tut.“
„Ihn?“
„Ja, es ist ein Junge“, nickte Brocken eifrig.
Wieso hörte sich dieser Satz so seltsam an? Ein männliches Tier als Junge zu bezeichnen… andererseits handelte es sich bei seinem Elementar ja auch um ein nicht menschliches Wesen. Bahe verwarf die verwirrenden Gedanken und wandte sich noch einmal an Brocken: „Und ich muss auch ganz sicher keine Nahrung für den jungen Bären auftreiben?“
„Nein, ich werde mich gut um Balu kümmern.“
„Balu?!“
„Ja… er braucht doch einen Namen!“
„Ja, aber Balu? Vom Dschungelbuch? Ernsthaft?!“
„Ich weiß nichts… vom Dschungel…buch… aber Balu hört sich doch schön an.“
Bahe schüttelte nur abwinkend den Kopf, was TNL sich immer einfallen ließ. Scheinbar wurden all die alten Meisterwerke nur zu gerne auf die Schüppe genommen.
„Mache nur, wie du willst“, meinte Bahe amüsiert und lächelte seinen Elementar an. „Solange ich ihm kein Futter besorgen musst, kannst du ihn solange behalten wie du willst.“
„Wirklich?“
„Wirklich.“
„Danke!“, rief Brocken begeistert, mit einem dicken Grinsen im Gesicht.
Du hast die Gefühle deines Elementars berücksichtigt und ihm einen großen Wunsch erfüllt!
Treue von Brocken +10
Wow… +10 bei Brockens Treue war eine Menge! Dachte Bahe nun ebenfalls begeistert, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen.
„Ich muss jetzt schnell zu meinem Team zurück“, meinte Bahe.
„Ist es in Ordnung, wenn ich hier bei Balu bleibe und auf ihn aufpasse?“, fragte Brocken besorgt.
„Schon in Ordnung. Im Kampf wärst du wahrscheinlich eh keine große Hilfe oder?“
Brocken nickte erleichtert und begann das Bärenjunge zu streicheln, während Bahe die Beine in die Hand nahm und sich auf den Rückweg machte.
Der unerwartete Treuegewinn von Brockens Seite schwirrte ihm noch immer durch den Kopf. Ein weiterer Punkt, dem er sobald wie möglich auf den Grund gehen musste.
Es dauerte zwei Minuten, ehe er sich durch all die Büsche und das Gestrüpp zurück zum restlichen Team gekämpft hatte. Die anderen Spieler versetzten der Bärenmutter gerade den Todesstoß, als sie endlich wieder in Bahes Sichtweite kamen.
Dein Team hat erfolgreich eine Bärin erlegt!
Durch den enormen Levelunterschied erhöht sich deine gewonnene Erfahrung erheblich!
Erfahrung +150%!
+5Exp
„Was?! Nur 5Exp?!“, starrte Bahe ungläubig auf das Benachrichtigungsfenster. Dabei wurden ihm doch sogar noch 150% an Erfahrung oben drauf gerechnet! Ansonsten hätte er nur 2 Exp bekommen…
Deprimiert erinnerte er sich, dass die Erfahrung unter den Teammitgliedern fair aufgeteilt wurde. Also... brachte ihm ein Bär in etwa 60Exp ein, dachte Bahe.
An sich eine beachtliche Zahl im Vergleich zu den Wildwurzelkaninchen, nur leider würden noch Wochen vergehen, ehe er alleine den Kampf mit diesen Level 15 Monstern aufnehmen konnte.
Vorerst konnte er also nur im Team der Erfahrung nachjagen. Wobei 5Exp pro erlegten Bär grundsätzlich schon eine enorme Verbesserung darstellten. Er durfte auch nicht alles nur schwarz sehen.
Bevor Bahe wieder in den Kreis seiner Teammitglieder trat, schlachteten diese auch noch das Bärenjunge ab, so dass sich ein weiteres Fenster vor Bahe öffnete:
Dein Team hat erfolgreich ein Bärenjunges erlegt!
Durch den Levelunterschied erhöht sich deine gewonnene Erfahrung!
Erfahrung +70%!
+2Exp
Immerhin gab es auch hier mehr Erfahrung, als wenn er Wildwurzelkaninchen alleine jagte, stellte Bahe nickend fest und trat anschließend zu seinen Teammitgliedern.
„Ah, da ist unser Lockvogel ja wieder!“, rief Lef wohlwollend und meinte: „Scheinbar ist ja alles gut gegangen. Wir haben uns schon Sorgen gemacht!“
Ja ne, ist klar, dachte Bahe innerlich die Augen verdrehend.
„Du hast für einen Level 0-Spieler einen guten Job gemacht, wo hast du denn das zweite Bärenjunge gelassen?“
„Das habe ich irgendwo im Wald abgehengt“, erklärte Bahe sich. „Ich bin heilfroh mit dem Leben davon gekommen zu sein.“
„Ach, kein Problem, Bärenjungen sind ja nur Level 7 Monster. Die bringen eh kaum Erfahrung für das Team“, winkte Lef gutmütig ab und wandte sich anschließend an alle Spieler: „Die beiden Exemplare haben nicht allzu viel an Artefakten hergegeben. Fel, vielleicht stellst du einfach mal die Beute vor.“
Bahe sah daraufhin den Speerträger vortreten, der ihn vorhin nicht in das Team aufgenommen hatte.
„Wir haben insgesamt 54 Kupfermünzen, sowie eine Axt und einen Schild im Rang Gewöhnlich. Wobei der Schild ziemlich gute Eigenschaften aufweist. Gibt es Interessenten?“
Natürlich meldeten sich sofort die Schwertkämpfer, die zumeist eh schon Schilde besaßen. Für alle anderen Klassen war ein Schild im Grunde nutzlos. Man konnte ihn zwar mit sich führen, da es in Raoie keine Begrenzungen hinsichtlich der Ausrüstung gab, aber ohne entsprechende Fähigkeiten in der Schildführung lohnte es sich einfach nicht.
Es gab natürlich die Möglichkeit entsprechende Fähigkeiten zu erlernen, indem man sie sich selbst beibrachte oder einen Ausbilder suchte, aber welche Spieler wollten so viel Zeit für etwas aufbringen, das ihnen vielleicht nie wirklich von Nutzen sein würde.
Die andere Möglichkeit bestand einfach darin, das Artefakt zu Geld zu machen. Ein Gegenstand mit besonders guten Eigenschaften für den Rang Gewöhnlich, war immer noch Einiges wert.
Das Problem bestand für die anderen Spieler vielmehr darin, dass sie nicht ihre Chance auf Beute für einen Gegenstand opfern wollten, den sie im Endeffekt nicht dringend selbst brauchten oder den sie nur für einen Geldbetrag verkaufen würden.
Es war allgemein üblich, dass sämtliche Beute in größeren Gruppen fair aufgeteilt wurde. Dennoch bestand natürlich das Problem, dass es meist mehrere Spieler gab, die dasselbe Artefakt gebrauchen konnten.
Da war es besser geduldig zu sein und sich im richtigen Moment für ein Artefakt zu melden. Denn hatte man schon ein Artefakt für sich beansprucht, war es unwahrscheinlich ein zweites Mal berücksichtigt zu werden.
Letztlich wurde gelost und der Schild ging an einen Level 8 Schwertkämpfer dem die Freude sichtlich anzumerken war.
Soweit Bahe wusste, wurden Artefakte des Ranges Gewöhnlich noch immer weitläufig genutzt. Die Durchschnittsspieler suchten erst ab Level 30 zunehmend nach Alternativen. Aber das hieß noch längst nicht, dass sie fündig wurden. Gegenstände des Ranges Bronze waren immer noch eine Seltenheit. Allein daran konnte man messen, auf welch langfristiges Spielerlebnis Raoie ausgelegt war.
Für den Level 8 Schwertkämpfer war es somit ein absoluter Glücksgriff.
Die bei Weitem nicht so gute Axt, ging an einen Level 3 Berserker, der sich nicht minder freute. Er war der Einzige gewesen, der sich gemeldet hatte. Doch Bahe konnte im Anbetracht seines Levels die Entscheidung nachvollziehen.
Das Geld wurde noch nicht aufgeteilt. Lef wollte den kompletten Jagdausflug abwarten, ehe er den Spielern, die keine Artefakte erhalten würden, ihren Anteil auszahlte. Während einige Spieler den Sinn dahinter verstanden, äußerten sich bereits einige Spieler kritisch.
Bahe bemühte sich derweil um einen neutralen Gesichtsausdruck, obwohl er innerlich grinsen musste.
Als Lef die nächsten Schritte erklärte, schweiften Bahes Gedanken ab. Limona war nirgends aufzufinden, als er zurück gekommen war. Was ihn jedoch viel mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass ihn niemand auf sie oder Brocken angesprochen hatte. Schließlich war Brocken nun wirklich nicht zu übersehen gewesen oder?
Verwirrt bekam er gerade noch mit, dass Lef ihn angesprochen hatte.
„Anael, es wird wieder deine Aufgabe sein die nächsten Bären anzulocken. Diesmal kannst du dir jedoch ruhig mehr Zeit lassen. Wenn du die komplette Bärenkolonie aufscheuchen solltest, kommt das unserem Todesurteil gleich. Versuch maximal fünf Bären auf einmal anzulocken, ok?“
„Ich versuch’s“, bestätigte Bahe nickend und mache sich auf den Weg zum Höhleneingang, während Lef noch ein paar Worte an die restliche Gruppe richtete.
Da inzwischen keine weiteren Bären nach draußen getreten waren, konnte Bahe offen über die große Wiesenfläche rennen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass er entdeckt werden könnte.
Am Höhleneingang angekommen, pausierte er kurz, um wieder zu Atem zu kommen.
„Du hast ja überlebt!“, rief plötzlich jemand unmittelbar neben ihm, dass er vor Schreck einen Satz nach oben machte.
„Zum Teufel nochmal, Limona! Du hast mich zu Tode erschreckt!“, entrüstete Bahe sich.
„Stimmt doch gar nicht“, erwiderte sie hochnäsig. „Du bist noch quicklebendig und in der Unterwelt befindest du dich auch nicht.“
„Kannst du beim nächsten Mal auf eine sanftere Art auftauchen?!“
„Vielleicht, wenn du nett bist.“
„…“.
Bahe ließ es lieber bleiben weiter zu diskutieren und blickte in die Höhle. Auf den ersten Metern waren noch keine Bären zu sehen.
„Was hast du vor?“
„Ich muss noch mehr Bären zu meinem Team herüber locken. Und sei jetzt bitte leise!“
„Ach, mach dir keine Sorgen, da passiert schon nichts!“, meinte Limona schnippisch und betrat zu Bahes Entsetzen die Höhle.
„Limona! Limona komm zurück!“, zischte Bahe panisch.
Doch Limona ignorierte ihn und lief weiter in die Höhle.
„Limona, wärst du so freundlich und würdest bitte zurückkommen?“, zwang Bahe seinen Stolz nieder und flehte seine Elementarin förmlich an.
„Ach, jetzt mach doch nicht so einen Aufstand!“, drehte sie sich um und starrte ihn herausfordernd an. „Du wolltest doch Bären heraus locken, also tun wir das, wo ist das Problem?“
„Du weißt schon, dass mein Team und ich sterben werden, wenn du zu viele Bären auf einmal aufscheuchst, oder?“
„Oh, echt?!“, sagte Limona mit gespieltem Entsetzen. „Das wollen wir ja nicht! Oder? Das wäre ja so schlimm, wenn der kleine Anael verrecken würde…“
Bahe wurde bei ihren Worten so wütend, dass er regelrecht zu zittern begann. Musste er dieses Nerv tötende Gelaber als Elementflüsterer wirklich ständig ertragen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können?
Er musste unbedingt etwas finden, wodurch er ihre Treue erhöhen konnte. Vielleicht hörte sie dann mehr auf ihn und hielt endlich mal den Mund.
Im Folgenden ignorierte er Limona soweit es ging und huschte ebenfalls in die Höhle.
Und so sehr es ihn auch störte es zugeben zu müssen, Limona bewegte sich, abgesehen von ihren bissigen Kommentaren, nahezu geräuschlos. Letztlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu ergeben und zu hoffen, dass die Bären nicht zu früh aufgeschreckt wurden.
Was sich kurze Zeit später tatsächlich als gegenstandslose Sorge entpuppte.
Die Höhle war um einiges größer, als Bahe zunächst gedacht hatte. Ganze fünfzig Meter war er bereits durch einen breiten und kurvigen Gang geschlichen, ehe er die ersten Bären im schlafenden Zustand entdeckte. Es waren drei ausgewachsene Exemplare, die teils nebeneinander, teils übereinander lagen und sich ihren Träumen widmeten.
Nach ein paar weiteren Schritten, bei denen er den drei Bären gefährlich nahe kam, eröffnete sich Bahe schließlich der Blick auf die restliche Bärenkolonie, dessen Tiere etwa sechzig Meter tiefer in der Höhle lagen.
Der breite Gang formte sich dort zu einem großen Hohlraum, dessen Decke von Bahes Standpunkt aus nicht zu erkennen war. Kaminrote und sanft leuchtende Kristalle wuchsen an den verschiedensten Stellen aus dem Felsgestein des Hohlraums und erleuchteten die Höhle so in einem roten Dämmerlicht, das gerade ausreichte, um die Tiere der Bergbärenkolonie in Augenschein zu nehmen.
Der Großteil der Tiere schlief. Nur hier und da, gab es einzelne Exemplare die in spielerischer Form miteinander interagierten und Bahe versuchte bei ihrem Anblick seine Präsenz so gut es ging zu verbergen. Im Gang sollten sie ihn nicht sehen können, da hier keine Kristalle an den Wänden wuchsen. Er konnte ja selbst nur undeutlich seine unmittelbare Umgebung erkennen. Einzig hinter der Biegung, die nach draußen führte, schienen noch ein paar letzte Lichtstrahlen hervor.
Vorsichtig ging Bahe in der Hocke nieder und überlegte, wie er die drei Bären am besten nach draußen locken konnte.
„Da ist etwas!“, zischte Limona plötzlich und riss Bahe damit aus seinen Gedanken.
Er wandte sich schnell um, erhaschte aber nur noch die Andeutung von einem Schemen, das am Rande seines Blickfeldes hinter der Biegung des Ganges verschwand.
„Was hast du gesehen?“
„Ich konnte nur einen dunklen Schatten sehen. Aber der Art wie es sich bewegte nach zu urteilen, ist es ein Mensch“, erklärte Limona.
Hey! Seine Elementarin konnte ab und an ja mal wirklich hilfreich sein!
Im nächsten Moment verdüsterte sich Bahes Mine jedoch deutlich. Scheinbar würde bald losgehen, was auch immer sich die Wolfsunionsmitglieder für ihr Team ausgedacht hatten. Er musste ab jetzt wachsamer sein. Für die nächsten Minuten konnte er nur hoffen, dass diese Person, die ihn verfolgte, es nicht auf ihn abgesehen hatte.
Mürrisch drehte er sich wieder um und sah Limona direkt vor dem Kopf eines Bären hocken. Bahes Augen weiteten sich im Anblick der drohenden Gefahr, als Limona die Augenlieder eines Bären mit zwei Fingern packte und sie gefährlich weit aufzog.
„Aufwachen mein Bärchen!“, erklang ihre Stimme glockenhell und dann ließ sie plötzlich die Augenlieder des Bären zurückschnellen.
Schockiert blickte Bahe seine Elementarin an. Hatte sie den Verstand verloren?!
Mehr Zeit blieb ihm nicht, um sich Gedanken zu machen.
Denn der Bär erwachte augenblicklich und starrte Bahe und Limona für einen Moment verdutzt an. Dann öffnete er sein Maul und brüllte ihnen aus vollen Leibeskräften entgegen.
Es kam wie es kommen musste, gut vierzig Bären schreckten aus ihrem Schlaf und fokussierten sich auf die beiden Eindringlinge.
„Wieso nur…“, jammerte Bahe.
Er zögerte keine Sekunde. Im vollen Sprint machte er sich auf den Weg aus der Höhle.
„Ist das nicht ein Spaß?“, lachte Limona, die auf seltsam fließende Art und Weise zu ihm aufgeholt hatte und sich inzwischen neben ihm fortbewegte.
„Darüber reden wir noch!“, rief Bahe wütend, während er alle Kraft in seine Beine steckte.
Limona grinste nur und legte noch an Geschwindigkeit zu, als ihre Beine wieder zu Wasser zerflossen und sie sich in wahnwitzigem Tempo über den Boden fortbewegte.
Bahe fluchte und legte ebenfalls noch einen Zahn zu.
Ohne den kleinen Vorsprung und die Tatsache, dass sich die ersten drei Bären beim Aufstehen selbst behindert hatten, wäre er vermutlich schon Frischfleisch!
Der Höhlenausgang kam bereits in Sicht und Bahe entdeckte diesmal tatsächlich die Spieler, die sich auf der Wiese zum Empfang der Bären positioniert hatten.
Lef konnte nur mit Mühe sein abschätziges Grinsen verbergen, als er sah, wie der Level 0 Spieler sich wohl oder übel zum Höhleneingang aufmachte.
Er war ehrlich überrascht gewesen, den Level 0 Spieler wiederzusehen. Eine Begegnung mit einem Bergbären zu überleben und sei es nur ein Jungtier, war normalerweise nichts, wozu ein Level 0 Spieler fähig war.
Ob ihn sein Glück wohl bald verlassen würde?
Obwohl, es scherte ihn wenig, was in den folgenden Momenten mit ihm passieren würde. Sie hatten diese Sache lange geplant. Egal, ob er sterben oder tatsächlich erneut ein paar Bären anlocken würde, ihren Plan konnten sie trotzdem in die Tat umsetzen.
Unbemerkt hatten Lef und seine Gildenmitglieder im Kampf gegen die drei Bären ausgeholfen, um die anderen Spielern in einem falschen Gefühl von Sicherheit zu wiegen. Ihre Aktion würde so dafür sorgen, dass die Spieler ihres Teams sich den nächsten Bären sofort entgegen schmeißen würden. Was perfekt für die Durchführung der nächsten Schritte wäre.
Eilig gab Lef den Spielern noch einige Anweisungen und sorgte diesmal dafür, dass sie sich mitten auf der Wiese aufstellten, um die Bären dort in Empfang zu nehmen.
Beim letzten Mal hatten sie sich zunächst Deckung gesucht, weil ein paar der Low-Level-Spieler sich das gewünscht hatten. Aber diesmal blieb ihnen aufgrund der erfolgreichen Jagd keine Ausrede mehr.
Dennoch wurde Lef durch ihr abwehrendes Verhalten misstrauisch. Er mochte durch sein hohes Level relativ selbstgefällig sein, aber ein Dummkopf war er noch lange nicht. Er hatte die Blicke einiger Spieler durchaus bemerkt.
Innerlich grinste er. Wenn diese Idioten nur wüssten, dass ihre Vorsicht vollkommen nutzlos sein würde.
„Bald ist es soweit, haltet euch bereit“, sagte Lef vorsichtshalber, um weiterhin seiner Rolle als Anführer gerecht zu werden, während er insgeheim das Verhalten der Teammitglieder im Auge behielt.
„Der Level 0 Spieler hat sich wohl wirklich bis zu den nächsten Bären vorgewagt, hat mir Six gerade gesagt“, meinte Fel leise, der zu Lefs Linken stand. „Es ist gleich soweit.“
„Alles klar“, flüsterte Lef zurück und konnte seine Aufregung kaum noch im Zaum halten. Bald würden sie mindestens ein Artefakt des Silberranges in den Händen halten! Wenn nicht sogar des Goldranges!
Angespannt wartete Lef auf den dummen Lockvogel, der tatsächlich glaubte seiner Aufgabe für die Jagd nachzugehen.
„Da kommt er“, rief ein Level 9 Bogenschütze plötzlich und sorgte dafür, dass sich die Aufmerksamkeit des gesamten Jagdtrupps auf den Höhleneingang fixierte.
Lef musste beim Anblick des Level 0 Spielers grinsen. Die Angst stand ihm im Gesicht geschrieben, während ihnen der Typ in voller Geschwindigkeit entgegen rannte.
„Ha, dieser Wahnsinnskerl hat es echt geschafft“, rief ein Level 6 Schwertkämpfer aus und tatsächlich kamen hinter ihrem Lockvogel, unter lautem Gebrüll, drei ausgewachsene Bären in Sicht, die ihn wütend verfolgten!
„Erfahrung, Erfahrung!“, rief auch ein Level 14 Schildträger begeistert.
„Ach, die Erfahrung ist doch nebensächlich. Was meint ihr, was es diesmal wohl für Artefakte gibt?“
„Hoffentlich ein Bronzeartefakt!“
„Vielleicht sogar ein Artefakt des Silberranges?“
„Ach, träum weiter! Weißt du wie selten die Dinger sind?“
Lef bekam die Unterhaltung der Teammitglieder nur am Rande mit. Seine Konzentration war vielmehr auf den Wolfsunionsspieler gerichtet, der bisher noch nicht Mitglied ihres Teams war.
„Six muss sich bereit halten“, richtete er sich an Fel.
„Keine Sorge, sobald alle beschäftigt sind, geht es los.“
„Gut.“
„Was steht ihr da noch rum, verschwindet von hier!“, schrie ihnen der Level 0 Spieler plötzlich entgegen.
„Haha, was hast du denn, sind doch nur drei Bären. Hast du nicht gesehen, wie wir sie beim letzten Mal platt gemacht haben?“
„Beim letzten Mal habt ihr Idioten doch nur zwei Bären getötet! Und einer davon war nur Level 7“, rief ihnen der Level 0 Spieler wütend entgegen, während er ihnen beständig näher kam.
„Ha, ist er immer noch böse, weil wir vorhin nicht alle drei Bären aufgehalten haben?“, lachte ein Level 13 Schwertkämpfer.
„Ihr könnt mich alle mal…“, spie der Level 0 Spieler seine letzten Worte hinaus, ehe er, ohne langsamer zu werden, durch ihr Team hindurch rannte und selbst danach noch seine Geschwindigkeit beibehielt.
Lefs Mundwinkel zuckten, hatte der Idiot Angst, dass sie wieder ein Exemplar durchgehen lassen würden?
Die Aktion vorhin war doch nur der Versuch gewesen, schon mal einen Platz für ihr letztes Wolfsunionsmitglied Six freizumachen. Nicht, dass ein solcher Platz nicht gleich sowieso frei werden würde, dachte er höhnisch.
„Hey… sagt mal, ist da nicht noch was in der Höhle?“
Lef riss schnell den Kopf herum. Da war noch was?!
Er konzentrierte sich auf den Höhlenausgang und erkannte plötzlich, dass noch weitere Bären aus der Höhle gestürmt kamen!
Und es wurden von Sekunde zu Sekunde mehr!
Verdammt! Hatte dieser Idiot die gesamte Bärenkolonie aufgeschreckt?!
Wütend blickte er sich um und sah, wie der Level 0 Spieler spöttisch zu ihm zurück schaute.
Dieser Bastard!
„Fuck! Da kommen ja immer mehr Bären aus der Höhle!“
„Ich… ich… habe gerade einen Bären überprüfen wollen… mir werden bei dem nur Fragezeichen angezeigt…“, stotterte ein Level 5 Schwertkämpfer, der kreidebleich geworden war.
„Heißen Fragezeichen nicht, das der Levelunterschied zwischen Monster und Spieler äußerst groß ist?“
„Scheiße, genau das heißt es!“
„Wir müssen hier weg!“
„Ja, wir können es niemals mit einer ganzen Bärenkolonie auf einmal aufnehmen!“
„Keine Zeit mehr, die ersten Bären sind schon hier!“
„Bei allen Vorfahren dieses Bastards! Wenn wir das hier überleben, werde ich mir diesen Level 0 Spieler vorknöpfen!“
„Hey… wenn man es genau nimmt, hat er uns doch gerade gewarnt…“
„Halt’s Maul!“
Es ging alles so schnell, dass Lef kaum Zeit hatte zu reagieren.
„Auseinander!“ Schrie Lef hektisch den Befehl und wie durch ein Wunder gehorchten ihm die Spieler instinktiv.
Wollten die Teammitglieder gerade noch flüchten, stoben sie jetzt auseinander, um nicht von den breiten Körpern der Bären zerquetscht zu werden, die im vollen Lauf in ihre Gruppe rasten.
Doch was darauf folgte, war zu keinem Zeitpunkt mehr als koordinierter Angriff zu bezeichnen. Die meisten Spieler wichen panisch den Hieben der Kreaturen aus oder sprangen hilflos durch die Gegend. Die etwas spielerfahrenen Spieler feuerten hingegen ohne Rücksicht auf Verluste ihre Fähigkeiten ab und ignorierten größtenteils jeglichen Kollateralschaden.
Es war ein einziges Chaos.
Dabei waren die Tiere der Bärenkolonie noch nicht mal bei ihnen angekommen.
Lef zitterte vor Wut und Verzweiflung. Wie hatte dieser Level 0 Idiot überhaupt von den rennenden Bären entkommen können?!
„Lef“, rief Fel mit finsterem Blick zu. „Six ist schon auf dem Weg, wir müssen nur noch kurz durchhalten.“
Lef nickte nur mit düsterer Miene. Eine mentale Notiz machte er sich aber dennoch. Diesen Level 0 Spieler würden sie sich später noch holen!
Anfangs hatte Bahe seine restlichen Teammitglieder noch warnen wollen, aber diese Idioten hatten schlicht weg nicht auf ihn gehört.
Selbst schuld, dachte Bahe nur, während er noch durch seine Teammitglieder rannte.
Doch kaum hatte er sein Team hinter sich gelassen, vernahm er plötzlich die panischen Rufe dieser Idioten. Scheinbar war die Bärenhorde in Erscheinung getreten.
Mit einem Blick zurück, bestätigte sich Bahes Vermutung.
Anschließend suchte er noch nach Lef. Dem Anblick von Lefs Wut entbranntem Gesichtsausdruck, begegnete Bahe mit Hohn und Spott.
Wahrscheinlich hatte er soeben alle Pläne der Wolfsunionsmitglieder zunichte gemacht. Zugegebener Maßen zwar eher unfreiwillig, aber letztlich zählte doch das Ergebnis, oder?
Bahes Grinsen verblasste jedoch, als er plötzlich oberhalb der Höhle, auf den Felsen, eine Schattengestalt bemerkte. Hätte er in diesem Moment nicht zu Lef geblickt, wäre ihm die Gestalt wahrscheinlich nie aufgefallen.
Ein Dieb?
Sonst gab es nicht allzu viele Optionen, wenn er an Limonas Aussage zurück dachte, dass es ein Mensch sei.
Aber was genau hatte er vor?
„Arggh!“, erklang plötzlich ein schmerzerfüllter Schrei und Bahe registrierte überrascht, wie der erste Spieler des Teams einem der Bären zum Opfer fiel.
„Oh, scheinbar bist du doch nicht so blöd. Der Bekloppte da vorne hat sich tatsächlich von einem Bären umbringen lassen“, sagte Limona, die noch immer neben Bahe her sauste.
Doch Bahe hatte in diesem Moment keine Augen für sie. Er war viel zu sehr von der Szene geschockt, die sich vor ihm abspielte.
Es war ein grausiger Anblick, wie sich die Pranke des Bären in den Hals des Spielers gebohrt hatte und ihm das Blut in Strömen über die Brust lief.
Der Bär verschwendete jedoch keine Zeit mehr an diesem Spieler und stürmte bereits auf den nächsten Widersacher los.
Fast im gleichen Moment öffnete sich ein Benachrichtigungsfenster:
Eins deiner Teammitglieder ist einem Bergbären zum Opfer gefallen!
Schugalala Babalala Level 4 Schwertkämpfer
Der Typ war so schnell verreckt…
Bahe checkte kurz das Teamprofil und bekam gerade noch mit, wie der Name des Spielers in der Statistik rot aufleuchtete und anschließend in Grautönen verblasste, ehe er aus dem Teamprofil gelöscht wurde.
Kaum eine Sekunde später tauchte aber plötzlich ein neuer Spieler auf!
„Six… Level 28… Berufsklasse Dieb“, murmelte Bahe, beim Lesen.
Verdammt, der Typ war nochmal ein paar Level höher als Lef!
Bevor er sich jedoch weitere Gedanken machen konnte, lenkte ihn ein metallenes Kreischen ab, dass vom oberen Ende der Felsen erschallte.
Direkt im Anschluss erschien eine Kreatur, wie Bahe sie bisher noch nie erblickt hatte. Es war eine überdimensional große Spinne, auf den ersten Blick fünf Meter hoch und mit samt Beinen vierzehn Meter breit. Bahe gefror das Blut in den Adern, als er bemerkte, wie die Kreatur oben zum Sprung ansetzte.
An seine Fähigkeit Überprüfen verschwendete er in diesem Moment keine Zeit und nahm stattdessen viel lieber seine Beine in die Hand. Alles an ihm sagte ihm, dass er sich nicht mit diesem Vieh anlegen sollte.
„Bei den Wassern meines Großväter! Das ist ja mal ein großes Exemplar!“, rief Limona aus, während sie rückwärts über den Boden dahin floss, um sich ein besseres Bild machen zu können.
„Es ist schon eine gute Idee von dir hier zu verschwinden“, nickte Limona nachdenklich.
Soviel war mir auch klar, dachte Bahe genervt und rannte weiter.
„Was ist das denn?!“
„Fuck! Ist das eine Spinne?!“
„Wir sind so tot…“
„Haltet die Klappe und weicht den Bären aus, ihr Idioten!“
„Ahh!“
Nur am Rande bekam Bahe noch einige Rufe der anderen Spieler mit. Bis sich nahezu gleichzeitig zwei neue Fenster öffneten:
Eins deiner Teammitglieder ist einem Bergbären zum Opfer gefallen!
Tiesto Oh Level 6 Speerkämpfer
Eins deiner Teammitglieder ist einem Bergbären zum Opfer gefallen!
Raspin Ni Level 10 Bogenschütze
Da waren also schon wieder zwei gestorben…
Es war wahrlich nur eine Frage der Zeit, bis die nächsten Spieler folgen würden.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Bahe, wie ein paar seiner Teammitglieder es endlich geschafft sich von den drei Bären abzusetzen. Scheinbar verfolgten sie den gleichen Gedanken wie Bahe und wollten zunächst einen sicheren Abstand hinter sich bringen, ehe sie entschieden, ob sie noch irgendwo eingreifen konnten.
Dann krachte es lautstark in seinem Rücken.
„Oh… Die Spinne ist mitten in der Bärenkolonie gelandet! Scheinbar verfolgt sie diesen Menschen, der vorhin auch mit uns in der Höhle war“, kommentierte Limona eifrig und Bahe musste unwillkürlich an eine Sportmoderatorin denken.
„Der Mensch rennt wie verrückt durch die Bärenkolonie! Oh, die Spinne folgt ihm immer noch! Und die Bergbären sind wir kleine Kinder, die von der Spinne zur Seite gestoßen werden!“, meinte Limona Hände klatschend. „Ah, jetzt fühlen sich die Bergbären auch von der Spinne bedroht und greifen sie an! Was für ein Spektakel! Aber die armen Bären haben keine Chance… die Armen…“
Bahe kam derweil mit Limona am Waldrand an und drehte sich um.
„Bahe, wir müssen uns auf jeden Fall um diesen miesen Menschen kümmern! Es ist so hinterlistig einfach die armen Tiere gegeneinander auszuspielen…“, lamentierte Limona.
Bahe nickte nur geistesabwesend. Er war viel zu sehr mit der Beobachtung des Gemetzels beschäftigt, welches sich vor seinen Augen abspielte.
Während ein paar wenige Spieler es schafften, den wütenden Bären und der Spinne auszuweichen, wurden die meisten Teammitglieder nach und nach abgeschlachtet.
Pranken zerschlugen Waffen und Köpfe gleichermaßen, Innereien flogen durch die Luft und Körper wurden zermalmt.
In nicht mal einer Minute, klappten vierzehn Fenster mit Todesnachrichten auf und es hatte noch lange kein Ende genommen.
Die Spinner schleuderte mit einem ihrer Beine plötzlich mehrere Bären durch die Luft, die im hohen Bogen über die fliehende Gruppe von Spielern flogen, die Bahe vorhin noch aus den Augenwinkeln bemerkt hatte.
Zum Entsetzen der Gruppe schienen die Bergbären den Sturz jedoch gut verkraftet zu haben und stürzten sich wutschnaubend auf die Flüchtenden.
Bahe schaute schnell weg. Mit seinem Level 0 machte er sich keine Illusionen, dass er irgendjemanden hier helfen konnte. Da musste er sich die Gräueltaten nicht noch weiter mit ansehen.
Zwei Minuten später war das Gemetzel vorbei. Ganze zehn Spieler hatten überlebt. Bahe war einer von ihnen.
Außer ihm lebten nur noch die Level hohen Spieler, allesamt mindestens Level 18 und aufwärts.
Bahes Versuche Zwietracht in der Gruppe zu sähen waren in Anbetracht der Situation vollkommen sinnlos gewesen. Es hatte sowieso Chaos geherrscht.
Alle fünf Wolfsunionmitglieder hatten dank ihrer hohen Level und beträchtlichen Erfahrung überlebt. Außer ihnen gab es noch den schweigsamen Level 19 Berserker, zwei Level 18 Schwertkämpfer mit Schilden, sowie einen Level 18 Magier, der einzig und allein durch die Erschaffung mächtiger Schilde überlebt hatte.
Bei dem Anblick hatte Bahe instinktiv an seine eigene Fähigkeiten denken müssen. Magie konnte so unglaublich viel in Kämpfen ausmachen. Er musste es endlich mit der Meditation hinbekommen…
Dann fokussierten sich seine Gedanken wieder auf die aktuelle Situation. Es war klar, dass die Wolfsunionmitglieder wegen der Spinne hier waren oder vielmehr wegen der Artefakte, die dieses Monstrum bei seinem Tode wohl freigeben würde.
Nachdenklich zog Bahe die Mine zusammen und sprach dann seine Elementarin an: „Na Limona, bist du bereit es diesen Wolfsunionsmitgliedern mal so richtig zu vermiesen?“
„Oh ja! Willst du dich auch umbringen?“
„Hä? Bitte was?“
„Ja, immerhin würdest du ihnen so die Freude nehmen dich selbst zu töten“, erklärte sich Limona.
„…“, Bahe starrte sie missmutig an.
„Wenn das nicht dein Plan ist, wüsste ich gerne, wie du es ihnen heimzahlen willst…?“
„Wieso beteiligst du dich nicht ausnahmsweise mal am Kampf, Limona?“
„Ich soll kämpfen?“, lachte Limona laut auf.
„Ja, schließlich sollten diese miesen Menschen doch kein Problem für dich darstellen, oder?“
„In der Tat, dass tun sie nicht!“, nickte Limona zustimmend und fragte: „Aber wieso ist das mein Problem?“
„Wolltest du dich nicht gerade noch um diese Idioten kümmern?“
„Mein Wortlaut sagte, wir müssen uns noch um diese Typen kümmern“, erläuterte sie hochnäsig. „Was letztendlich heißt, dass du das für mich erledigen kannst. Wieso sollte ich also einen Finger rühren…?“
Bahe seufzte. Was musste er nur tun, um Limona zum Kämpfen bewegen zu können?
„Limona… Gerade hast du mir noch gesagt, dass du nicht weißt, wie ich eine Chance in diesem Chaos haben sollte, aber helfen willst du mir auch nicht? Manchmal frage ich mich, wofür ein Seelenbund zwischen uns besteht… Noch dazu war es dein Wunsch es diesen Idioten heimzuzahlen…“, kopfschüttelnd wandte er sich von seiner Elementarin ab und brachte ein paar Schritte zwischen sich und dem Waldrand.
„Wag es nicht enttäuscht von mir zu sein!“, erklang es hinter ihm zornig.
„Sag bloß, dass es doch etwas gibt, was dir sauer aufstößt…?“, sagte Bahe spöttisch und bemerkte wie Limona vor Wut regelrecht rot anlief.
„Du hast doch keine Ahnung, wie es uns geht!“, rief Limona mit trotzig und stampfte mit dem linken Fuß auf.
„Ach, und wie geht es dir?“, fragte Bahe diesmal entschlossen nicht klein bei zu geben, ganz egal auf welch Tiefpunkt die Treue seiner Elementarin fallen würde. „Ihr habt Spaß euch über mich lustig zu machen und bis auf wenige Momente, seid ihr ansonsten vollkommen nutzlos. Ah… fast hätte ich es vergessen… Brocken war immer derjenige der hilfreich war. Du hast mir noch nicht ein einziges Mal zur Seite gestanden. So wie ich das sehe, versuche ich ständig euch alles recht zu machen, aber was bekomme ich im Gegenzug? Beleidigungen und Späße auf meine Kosten! Hilfe? Fehlanzeige!“
Bahe steigerte sich im Laufe seines Vortrags immer mehr in Rage, bis er Limona zum Schluss förmlich anschrie.
Doch die Reaktion Limonas überraschte ihn.
Limona zitterte am ganzen Körper. Unterdrückte Wut und noch etwas anderes schien sich auf ihrem Gesicht abzuzeichnen. Tränen brannten in ihren Augen, die sich plötzlich ihren Weg über Limonas Wangen bahnten.
„Was weißt du denn schon?!“, machte sie ihrer Wut Luft. „Selbst wenn wir wollten, könnten wir dir nicht helfen! Du siehst uns doch nur als Waffen, auf die du jederzeit Zugriff haben solltest. Stell dir vor, wir haben auch Gefühle! Selbst Brocken, dieser Esel von einem Felsen, der so langsam im Geiste ist, dass er es trotzdem noch mit dir versuchen will! Aber interessiert es dich woher wir kommen? Wieso… Wieso wir bei dir sind? Du… Du hast uns nicht einmal gefragt! Stattdessen… behandelst du uns… wie Sklaven und erwartest Tag ein Tag aus, dass wir dir helfen!“
Ihr Vortrag endete in heftigen Schluchzern, während ihre Schultern wie wild hin und her bebten. Ihre kleinen durchscheinbaren Hände bedeckten ihr Gesicht und versuchten die Tränen zu verbergen, die ihr inzwischen wie kleine Flüsse von den Wangen tropften.
Was folgte war betretenes Schweigen... wenn man mal von dem Durcheinander auf der Wiesenmitte absah…
Schließlich fand sich Bahe neben seiner Elementarin wieder, wie er ihr sanft den kleinen Kopf streichelte und fragte sich wirklich wie es dazu gekommen war.
Hatte sie ihn an seine kleine Schwester Liana Xue erinnert?
Vielleicht…
Andererseits… was wollte Raoie eigentlich von ihm?
Seine Elementare verhielten sich so lebensecht, dass er zugegebenermaßen überfordert mit ihnen war. In früheren Online-Spielen waren Pets einfache Kreaturen, die einen Angriffs- und Verteidungswert, eine bestimmte Anzahl von Lebenspunkten, sowie die ein oder andere Fähigkeit besaßen. Aber hier in Raoie?
Verdammt noch eins, seine Elementare verhielten sich wie leibhaftige Kinder aus der Realität…
Limonas Schluchzer nahmen allmählich ab und Bahe kam nicht umhin, ob der Surrealität des Momentes stutzig zu werden. Hier stand er nun, mit einem weinenden kleinen Mädchen, welches eigentlich eine Art Kampfgefährtin seinerseits darstellen sollte und streichelte ihr den Kopf. Während unweit von ihnen ein Kampf um Leben und Tod bestritten wurde…
Das Chaos auf der Wiese war auf seltsame Weise für den Moment in den Hintergrund gerückt.
Irgendwann hatte Limona sich wieder gefasst und blickte starr geradeaus. Bahes Hand bewegte sich noch immer. Ein ums andere Mal ließ er seine Hand sanft über ihren Kopf gleiten und Limona ließ es ohne eine Regung geschehen.
„Du solltest Brocken suchen“, meinte er schließlich.
„Hu?“, gab Limona von sich, als sie ihn, wie aus einer Trance erwacht, überrascht anblickte.
„Ja, willst du Balu nicht kennen lernen?“, erklärte sich Bahe.
„Balu?“
„Der kleine Bergbär, der mir vorhin hinterher gerannt ist. Zumindest einen konnte Brocken retten.“
„Brocken darf ihn behalten?“
„Hmm…“, bestätigte Bahe.
„Was ist mit… dem hier…?“, fragte Limona und zeigte auf das Gemetzel vor ihnen.
„Das ist für heute mein Problem“, antwortete Bahe nur. „Und jetzt geh schon!“
Limona sah ihn einen langen kleinen Augenblick an, ehe sie nickte und im Wald verschwand.
Bahe blickte derweil stur nach vorne. Erst als er sich ganz sicher war, dass genug Zeit vergangen war, schaute er sich um, um sicher zu gehen, dass sie verschwunden war.
Kaum hatte sich seine Hoffnung bestätigt, sprang er hinter den nächsten Baum und atmete, nach einem verräterischen Aufprall, hörbar aus. Für heute hatte er definitiv lange genug den coolen Bruder raus hängen lassen…
Lef hatte ihn am Waldrand entdeckt und ein paar Pfeile auf ihn abgeschossen. Wenn er auch nur einen Moment später hinter dem Baum gelandet wäre, hätten ihn die Pfeile an Ort und Stelle durchbohrt.
Vorsichtig spähte er am Baumstamm vorbei auf das Geschehen vor ihm. Es war zwar immer noch ein großes Durcheinander, aber der Ausgang zeichnete sich mittlerweile ab. Die gigantische Spinne hatte sich in ihrer Hast, den nervigen Dieb zu fangen, mit den Bergbären angelegt. Da diese, Rudeltiere waren und die Spinne als die größte Bedrohung empfanden, hatte sich selbstverständlich das gesamte Rudel gegen die Spinne gewandt.
Über die zahlreichen Beine waren bereits einige Bären auf den Rücken der Spinne geklettert und noch immer versuchten weitere Rudelmitglieder ihren Artgenossen zu folgen. Die Spinne hingegen, versuchte mit den furchteinflößenden Mandibeln ihres Mauls einzelne Exemplare zu fassen zu kriegen, sie mit ihren Beinen davon zu schleudern oder durch das Einwickeln in ihre Netze kampfunfähig zu machen.
Es war beinahe eine Pattsituation. Viele Bergbären lagen bereits tot im Gras, aber die Bären auf dem Rücken der Spinne verursachten mittlerweile auch ihrerseits einigen Schaden.
Die übrig gebliebenen Spieler konnte man grob in zwei Lager einstufen. Zum einen die Solospieler, die sich noch immer mit Mühe der Bergbären erwehrten, die sich nicht mit der Spinne beschäftigten und zum anderen die Mitglieder der Wolfsunionsgilde, die bereits all ihre eigenen Widersacher erlegt hatten und sich inzwischen darum kümmerten, dem Spinnenmonster weiteren Schaden zuzufügen.
Lef und der andere Bogenschütze feuerten ohne Unterbrechung ihre Pfeile auf die Sehorgane und das Maul der Spinne ab, während die Speerträger ihnen Deckung gaben und ab und an die heran fliegenden Beine des Spinnenmonsters abwehrten.
Bis auf die kleine Unterbrechung gerade eben, als Lef versucht hatte Bahe zu erwischen, stellten sie im Grunde keinerlei Gefahr für ihn dar. Dafür waren sie viel zu sehr auf ihr Ziel fokussiert.
Die Abwesenheit des Diebes war Bahes eigentliches Problem. Er konnte ihn nirgends entdecken.
Bahe war sich im Klaren darüber, dass er nun zwei Möglichkeiten hatte. Er konnte mit seinen Elementaren den Rückweg antreten. Wobei dies keinesfalls garantierte, dass er bis Waldenstadt überlebte. Der Weg führte durch zahlreiche gefährliche Territorien… alleine kam dies im Grunde einem Selbstmord gleich…
Die andere Möglichkeit bestand darin, sein Glück im Kampf zu suchen oder viel eher darin, im passenden Moment aktiv zu werden. Letztlich bedeutete auch dies mit größter Wahrscheinlichkeit seinen Tod…
Wahrlich rosige Aussichten…
Andererseits, was hatte er schon zu verlieren? War er nicht noch immer Level 0?
Verschwundener Dieb hin oder her und zum Teufel mit dem riesigen Levelunterschied zwischen Bahe und allen anderen Anwesenden, egal ob Monster oder Mensch… Er würde alles in eine Waagschale werfen. Der Moment, in dem das Spinnenmonster fiel, würde über Leben und Tod von den restlichen Überlebenden entscheiden, seines mit eingeschlossen.
Achtsam wich er in den Wald zurück und nahm die Situation konzentriert ins Auge. Er musste sich schleunigst einen Plan einfallen lassen.
Bahe hatte sich entschieden den Standort zu wechseln. Lef hatte ihn hier bereits ausgemacht, nicht das der Dieb plötzlich auftauchen würde. Auch, wenn es zugegebener Maßen eher unwahrscheinlich war. Die Wolfsunion hatte wichtigere Dinge zu tun.
Etwa zwanzig Meter weit im Wald, unsichtbar für seine Kontrahenten auf der Wiesenfläche, eilte er nach links durch das Dickicht. Die paar Benachrichtigungsfenster, die aufklappten, schloss er ohne große Beachtung wieder. Nach gut achthundert Metern checkte er kurz seinen Kurs und rannte anschließend weiter.
Die Wolfsunionsmitglieder waren nicht mehr allzu weit weg. In der Hektik der Situation hatte er sich dazu entschieden, sich dort zu verstecken, wo man ihn am wenigsten vermuten würde und das war in seinem Fall unmittelbar hinter der Gilde, die das ganze Chaos erst verursacht hatte.
An seinem Ziel angekommen, schlich er durch die Büsche, bis er am Waldrand freie Sicht auf das Geschehen bekam. Der Level 19 Berserker, der sich Bahe gegenüber äußerst abweisend verhalten hatte, lag leblos im Gras. Mit einem schnellen Check im Teamprofil erkannte Bahe, dass eins der vorigen Fenster, als er durch den Wald gelaufen war, zweifelslos seine Todesnachricht gewesen war. Das zweite Fenster hatte scheinbar den Tod des letzten Magiers verkündet, dessen Leiche ebenfalls im Gras der Wiese lag.
Die beiden Level 18 Schwertkämpfer erwehrten sich hingegen, Rücken an Rücken gestellt, der letzten beiden Bergbären, die sich noch nicht auf die Spinne gestürzt hatten. Ihre Situation war zu Beginn wesentlich aussichtsloser gewesen und ihrem Kampfverhalten nach zu urteilen, sollten die Beiden nun eine reale Chance haben mit dem Leben davon zu kommen.
An anderer Stelle erwehrte sich die Spinne inzwischen bei Weitem nicht mehr so heftig, wie noch zu Beginn des Kampfes. Die Kombination von Bergbärenangriffen und den Pfeilen der Wolfsunionsmitglieder zeigte offensichtlich ihre Wirkung. Es würde nicht mehr lange dauern. Auch, wenn die Bergbären mittlerweile zunehmend weniger geworden waren.
So wie es aussah, würden beim Fall der Spinne noch 7 gegnerische Spieler am Leben sein, dachte Bahe konzentriert.
Schnell huschte er ins Dickicht zurück und jagte in gerader Linie von der Wiese weg in den Wald hinein. Nach gut zweihundert Metern entdeckte er zu seiner Linken ein Rudel von Tieren, die verdächtig nach Wildschweinen aussahen.
„Überprüfen!“, rief er schnell.
Stachelschwanzwildschwein
Level 18 HP: 1500/1500
Angriff: 210 Verteidigung: 150
Fähigkeitstärke: 0 Magieresistenz: 100
Beschreibung: Stachelschwanzwildschweine sind eine weiterentwickelte Form des ursprünglichen Wildschweins. Sie verfügen über einen Stachel an ihrem Schwanz, der im Vergleich zu ihren Verwandten erheblich länger ausgebildet ist. Schwanz und Stachel nutzen sie zusätzlich zu ihren gefährlichen Hauern als Werkzeug zur Selbstverteidigung.
Besondere Fähigkeiten: Ihr Stachel am Schwanzende besitzt die Fähigkeit der Rüstungsdurchdringung. Ein Treffer negiert bis zu 40 Verteidigung / Rüstung und durchbricht jeden Schild oder anderes Artefakt unterhalb des Goldranges.
„Perfekt!“, freute sich Bahe lautstark und begann danach wie wild drauf los zu schreien, um die Aufmerksamkeit der Tiere auf sich zu ziehen.
Die Stachelschwanzwildschweine sammelten sich bedrohlich und blickten aufmerksam zu ihm hinüber. Machten aber noch keine Anstalten auf ihn los zu gehen.
Bahe fackelte nicht lange. Er schnappte sich zwei dicke Stöcke und warf sie in Selbstmördermanier direkt in die Menge der Tiere, anschließend drehte er um und rannte mit Leibeskräften wieder der Wiese entgegen.
Die Tiere hinter ihm brüllten und schnauften vor Wut, als sie dem mickrigen Eindringling hinterher jagten, der es wagte in ihr Revier einzudringen und sie heraus zu fordern.
Bahe hatte keine Chance es bis zur Wiese zu schaffen, das war ihm klar. Die Viecher waren Level 5-21, ganz zu schweigen davon, dass sie ihn wahrscheinlich selbst mit Level 0 eingeholt hätten.
Der Abstand schwand in den ersten fünfzig Metern nur so dahin. Mit letzter Willenskraft trieb sich Bahe immer noch voran und schaffte es zehn Meter weiter in Windeseile einen alten Baum empor zu klettern.
Die Stachelschwanzwildschweine umkreisten den Baum wütend und versuchten ihn mehrere Male mit ihren Stacheln zu erwischen, verfehlten ihn jedoch haarscharf. Wäre er nur eine Sekunde langsamer gewesen, hätte einer der Stacheln seinen Oberschenkel durchbohrt. Bahe gruselte es bei der Vorstellung, was danach aus ihm geworden wäre.
Die Tiere gaben noch eine gute Minute wütende Geräusche von sich, ehe das Rudel beschloss weiterzuziehen.
Erleichtert kletterte Bahe schnell hinab, wartete bis das Rudel sich weit genug von ihm entfernt hatte und warf erneut mehrere Äste und Stöcke auf die Tiere. Damit ging der Prozess von vorne los. Wild gewordene Stachelschwanzwildschweine rasten auf ihn zu, während er wie von der Tarantel gestochen durch das Dickicht hetzte. Ein verschlagenes Lächeln breitete sich auf Bahes Gesicht aus, als er bereits den nächsten Baum ins Visier nahm.
Mit einem Ausatmen ließ Lef die Sehne seines Bogens schnellen und atmete anschließend schnaufend ein. Der andauernde Kampf brachte allmählich seine Muskeln zum Brennen.
-15 HP
Innerlich fluchte Lef, ob der lächerlich kleinen Schadenszahl, die seine Angriffe bei dem Spinnenmonster verursachten. Er konnte nur hoffen, dass die Artefakte ihre Mühe wert waren, die das Monster bei seinem Tode frei geben würde.
Sie hatten sich wochenlang für diese Mission vorbereitet. Von der magischen Karte, die sie durch das gefährliche Gebiet hierher führte, bis zu den Artefakten, die es ihnen überhaupt erst ermöglichten bei der verdammten Kreatur Schaden anzurichten. Schließlich handelte es sich bei der Spinnenkreatur um ein Level 45 Monster!
Das war eine Größenordnung der sich normalerweise nur ihr Gildenanführer mit der Gildenelite widmete.
Entsprechend nervös waren Lef und seine Truppe gewesen, als Six das verdammte Spinnenvieh zu ihnen lockte.
Doch zum Glück hatte ihr Plan perfekt funktioniert, obwohl dieser Bastard von einem Level 0 Dieb die ganze Bergbärenmeute auf sie gehetzt hatte. Ohne Sixs schnelle Entscheidung die Spinnenkreatur früher anzulocken, wären sie im Bergbärenrudel elendig verreckt.
Der Level 0 Dieb hatte sogar noch die Dreistigkeit besessen am Waldrand stehen zu bleiben und sich sein Werk in Ruhe anzuschauen. Es wurmte Lef tierisch, dass er diesen Sohn einer Schildkröte vorhin nicht erwischt hatte.
„Wir haben es gleich!“, rief Fel gepresst, der gerade damit beschäftigt war eins der Spinnenbeine zu parieren.
„Ja, es dauert nicht mehr lange“, meinte auch Bogung, neben Lef der zweite Bogenschütze. „Six, du solltest dich bereit halten.“
„Keine Sorge Bogung“, meldete sich Six zu Wort. „Ich bin fast unter der Spinne angekommen, ohne entdeckt zu werden. Sobald die Spinne zu Boden sinkt, verpasse ich ihr den Gnadenstoß.“
„Wir sollten auch besser die beiden Schwertkämpfer auf der anderen Seite im Auge behalten“, gab Bocan, der zweite Speerträger zu bedenken. „Sollten wir sie nicht besser aus der Gruppe schmeißen? So profitieren die nur von unserer Erfahrung…“
„Die sind kein Problem… aber wenn wir sie einfach ohne Grund rausschmeißen und sich das rum spricht, ist unser Ruf im Arsch…“, meinte Lef. „Besser wir verzichten auf das Bisschen Erfahrung und schieben später alles diesem Level 0 Dieb in die Schuhe!“
„Ah, dieser Idiot ist ja auch immer noch in unserer Gruppe!“, rief Bocan wütend von sich.
„Ja, hast du etwa gerade die Zeit am Teamprofil herum zu werkeln?“, sagte Fel aufgebracht.
„Konzentriert euch, Leute. Wenn Six gleich im Begriff ist, die Spinne zu erledigen, nutze ich den Moment und schmeiße diesen Verräter aus dem Team“, appellierte Lef an seine Freunde und beschwichtigte sie zugleich.
„Ah, es ist soweit!“, rief Bogung aufgeregt, als die Beine der Spinne unter ihrer Last zu zittern begannen. „Dieses Viech wird jeden Moment fallen!“
„Haha! Wir haben es tatsächlich geschaft!“, schrie Bocan vor Freude. „Six, jetzt bist du dran!“
„Ihr könnt euch auf mich verlassen“, vernahm Lef die grimmige Stimme ihres besten Mannes.
Aufatmend senkte er seinen Bogen und wollte gerade das Teamprofil öffnen, als ihn lautstarkes Geschrei herum fahren ließ. Was er sah ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren…
Entsetzt erblickte er eine heranstürmende Horde von… was waren das für Kreaturen?!
Wildschweine?
Was für Viecher auch immer es waren, er und seine Gildenmitglieder mussten schleunigst von hier verschwinden!
„Passt auf, Leute!“, rief er hastig, während er sich bereits in Bewegung setzte.
„Was zum…?“, schrie Bogung auf.
„Wo kommen die her?“, wollte Bocan wissen.
„Woher wohl? Hast du nicht diesen Anael gesehen? Der läuft da vorne rechts“, erklärte Fel verächtlich. „Wenigstens wird er seinen Verrat nicht überleben...“
Bei Fels Kommentar nahm Lef sich die Zeit, nach dem Level 0 Spieler zu sehen. Der Idiot würde aus seiner Aktion nicht mehr lebend davon kommen. Zwar hatte er diese Wildschweinviecher zu ihnen gelockt, aber er war bei weitem nicht schnell genug, um den Kreaturen zu entkommen.
Sie hatten ihn bereits eingeholt und stießen mit einer gefährlich aussehenden Art von Stachel nach ihm, was diesen Anael dazu veranlasste mit einem Hechtsprung zur Seite auszuweichen.
Es ging einmal gut, aber kein zweites Mal. Beim nächsten Sprung stolperte er in seiner Hast, der Vielzahl von Attacken auszuweichen und prompt bohrte sich ein Stachel der Kreaturen von hinten in seinen Oberschenkel.
Doch die Kreatur war noch nicht mit dem Typen fertig. Lef sah zu seinem Erstaunen, wie das Monster sich im Kreis drehte und den, inzwischen vor Schmerzen schreienden, Anael mit der Stachelspitze des eigenen Schwanzes vom Boden empor hob und um sich herum schleuderte, bis sich der geschundene Körper des Spielanfängers vom Stachel löste und ein paar Meter weiter auf den Boden prallte.
Verdammt, waren die Viecher stark, dachte er grimmig, nur um daraufhin schadenfrohe Genugtuung zu empfinden.
Der Typ war geliefert!
Selbst, wenn die Monster ihn nicht unmittelbar zu Tode trampelten, würde er in kürzester Zeit verbluten.
Plötzlich zischte ein Pfeil an Lefs Ohr vorbei und traf genau die Kreatur, die dem Level 0 Spieler hinterher setzen wollte.
„Was tust du?!“, schrie er Bogung wutentbrannt an.
„Ich… ich war das nicht!“, stotterte Bogung verblüfft.
Lefs Kopf zuckte herum und sah, wie einer der beiden übrig gebliebenen Schwertkämpfer einen Bogen in der Hand hielt und abfällig grinste.
Dieser Bastard!
Die beiden Schwertkämpfer waren tatsächlich noch am Leben!
Während der eine Spieler den letzten Bergbären in Schach hielt, hatte der andere Schwertkämpfer die Chance genutzt, um Lef und seine Truppe vorzuführen!
In einem Moment der Unachtsamkeit, war der Pfeil wie in Perfektion durch die Lücken in ihren Reihen geflogen und hatte die Aufmerksamkeit der Kreaturen auf sie gelenkt.
Was die Monsterhorde natürlich zum Anlass nahm, um nun wie verrückt auf Lef und seine Freunde loszustürmen.
„Fuck! Rennt so schnell ihr könnt! Das sind Stachelschwanzwildschweine, die negieren eure Rüstung!“, fluchte Bocan plötzlich und machte sich daran zur Spinne zu laufen.
„So‘ne Scheiße! Woher weißt du das?!“, fragte Fel schreiend, während Lef, Fel und Bogung ihrem Freund hinterher jagten.
„Ich bin mit der rechten Hand unseres Gildenanführers vor drei Wochen mal auf die Viecher gestoßen! Wir sind nur haarscharf mit dem Leben davon gekommen“, klärte Bocan sie auf.
„Wir müssen Six so schnell es geht erreichen!“
„Wann verpasst er dem Ding endlich den Todesstoß?!“
„Ja, es wird verdammt nochmal Zeit!“, schloss sich Lef seinen Freunden an.
Sie legten noch ein paar Schritte zurück, doch dann ertönte plötzlich ein bitteres Kreischen!
Die Spinne bäumte sich noch ein letztes Mal auf und fiel dann mit einem gewaltigen Krachen zu Boden. Zwei Bergbären wurden dabei unter ihrem Körper begraben und Six konnte sich gerade eben mit einem Sprung ins weiche Gras retten.
Dann erschien Lef die Statusmeldung:
Ihr habt gemeinsam Berata, eine gewaltige Kreatur des Lungagebirges bezwungen!
Six führte soeben den Todesstoß aus!
Der Erfahrungsgewinn ist 100% höher, da es sich um eine Kreatur mit großem Level-Unterschied handelt. Zusätzlich ist der Erfahrungsgewinn um weitere 100% höher, da es sich um eine Kreatur mit dem Attribut „Gigantisch“ handelte.
Exp +2010
Berata galt als eine Plage des Lungagebirges. Die Kunde von ihrem Tode wird sich rasch verbreiten.
Ruhm + 100
„Wir haben es geschafft!“ Schrien sie alle gleichzeitig, während sie auf Six zu rannten.
„Wir müssen uns beeilen!“, spornte Lef seine Freunde an und rief ihrem stärksten Gildenmitglied zu, welches sich gerade aus dem Gras erhob: „Six, schnapp dir die Beute, wir müssen danach sofort von hier verschwinden!“
Dieser nickte nur und sprintete sofort auf die Stelle zu, an dem sich die Artefakte aus der Speicherdimension des Monsters materialisiert hatten.
Lef grinste in sich hinein. So sehr dieser verfluchte Anael auch versucht hatte ihre lang geplante Mission zu sabotieren, sie würden dennoch siegreich aus dem Gefecht hervor gehen. Daran konnten auch die beiden Schwertkämpfer nichts mehr ändern, die mit ihrer Verzweiflungstat versucht hatten, ihnen eins auszuwischen.
He, dachte er verächtlich, alles fiel an seinen Platz. Die Gewinner bekommen alles und die Verlierer gehen leer aus. Es war solch ein Gefühl der Genugtuung diese naiven Spieler abzuziehen.
Zufrieden sah Lef, wie Six nach den Artefakten unweit des Spinnenkadavers griff, als plötzlich etwas Silbernes aufblitze!
Fassungslos starrte Lef auf ihren besten Mann, der noch zuckte, als sein Körper vom Scheitel bis zum Schritt in zwei Hälften gespalten zu Boden fiel…
Bahe war zum sechsten Mal um sein verfluchtes Leben gerannt, als die Viecher ihn auf der Wiese schließlich doch eingeholt hatten. Wie sehr er innerlich hatte fluchen wollen, als ihn einer der Stacheln von den Stachelschwanzwildschweinen erwischte…
Stattdessen hatte er vor Schmerzen nur wie am Spieß schreien können. Diese verdammten 84% Schmerzempfinden!
Aber als ob die Schmerzen an sich nicht schon genug gewesen wären, hatte ihn das verdammte Viech auch noch durch die Gegend geschleudert… Am liebsten hätte er sich in diesem Moment den Helm des Dimensional Leap-Systems vom Kopf gerissen…
Als er schließlich zu Boden fiel, wusste er, dass sein Ende gekommen war. Die Beinwunde war so schwerwiegend, dass permanent Schadensmeldungen auf ihn einprasselten. Es würde nicht lange dauern bis er verblutete, wenn die Stachelschwanzwildschweine ihn nicht schon vorher erstachen. Doch irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen einfach aufzugeben. Und so stellte er sich tot.
Eine bescheuerte Idee?
Gewiss.
Aber wenn schon, denn schon, nicht wahr?
So lag er für ein paar qualvolle Sekunden totenstill am Boden und beobachtete wie seine HP-Zahlen dahinflossen. Doch der Tod kam nicht.
Wie durch ein Wunder, war er immer noch nicht aus dem gebildeten Team geschmissen worden. Seine Gesundheit war auf 5/110 HP gefallen, als das Wolfsunionsmitglied Six der Spinne den Todesstoß verpasste!
Von einer Sekunde auf die Andere, übersprang er Level 1 und stieg bis zu Level 2 empor. Sein HP-Basiswert sowie seine physische Konstitution wurden durch den plötzlichen Levelanstieg ebenfalls angehoben und versetzten ihn so in die Lage, für einen kurzen Moment klare Gedanken zu fassen.
Die 35 HP waren in dem Augenblick der Klarheit genug, um sich zu retten.
Hastig griff er in seinen Speichergegenstand und zog eine Heilsalbe, samt Bandagen heraus. Im Nu hatte er einen amateurhaften Druckverband angelegt und ließ die Heilsalbe ihre Wirkung entfalten, indem er sich zurück ins Gras fallen ließ und wachsam seine Umgebung musterte.
Er bekam gerade noch mit, wie etwas Silbernes hinter Six aufblitze und dessen Körper im nächsten Moment in zwei Hälften gespalten zu Boden fiel.
Verwirrt rieb er sich seine Augen. Seine Sicht verschwamm im ständigen Wechsel mit klaren Momenten. Hatte er sich das gerade eingebildet?!
Seine Gesundheit war während des Verband Anlegens auf 23 HP gesunken und er musste sich anstrengen, um einen klaren Blick zu behalten.
Ganz zu schweigen von den Schmerzen, die mit aller Macht zurückgekehrt waren. Das Hochgefühl des Levelaufstiegs hatte viel zu kurz angehalten. Wieso musste er für ein Spiel bloß derartige Qualen erleiden?
Wütend verfluchte er in Gedanken die Spielentwickler Raoies und strengte seine Augen an, um einen klaren Blick zu erhaschen.
Er nahm eine Person wahr, die unmittelbar bei der Beute stand, konnte sie aber zunächst nur schemenhaft erkennen.
Als die Konturen sichtbar wurden, traute Bahe seinen Augen noch immer nicht und öffnete schnell das Teamprofil.
Es war nichts zu sehen!
Der Spieler mit dem Nickname Deraka, der Level 19 Berserker, war aus dem Teamprofil gelöscht worden und doch stand er vor ihnen!
Bahes Gedanken überschlugen sich, als er erkannte, dass Deraka seinen Tod nur vorgetäuscht hatte. Scheinbar hatte er das Team mutwillig verlassen, um sie alle in die Irre zu führen.
„Was… was zum Henker!“, hörte Bahe den zornigen Bogung.
„Wer bist du?!“, schrie Lef Deraka wutentbrannt entgegen, während er und die anderen Wolfsunionsmitglieder ihre Geschwindigkeit noch einmal erhöhten, in der Hoffnung, Deraka davon abhalten zu können die ganze Beute einzusacken.
Doch Bahe war klar, dass sie zu spät kommen würden und bemerkte das abfällige Schnauben, welches Deraka von sich gab.
Sehr zu seinem Missfallen konnte auch Bahe nur zusehen, wie Deraka in aller Seelenruhe die ersten Artefakte in seinem Speichergegenstand verschwinden ließ. Doch da prallte plötzlich ein Schild mit so großer Wucht gegen den Rücken des Berserkers, dass dieser zwei Meter weiter zu Boden geschleudert wurde.
Unweit von den Wolfsunionsmitgliedern entdeckte Bahe die beiden Schildschwertkämpfer, wenn auch freilich einen von ihnen ohne Schild. Scheinbar hatten diese Beiden ebenfalls etwas dagegen, dass der Berserker sämtliche Artefakte, die das Spinnenmonster fallen gelassen hatte, an sich nahm.
Die kurze Störung war alles, was die Wolfsunionsmitglieder brauchten, um in Reichweite der Artefakte zu gelangen. Doch Deraka dachte scheinbar gar nicht daran zu teilen. Mit einer Explosivität, die Bahe nicht für möglich gehalten hatte, sprang er plötzlich vom Boden auf seine Gegner zu und schleuderte den überraschten Gildenmitgliedern das stumpfe Ende seiner Axt entgegen.
Fel hatte den Schlag mit seinem Speer noch parieren wollen, doch die Kraft des Berserkers bahnte sich gnadenlos ihren Weg und hob ihn mit zerbrochenem Speer von den Füßen. Meteorgleich prallte er gegen seine Teammitglieder und riss sie allesamt mit sich.
„Du Bastard!“, ereiferte sich Fel, während er sich darum bemühte wieder auf die Beine zu kommen.
„Fick dich!“, schrie Bocan sogar noch ausfallender, mit Zorn verzerrtem Gesicht.
Doch Bahe sah Deraka nur spöttisch drein blicken, ehe er sich abwandte.
Er selbst konnte nur den Kopf schütteln. Die Wolfsunionsmitglieder hatten doch tatsächlich die Stachelschwanzwildschweine vergessen, die in diesem Moment von hinten über sie herfielen.
Was folgte, waren elendige Schreie voller Qual, als die Kreaturen ihre Stacheln auf sie niederfahren ließen und sie unter sich begruben.
„Sollen alle deine Ahnen zur Hölle fahren!“
„Wir werden dich kriegen!“
„Unsere ganze Gilde wird Jagd auf dich machen! Du wirst dich nirgendwo mehr versteck-“
Es brauchte nur ein paar Sekunden ehe die Wutschreie der Verlierer abbrachen.
Alle Wolfsunionsmitglieder verschwanden schlagartig aus dem Teamprofil und ließen Bahe mit den beiden Schildschwertkämpfern allein in der Gruppe, die in genau diesem Moment auf den Berserker trafen.
Sie hatten aus dem Untergang der Wolfsunionsmitglieder gelernt. Während sich der eine hinter seinem großen Schild versteckte und die ersten Hiebe des Berserkers trotze, ergriff der andere Spieler seinen eigenen Schild und eilte seinem Freund zu Hilfe.
Ihr passives Verhalten machte es Deraka erheblich schwerer ihnen in kurzer Zeit den Gar aus zu machen.
Bahes Blick glitt indes zu den restlichen Artefakten, die noch immer am Boden lagen, konnte aber nur bedauernd über sich selbst lächeln. Was sollte er schon tun?
Sein Verband verhinderte, dass er weiter verblutete und HP verlor, aber die Wirkung der Heilsalbe setzte gerade erst ein und vertrieb nur schwerlich die Schmerzen, die noch immer von seinem geschundenen Bein ausgingen. Die Prellungen am ganzen Körper mal völlig außen vor gelassen.
Er hatte bereits versucht, zumindest auf alle Viere zu kommen, aber letztlich doch stöhnend davon abgelassen. Wieso mussten sich all die Verletzungen bloß so real anfühlen?!
Ein Rascheln hinter ihm im Gras ließ ihn vor Schreck blitzschnell herumfahren, was ihm sein geschundener Körper prompt mit weiteren Schmerzen dankte.
Ächzend sah er wie Balu mit Brocken und Limona auf dem Rücken zu ihm trampelte, ehe er kurz vor ihm hielt und ihn interessiert beschnupperte.
„Du siehst ja scheiße aus“, stellte Limona wieder in ihrem typisch schnippischem Ton fest.
Während Brocken besorgt fragte: „Geht es dir gut?“
Bahe verdrehte nur die Augen und versuchte gleichzeitig Balus Nase von sich fern zu halten, die ständig gegen ihn stupste. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre die Neugierde des Bergbärenjungtiers vielleicht niedlich gewesen, aber in seinem gebeutelten Zustand schmerzte ihn jede Berührung.
Normalerweise sollte er sich angesichts der Nähe des Bergbären Sorgen um sein Leben machen oder das zahme Verhalten des Tieres in Frage stellen, aber mittlerweile wunderte er sich über gar nichts mehr, was seine Elementare anging.
„Es geht schon“, gab Bahe letztlich nur von sich und fragte anschließend. „Wieso seid ihr gekommen?“
„Nun, da wir Balu behalten dürfen, dachten wir, dass wir uns irgendwie ja auch revanchieren müssen“, erklärte Limona ohne mit der Wimper zu zucken, während Brocken sie missmutig anstarrte.
Bahe konnte nur schmunzeln. Das zu Hilfe eilen war vermutlich Brockens Idee gewesen, ganz egal wie Limona sich nun verkaufen wollte.
„Wir müssen… von hier verschwinden“, erklärte Brocken und reichte Bahe seine Hand.
Bahe brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass dieser ihn auf das Jungtier ziehen wollte.
Warum denn auch nicht? Laufen konnte er vorläufig sowieso nicht.
Entschlossen ergriff er Brockens Hand und wurde durch die vereinten Kräfte beider Elementare auf den Rücken des Bergbärenjunges gezogen. Stöhnend brachte sich Bahe schließlich in eine aufrechte Sitzposition und musterte sein Reittier. Er kam sich vor wie auf einer übergroßen Ziege. Seine Füße baumelten nur wenige Zentimeter über den Boden. Egal wie man es sah, das Bergbärenjungtier schien noch viel zu klein ihn zu tragen.
Dann sprangen Brocken und Limona plötzlich ebenfalls mit auf. Brocken setzte sich hinter ihn, was Bahe ein gewisses Maß an Stabilität verschaffte, während Limona vor ihm auf dem Nacken des Bergbären Platz nahm.
„Bereit?“
„Äh…“, setzte Bahe gerade an, als er auch schon unterbrochen wurde.
„Dann los!“, schrie Limona regelrecht und brachte das Bergbärenjunge mit einem Klaps auf dessen Seite in einem vollen Sprint hin zum Kadaver der Spinne.
„Was machst du denn?!“, rief Bahe verdattert, ob der falschen Richtung.
„Aber wir sind doch nicht umsonst gekommen, oder?“, quietschte Limona vergnügt und selbst Brocken lachte laut auf: „Los Balu! Lass uns die Artefakte holen!“
Panik machte sich in Bahe breit, als er das Vorhaben seiner Elementare begriff.
Verflucht! Wieso konnte nicht ausnahmsweise mal etwas nach seinem Willen gehen?!
Hier saß er nun, nahezu kampfunfähig und ritt auf die gefährlichsten Gegner seiner noch so jungen Spielerzeit zu, während bei jedem Satz des Reittiers ein stechender Schmerz durch sein Bein und die geprellten Rippen fuhr.
Stoßatmend ergab er sich seinem Schicksal und konzentrierte sich auf das Geschehen vor ihm. Deraka war noch immer mit den beiden Schildschwerkämpfern beschäftigt, die sich auf geschickte Art und Weise der mächtigen Axt des Berserkers erwehrten.
Mal sprangen sie außer Reichweite, dann wieder parierten sie so elegant, dass es schon nahezu einfach wirkte, wie eine einstudierte Choreografie.
Bahe und seine Begleiter bemerkte zunächst keiner von den Dreien, sie waren viel zu sehr in ihrem Kampf vertieft. So schafften es Bahes Elementare mitsamt Balu und Bahe einen Großteil der Strecke zu den Artefakten ungesehen zurück zu legen, obwohl sie sich auf vollkommen offener Wiesenfläche befanden.
Stattdessen war ein anderes Problem aufgetaucht. Die wenigen Bergbären, die den Kampf mit der Spinne auf ihrem Rücken überlebt hatten, kletterten soeben von der Kreatur und nahmen sowohl Bahe als auch die drei Kämpfenden ins Visier. Auf dem Boden angekommen, begaben sie sich auf alle Viere und stürmten auf ihre jeweiligen Ziele zu.
Doch damit nicht genug, auch der Blutdurst der Stachelschwanzwildschweine schien noch nicht gestillt worden zu sein. Die Kreaturen ließen die, inzwischen zu einem ekligen Brei verarbeiteten, Leichen der Wolfsunionsmitglieder zurück und preschten als Horde Balu hinterher. Bahe kam nicht umhin zuzugeben, dass sein genialer Plan von vorhin, sich nun gegen in wandte. Die Monster hatten ihn zweifellos erkannt und es nun auf ihn abgesehen.
Zu Bahes großer Erleichterung waren die anderen drei Spieler aber immer noch mit ihrem Kampf beschäftigt, auch wenn er gerade eben beobachtet hatte wie der Berserker einem der Schildschwertkämpfer stark zugesetzt und seinen Schild zerschmettert hatte.
„Passt auf die Bergbären auf!“, bat Bahe, der in diesem Moment entschieden hatte, alles auf eine Karte zu setzen.
„Keine Angst, wir schaffen das!“, antwortete Brocken.
„Genau, die erwachsenen Bergbären sind noch zu weit weg“, schloss sich auch Limona an und wandte sich an ihr Reittier: „Balu, lauf schneller!“
Die nächsten paar Sekunden kamen Bahe unendlich lange vor und die letzten Meter schienen immer länger.
Aus den Augenwinkeln sah er wie Deraka gerade einen der Schildschwertkämpfer niederstreckte und seine Axt im nächsten Moment bereits dem letzten Gegner entgegen flog.
Währenddessen war sein Blick jedoch unentwegt auf die wenigen, noch verbleibenden Artefakte direkt vor ihm gerichtet. Er sah noch ein ungewöhnlich dunkles Schwert am Boden liegen sowie einen schwer wirkenden Schild, einen langen Stab und einiges an Geld, dem Funkeln nach zu urteilen.
Der Stab, wahrscheinlich eine Hiebwaffe, interessierte ihn kaum, genauso wenig der Schild. Es war definitiv das Schwert, auf das er es abgesehen hatte.
Nach einigen qualvollen Sekunden erreichten Bahe und seine Begleiter endlich die Artefakte und Limona machte sich bereit nach dem Schild zu greifen.
„Das Schwert zuerst!“, rief Bahe hektisch und konnte zu seiner Zufriedenheit feststellen, wie Limona sich um entschied und zunächst den Griff des Schwertes erfasste.
Bahe nahm das ihm gereichte Schwert so schnell er konnte an und packte es ohne zu zögern, mitsamt seinem Stirnartefakt in seinen Speichergegenstand.
Von vorne kamen die erwachsenen Bergbären immer näher und von hinten die Stachelschwanzwildschweinhorde, sein Tod war höchstwahrscheinlich, aber so würde er wenigstens nicht seine wichtigen Ausrüstungsgegenstände verlieren.
Doch wie so oft kam es anders als er dachte. Limona griff gerade nach dem Schild, als der Leichnam des zweiten Schildschwertkämpfers vor ihrer Hand auf die Artefakte fiel.
Erschrocken richtete sie sich auf und brachte Balu dazu einen Satz zurück zu machen. Keine Sekunde später fuhr auch schon die Axt des Berserkers an der Stelle nieder, an der Balu zuvor noch gestanden hatte.
Schweißperlen bildeten sich auf Bahes Stirn, als er begriff wie knapp es gewesen war. Deraka hingegen grinste boshaft, was in Anbetracht seines blutverschmierten Äußeren nur noch gruseliger wirkte.
Bahe schaute sich noch ein letztes Mal um. Es gab keine Fluchtmöglichkeit mehr. Zu seiner linken die Bergbären, die jeden Moment über sie herfallen konnten, zu seiner rechten die Horde der Stachelschwanzwildschweine und vor ihm ein Gegner, der zum jetzigen Zeitpunkt unbesiegbar für ihn war. Sicher, er konnte Balu umdrehen lassen, aber er erinnerte sich noch daran, wie das Bergbärenjunge nach wenigen hundert Metern auch ohne ihn aus der Puste gewesen war. Sie würden nicht weit kommen.
Dann hallte plötzlich ein unheilvolles Kreischen von den Hängen des Lungagebirges herab, dessen Echo bedrohlich über die Wiese schallte.
Sowohl die Bergbären als auch die Stachelschwanzwildschweine stoppten nahezu augenblicklich in ihren Bewegungen und duckten sich ängstlich gen Boden. Unsicher machten sie ein paar Schritte hin und her, ehe sie mit einem Mal umdrehten und panisch das Weite suchten.
Brocken und Limona konnten Balu nur mit Mühe dazu bewegen sich nicht den restlichen Kreaturen anzuschließen, während Bahe derweil sein Bestes gab, nicht herunter zu fallen.
Deraka hingegen trat nur ein paar Schritte zurück und sammelte schnell die letzten Artefakte ein.
Balu war gerade wieder unter Kontrolle, als ein tiefes Grollen von den Ausläufern des Lungagebirges ertönte und das dumpfe Krachen schwerer Schritte zu vernehmen war, die aus großer Entfernung schnell näher kamen.
„Scheinbar haben wir etwas noch viel gefährlicheres als diese Spinnenkreatur aufgeschreckt“, meinte Deraka plötzlich an Bahe gewandt und fuhr fort: „Du bist kein gewöhnlicher Level 0 Spieler, was?“
Bahe kniff die Augen zusammen und überlegte, worauf der Berserker hinaus wollte.
„Machst du dir grad wirklich Gedanken darüber, ob ich dich umbringen werde?“, lachte dieser über Bahes Reaktion und schüttelte nur den Kopf. „Wenn ich das wirklich wollte, würdest du schon längst aus deinem Dimensional Leap-System steigen.“
„Was willst du dann? Das Schwert?“, fragte Bahe, dem klar war, dass er hier keinem gewöhnlichen Widersacher gegenüber stand.
„Pah! Das Ding?“, meinte er abfällig und zog die Augenbrauen hoch. „Beleidige mich nicht!“
„Du hast es schon identifiziert?“, fragte Bahe.
„Sicher“, sagte Deraka nonchalant und breitete die Hände aus. „Im Rang Gewöhnlich hat es wohl so ziemlich die besten Stats die du finden kannst, aber letztlich ist es noch nicht mal ein Bronzeartefakt.“
Mit einem Augenzwinkern erklärte er: „Du darfst es behalten. Sieh es als kleine Belohnung dafür, dass du es als Level 0 Spieler geschafft hast, bis jetzt am Leben zu bleiben.“
„Bis jetzt?“
„Hehe“, gab Deraka belustigt von sich. „Du hast es sofort verstanden, was? Du bist schon ein merkwürdiger Kerl… Du bist noch Level 0, vollbringst aber das Unmögliche. Du bändigst einen Bergbären, zugegebener Maßen ein Jungtier, aber immer noch mehrere Level höher als du selbst, durchschaust sofort die Wolfsunionsmitglieder, was eine Seltenheit unter unerfahrenen Spielern ist und versuchst sogar die gesamte Gruppe gegeneinander auszuspielen, um dir einen Vorteil zu verschaffen!“
Lachend brach Deraka ab und legte anschließend den Kopf schief, als er Bahe aufmerksam musterte.
„Tja… leider hat es nicht geklappt“, meinte Bahe nur und brachte Deraka damit erneut zum Lachen.
„Ich… ich musste mich so zusammenreißen, als du es bei mir versucht hast!“, brachte er schließlich hervor und schüttelte grinsend den Kopf.
„Was nun?“, fragte Bahe ungeduldig, der unter dem näher kommenden, dumpfen Getrampel im Gebirge zunehmend nervös wurde.
„Ach, jetzt hab dich doch nicht so“, meinte Deraka. „Lass mir meinen Spaß.“
Genervt verzog Bahe das Gesicht, was den Berserker jedoch nur erneut zum Lachen brachte.
„Da du nicht so redselig bist, was ich dir so nebenbei bemerkt nicht verübeln kann, sollten wir uns wohl von einander verabschieden“, sagte Deraka schließlich und trat ein paar Schritte zurück.
Bahe bemerkte, wie sein Gegenüber einen hellblauen Kristall aus dem Nichts beschwor. Wahrscheinlich hatte er diesen aus seinem Speichergegenstand genommen. Es selbst zu tun war eine Sache, es bei einem anderen Spieler zu sehen, verlieh der ganzen Aktion jedoch irgendetwas Mystisches. Zumal sich Bahe nicht wirklich sicher war, welches Kleidungstück oder Ausrüstungsgegenstand Derakas Speichergegenstand war.
„Das ist…?“
„Oh, das hier ist ein Teleportationskristall“, meinte Deraka leichtfertig und brachte den Kristall plötzlich zum Erleuchten. Der Kristall pulsierte ein, zwei Mal in seinem hellblauen Licht, ehe er zerbarst und Deraka komplett in eben dieses hellblaue, pulsierende Licht hüllte.
Bahe bekam große Augen, als er verstand, was Deraka bezweckte und verfolgte wie gebannt, wie zum ersten Mal jemand vor ihm einen so unglaublich teuren Zauber benutzte. Selbst die ein oder anderen Gildenanführer überlegten es sich zweimal, ob sie einen Teleportationskristall nutzten. Zurzeit kosteten die Dinger noch ein unfassbares Vermögen von zwanzig Goldmünzen pro Stück!
Während Bahe von dem einmaligen Anblick gefesselt war, holte Deraka noch etwas anderes aus seinem Speichergegenstand hervor. Es wirkte wie eine ledrige Haut mit irgendwelchen Schriftzeichen darauf.
„Bevor ich es vergesse…“, begann der Berserker, während sein Körper allmählich begann sich im Licht aufzulösen. „Du hast dich sicher gefragt, wie die Gildenmitglieder der Wolfsunion so zielsicher durch die Level 20 und Level 30 Jagdgebiete navigieren konnten, oder?“
Deraka wartete kurz, um die Spannung in die Höhe zu treiben und brachte dann lachend hervor: „Nun… dies hier ist die magische Karte, die Lef bei seinem Tode verloren hat…“
Bahe zuckte augenblicklich zusammen, als er sich der Auswirkungen bewusst wurde, wenn Deraka mitsamt der Karte verschwand!
„Los! Wir müssen sofort zu ihm!“, rief er panisch, wobei Limona Balu bereits antrieb.
„Ich bin wahrlich gespannt, ob du es ein weiteres Mal schaffst am Leben zu bleiben!“, lachte Deraka noch immer, als sich sein Körper letztlich vollends im Licht auflöste.
„Bis zum nächsten Mal… Anael… Lerua…“, hallte es noch, dann war er mitsamt des Lichts verschwunden.
Balu landete kaum eine Sekunde später an der Stelle, an der Deraka gerade eben noch gestanden hatte. Doch es war zu spät.
„Fuck!“, fluchte Bahe lautstark. Wie sollte er bloß von hier verschwinden?!
„Leute, wenn ihr eine Idee habt, wie wir lebend von hier entkommen können, wäre ich euch sehr dankbar!“, wandte sich Bahe hektisch an seine Elementare.
„Dir ist schon klar, dass wir keine Götter sind?“, entgegnete Limona auf ihre schnippische Art.
„Gegen das… was kommt… können wir nichts tun…“, bemerkte Brocken. „Aber wir können dich… durch die Territorien der Waldbewohner führen… wenn du vorsichtig bist…“
„Das wäre wunderbar“, hellte sich Bahes Mine schlagartig auf, der gar nicht damit gerechnet hatte, dass seine Elementare mal nützlich sein konnten.
„Brocken, du darfst es ihm nicht immer zu leicht machen!“, beschwerte sich Limona bei ihrem Kameraden.
„Aber ich darf Balu behalten“, sagte Brocken bestimmt. „Dafür muss… ich mich bedanken.“
„Wie du meinst…“, murmelte Limona griesgrämig, zuckte aber beim nächsten Krachen der gewaltigen Schritte im Lungagebirge zusammen.
„Scheinbar wird es höchste Zeit von hier zu verschwinden!“, hatte sie es plötzlich selbst äußerst eilig die Lichtung zu verlassen, war jedoch sehr darum bemüht sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen.
Bahe musste sich an dieser Stelle sein Grinsen verkneifen. Es fehlte noch, dass Limona seine Gedanken bemerkte und sich aus Trotz querstellte.
„Los Balu!“, gab sie dem Bergbären ein Kommando und sorgte dafür, dass er eiligst von der Lichtung trabte.
Der holprige Ritt tat Bahe immer noch weh, aber die Heilsalbe hatte allmählich ihre Wirkung entfaltet. Mit einen kurzen Check seines Charakterprofils hatte er sehen können, dass sich sein Verletzungsstatus von schwer und verkrüppelt auf moderat und erschöpft gewandelt hatte.
Bevor er in Waldenstadt zum Marktplatz aufgebrochen war, hatte er vorsichtshalber noch seine Wildwurzelkaninchen verkauft und den Erlös samt seines restlichen Vermögens in Notversorgung für seinen Jagdausflug gesteckt. Die Heilsalbe, sowie die Verbände hatten ihn ein Vermögen gekostet. Die Hälfte seines ganzen Besitzes war allein für die Heilsalbe drauf gegangen. Und von der anderen Hälfte hatte er sich noch die Verbände kaufen müssen. Viel war nicht übrig geblieben.
Bahe war klar gewesen, dass Heiltränke noch um ein Vielfaches teurer waren, aber als er dann die Preise gesehen hatte, waren ihm fast die Augen ausgefallen. Zehn Goldmünzen pro Trank überstiegen bei weitem seine Möglichkeiten.
Vorsichtig versuchte er sein Bein zu bewegen und konnte feststellen, dass es spürbar leichter wurde, es schmerzfrei zu strecken oder zu beugen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er wieder problemlos laufen können.
Die Heilsalbe war also nicht vollends nutzlos. Allerdings war sie für eine Kampfsituation eigentlich vollkommen ungeeignet, da der Heilungsprozess viel zu lange brauchte. Für Erkundungen und kleinere Verletzungen war sie hingegen definitiv die bessere Alternative als ein teurer Trank.
Bahe seufzte. Er hatte so viel Geld ausgegeben und nur ein Artefakt des Ranges Gewöhnlich erbeutet. Waren seine Fähigkeiten wirklich so eingerostet?
Vielleicht…
Andererseits… war er jetzt nicht Level 2?
„He he…“, amüsierte er sich begeistert über seinen Zuwachs an Erfahrung.
Egal, wie viele Attributpunkte er ohne Levelaufstieg sammeln konnte, es kam einfach nicht mit der Genugtuung gleich, die man beim Levelaufstieg empfand…
Weit oben, an den ersten großen Hängen des Lungagebirges, hallte das Krachen einer gewaltigen Kreatur zwischen den Klippen und den scharfkantigen Felswänden wieder. Der Wind heulte lautstark über das massive Gestein, während die ersten Regentropfen auf den Fels gepeitscht wurden. Der Untergrund und die Bedingungen waren hier so hart, dass sich nur vereinzelt Pflanzen in dieses Terrain vorgewagt hatten.
Doch an einer Klippe, inmitten dieser trostlosen Landschaft, wuchsen plötzlich mehrere Auswüchse eines Dornenstrauchs empor, ehe sie sich oben angekommen verdichteten und nach und nach zu einer Gestalt verschmolzen.
Der Kopf der Gestalt neigte sich gen Tal, in dem ein junger Spieler zwischen einer Vielzahl von Leichnamen auf einem Bergbärenjungen saß.
Es dauerte kaum ein paar Sekunden, ehe eine weitere Fähigkeit Sins dafür sorgte, dass Sin sich ein genaueres Bild von der Sachlage machen konnte.
Als Sin den leblosen Körper einer Granitfelsspinne entdeckte, zitterte Sin vor unterdrückter Wut.
Wegen diesem Idioten war alles schief gelaufen!
Die Spinnenkreatur dort unten war gerade mal ein paar Wochen alt gewesen! Sin hatte sich noch gefreut, als das einzige Jungtier des erwachsenen Exemplars auf spielerische Entdeckungstour ging, da Sin sich so besser in das Nest der Granitfelsspinne hineinschleichen konnte. Doch was passierte?
Irgendwelche Idioten hatten es tatsächlich gewagt dieses Jungtier zu töten?!
Sin war gerade auf halben Weg zu den Schätzen im Nest gewesen, als das gigantische Muttertier vollkommen panisch aus dem Schlaf geschreckt war! Und wen hatte das Viech zuerst entdeckt?
Sin natürlich!
Die ausgewachsene Granitfelsspinne besaß irgendein Level in den dreistelligen Zahlen. Es war einzig Sins ungewöhnlicher Berufsklasse zu verdanken, dass Sin entkommen war. Wobei selbst dies einem Wunder glich. Das über hundert Meter große Muttertier war mit solcher Wucht aus der Nesthöhle gestürmt, dass die massive Felsendecke eingebrochen war und sämtliche Artefakte, inklusive Sin, unter sich begrub.
Ohne Sins besonderen Fähigkeiten wäre jeder andere Person hoffnungslos zermalmt worden!
Nachdem Sin unter den Felsbrocken begraben wurde, hatte sich die Spinne glücklicherweise dazu entschieden nicht länger an Ort und Stelle zu verweilen und Sin so die Möglichkeit gegeben zu entkommen.
Mittlerweile entfernte sich das Geräusch der krachenden Schritte zunehmend von Sin. Das Ziel der Granitfelsspinne war klar. Sie würde sehr bald unten im Tal ankommen.
Währenddessen beobachtete Sin wie der junge Spieler mitsamt seines Bergbärenjungtiers im Wald verschwand.
Sin schnaubte nur verächtlich. Als ob sich der Typ mit solch einem niedrig Level Pet durch Level 20 und Level 30 Monstergründe schlagen könnte…
Geschweige denn schnell genug!
Trotzdem! Ein Tod durch die Spinne war nicht genug, um Sins Rachedurst zu stillen!
Sin war zwar mit dem Leben davon gekommen, aber die Artefakte hatte Sin nicht unter den Felsen bergen können…
Wochenlange Arbeit und alles umsonst…
Sin konzentrierte sich schnell und murmelte: „Blattmarker.“
Zur gleichen Zeit, spross tief unten im Tal, plötzlich ein Kletten-Labkraut aus dem Waldboden hervor. Der Bergbär streifte es mitsamt seines Spielers im vorbei traben und ohne bemerkt zu werden, blieb ein Blatt der Klettpflanze am Hosenbein des jungen Spielers hängen.
Wenig später verschwanden der Bergbär und sein Spieler aus der Reichweite Sins magischer Sicht.
Sin grinste nur abfällig.
„Hab ich dich.“
Dann löste sich Sins Gestalt wieder in einzelne Stränge eines Dornengestrüpps auf, welches sich ein Weg durch die unwirtliche Berglandschaft bahnte.
Sin dachte gar nicht daran sich zu beeilen. Bislang hatte es noch kein Ziel gegeben, welches Sin entkommen war.
Eineinhalb Stunden später fand sich Bahe knapp einen Kilometer von Waldenstadt entfernt am Boden liegend wieder. Vollkommen erschöpft und nach Luft schnaufend lag mit dem Rücken an das Bergbärenjunge gelehnt, welches selbst auch lautstark nach Luft rang. Seine Elementare schienen diesmal nicht weniger mitgenommen.
Aber alles im Allen konnte Bahe froh sein. Über eine Stunde hatten sie noch die Schreie und die krachenden Schritte der gigantischen Kreatur vernommen, die sie aber nie wirklich zu sehen bekommen hatten. Im wahnwitzigen Tempo waren sie durch die Wälder gerannt, hatten Haken geschlagen und versucht in Bachläufen ihre Spuren zu verwischen…
Hätte die Kreatur nicht schon von Weitem ganze Populationen von Waldkreaturen in die Flucht geschlagen, wäre Bahes Versuch zu entkommen wohl vollends zum Scheitern verurteilt gewesen.
Zwischenzeitlich war er regelrecht Seite an Seite mit Level 30 Monstern gelaufen, die allesamt nichts lieber taten, als das Weite zu suchen.
Es war eine merkwürdige Synergie von Flüchtenden gewesen, ein Waffenstillstand ähnlich der Wasserlöcher in afrikanischen Steppen, in denen alle Tiere zur gleichen Zeit das Wasser aufsuchten und selbst ein Neugeborenes keine Angst vor den Raubtieren haben musste.
Nachdem Bahe schließlich wieder zu Atem gekommen war, holte er aufgeregt sein neues Artefakt aus dem Speichergegenstand.
„Identifizieren!“
Nichts passierte.
„Was zum…“, murmelte Bahe verblüfft.
„Identifizieren!“, sprach Bahe den Befehl diesmal langsam und möglichst deutlich aus.
Doch es passierte wieder nichts.
Was war hier los?!
Er hatte die Fähigkeit doch erlernt!
Vollkommen verdattert öffnete er sein Charakterprofil und las sich erneut die Beschreibung der Fähigkeit durch.
„Jede Aktivierung von Identifizieren kostet nun mindestens 20 Mana…“, so langsam schwante es ihm. „Scheiße!“
Er konnte ja noch immer nicht über sein Mana verfügen! Oder besser gesagt, er wusste nicht, wie er es steuerte und Zauber aktivieren konnte. Kein Wunder, dass die Fähigkeit Identifizieren, die inzwischen nicht mehr das typische Zugeständnis des Spielbeginns war, nicht funktionieren wollte.
Augenverdrehend rieb sich Bahe über sein Gesicht und seufzte innerlich.
Fakt war, dass die Chatfunktion ebenso ein Zugeständnis an alle Spieler, egal ob Spielanfänger oder Progamer, war und immer funktionierte.
Durch seine Nutzung der Chatfunktion und der Tatsache, dass er dabei Mana verbrauchte, hatte er ganz vergessen, dass er die Nutzung seiner Manareserven eigentlich erst noch erlernen musste…
Soviel zu seinem Glück im Spiel…
Bahe konnte nur hoffen, dass sich sein quälender Start nur irgendwann mal auszahlen würde.
„Ein gutes Schwert… für den Anfang…“, bemerkte Brocken, der inzwischen wieder einigermaßen erholt aussah und Limona nickte zustimmend.
„Hmm…“, meinte Bahe nur. Hatte der Berserker nicht etwas Ähnliches gesagt? So ziemlich die besten Stats für den Rang Gewöhnlich?
Wenn dem wirklich so war, dann konnte er problemlos damit leben, dachte Bahe.
Natürlich gab es bessere Artefakte, aber vielleicht war ein höherer Ausrüstungsgegenstand bei seinem momentanen Level nur hinderlich. Bahe würde sich dann vermutlich die ganze Zeit nur Sorgen machen, dass irgendein hoher Spieler auf ihn aufmerksam werden würde.
Für die nächsten Tage beschloss er sich lieber etwas ruhiger zu verhalten. Er hatte in letzter Zeit schon genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Mit diesem Vorsatz stand er auf und wollte sich noch in der Dunkelheit nach Waldenstadt aufmachen, als es plötzlich vollends dunkel um ihn herum wurde und ein letztes Benachrichtigungsfenster aufklappte:
Deine Spielzeit der täglichen 12 Stunden ist abgelaufen. Dein Standort wird gespeichert und du wirst automatisch ausgeloggt. Bis zum nächsten Mal!
Ah, verdammt…
Er hatte vollkommen die Zeit vergessen.
Wie immer dauerte es einen Moment ehe er gewahr wurde, dass er gerade auf das Interface seines Helmes im Dimensional Leap-System starrte. Vorsichtig nahm er den Helm ab und stieg aus seinem System, welches sich soeben öffnete.
Samstags und sonntags musste er glücklicherweise nicht zur Schule. Von daher konnte er mal wieder ganz in Ruhe frühstücken. Seiner Meisterin würde er erst Morgen begegnen, von daher hatte er tatsächlich mal einen freien Tag.
So stand er nach dem Frühstück perplex in seinem Zimmer und wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte…
Hatte er etwa Langeweile?
Was für ein Luxus! Dachte Bahe grinsend.
Kaiwen ging nervös den Gang auf und ab, während sie auf die Rückmeldung der Interviewer wartete.
Die letzten Tage waren sehr ereignisreich gewesen.
Sie hatte kaum glauben können, als sie in diesen Avatar Anael Lerua den Spieler Bahe Dragon erkannte, den sie zuvor bereits interviewt hatte.
In ihrer Begeisterung endlich ein Ereignis zu haben, über das sie berichten konnte, hatte sie ihren Chef bei PG aufgesucht, nur um die Abfuhr des Jahrhunderts zu erhalten.
Ihre verfluchten Kollegen hatten sie dermaßen in die Scheiße geritten, dass ihr Chef sich nicht mal mehr ihre Meinung anhören wollte. Laut und deutlich hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass sie noch eine Woche Zeit hatte, eine große Story an Land zu ziehen, ehe er bei ihr die Notbremse ziehen würde. Denn scheinbar wäre sie wohl doch noch nicht reif genug für das Geschäft.
Ihre Kollegen hatten Kaiwens Chef erzählt, dass sie auf sexuelle Art und Weise versucht hatte, an das Material ihrer Kollegen zu kommen und diese gegeneinander ausspielen wollte. Kaiwen war vollkommen sprachlos gewesen, als ihr Chef ein eindeutiges Video von ihr mit den entsprechenden Kollegen abspielte, welches diese wohl an ihn weiter geleitet hatten.
Eine Bemerkung von Tong, als sie das Büro ihres Chefs verließ, hatte sie fast zum Ausrasten gebracht. Der Scheißkerl hatte ihr doch tatsächlich erzählt, dass sie schließlich beim Fernsehen wären. Wo sonst könnte man so leicht ein Double für gewisse pornografische Inhalte finden? Aber wahrscheinlich hätte sie doch sowieso nichts dagegen, oder? Beim nächsten Dreh wäre sie doch bestimmt viel lieber selbst dabei, nicht wahr?
Kaiwen ballte erneut die Fäuste, als sie daran dachte. Nur mit größter Willensanstrengung war sie in diesem Moment ruhig geblieben. Hätte sie nicht das gefährliche Glitzern von Genugtuung in Tongs Augen entdeckt, wäre sie wahrscheinlich wirklich auf ihn losgegangen. Das hätte ihm jedoch nur in seine Karten gespielt. Direkt nach einem Anschiss vom Chef auch noch gewalttätig zu werden…
Pah!
Dennoch hatte dieser Fall das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie hatte genug. PG mochte einer der beliebtesten Sender für Online-Inhalte sein, aber noch lange nicht der Einzige! Bevor sie entlassen wurde, wollte sie lieber kündigen!
Noch am selben Tag hatte sie sich beim rivalisierenden Sender Hall of Fame beworben. Zu ihrem Glück war sie kaum ein paar Tage später bereits zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen worden. Jetzt hieß es abwarten…
Ungeduldig drehte Kaiwen um und lief den Gang ein weiteres Mal ab. Wann waren endlich alle Interviews durch?
Vierzig Minuten später saßen sechs Personen im Interviewraum beim Sender Hall of Fame und lieferten sich eine hitzige Diskussion darüber, wen sie einstellen sollten.
„Ich verstehe gar nicht, wieso ihr unbedingt diese Kaiwen Chao wollt“, ereiferte sich eine der drei anwesenden Frauen. „Seid ihr euch sicher, dass ihr es nicht nur auf ein hübsches Gesicht abgesehen habt?“
„Xiana, was willst du damit sagen?!“, regte sich einer der drei Männer auf.
„Was will sie wohl damit sagen?“, fuhr Xianas Sitznachbarin dazwischen. „Die Kleine hat schließlich viel zu wenig Erfahrung in diesem Business, als das wir ihr eine volle Reporterstelle anbieten sollten!“
„Mich hat ihre Projektidee überzeugt, welcher sie unter anderem nachgehen will, wenn sie den Job bekommt. Was ist daran verwerflich?!“
„Ach, komm schon, Can!“, stöhnte Xiana herablassend.
„Was meinst du, Dandan?“, fragte ein Mann mittleren Alters, der am Kopfende des Tisches saß, eine Frau zu seiner Rechten, die bisher geschwiegen hatte.
„Das sie noch jung und relativ unerfahren ist, halte ich für nebensächlich. PG hat sie nicht ohne Grund genommen. Ich würde es von ihrem Willen, in dieser Branche tätig zu sein, abhängig machen. Gib ihr eine Chance und wenn sie sich nicht bewährt, können wir sie immer noch loswerden.“
„Zunächst einen Vertrag auf Probezeit?“, überlegte der Mann mittleren Alters.
„Hört sich gut an“, schloss sich der dritte Mann im Raum Dandan an. „Was meint der Rest?“
„Ich bin dafür“, erklärte Can, der sich gerade noch den verbalen Angriffen der zwei Damen erwehrt hatte.
„Wenn es sein muss“, erwiderte Xiana hingegen nur widerstrebend und auch ihre Sitznachbarin nickte.
„Dann arbeiten wir mit Dandans Vorschlag“, nickte der Vorsitzende der Interviewrunde und erhob sich. „Dandan, es ist deine Idee, also unterbreitest du ihr auch bitte das Angebot. Sollte sie es annehmen, wird Qiang sie einarbeiten.“
„Alles klar, Chef“, bestätigte der dritte Mann im Raum, dass er verstanden hatte und auch Dandan nickte.
Während Can hingegen sichtlich geknickt dreinblickte.
Nachdem sich die Tür hinter ihrem Chef geschlossen hatte, meinte Xiana nur verächtlich: „Tja, letzten Endes hast du dann doch nicht deinen Willen bekommen, was? Kein neues Betthäschen für dich…“
„Pah!“, lachte Can nur laut auf. „Nur weil du keine Chance bei mir hast, brauchst du nicht jedes Mal so zickig werden, wenn ich ein Auge auf jemanden werfe!“
„Und da geht es schon wieder los…“, verdrehte Qiang die Augen.
„Haltet die Klappe! Alle Beide!“, fuhr Dandan genervt Xiana und Can an und brachte sie damit augenblicklich zum Schweigen.
„Ich bin es leid, mich ständig mit euren Kindereien herumärgern zu müssen!“, erklärte sie kalt. „Macht das ihr hinaus kommt. Du auch, Hualing. Qian, du bleibst.“
Qiang blieb still, während die Drei den Raum verließen.
Und Dandan seufzte schwer, als sich endlich die Tür hinter ihnen schloss.
„Diese drei Idioten…“, murmelte Dandan und meinte an Qiang gewandt: „Mach dich bereit der Neuen alles zu zeigen.“
„Wie? Du hast sie doch noch gar nicht gefragt. Vielleicht will sie den befristeten Vertrag ja gar nicht…“
„Wenn diese Kaiwen auch nur halb so viel die Frau ist, für die ich sie halte, wird sie ihre Chance nutzen“, erklärte sich Dandan und verließ den Raum.
Zurück blieb der verblüffte Qiang, ehe er einen Moment später in ein Lächeln ausbrach. Seine Abteilungsleiterin hatte an der jungen Frau scheinbar einen Narren gefressen. Dabei war es eine Seltenheit, dass sie jemanden so positiv gesonnen war.
Dandan war als Abteilungsleiterin der Reporter extrem erfolgreich und der Direktor, der erst vor Kurzem befördert worden war, vertraute blind auf ihr Urteilsvermögen. Das verschaffte Qiang und seinen Kollegen eine gehörige Portion Freiraum, sofern sie Dandans Toleranz nicht zu sehr strapazierten.
Qiang überlegte gerade, ob er aufstehen und Dandan folgen sollte, als sich die Tür zum Wartebereich erneut öffnete und Dandan gefolgt von der jungen Frau eintrat.
Amüsiert zogen sich Qiangs Mundwinkel nach oben. Seine Abteilungsleiterin hatte mal wieder recht behalten.
Beschwingten Schritts verließ Kaiwen eine gute halbe Stunde später das Gebäude des Senders und musste sich beherrschen nicht in Freudensprünge auszubrechen.
Das würde so unprofessionell wirken.
Sowas von…
Glücklich schüttelte sie den Gedanken ab.
Jetzt blieb nur noch übrig, das Fundament ihrer Absicherung bezüglich PG zu erbauen, ehe sie sich endgültig von dem beschissenen Arbeitsplatz lösen konnte.
Das HoF sie direkt beim ersten Bewerbungsversuch eingestellt hatte, wenn auch auf Probe, war für sie wie ein Treffer in der staatlichen Lotterie. Sie konnte ihr Glück noch immer kaum fassen. Ein paar ihrer Konkurrenten hatte sie sogar schon mal im Fernsehen auf Sendung gesehen!
Dennoch war sie genommen worden…
Träumte sie vielleicht?
Ein Zwicken in den Arm bestätigte ihr natürlich sofort, dass sie sich das Ganze nicht bloß eingebildet hatte.
Munter setzte sie ihren Weg zur nächsten U-Bahn-Station fort und versuchte ihr freudiges Grinsen nicht zu offensichtlich zur Schau zu tragen.
Wenn Tong nur wüsste, was ihn eines Tages erwarten würde…
Ying rieb sich den Schweiß von der Stirn, während er die Putzhandschuhe von den Fingern zog und betrachtete zufrieden das nun saubere Badezimmer.
Mit einem Blick auf seine Armbanduhr wandte er sich schließlich ab und begab sich in die Küche, um noch sein Abendessen für die Arbeit vorzubereiten. Vorher stellte er aber noch die Putzutensilien in die Abstellkammer.
Mit ein paar schnellen Handgriffen brachte er den Reis im Reiskocher zum köcheln und widmete sich anschließend dem Fleisch, das er noch am frühen Morgen gekauft hatte.
„Ying?“, erklang eine fragende Stimme aus dem Wohnzimmer, als er gerade das Fleischmesser zur Seite legte.
„Ja, Oma?“, antwortete er und lauschte aufmerksam.
„Ying?“, erklang die fragende Stimme seiner Großmutter ein weiteres Mal.
„…“, seufzend wusch er sich schnell die Hände ab und schritt danach zum Wohnzimmer.
Seine Großmutter saß in ihrem großen Sessel, der zum großen Fenster ausgerichtet war, welches den Blick auf den kleinen Garten samt Teich ebnete. So sah sie ihren Enkel nicht, der bereits in der Tür stand und fragte erneut nach ihm: „Ying?“
„Was gibt es denn?“, fragte er sanft und trat in ihr Blickfeld.
„Ah, da bist du ja“, meinte sie lächelnd und tätschelte seine Hand, die er an ihren Oberarm gelegt hatte. „Ich habe mich gefragt, wann es Mittagessen gibt. Dauert es noch lange?“
„Aber nein, Oma. Ich bereite gerade das Abendessen vor und direkt im Anschluss zaubere ich uns eine wundervolle Mahlzeit.“
„Das hört sich doch gut an“, meinte sie lächelnd und nahm wieder ihr Buch zur Hand. Ein altes Märchenbuch mit besonders großer Schrift. Mehr schafften ihre Augen nicht mehr.
Ying trat leise zurück und beobachtete seine Großmutter noch einen Moment.
So lange er sich erinnern konnte, waren es immer nur er und seine Großmutter gewesen. Sie hatte ihn ganz allein groß gezogen. War ihm eine Mutter und ein Vater gleichermaßen gewesen und stets darum bemüht, für ihren Enkel nur das beste Essen aufzutischen. Trotz all der Arbeit, die sie Tag ein Tag aus geleistet hatte, um ihm den Besuch der Oberstufe finanzieren zu können.
Als sie vor einigen Jahren immer vergesslicher wurde, hatte Ying schon Böses geahnt, bevor sie überhaupt beim Arzt gewesen waren. Innerlich hatte er sich bereits gewappnet und dennoch… als ihnen die Diagnose Alzheimer mitgeteilt worden war, hatte er sich gefühlt, als ob ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hatte.
Seine Großmutter war diejenige gewesen, die stark geblieben war und ihn in seiner Trostlosigkeit aufgefangen hatte.
„So ist eben der Lauf der Dinge, mein Schatz“, hatte sie gesagt. „Viele Jahre habe ich für dich gesorgt und bald wirst du halt an der Reihe sein, dich um mich zu kümmern. Es ist vielleicht ein wenig früher als mir lieb ist, aber letztlich kommt alles so, wie es sein soll. Du wirst auch ohne mich klar kommen. Ich habe dich doch zu einem selbstständigen jungen Mann erzogen.“
Sie hatte geseufzt und danach noch hinzugefügt: „Ach, wenn doch nur deine Eltern sehen könnten, was ich jetzt sehe. Sie wären genauso stolz wie ich.“
Das Lächeln, das sie damals auf ihren Lippen trug, während ihr die Tränen über die Wangen liefen hatte er bis heute nicht vergessen.
Die Krankheit war zunächst nicht allzu offensichtlich. Doch vor einem Jahr war es dann soweit gewesen, dass sie sich permanent verlief und plötzlich nicht mehr wusste wo sie war, geschweige denn, wie sie nach Hause kommen sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie beide erkannt, dass es so nicht mehr weitergehen konnte und Ying hatte einen Pflegedienst engagiert, der sich in den Zeiten, in denen er nicht da sein konnte, um seine Großmutter kümmerte.
So gern er die Pflege seines einzigen Familienmitgliedes auch bezahlte, der Pflegedienst war teuer.
Für den Notfall besaßen sie immer noch einige Rücklagen. Früher waren sie mal für Yings Hochschulbesuch gedacht gewesen. Doch dafür waren sie eh viel zu knapp, wie Ying nur zu gut wusste. Bis auf das kleine Haus samt Garten im Außenbereich der Stadt, war ihnen nichts mehr aus den besseren Tagen seiner Familie geblieben.
Über kurz oder lang hatte er sich einen Job suchen müssen und schließlich in einem Internetcafé angeheuert. Die Bezahlung war für jemanden ohne Hochschulabschluss zwar in Ordnung, reichte aber kaum um Beides, den Pflegedienst und die Lebenserhaltungskosten tragen zu können. Die Gründe, weshalb er sich dennoch entschlossen hatte dort zu arbeiten, lagen darin, dass sein Chef sehr mit sich reden ließ, was die Organisation der Arbeitsschichten betraf und ihm zudem eins der Dimensional Leap-Systeme in einem Vertrag mit zinsfreien Raten verkaufte!
Klar, die Absicht seines Chefs war damals gewesen, dass Ying im Anschluss an der Ladentheke so viel Werbung wie nur möglich für die neuen Systeme, inklusive Spiel machte, aber Ying war ihm noch heute dafür dankbar.
Seitdem er Raoie zu Beginn einfach aus Neugierde ausprobiert hatte, war er von einem Moment auf den Anderen völlig hin und weg gewesen. Eine Welt so voller Wunder…
Dass er schon immer gerne in den exotischen Welten der Computer- und Konsolenspielen versunken war, steigerte seine Euphorie beim Spielerlebnis in Raoie nur noch mehr.
In kürzester Zeit war Raoie zu seinem Ventil geworden. Hier konnte er für wenige nächtliche Stunden einfach mal alles um ihn herum vergessen, sich im wahrsten Sinne in einer völlig neuen Welt verlieren.
Mit der Zeit hatte er allerdings auch erkannt, dass man mit Raoie durchaus Geld verdienen konnte. Sein Level war inzwischen hoch genug, um einträgliche Quests anzunehmen und entsprechende Missionen für eine gute Bezahlung im realen Leben erfolgreich abschließen zu können. Anfangs hatte er noch gedacht, dass TNL sich dagegen wehren würde, dass spielinterne Artefakte an Spieler verkauft wurden, die in der realen Welt mit Geld um sich warfen, doch es geschah nichts.
TNL begründete die eigene Entscheidung mit der Argumentation, dass selbst ein Spieler mit den besten Ausrüstungsgegenständen, im Zweikampf immer noch gegen einen wahren Bewohner Raoies verlieren würde.
Nun… Ying war sich da nicht so sicher. Aber andererseits war es nicht sein Problem.
Vielmehr hatte er dadurch eine Möglichkeit legales Geld zu verdienen, wieso sich also beschweren?
Natürlich nahm er nie die schwersten Quests an. Er suchte immer einen Schwierigkeitsgrad aus, der für ihn immer noch machbar war. Einmal war er bisher bei seinen Missionen verreckt, ansonsten konnte er aber mit sich zufrieden sein.
Wieder in der Küche, marinierte er noch schnell das Fleisch und begann das Gemüse anzubraten. Da er noch ein paar Minuten warten musste, ehe er das Fleisch dazu geben konnte, nutzte er stattdessen die Möglichkeit, um an seinem Visualisierungssystem in der Küche in einschlägigen Raoie-Onlineforen nach Missionsangeboten zu suchen.
Natürlich gab es auch im Spiel Orte, an denen man nach Missionsangeboten suchen konnte, aber Raoie war letztendlich eine mittelalterliche Fantasy-Welt. Die Reichweite von Aufträgen und Auftragssuchenden war einfach zu begrenzt. Deshalb hatten sich mit der Zeit ein paar Internetseiten auch außerhalb des Spiels herauskristallisiert, auf denen man die meisten Angebote fand.
Neben dem gelegentlichen Umrühren des Gemüses, stöberte Ying so durch die Anfragen verschiedenster Spieler, bis er schließlich bei einem Angebot hängen blieb.
„Gesucht wird ein Spieler mit einer Berufsklasse, die über die Fähigkeit Weitsicht verfügt oder über andere Mittel zur Beobachtung und Überwachung eines weiter entfernten gegnerischen Spielers. Zu beachten ist hierbei, dass es sich um eine langfristige Mission handelt und man eventuell mehrere Wochen mit einer langweiligen und stupiden Tätigkeit beschäftigt sein wird. Als Kompensation für die verlorene Spielzeit, wird pro aufgewendete Stunde ein Betrag von 150 Yuan angeboten…“, murmelte er vor sich hin und rief danach freudig aus: „Na, wenn das nicht perfekt für mich ist! 150 Yuan mal zwölf Stunden… das sind 1.800 Yuan pro Spieleinheit! Auf den Monat gerechnet sind das… äh… verdammt mein Mathe… äh… 50… 54.000 Yuan! Verdammt!“
Begeistert ließ er den Kochlöffel liegen, loggte sich ein und schrieb dem Auftraggeber schnell eine Privatnachricht.
Ein gewisser Alucard…
Er hatte noch nie von ihm gehört… aber solange er spendabel war?
Ying hatte kaum den Kochlöffel wieder in der Hand, als sein Visualisierungssystem sich mit dem Signalton einer Antwort meldete.
Hatte der Typ etwa schon geantwortet?!
Mit einem Blick zurück checkte er seine Vermutung kurz und entdeckte tatsächlich eine private Nachricht in seinem Postfach mit Treffpunkt und Uhrzeit in Raoie. Verdammt war der Typ auf zack!
Aber umso schneller umso besser für ihn. Bald würde es reales Geld regnen!
Mit bester Laune widmete er sich wieder dem Kochen und stimmte ein leises Lied an, zudem er im Takt mitschwang.
Nach einem ziemlich ereignislosen Samstag, den Bahe mit seiner Familie verbrachte, loggte er sich abends gespannt wieder in Raoie ein.
Diesmal materialisierte er sich außerhalb Waldenstadts, da er es gestern Nacht nicht mehr bis zur Stadt geschafft hatte.
Es war noch dunkel, wie zu jedem Start seiner Spielzeiten. Doch da die magischen Laternen der Stadt fehlten, fand er sich plötzlich in vollkommener Finsternis wieder.
„Ah… da bist du ja wieder“, sagte eine Person etwas benommen und Bahes Augen brauchten noch einen Moment, ehe er Limona in der Dunkelheit entdeckte.
Seine Elementare hatten sich mit dem Bergbärenjungtier an einen Baum gekuschelt. Limona war scheinbar durch Bahes Materialisierungsprozess erwacht, die anderen Beiden schliefen noch.
„Schlaf weiter, Limona. Ich muss eh in die Stadt“, sagte Bahe schnell, damit sie Brocken und den Bergbären nicht weckte.
„Was machst du dann hier?“, fragte sie verwirrt, während sie sich die Augen rieb.
„Ich kann mir manchmal nicht aussuchen, wo ich auftauche“, zuckte Bahe hilflos die Schultern.
„Hä?“, blinzelte Limona nur noch verwirrter.
„Lass gut sein, bis später“, meinte Bahe schnell und nahm die Beine in die Hand.
„Unser Meister ist wirklich von der merkwürdigen Sorte…“, hörte er Limona noch murmeln, ehe er außer Hörweite war.
Seine Elementare waren eine Sache, um die er sich heute auf jeden Fall noch kümmern würde, aber vorerst wollte er zum Trainingsgelände. In letzter Zeit hatte es mit dem Bogenschießen zunehmend besser geklappt und er wollte heute endlich das Tutorial I abschließen. Zwei Wochen waren mehr als genug Arbeit, die er in diese Übungsmission hinein gesteckt hatte.
Durch das Training der letzten Wochen, waren seine Stats allein schon ohne die Levelaufwertung enorm angestiegen. Kraft, Ausdauer, Physische Konstitution und Widerstandsfähigkeit hatten pro Tag einen Attributpunkt bekommen. Sein Kraftwert von 19 und sein Ausdauerwert von 24 konnten sich für einen Level 2 Spieler durchaus sehen lassen! Physische Konstitution und Widerstandsfähigkeit mit 16 und 19 Punkten waren auch nicht zu verachten.
Zufrieden betrachtete er sein Charakterprofil, während er im Laufschritt die Stadt betrat:
Charakter: Anael Lerua
Beruf: Elementflüsterer Level: 2
Rang der Berufsklasse: Legende Erfahrungspunkte: 2066/3030
Titel: Morgentau Gesundheit / HP: 110/110
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 300/300
Volkszugehörigkeit: Mensch Ruhm: 210
__________________________________________________________________________________
Spielerstatistiken:
Kraft: 19/27 ! Physische Konstitution / Statur: 16/26
Intelligenz: 10/10 Gelehrtheit: 10/10
Schnelligkeit: 03/11 Geschicklichkeit: 10/10
Ausdauer: 24/24 Widerstandsfähigkeit: 19/28 !
__________________________________________________________________________________
Willensstärke: 17/17 ! Konzentration: 16/16 !
Reflexe: 10/10 Wahrnehmung: 32/32
Charisma: 15/15 Glück: 07/07
__________________________________________________________________________________
Angriff: 9 Magieresistenz: 9 (+25%)
Verteidigung / Rüstung: 8 à 2/10 Elementen je 25%: Erde, Wasser
__________________________________________________________________________________
Bedürfnisse:
Hunger gestillt: 100/100 Durst gestillt: 100/100
__________________________________________________________________________________
Affinität mit den Elementen:
Erde: 25/100 Wasser: 25/100
__________________________________________________________________________________
Berufsklasseneigene Fähigkeiten und Zauber:
Erdzauber:
Steinhaut Level 1
Mineraliensuche Level 1
Wasserzauber:
Wasserwandlung Level 1
Wassersuche Level 1
Legendäre Fähigkeiten und Zauber der Elementflüsterer:
Erdfähigkeit:
Erdmaterie (aktivierbar)
Wasserfähigkeit:
Wassermaterie (aktivierbar)
Sonderfähigkeiten:
Diplomatie
Seelenbund
Allgemeine Fähigkeiten:
Überprüfen (Als Zugeständnis, um in Raoie Zurecht zu kommen bis Level 5 verfügbar)
Identifizieren Anfänger Level 1 | 34% !
Erinnerungsvermögen (passiv) Anfänger Level 1 |45% !
Handwerkliche Fähigkeiten:
Häuten Anfänger Level 1 | 76% !
Ausnehmen Anfänger Level 1 | 73% !
Körperliche Fähigkeiten:
Schwimmen Anfänger Level 2 | 46%
Profilfunktion:
Chat
Weitere Charakterinformationen:
à Deine Berufsklasse der Elementflüsterer besitzt unglaublich mächtige Fähigkeiten und ist legendär. Die Menschheit ist für deine Berufung noch nicht bereit und da es bisher nur Mythen und Sagen über deine Berufung gibt, sollte es vorerst auch so bleiben.
Du darfst deine Berufsklasse Niemanden verraten, bis die versteckte Berufsklasse der Elementarbeschwörer vom Volk der Menschen entdeckt wird.
Verrätst du deine Berufsklasse an irgendjemanden, werden die legendären Elementare den Seelenbund mit dir trennen. Deine Seele wird ernsten Schaden nehmen, was zur Folge hat, dass du deine Berufsklasse, Erfahrung (Level -100) und sämtliche Fähigkeiten verlierst!
à Du konntest dir Drachenblut zu eigen machen! Das Drachenblut wird über einen längeren Zeitraum deinen Körper reinigen und stärken!
Zusätzlich verfügbare Attributpunkte pro Levelaufstieg: +1/1 ATP
Effektdauer: Für die nächsten 22 Level
à Du bist seit Jahrhunderten der erste Elementflüsterer in Raoie! Belohnung: Hinweis zu einer klassenspezifischen Quest à Hinweis: „Die Luft ist der Ozean der Vögel.“
à Verfügbare Attributpunkte: 6/6
Abgesehen von den rein physischen Attributpunkten hatten sich auch seine Konzentration und Willensstärke verbessert. Das ständige Bogenschießen bis zum Rand der Erschöpfung, als auch die täglichen Laufeinheiten waren nicht ohne Folgen geblieben. Immer und immer wieder hatte er sich mental zwingen müssen einen neuen Pfeil aufzulegen oder noch einen weiteren Schritt im gleichen Tempo zu machen. Mit all seiner Geduld und inneren Kraft hatten sich Willensstärke als auch Konzentration schließlich jeweils um 1 Attributpunkt pro Woche verbessert. Erst dadurch war Bahe klar geworden, wie schwer Verbesserungen in seinen sekundären Attributen zu erringen waren.
Es gab zudem einige neue Fähigkeiten in seinem Charakterprofil, wenn auch nichts Spektakuläres.
Etwa zehn Spielminuten später kam er schließlich am Ausbildungsgelände an und machte sich sofort daran den nächsten Versuch zu starten, ganz Waldenstadt in eineinhalb Stunden zu umrunden.
Zu Beginn seines zweiten Laufs hatte Fenrir ihm gezeigt, wie er auch ohne dessen Aufmerksamkeit die nötigen Bedingungen zur Tutorialmission erfüllen konnte.
Der ganze Prozess lief magisch ab. Ein riesen Vorteil für die Spieler, da sie so nicht immer die Ausbilder suchen mussten. Vor allen Dingen wenn es quasi noch Nacht war.
Er betrat den Startbereich seiner Strecke, der von vier magischen Säulen gesäumt war und wartete. Nach ein paar Sekunden löste seine Anwesenheit die gewünschte Reaktion aus. Der Boden begann in unterschiedlichen Farbtönen zu pulsieren, bis sich das übliche Benachrichtigungsfenster öffnete:
Willst du dich erneut am Ausdauertest der Ausbilder seiner Majestät versuchen?
Zum erfolgreichen Abschluss musst du Waldenstadt innerhalb von eineinhalb Stunden umrunden.
Ja? / Nein?
Bahe bestätigte schnell die Anfrage, woraufhin sich das nächste Fenster öffnete:
Bitte mach dich bereit. Auf das Startsignal geht es los!
Die Säulen begannen nun ebenfalls pulsierend zu leuchten und gaben Bahe so das Zeichen sich bereit zu halten. Dann verschwand plötzlich sowohl das Leuchten der Säulen als auch des Bodens und hüllte ihn für einen Moment in Dunkelheit. Kaum eine Sekunde später erstrahlten plötzlich alle Säulen dauerhaft in einem hellen goldgelben Licht und gaben Bahe damit das Zeichen seines Starts.
Eifrig nahm er sein normales Lauftempo auf und wandte sich nach dem Stadttor nach rechts. Beim letzten Mal hatten ihm nur ein paar Sekunden gefehlt, diesmal musste es einfach klappen, spornte er sich an und lief unmittelbar an der Stadtmauer entlang in die Dunkelheit hinein.
Sin fluchte im Stillen. Dieser verdammte Spieler hatte es doch tatsächlich irgendwie geschafft vor dem großen Mutterspinnentier zu fliehen.
Wie zum Henker hatte er sich so schnell durch Level 20 und Level 30 Jagdgebiete bewegen können?
Sin hatte ihn zwar nicht verloren, aber es würde dauern ihn einzuholen. Es wäre alles so einfach gewesen, wenn die Spinnenkreatur diesen Bastard einfach einmal getötet hätte.
Die Folge wären vierundzwanzig Stunden ohne Raoie für diesen Kerl gewesen. In der Zeit hätte Sin problemlos zu ihm aufschließen können, ehe er schließlich wieder in der Nähe von dem Ort materialisiert worden wäre, wo er bereits einmal das Leben verloren hatte.
Die ganze Vorfreude darauf mal wieder einen Spieler auf Level 0 morden zu können und was jetzt?
Jetzt erwartete Sin ein Tagesmarsch durch gefährliches Gelände. Missmutig schritt Sin weiter durch den Wald in Richtung Norden.
Der Spieler hatte zwar hunderte Male die Richtung gewechselt, aber letztendlich war er immer weiter in die gleiche Richtung gelaufen.
Selbst wenn Sins Blattmarker irgendwann den Geist aufgeben würde, soweit im Norden gab es nur einen einzigen Ort, zu dem man nach einer Farmaktion[i] zurückkehren würde. Waldenstadt, der größte Startpunkt des Spiels.
Sin lächelte grimmig. Sollte sich dieser Mistkerl ruhig in Sicherheit wiegen.
Ein Rascheln im Wald schreckte Sin jedoch alsbald wieder aus den eigenen Gedanken. Schon wieder eine Horde von Monstern…
„Kann ich nicht einmal Glück haben…“, murmelte Sin genervt, ging auf den nächsten Baum zu und verschmolz schnell mit dem Stamm.
Kaum eine Sekunde später stürmte ein Pulk von Level 35 Grauhaarwölfen aus dem Unterholz und suchte in wilder Aufregung die unmittelbare Umgebung ab. Es vergingen mehrere Minuten bis sich die Grauhaarwölfe mürrisch geschlagen gaben und die Suche einstellten.
Zur gleichen Zeit aber etwa eineinhalb Kilometer nördlich, wuchsen plötzlich die Zweige eines Strauches in die Höhe und verschmolzen zu einer menschlichen Gestalt, die sich letztendlich von ihnen löste und entspannt weiterlief.
„Wenn ich diese Fähigkeit bloß länger einsetzen könnte…“, dachte Sin laut.
Es war allein dieser Fähigkeit zu verdanken, dass Sin sich keinerlei Sorgen hinsichtlich der Übermacht an Monstrositäten in den hochleveligen Jagdgebieten machen musste. Aber der begrenzte Manapool erlaubten es Sin noch nicht die Fähigkeit dauerhaft einzusetzen. Immer nur ein Bisschen, gerade genug, um den nahen Kreaturen zu entfliehen. So hatte Sin für den Notfall immer noch genug Mana, um eine längere Flucht durchzuhalten.
Vorsicht und Argwohn waren keine Feigheit, es waren schlicht weg Mittel zum Erfolg.
Bedacht schritt Sin weiter durch den Wald. Sollte dieser Spieler nur warten. Was machten schon ein oder zwei Tage mehr aus?
Glückwunsch!
Du hast den Ausdauertest der Ausbilder seiner Majestät erfolgreich bestanden!
Deine Zeit: 89:34 Minuten!
Mit dem Aufklappen des Fensters sackte er vollkommen erschöpft aber glückselig zusammen. Zwei Wochen lang, hatte er sich jeden Tag mit dieser verdammten Tutorialquest abgekämpft. Zwei Wochen, in denen er seinen Ausbilder innerlich immer und immer wieder verflucht hatte.
Aber jetzt hatte er es geschafft!
Na ja… zumindest den ersten Teil…
Das Bogenschießen kam ja noch.
Aber das sollte er eigentlich mittlerweile hinbekommen, dachte er zuversichtlich.
Während er sich darum bemühte wieder zu Atem zu kommen, klappten noch weitere Fenster auf, das ihn positiv überraschten:
Du hast eine neue Fähigkeit erlernt:
Joggen
Durch mehrmaliges intensives Laufen über einen längeren Zeitraum hast du deine Technik immer weiter verbessert!
Deine Mittel- und Langzeitausdauer hat sich über die letzten Wochen zunehmend verbessert!
Joggen Fähigkeitsstatus: Anfänger Level 1 | 19%
Du kannst deine Geschwindigkeit 2% länger aufrechterhalten!
Laufe größere Strecken oder laufe die gleichen Strecken zunehmend schneller, um dein Level zu erhöhen.
Durch die immer wiederkehrenden Anstrengungen haben sich deine mentale Stärke, als auch deine körperliche Verfassung verbessert!
Ausdauer +1
Kraft +1
Physische Konstitution +1
Widerstandsfähigkeit +1
Willensstärke +10
Als Bahe die starke Erhöhung seiner Willensstärke bemerkte, hätte er innerlich in Freudensprünge ausbrechen können, wenn er nicht gerade hüftabwärts verhindert gewesen wäre…
Ein dümmliches Grinsen konnte er sich aber trotzdem nicht verkneifen.
Andererseits fragte er sich wirklich, weshalb es mit der Fähigkeit Joggen so lange gedauert hatte. Ein wenig eher hätte ihm durchaus helfen können. Wahrscheinlich wollten die Entwickler Raoies es den Spielern nicht zu leicht machen, dachte er mürrisch.
Nachdem er sich ausreichend erholt hatte, aß und trank er zunächst was, um seine Bedürfnisse zu stillen und begab sich anschließend zum Bogenschießstand.
Durch das viele Schießen würde er sowieso wieder ins Schwitzen geraten, da konnte er mit seiner üblichen Routine des morgendlichen Schwimmens ruhig noch etwas warten.
Zumal er sowieso noch viel zu früh dran war. Normalerweise war er zu dieser Tageszeit noch in der Bibliothek, um der Dunkelheit der Nacht größtenteils zu entgehen.
Heute war schlicht weg eine Ausnahme, weil er einfach nicht länger warten konnte. Zu seinem Glück gab es auch auf dem Bogenschießstand magische Beleuchtung, auch wenn sie bei Weitem nicht so gut wie das Tageslicht war.
Bahe begann trotzdem. Er holte sich den Bogen, aus der für Spielanfänger vorgesehenen Waffenkammer und schoss einen Pfeil nach dem Anderen auf die Zielscheibe, die inzwischen zwanzig Meter weit entfernt stand.
Die zehn Meter vom Anfang waren ihm mit der Zeit zu leicht geworden, auch wenn es darum ging, dass er möglichst treffsicher war.
Die Pfeile flogen in den folgenden Minuten nur so dahin. Der enorme Kraft- und Ausdauerzuwachs erlaubten Bahe viel länger an einem Stück zu trainieren, als noch zu Beginn seiner Übungszeit.
Insgesamt stand er in der Pflicht achtundzwanzigtausend Schüsse zu absolvieren. Vierzehntausend hatte er über die letzten zwei Wochen vollbracht. Die andere Hälfte war sein heutiges Ziel.
Immer wieder spannte er den Bogen und legte zwischendurch kurze Pausen ein, um die Arme und Schultern zu entspannen.
Nach siebentausend erfolgreichen Schüssen zitterten seine Arme mal wieder so stark, dass er eine längere Pause einlegen musste.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen und tauchte Raoie in ihr warmes Licht.
Zunehmend mehr Leute waren rund um den Übungsplatz zu sehen und während Bahe ein weiteres Mal seinen Hunger stillte, kam sein Ausbilder Fenrir mit erfreuter Mine auf ihn zu.
„Na, sieh mal einer an!“, sagte er lächelnd. „Du hast heute Morgen tatsächlich deinen Lauf geschafft?“
Bahe nickte und grinste zurück.
„Und bei den Schüssen scheinst du auch gerade aufzuholen, was?“
„Genau“, sagte Bahe und erklärte: „Ich habe vor, deine Vorgaben heute endlich zu erfüllen.“
„Oho… ich bin gespannt“, meinte Fenrir beeindruckt und sagte, während er sich zum Gehen wandte: „Ich bin bei der Kampftrainingsfestung, falls du mich später suchen solltest.“
Bahe nickte nur ein weiteres Mal und schluckte den nächsten Bissen seines Trockenfleischs runter.
Genug zu essen zu haben, war ja schön und gut, aber so langsam hing ihm das Trockenfleisch zum Hals heraus. Er machte sich gedanklich die Notiz, dass er sich in der Realität unbedingt mal mit dem Kochen beschäftigen sollte. Wenn er in jeder Spieleinheit ständig das Gleiche essen musste, würde er über kurz oder lang wahnsinnig werden!
Wenig später machte er sich frisch gestärkt und mit neuer Kraft erneut ans Pfeile schießen.
Die Minuten vergingen erneut wie im Flug, während er all seine Konzentration in das Training legte. Schweigend erfühlte er den Bogen und die Sehne, den ständigen Wechsel von Spannung und abrupter Entspannung. Er beobachtete wie seine Pfeile von der Sehne schnellten, wie er die Federn der Pfeile an seinen Fingern spürte.
Immer mehr Details fielen auf und halfen ihm sich auf die unmittelbare Aufgabe zu fokussieren.
All die anderen Spieler, die nach und nach den Trainingsplatz betraten bemerkte er kaum.
Einige Zeit später betrat unweit von Bahe eine dreiköpfige Gruppe von Spielern den Trainingsplatz und entdeckte einen Pulk von Schaulustigen am Ausbildungsgelände der Bogenschützen.
„Was ist denn hier los?“, fragte Geniella.
„Keine Ahnung“, zuckte HaHaHaHa die Schultern.
Von Neugierde getrieben liefen sie mit dem Rest ihrer Gruppe schnell hinüber.
„Hey Leute, was steht ihr hier alle so rum?“, verlangte der letzte des Trios, Trallala, zu wissen.
„Wir schauen dem Spieler da vorne zu“, erklärte einer Anwesenden. „Wie ein Wahnsinniger schießt der Typ jetzt schon seit Stunden Pfeile auf die Zielscheibe.“
„Hä?“, gab HaHaHaHa ungläubig von sich.
„Und was soll daran so besonders sein?“, meinte Geniella abwertend, die sich selbst auf das Bogenschießen verstand. „Der Spieler versucht doch bestimmt nur seine Tutorialmission abzuschließen…“
„Dir ist schon klar, welche Variante der Tutorialmission der Typ durchzieht?“, schaltete sich einer der anderen umstehenden Spieler ein.
„Was meint er, Geniella?“, fragte Trallala.
Geniella verzog bei der Frage das Gesicht. Meinte der Kerl das ernst? Der Spieler führte tatsächlich mehrere tausend Schüsse aus?
„Es gibt verschiedene Möglichkeiten das Bogenschießen zu erlernen. Ich selbst habe Präzisionsschüsse ausgeführt, also mehrere festgelegte Ziele aus unterschiedlichen Entfernungen getroffen“, erläuterte Geniella. „Aber scheinbar arbeitet der Typ da vorne an der nervigsten Variante, um das Bogenschießen zu erlernen. Er feuert mehrere tausend Schüsse ab.“
„WTF?! So’ne Zeitverschwenung!“, stieß Trallala verblüfft aus.
„Wenn ihr mich fragt, hat der Kerl sie nicht mehr alle“, meinte auch HaHaHaHa.
„Ihr wisst ja das beste noch gar nicht“, rief ihnen noch ein anderer der Umstehenden zu. „Habt ihr von diesem Irren gehört, der die letzten Wochen täglich um Waldenstadt herum gelaufen ist?“
„Natürlich, wer nicht?“, sagte Trallala.
„Tja, das, ist der Kerl.“
„Was?!“, entfuhr es diesmal auch Geniella und auch HaHaHaHa und Trallala waren nicht minder überrascht.
Gemeinsam versuchten sie einen besseren Blick auf diesen komischen Spieler zu bekommen, der nun durch seine nächste ungewöhnliche Aktion auffiel.
„Schon ein merkwürdiger Kerl“, meinte eine zierliche Spielerin ganz in der Nähe.
„Du sagst es, Philia“, antwortete ihre Nachbarin. „Ich könnte nicht stundenlang immer und immer wieder das Gleiche machen.“
„Aber das ist ja das Krasse an der Sache“, sagte ein Anderer. „Meint ihr, dass etwas dafür bekommt?“
„Pah, selbst wenn er dafür eine Verbesserung seiner Stats bekommt, was bringt es mir ein Spiel zu spielen und nur Ewigkeiten stumpf die gleiche Tätigkeit auszuführen?
„Wieso hat er seine Tutorialquest nicht einfach abgebrochen und neu gestartet?“, fragte jemand anderes.
„Wenn es um Irre geht, hilft keine Logik, oder?“, kam es irgendwo aus der Menge zurück.
„Leute lasst uns von hier verschwinden. Wir sind hier her gekommen, damit ich endlich das zweite Tutorial abschließen kann. Wer weiß, wie lange der Typ noch dran ist“, verlangte Geniella.
„Sicher, die Kampftrainingsfestung ist da drüben“, nickte HaHaHaHa sofort und zeigte auf einen Steinmauerkomplex, der in circa achthundert Meter Entfernung hinter einigen Zelten aufragte.
„Das weiß ich…“, stöhnte Geniella, der die aufdringliche Art von diesem hohlen Zwillingen HaHaHaHa und Trallala langsam auf die Nerven ging. Für wie blöd hielten die Zwei sie eigentlich?
„Hey, machen wir ein Wettrennen, HaHaHaHa?“, fragte Trallala seinen Bruder.
„Sicher!“, antwortete dieser begeistert und fügte mit einem verschwörerischen Augenzwinkern in Geniellas Richtung hinzu: „Wer zuerst ankommt, bekommt einen Kuss der holden Maid, nicht wahr?“
Geniella wurde schon allein beim Gedanken daran schlecht. Wütend unterdrückte sie den Brechreiz und wollte gerade ihre Meinung kundtun, als die beiden Idioten auch schon losrannten.
„Fuck! Wieso muss ich immer an solche Idioten geraten!“
Vor vier Tagen waren die Beiden noch nützlich gewesen, da sie sich zu ihrem Leidwesen eingestehen musste, dass sie selbst gegen die einfachsten Monster noch arge Probleme hatte.
Sie hatte sich in den Kämpfen mit den Beiden immer schön im Hintergrund halten können und aus sicherer Entfernung ihre Pfeile geschossen. Die Wildwurzelkaninchen und auch die Breitmaulfrösche waren wie die Fliegen gefallen.
Inzwischen war sie zuversichtlich auch das zweite Tutorial bestehen zu können, welches allgemeinhin als das am schwersten zu bestehende Tutorial galt. Es hieß sogar, dass sich viele Spieler schon vollends daran die Zähne ausgebissen hatten.
Das es tatsächlich Spieler gegeben haben sollte, die das Tutorial erst mit Level 20 bestehen konnten, hatte sie schon längst als belangloses Gerücht abgetan.
Für sie stellte es nur den nächsten Schritt in ihre Unabhängigkeit dar. Ihr fehlte Training darin alleine klar zu kommen und das Tutorial sollte genau das beheben.
Nichts war ihr lieber, als schnellst möglich eine Ausrede zu finden, endlich von diesen beiden bekloppten Spinnern weg zu kommen.
Immer noch wütend seufzte sie und folgte notgedrungen den Zwillingen.
Bahe lief der Schweiß inzwischen in Strömen vom Gesicht. Tief nach Luft schnaubend nahm er den letzten Pfeil zur Hand, legte ihn an und feuerte ihn ab.
Er traf gerade noch den Bereich der Zielscheibe, der als Erfolg für die Tutorialmission gewertet wurde. Seufzend ließ er den Bogen sinken. Seine Arme zitterten mittlerweile einfach zu sehr, als dass er noch eine gute Treffsicherheit aufweisen konnte.
Die Arme ausschüttelnd ging er rüber zur Zielscheibe, um die Pfeile das vorletzte Mal einzusammeln. Wenn er bei der nächsten Einheit jedes Mal treffen würde, hätte er das verdammte Tutorial endlich bestanden.
„Du schaffst es!“
„Was für ein Vollidiot…“
„Gib nicht auf!“
„Wie viele Schüsse brauchst du noch?“
„Willst du bei uns einsteigen? Hart arbeitende Leute braucht unsere Gilde immer!“
Unzählige Schreie schallten zu ihm herüber, während er die Pfeile aus der Zielscheibe zog. Am Anfang hatte er die ganzen Leute gar nicht bemerkt. Erst bei letzten zweihundert Schüssen war ihm klar geworden, wie viele Zuschauer sich inzwischen angesammelt hatten.
Manche hatten nur kurz zugesehen und waren wieder gegangen, andere feuerten ihn die ganze Zeit ununterbrochen an.
Selbst das Angebot einer Gilde beizutreten wurde ihm in regelmäßigen Abständen zugerufen…
Nur weil er so lange das Gleiche tat?
Hatten diese Verrückten kein Leben?
Welcher halbwegs normale Mensch sah einem Spieler bei so einer stumpfsinnigen Aktion mehr als fünf Minuten am Stück zu?
Bahe konnte sich wahrhaftig keinen Reim auf all die Schaulustigen machen…
Zwischenzeitlich hatte er sogar überlegt, ob es sich bei all den Zuschauern vielleicht nur um NPCs handelte. Doch beim Anblick all der Spielergürtel hatte er die Idee schnell wieder verworfen.
Idioten gab es scheinbar überall. Es brachte nichts, sich weiter darüber Gedanken zu machen.
Eigentlich hatte er zwar weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, aber er sah nicht ein, nur wegen diesem bekloppten Menschenauflauf, extra seinen Trainingsplatz zu wechseln.
Wieder an seinem Platz angekommen, konzentrierte er sich und blendete alle Geräusche aus. Langsam ein und aus atmend legte er einen der letzten zwanzig Pfeile an und schoss.
Treffer!
„Woooooo!“
„Weiter so!“
„Den Nächst…“
Pfeifen und Geschrei verfolgte inzwischen einen jeden seiner Treffer und rissen ihn kurzzeitig aus seiner Konzentration, ehe alle Geräusche erneut in den Hintergrund traten und Bahe nur noch den Laut seiner Atmung vernahm.
Es war ein seltsames Gefühl, die gleiche Aktion so unglaublich lange zu wiederholen. Er war erschöpft und hatte schon mehrere Pausen einlegen müssen, aber er war tatsächlich besser geworden!
Er bemerkte mittlerweile wie kleine Abweichungen in seiner Haltung das Gesamtergebnis beeinflussten. Wie ein krummer Rücken dafür sorgte, dass er besonders anfällig für einen Gleichgewichtsverlust war. Wie die kleinsten Bewegungen seiner Arme die Richtung der Pfeile störten. Sogar seine Atmung und die Ausdehnung des eigenen Brustkorbs beeinflussten seine Zielsicherheit…
Früher wäre ihm nie die Idee gekommen, dass solche Dinge tatsächlich eine Rolle spielen konnten…
Letztlich folgten die restlichen neunzehn Pfeile dem Ersten und fanden alle ihr Ziel.
Du hast alle achtundzwanzigtausend Treffer auf der Zielscheibe erzielt, die Fenrir dir aufgetragen hatte. Da du es auch in der vorgegebenen Zeit geschafft hast, einmal um Waldenstadt zu laufen, kannst du nun Fenrir aufsuchen und ihm von deinen Ergebnissen berichten.
Für einen langen Moment stand Bahe einfach nur da und konnte noch nicht so ganz begreifen, dass es tatsächlich vorbei war. Zwei Wochen intensiven Trainings waren endlich zu einem Ende gekommen.
„Lass dich nicht unterkriegen!“
„Ja, genau! Mach weiter so!“
„Schieß die nächsten Pfeile!“
„Was feuert ihr ihn denn so an? Was der Kerl macht kann ich auch!“
„Halt die Klappe Großmaul!“
„Weißt du wie lange er das schon durchzieht?“
„Na und? Er ist trotzdem nicht ganz dicht…“
„Fuck off und halt die Schnauze!“
„Aber ein Bisschen irre ist er schon oder?“
Mit der Zeit ebbten selbst das Anfeuern der Zuschauer und die Buhrufe über seine fehlende Reaktion nach und nach ab. Stattdessen breitete sich Gemurmel aus, was denn wohl los sei.
„Warum steht er da nur so rum?“
„Keine Ahnung…“
„Hey, mach was!“
„Jetzt steht er schon lange da rum…“
„Meint ihr ihm geht es nicht gut?“
„So lange hat er noch nie still gestanden…“
„Ja, dass stimmt… ich war von Anfang an dabei…“
Schließlich kam Bahe wieder zu sich und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Enthusiastisch warf er die Arme nach oben und rief begeistert: „Geschafft!“
Für eine Sekunde herrschte Stille, dann brach hinter ihm der reinste Tumult los.
„Woooohoooooo!“
„Fuck yeah!“
„Der Wahnsinn!“
„Wieso klatschen denn alle?!“
„Ist doch egal, mach mit!“
Verdattert, ob der lautstarken Reaktionen der Spieler hinter ihm drehte Bahe sich um, was nur noch lautere Schreie, Pfiffe und begeisterte Zurufe zur Folge hatte.
Vollkommen überrumpelt wusste Bahe tatsächlich nicht, wie er mit all der plötzlichen Aufmerksamkeit umgehen sollte. Leicht verlegen lächelte er und winkte ein, zwei Mal als Zeichen seines Dankes, während der tosende Applaus immer noch anhielt.
„Das ist so merkwürdig…“, murmelte er leise vor sich hin.
„Soll ich immer noch lächeln?“, fragte er sich selbst mit einem allmählich zäh werdenden Grinsen im Gesicht. „Ach, verdammt. Scheiß drauf, das wird mir zu blöd…“
Bahe rannte noch schnell zur Zielscheibe zog die Pfeile heraus und verließ danach eiligst das Gelände des Schießstandes.
Fenrir hatte gesagt, dass er sich bei der Kampftrainingsfestung aufhalten würde. Soweit Bahe wusste, war das auch der Ort, an dem man das zweite Tutorial durchführen konnte.
Für Bahe war es perfekt, so konnte er direkt zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
„Perfekt!“, grinste Kaiwen, als sie abschließend beobachtete wie dieser Anael Lerua, den sie als den Spieler Bahe Dragon kannte, in Richtung der Kampftrainingsfestung rannte.
Der Tag war einfach perfekt gewesen. Sie hatte ihren Traumjob bekommen, sich bezüglich dieser Idioten von PG absichern können und als sie sich, immer noch freudestrahlend, am Abend in Raoie einloggte, hätte sie niemals gedacht gleich die nächste positive Überraschung zu erleben. Überall hörte sie plötzlich von einem Spieler, der wie vom Wahnsinn getrieben Pfeile auf eine Zielscheibe schoss. Er wäre schon seit Stunden dran, hieß es.
Sie war schon auf dem Weg zum Ausbildungsgelände gewesen, als sie zwei Spieler reden hörte, dass es sich scheinbar um diesen Spieler Anael handelte, der ständig um Waldenstadt herum lief.
Bei der Information hatte sie sofort ihr Tempo beschleunigt und war zum Schießstand des Ausbildungsgeländes gerannt.
Was sie dort erwartete, ließ sie verblüfft inne halten und kurze Zeit später in einem wahren Freudentaumel ausbrechen.
Es waren diesmal nicht nur ein paar Spieler, die Anael zusahen. Sie zählte weit über hundert Schauerlustige! Es hatte sich eine regelrechte Menschentraube rund um den Bogenschießstand gebildet, die Kaiwen, ohne ihre Fähigkeit Weitsicht, gänzlich die Sicht versperrt hätten.
Begierig hatte sie Anael und all seine Zuschauer beobachtet. Sie achtete auf die emotionalen Reaktionen der Umstehenden und auf all die Anzeichen der Anstrengung von Anael.
Doch das Finale übertraf all ihre Erwartungen als Reporterin. Es war das reinste Vergnügen zu sehen, wie Anael plötzlich inne hielt und all die Schaulustigen darüber rätselten, was denn los sein könnte.
Und als dann die Auflösung kam! Grundgütiger, der Junge war ein geborener Performer!
Erst Spannung aufbauen und dann in einem begeisterten Erfolg auflösen. Die Menge war regelrecht ausgerastet!
Das Beste war, dass Anael noch nicht mal merkte, welche Wirkung er auf all die umstehenden Spieler hatte. Diese naive Ausstrahlung die er beim Umdrehen zur Schau gestellt hatte… das verlegende Lächeln auf den Lippen… das verhaltende Winken zur Menschenmenge…
Bei allen Himmeln! Er war die reinste Goldgrube!
Sie lief schnell in die Menschenmenge, die Anaels Aktion von eben immer noch diskutierte und rief aus Leibeskräften: „Hey! Der Kerl rennt zur Kampftrainingsfestung! Will er etwa auch noch das zweite Tutorial abschließen?!“
„Was?!“
„Nach den Strapazen?!“
„Leute… so anstrengend ist das nun auch wieder nicht…“
„Ich schau mir das an!“, rief einer der Umstehenden und folgte Anael hastig.
„Ich auch!“
„Hey, wartet auf mich!“
Nach und nach lösten sich immer mehr Spieler von der Menschenmenge und liefen zum Veranstaltungsort des zweiten Tutorials. Danach brauchte es nicht mehr lange, ehe sich fast die gesamte Meute in Bewegung setzte.
Kaiwen hielt sich derweil im Hintergrund und freute sich über ihren Geniestreich.
Sie war eine Reporterin und brauchte gerade für einen erfolgreichen Start bei HoF möglichst schnell gute Nachrichten. Wieso also nicht ein Bisschen nachhelfen?
Geniella rieb sich genervt den Nasenrücken. Die halbe Stunde ihrer Wartezeit war fast vorbei. Lange musste sie die Zwillinge nicht mehr ertragen.
Wie sehr es sie geärgert hatte, als sie von diesem verfluchten Ausbilder Olar erfahren hatte, dass eine Gruppe von Neulingen gerade erst ihre Tutorialmission gestartet hatten. Dieser Bastard hatte sie obendrein noch ausgelacht, als sie fragte, wann sie denn wohl dran kommen könnte.
„Wann immer die Letzten verreckt sind!“, rief er nur schallend und ignorierte sie anschließend.
Doch als ob es noch immer nicht genug gewesen wäre, hatten diese idiotischen Brüder Olar gefragt, ob sie die ‚holde Maid‘ im Tutorial unterstützen könnten!
Bei den Blicken, die ihr die umstehenden Spieler daraufhin zugeworfen hatten, wäre sie am liebsten im Boden versunken…
Tarat hatte Geniella und ihre beiden Dumpfbacken nur süffisant angelächelt und gemeint, dass er einfach den Schwierigkeitsgrad anheben würde, um es fair zu gestalten, wenn sie schon mit Unterstützung in den Kampf ziehen würde.
Geniella wäre vor Wut beinahe ausgerastet. Hilflos hatte sie nur noch schnell das Weite gesucht und sich vor den Zwillingen versteckt.
Aber eine halbe Stunde war eine Menge Zeit… irgendwann entdeckten die Zwillinge sie dann doch. Die Typen hatten sie tatsächlich gefragt, ob sie sich vielleicht verlaufen hätte… Für wie blöd hielten die Beiden sie eigentlich?!
Als sie darauf nicht antwortete, hatten die Zwillinge wie zwei hirnrissige Vollidioten über Gott und die Welt gesprochen und ihr keine ruhige Minute gelassen.
Seufzend hob sie den Kopf und schaute sich um.
Es waren einige Spieler dazu gekommen, die beim nächsten Start des Tutorials dabei sein wollten. Ihre Waffen konnten unterschiedlicher kaum sein. Es gab Schwerter und Schilde, Äxte und Speere, aber auch Armbrüste und Kurzschwerter. Ein paar Bogenschützen waren wohl auch dabei. Zumindest von denen wollte sie sich positiv abheben.
„Fenrir!“, holte sie plötzlich ein lauter Ruf zurück in die Gegenwart. Zu ihrem Erstaunen sah sie wie der bekloppte Spieler, der vorhin noch im Zentrum der Aufmerksamkeit der Allgemeinheit gestanden hatte, an ihr vorbei rannte und zu einem der NPCs neben Olar lief.
„Ah, Anael, hast du meine Aufgabe etwa endlich erfüllen können?“
Den Rest der Unterhaltung bekam sie nicht mehr mit. Dafür rasten ihre Gedanken zu sehr, ihr schwante bereits Böses.
In die Richtung des Bogenschießstandes schauend, entdeckte sie alsbald eine ganze Horde von Spielern, die sie eindeutig als die Schaulustigen von vorhin identifizieren konnte.
„Auch das noch!“, fluchte sie wütend vor sich hin, während sie sich abrupt abwandte, um möglichst viel Abstand zwischen all diese Idioten und sich selbst bringen zu können.
„Ganz genau!“, beteuerte Bahe währenddessen aufgeregt.
Fenrir zog kurzzeitig eine Art Plakette aus seiner Tasche und nickte, nach einem Moment der Beobachtung, zustimmend.
„Scheinbar muss ich dich beglückwünschen!“, meinte er lächelnd. „Jemand der so hart arbeitet, muss auch belohnt werden.“
Prompt sprang auch schon ein Benachrichtigungsfenster auf:
Du hast eine neue Fähigkeit erlernt!
Bogenschießen
Du hast mehrere tausend Schüsse mit dem Bogen absolviert und damit dein Können unter Beweis gestellt!
Deine Technik ist für einen Anfänger schon recht fortgeschritten!
Fähigkeitsstatus: Anfänger Level 3 | 86%
Du richtest mit deinen Pfeilen 6% mehr Schaden an deinen Gegnern an.
Setze die Fähigkeit des Bogenschießens häufiger ein, um ihr Level zu erhöhen.
„Ich bin froh, dich in den Rängen der Bogenschützen begrüßen zu dürfen“, erklärte Fenrir und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter.
„Danke, ich-“
„Was?! Ist das etwa der Zahnstocher von neulich?“, schaltete sich eine lautstarke Stimme ein und Bahe entdeckte den Ausbilder der Blankwaffen, Tarat, hinter Fenrir.
„Oh, du bist auch hier?“, fragte Bahe.
„Natürlich, ich wollte mir doch nicht das Spektakel entgehen lassen, wie alle meine Schüler in der Übungsfestung verrecken! Bwhahahaha!“, rief er lautstark, ehe er schadenfroh zu lachen begann.
„Ich bin mir nicht so sicher, ob man darüber lachen sollte…“, äußerte Bahe ohne nachzudenken und bereute es sofort.
Doch Tarat schien es ihm nicht übel zu nehmen und lachte nur erneut los.
„…“, Bahe konnte nur den Kopf schütteln.
„Er war schon immer so“, meinte Fenrir. „Aber im Grunde ist er ein guter Kerl.“
Tarat lachte noch immer wie ein Oberbösewicht und Bahe blickte Fenrir mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Also tief in seinem Innern…“, verteidigte sich Fenrir, der Bahes Skepsis erkannte. „Ganz tief in seinem Innern…“
„…“, Bahe entschied sich nicht weiter darauf einzugehen.
„Aber was rede ich“, durchbrach Fenrir den peinlichen Moment und beschwor einen neuen Bogen, samt Köcher mit Pfeilen, aus seinem Speichergegenstand.
„Du hast dir diesen Bogen hier verdient. Den Übungsbogen brauchst du nicht mehr“, erklärte er und reichte Bahe ein nagelneu wirkendes Exemplar.
Freudestrahlend ergriff Bahe schnell die Belohnung des Tutorial I und Fenrir erklärte: „Der Bogen ist aus besonders gutem Eibenholz gefertigt worden und die Fasern für die Sehne wurden aus Brennnesseln gewonnen. Wenn auch nichts Besonderes, so ist dieser Bogen letztlich die Standardfernwaffe im Heer seiner Majestät und wird von tausenden von Bogenschützen verwendet.“
Herzlichen Glückwunsch!
Du hast Tutorial I erfolgreich bestanden und erhältst hiermit deine Belohnung in Form einer Kampfwaffe!
Artefakt des Ranges Gewöhnlich
Kampfwaffe: Bogen
Angriff: +15-20 Reichweite: ca. 100 Meter
Beschreibung: Ein einfacher und doch guter Bogen aus Eibenholz und Brennnesselfasern mit den Ausmaßen von 1,20Meter. Die Standardwaffe aller Bogenschützen im Heer seiner Majestät.
Das Fenster überraschte Bahe, da er nicht seine Fähigkeit Identifizieren benutzt hatte. Wurde die Fähigkeit im Tutorial nicht benötigt?
Was auch immer…
Er sollte froh sein, dass er die Eigenschaften des Bogens vor der Nase hatte.
„Danke dir Fenrir!“, sagte er wenig später enthusiastisch, nachdem er das Fenster überflogen hatte.
„Hoffentlich kannst du Zahnstocher überhaupt was damit anfangen!“, blökte Tarat mal wieder dazwischen, als Fenrir ihm gerade noch einen Köcher mit Pfeilen reichte und im Gegenzug den alten Übungsbogen von Bahe annahm und diesen in einem Speichergegenstand verschwinden ließ.
„Fenrir, Tarat, schickt eure Schüler in die Festung. Die Bestien sind wieder alle weggesperrt“, erklang in diesem Moment die Stimme eines weiteren Mannes von einem der Türme, die den kompletten Festungskomplex umrahmten.
„Alles klar, Olar“, bestätigte Fenrir und wandte sich entschuldigend an Bahe: „Tut mir leid, Anael, ich muss mich jetzt um meine anderen Schüler kümmern, die sich am Kampftraining versuchen wollen.“
„Oh, und bevor ich es vergesse! Du musst den Bogen außerhalb eines Kampfes unbedingt in deinen Speichergegenstand packen, ansonsten verliert das Holz auf Dauer an Spannung!“, gab Fenrir zum Schluss noch einen zusätzlichen Hinweis.
„Ok, mache ich, aber kann ich auch am Kampftraining teilnehmen?“, fragte Bahe schnell, da er wusste, dass es sich hier um das Tutorial II drehte.
„Was? Du willst in die Übungskampfsfestung?!“, blaffte ihn Tarat erstaunt an.
„Na ja, da ich jetzt das Bogenschießen erlernt habe, sollte ich wohl auch die praktische Umsetzung im Gefecht erproben, oder?“, erklärte Bahe seinen Gedankengang.
„Bwahahaha! Ein Zahnstocher wie du?! Nimm dich doch nicht selbst auf den Arm! Bwahahaha!“
„…“
„Vielleicht ist es jetzt gerade nicht die beste Idee, Anael“, versuchte sich Fenrir beschwichtigend und erklärte: „Olar will die nächste Runde schwieriger gestalten, weil sich so ein paar Deppen vor der Frau ihrer Träume beweisen wollen…“
Was zum Henker? Meinte Fenrir das ernst? Was ließ sich TNL noch alles einfallen, um Raoie lebensechter wirken zu lassen?
Kopfschüttelnd grinste Bahe, ob der netten Warnung des NPCs. Als ob er sich von Tutorial II abhalten lassen würde, nur weil Fenrir besorgt um ihn war. Wahrscheinlich gehörte seine Aussage wieder nur zum Standardprozedere, dass bei der Bitte um Teilnahme am Tutorial ausgelöst wurde.
„Ich will trotzdem teilnehmen, Fenrir. Ich bin mir sicher“, antwortete Bahe.
„Also…“, begann Fenrir, wurde aber von Tarat unterbrochen.
„Wo ist das Problem, Fenrir?!“, fragte Tarat lauthals und wandte sich anschließend an Bahe: „Du willst teilnehmen, kein Ding, begib dich dazu einfach vor das Tor da vorne und warte, bis wir den Rest der Teilnehmer beisammen haben. Olar wird dann alles Weitere erklären.“
Tarat, der Ausbilder der Blankwaffen seiner Majestät, hat dir die Möglichkeit gegeben am Tutorial II teilzunehmen. Zur Aktivierung des Tutorials musst du dich vor das, von Tarat aufgezeigte Tor begeben und die Erklärung Olars abwarten.
Bahe schaute sich um und entdeckte ein großes Tor etwa fünfzig Meter weiter zu seiner Rechten.
„Danke dir, Tarat! Und auch dir Fenrir, für deine Sorge“, sagte Bahe noch schnell und begab sich dann zum Wartebereich vor dem Tor.
„Anael, überlege es dir nochmal!“, versuchte Fenrir noch einmal ihn umzustimmen, wurde jedoch von Tarat übertönt: „So ist es richtig Zahnstocher! Fürchte niemals ein Gefecht!“
Doch Bahe hörte die beiden NPCs kaum noch. Seine Aufmerksamkeit lag bei den anderen Spielern, die bereits warteten.
„Überprüfen“, murmelte Bahe und stellte fest, dass sie allesamt noch unter Level 5 waren. „Ausnahmsweise mal keine Besonderheiten… gut.“
Ob auf die Hinweise von Fenrir und Tarat oder nicht, es füllte sich auf jeden Fall relativ schnell der Wartebereich. Die meisten Spieler ignorierten sich gegenseitig, andere grüßten zumindest mit einem Nicken und Bahe erwiderte entsprechende Gesten. Schließlich agierten sie gleich zusammen, da konnte ein Bisschen Höflichkeit nicht schaden.
Zuletzt kam noch eine junge Spielerin mit zwei Kerlen dazu, die sich verdammt ähnlich sahen. Anfangs hatte Bahe gar nicht so sehr auf sie geachtet, aber als er einen Blick im Nacken spürte, hatte er festgestellt, dass ihn alle drei ziemlich wütend anstarrten.
Ein weiteres Überprüfen brachte ihm zügig die Information, dass es sich bei ihnen auch nur um maximal Level 5 Spieler handelte. Er hatte wirklich keine Ahnung was sie hatten, aber im Anbetracht ihrer Level musste er sich wohl kaum Sorgen machen.
„Guten Tag ihr Landratten! Und willkommen beim Kampftraining seiner Majestät, für ein wehrfähiges Volk! Mein Name ist Olar und ich bin der Ausbilder, der das Kampftraining der breiten Massen überwacht. Seid ihr alle bereit am folgenden Kampftraining teilzunehmen?“, fragte der stämmig gebaute Mann, der Fenrir und Tarat vorhin angesprochen und sich inzwischen vor Bahe und seinen Mitstreitern aufgebaut hatte.
Olar möchte wissen, ob du am Tutorial II teilnehmen willst?
Ja? / Nein?
Bahe bestätigte schnell und wartete ab.
„Keiner ist gegangen, damit habe ich wohl meine Antwort“, meinte Olar achselzuckend und fuhr fort. „Sobald sich das Tor öffnet, habt ihr eine Minute Zeit, euch in der Festung zurechtzufinden. Dann werden wir Kreaturen in die Festung schicken, deren Level eurem Fertigkeitsniveau angepasst sind und die ihr erlegen könnt. Ihr könnt allein oder gemeinsam gegen die Kreaturen vorgehen. Das Training endet, wenn ihr alle Kreaturen erlegt habt oder ihr von den Kreaturen abgeschlachtet wurdet.“
Für einen Moment verstummte Olar und blickte sie alle der Reihe nach an, ehe er weiter erklärte: „Für den Fall, dass ihr den Monstrositäten unterlegen sein solltet, braucht ihr keine Angst zu haben. Ja, ihr werdet sterben“, sagte er an dieser Stelle mit bedeutungsschwerer Pause. „Und ja, ihr werdet die Schmerzen spüren, aber die Magie der Kampftrainingsfestung wird euch außerhalb des Kampfgeländes ohne negative Konsequenzen wiederbeleben. Gibt es noch Fragen?“
„Verdammt!“, fluchte Bahe leise vor sich hin. Für andere Spieler mochte es nicht weiter wichtig sein, aber sein elendes Schmerzempfinden war auf hirnrissige 84% eingestellt! Aaargh!
Allein der Gedanke an die nächten Minuten ließ ihn bereits in Angstschweiß ausbrechen. Er hatte keine Lust ein weiteres Mal sowas wie in der Drachenschlucht zu erleben!
„Oh, und bevor ich es vergesse“, begann Olar noch einmal und meinte mit einem Augenzwinkern: „Da heute ein paar besonders Ehrgeizige dabei sind, habe ich das Schwierigkeitsniveau leicht erhöht. Wer es sich jetzt noch einmal anders überlegen will, betritt gleich einfach nicht das Trainingsgelände.“
„Wieso denn das?!“, regte sich einer umstehenden Spieler auf.
„Ja, genau! Ich warte hier jetzt schon eine halbe Stunde! Wieso soll ausgerechnet in diesem Durchgang der Schwierigkeitsgrad erhöht werden?!“, verlangte auch ein anderer zu wissen.
„Beschwert euch bei diesen beiden Dumpfbacken da vorne“, antwortete Olar nur schulterzuckend und zeigte auf die beiden Level 5 Spieler, die sich so ähnlich sahen und Bahe bis gerade eben noch wutentbrannt beobachtet hatten.
Bahe musste schmunzeln, als die Beiden auf einmal mit der geballten Wut der anderen dreiundzwanzig Spieler konfrontiert wurden. So wie es aussah, würden es diese beiden Idioten im Kampftraining äußerst schwer haben.
Andererseits war er sich nicht mehr ganz so sicher, ob er wirklich sofort am Tutorial II teilnehmen sollte… Die Erhöhung vom Schwierigkeitsgrad war scheinbar doch nicht einfach nur ein Hintergrundsetting in der Diskussion mit einem NPC gewesen…
Aber verdammt nochmal, er hatte schon weit mehr überlebt und letztlich verlor er mit seiner Teilnahme nichts. Schmerzen ließen sich aushalten. Mit neuer Entschlossenheit schaute er sich um und wartete.
Mehr Beschwerden gab es danach nicht mehr, da sich bereits das Tor öffnete und die Spieler schnell in die Festung strömten.
Bahe ließ sich Zeit, soweit er den Festungskomplex von außen beurteilen konnte, war das Ding riesig. Es gab mehr als genug Platz für alle.
Kaum durchschritt er das Tor, klappte ein Fenster auf, das er längst erwartet hatte:
Tutorial II: Konfrontation mit Monstern
Sie haben eine neue Fähigkeit für den Kampf erlernt. Diese wird Ihnen im Folgenden helfen, in der Welt von Raoie zurechtzukommen. Sobald Sie die umliegende Gegend außerhalb Ihres Startpunktes (Startstadt bzw. Startdorf) erkunden, können Sie feindlich gesinnten Kreaturen begegnen. In solch einem Fall werden Sie Ihre neu erlernten Kampffähigkeiten anwenden müssen, um sich zu verteidigen.
Sollten Sie im Kampf Ihr Leben verlieren, wird Ihr Account für 24 Std. gesperrt und anschließend starten Sie an dem letzten sicheren Ort, an dem Sie sich zuvor aufgehalten haben. Raoie ist äußerst lebensecht, deshalb empfiehlt es sich eine entsprechende Kampfsituation zunächst im Training zu erproben.
Tutorial-Quest!
Absolvieren Sie erfolgreich das Kampftraining unter der Aufsicht von Ausbilder Olar. Erlegen Sie dazu allein oder gemeinsam sämtliche Monster, die in der Kampftrainingsfestung frei gelassen werden.
Nachdem er das Benachrichtigungsfenster geschlossen hatte, machte sich auch Bahe auf den Weg. Hinter dem Tor befand sich zunächst ein schmaler Gang, der eine Rechtskurve machte und anschließend den Blick auf eine Kreuzung frei machte.
War das Innere der Festung etwa ein Labyrinth?
Konzentriert musterte Bahe die Wände. Hellbraunes Felsgestein war zu groben Steinen geschlagen worden, die hier überall ihre Verwendung fanden. In unregelmäßiger Art und Weise waren die Felssteine übereinander angeordnet und bildeten Mauern, die etwa vier Meter in die Höhe ragten.
Darüber war nur der Himmel mit der ein oder anderen Wolke zu sehen.
Ohne länger nachzudenken, nahm Bahe den Weg zu seiner Linken und lief im Laufschritt weiter in das Festungsgelände hinein.
Die Wände und ihre Höhe blieben überall gleich und die Minute war kurz davor abzulaufen, als Bahe zum ersten Mal eine Art Hängebrückenkonstruktion über seinem Kopf wahrnahm.
Verwirrt blieb er stehen und entdeckte ganz am Rand plötzlich Fenrir und Tarat, die in ein Gespräch vertieft waren. Tarat zeigte auf irgendeine Stelle abseits von Bahe, der allmählich verstand, dass Ausbilder so die Übersicht behielten.
Schließlich sollten sie irgendwie auch Tipps geben. Dazu musste man zwingender Weise das Geschehen in der Festung beobachten können.
Bahe lief noch durch ein paar weitere Gänge und sah sich, in seiner Eingangsvermutung von einem Labyrinth, bestätigt. Trotz der Hängebrücken weit oberhalb der Mauern, konnte er sich kaum orientieren.
Ein unheilvolles Kreischen einer Kreatur hallte plötzlich durch das Labyrinth und ließ Bahe kurz inne halten, um seinen Bogen richtig zu fassen und einen Pfeil aufzulegen.
„Verdammt!“, fluchte er leise.
In diesen schmalen Gängen war er hoffnungslos diesen Kreaturen ausgeliefert. Er brauchte Deckung!
Eilig rannte er weiter, doch es brachte nichts.
Mittlerweile irrte er nur noch wahllos durch die Gänge.
„Wo sind denn alle?“, sprach er mit sich selbst. Die Festung war zwar groß, aber er hätte doch längst mal jemanden begegnen müssen…
Kaum war der Gedanke gekommen, vernahm er plötzlich hastige Schritte, die schnell auf ihn zu kamen.
Vorsichtig spähte er um die nächste Ecke, entdeckte jedoch nichts.
„Diese verdammten Mauern…“, murmelte Bahe genervt von der Tatsache, dass er durch den Widerhall den Ursprung der Geräusche nicht richtig zuordnen konnte.
Wütend schlug er den freien Pfad ein. Doch kaum hatte er einen Schritt gemacht, ließ ihn Kreischen hinter sich abrupt herum fahren. Er schaffte es nicht mal mehr, einen Blick hinter sich zu werfen, da er sofort von den Füßen gerissen wurde.
Benommen fand er sich schließlich auf dem Boden liegend wieder.
Mit der Ursache des Aufpralls auf ihm. Er sah zunächst nicht allzu viel. Stattdessen erstickte er fast in etwas Weichem, dass sein Gesicht unter sich begrub.
Panisch versuchte er sich durch den Druck seiner Hände von der Last zu befreien, nur um unmittelbar darauf eine rabiate Schlagabfolge gegen seinen Kopf und seine Hände einstecken zu müssen.
Gefolgt von einem spitzen Aufschrei: „Perversling!“
„Was zum…!“, gab er entrüstet von sich und stieß die Last seitlich von sich, während er sich in die andere Richtung rollte. Anschließend kam er sofort wieder auf die Beine und musterte sein Gegenüber.
War das nicht die belämmerte Spielerin, die ihn draußen vor dem Tor noch mit so saurer Miene angestarrt hatte?!
Die Spielerin war hochrot angelaufen und hielt beide Arme vor ihrer Brust verschränkt, während sie mit einer Mischung aus Scham und Wut hinüber schaute. Ihr Bogen, war vergessen und baumelte nur noch gerade eben an zwei ihrer Finger.
„Ah…“, so langsam konnte Bahe sich einen Reim darauf machen und versuchte sich an das Gefühl warmer Weichheit in seinen Händen zu erinnern.
Das seine Hände dabei halbrund geformt waren und ein leichtes Greifen simulierten, schien jedoch nicht gerade zur Aufhellung ihrer Züge beizutragen.
„Bastard!“, spie die Spielerin ihm entgegen, während sich ihr Blick verfinsterte.
„He…“, konnte sich Bahe ein Grinsen nicht verkneifen und zuckte mit den Schultern. Wer ist denn hier in wen gerannt? Selbst schuld…
Das schien das Fass zum Überlaufen zu bringen, doch Bahe bemerkte seinen Fehler zu spät. Wutentbrannt trat die Spielerin mit aller Wucht gegen seinen Bogen und schleuderte ihn so mehrere Schritte zurück, mitten in die Wegkreuzung.
„Hey!“, rief Bahe aufgebracht, wurde aber nur noch mit einem gehässigen Lächeln bedacht.
Dann rannte die Spielerin in die entgegengesetzte Richtung zur Kreuzung davon.
Na ja… es war ja nicht so, dass er ihren Wutanfall nicht verstehen konnte. Aber er war doch auch nur ein Kerl, wie sollte man sonst reagieren, wenn man vollkommen unvorbereitet zwei himmlische Schätze in den Händen hielt…
Außerdem war…
Ein leises Fauchen ließ seine einschlägigen Gedanken verstummen und seine Konzentration in die Höhe fahren. Schnell machte er ein paar Sätze auf seinen Bogen zu. Er griff bereits danach, als ein offenes Maul unmittelbar vor ihm auftauchte. Reflexartig riss er die Hand zurück und stolperte ein paar Schritte zur Seite.
Keine Sekunde zu früh, wie sich heraus stellte. Das Maul schloss sich mit einem hörbaren Schnappen und gab den Blick auf ein Wildwurzelkaninchen preis, welches Bahe angriffslustig anstarrte.
„Nur ein Wildwurzelkaninchen…“, seufzte er erleichtert und holte schnell das einfache Messer aus seinem Speichergegenstand, welches er sonst immer zum Häuten und Jagen von Wildwurzelkaninchen benutzt hatte.
Ein paar Hiebe da, ein paar Ausweichschritte dort und schon war das Wildwurzelkaninchen erlegt und Bahe griff sich erleichtert seinen Bogen. Glücklicherweise schien er noch vollkommen intakt zu sein. Fehlte noch, dass unmittelbar nach Erhalt sein Artefakt bereits in die Brüche ging.
Die Spielerin schien aber wirklich von der ängstlichen Sorte zu sein. War sie wirklich vor einem einzigen Wildwurzelkaninchen davon gerannt?
Kopfschüttelnd lächelte Bahe über die Panik der Spielerin.
Da ertönte plötzlich lautstarkes Kreischen von einer Horde von Wesen, die Bahe verdächtig bekannt vorkamen. Er hatte gerade das Wildwurzelkaninchen aufheben und als Beute einstecken wollen, als er ein zweites Mal vor Schreck herumfuhr und auf einmal große Augen bekam!
Vor ihm strömte eine ganze Horde von Wildwurzelkaninchen um die Ecke des Ganges!
Doch damit nicht genug, sahen die Kreaturen auch noch ihren toten Kameraden zu Bahes Füßen und legten wie wild geworden noch einmal an Tempo zu.
„Oh, Scheiße!“, fluchte Bahe, während er sofort die Beine in die Hand nahm. Eins von den Viechern, war ja noch leicht zu erlegen, aber eine wildgewordene Horde?
„Fuck it! Nicht mit mir!“, sprach er lauthals mit sich selbst. Allein beim Gedanken an sein Anfangserlebnis in Raoie mit den Kreaturen, lief es ihm immer noch eiskalt über den Rücken.
„Wenn ich diese Spielerin finde!“, schrie er seine Wut hinaus. „Sie hat absichtlich nichts von den Viechern erzählt!“
Kaiwen kam gerade noch rechtzeitig an der Kriegsfestung an, um den letzten Teil von Anaels Unterhaltung mit den Ausbildern mitzubekommen.
Sie sah wie Anael zum Wartebereich ging und schließlich das zweite Tutorial startete.
„Jackpot!“, grinste sie und begab sich eilig auf einen der Türme, die die Festung von außen umgaben.
Anschließend lief sie über die Hängebrücken, die in regelmäßigen Abständen über der Festung gespannt worden waren und suchte nach einer guten Position, um Anael in den Blick zu nehmen.
Einige der Schaulustigen, waren bereits vor ihr oben angekommen und belegten schon ein paar der besten Plätze.
Ihre Idee war nahezu perfekt aufgegangen.
Natürlich waren nicht mehr alle Spieler mit dabei. Aber ein Großteil hatte sogar die kurze Wartezeit zum Start der neuen Tutorial-Runde auf sich genommen, um diesem verrückten Spieler Anael zuzusehen.
Als das Tutorial dann startete, passierte zunächst nichts. Man sah nur, wie Anael orientierungslos durch die Gänge des Labyrinths lief.
Aber dann kam der Moment, in dem er von der Spielerin überrumpellt wurde!
„Oh…!“, rief eine Schaulustige aus und lief rot an.
Eine andere Zuschauerin lächelte ebenfalls verlegen: „Na ja… eigentlich kann er ja nichts dafür, der Arme…“
„Oh ja, der Arme!“, lamentierte einer der Zuschauer betont ironisch und tat so, als ob er ebenfalls seine Hände voll hatte.
„Ich bin schon irgendwie neidisch…“, meinte ein Anderer.
Abgesehen von den wenigen Kommentaren, hallte schallendes Gelächter über den Festungskomplex hinweg.
Herrlich! Jubelte Kaiwen innerlich, als sie die Reaktionen der Zuschauer in sich aufnahm.
Was folgte waren der Wutanfall der beschämten Spielerin, mit dem Wegtreten des Bogens und Anaels Kampf mit dem Wildwurzelkaninchen.
Ersteres wurde mit einem zweiten Lachanfall der Allgemeinheit beantwortet und letzteres sorgte für begeisterte Pfiffe und lautes Jubelgeschrei.
Währenddessen grinste Kaiwen nur in sich selbst hinein und bemühte sich darum, dass ihr kein Detail entging.
Dann kam die Horde um die Ecke und ein geschocktes Raunen lief durch die Menge auf den Hängebrücken. Was folgte, war eine wilde Hetzjagd, bei der man Anael in großen Sätzen davon sprinten sah. Und es war einfach urkomisch anzusehen.
In regelmäßigen Abständen verfluchte er lauthals die Spielerin, die ihm all das eingebrockt hatte und sorgte, zusammen mit seinen Luftsprüngen die er vollführen musste, um den Kreaturen in letzter Sekunde auszuweichen, für einen Lachanfall der Menge, nach dem Nächsten.
Und so kam es, dass man zum ersten Mal in der noch jungen Geschichte von Raoie einen Spieler im zweiten Tutorial sah, der sich fluchend und hüpfend durch die Kampffestung bewegte und dabei an die hundert Zuschauer bestens unterhielt.
Doch die beste Szene von allen, war der Moment, als einer der Ausbilder vor Kaiwens Augen schallend zu lachen begann.
„Bwuahaha! Renn, Zahnstocher! Renn! Bwahahaha!“, rief er lauthals aus, während er vor Lachen kniend auf den Boden der Hängebrücke einschlug und sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte.
„Halt die Schnauze, Tarat!“, rief der Spieler wutentbrannt hinauf und verlor dadurch kurz seine Konzentration, was dafür sorgte, dass mehrere Wildwurzelkaninchen ihm ihre Krallen spüren ließen!
„Autsch! Fuck! Scheiße!“, fluchte er in schneller Abfolge bei jedem der Treffer und machte einen Sprung nach dem nächsten, um schnell wieder Abstand zwischen sich und die Meute zu bringen.
„Wahahaha! Zahnstocher, mach nur weiter so!“, hallte die schallende Lache vom Ausbilder Tarat über die Festung, der inzwischen auf dem Rücken lag und sich im wahrsten Sinne des Wortes vor Lachen kugelte.
[i] Farmaktion à Farmen wird, vorzugsweise in Onlinerollenspielen, die andauernde, routinierte und monotone Tätigkeit des Sammeln und Suchen bestimmter Gegenstände, Geld oder Punkten genannt. Der Begriff rührt aus dem landwirtschaftlichen Bereich, in dem der Farmer „sammelt und sucht“ (seinen Anbau oder sein Vieh). Der Begriff tauchte in seiner jetzigen Bedeutung als erstes in Newsgroups zu Rogue-likes auf, wo er hauptsächlich das dauerhafte Töten von sich vermehrenden Monstern bezeichnete.
Bahe wurde regelrecht wahnsinnig. Er rannte jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit davon und die Wildwurzelkaninchenhorde war immer noch hinter ihm her!
Nachdem er seine anfängliche Panik überwunden hatte, feuerte er so viele Pfeile ab, wie es ihm nur möglich war, ohne gefressen zu werden. Seine Hit-and-Run-Taktik war dabei ziemlich effektiv, bis ihm irgendwann die Pfeile ausgingen.
Fünfundzwanzig Pfeile stellten insgesamt achtzehn Exemplare ruhig. Zumindest, sofern er richtig gezählt hatte…
Leider bestand die verfluchte Horde aus über fünfzig Wildwurzelkaninchen. Und die restlichen Kreaturen dachten gar nicht daran aufzugeben. Jeder Tod eines ihrer Rudelmitglieder ließ sie nur noch aggressiver nach vorne preschen.
Bahe spürte, dass er die nötige Geschwindigkeit nicht mehr lange aufrecht erhalten konnte. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich den Viechern zu stellen.
Er bog schnell an der nächsten Wegkreuzung ab und lief nach einer Kurve auf eine offene Fläche. War er etwa in der Mitte der Festung angelangt?
Zu allen Seiten gingen eine Vielzahl von Gängen ab, während die offene Fläche Ruinen von kleinen Festungsverschlägen sowie halbzerstörte Treppen und Mauern enthielt.
„Hey, da ist eine Horde Monster!“, rief plötzlich ein Spieler zu seinem Kumpel. Beide standen auf der anderen Seite der Freifläche und Bahe sah seine Chance gekommen.
„Schnell, ich brauche eure Hilfe!“, schrie er ihnen entgegen.
„Für Wildwurzelkaninchen? Was bist du denn für ein Noob!“, lachte der Andere der Zwei und zog sein Schwert.
„Lass uns die Party beginnen!“, begann auch Erste euphorisch zu lachen und rannte Bahe bereits entgegen.
„Haha, ja ganz genau! Auf zum Schlachtfest!“
Bahe scherte sich nicht weiter um die Beleidigung. Er war einfach viel zu froh, den Schmerzen etwaiger Krallen und Mäulern zu entkommen.
Mit einem Endspurt brachte er die letzten Meter hinter sich und konnte zu seiner Freude feststellen, wie die Wildwurzelkaninchen sich aufteilten und zwei Drittel der Horde den anderen beiden Angreifern entgegen sprangen.
Die restlichen Kreaturen hatten aber offensichtlich einen Narren an ihm gefressen. Schnell zog er sein Messer und machte sich kampfbereit. Mit rasanten und kraftvollen Schwüngen ließ er sein Messer auf die ersten Tiere niederfahren und wich mit eiligen Schritten ihren Kameraden aus.
Drei Tiere waren gefallen, als plötzlich laute Schmerzensschreie erklangen. Erschrocken hob Bahe den Blick und schaute zu den anderen Spielern. Bei Einem hatten sich Wildwurzelkaninchen in den Achillessehnen festgebissen, während der Andere bereits am Boden lag und verzweifelt versuchte die Viecher von seinem Gesicht fern zu halten.
Leider war Bahe jedoch für einen Sekundenbruchteil abgelenkt und traf so eins der Wildwurzelkaninchen nicht richtig. Seine Klinge traf die festen Schulterknochen eines Exemplars und verhakte sich dort. Da das Viech danach versuchte nach seiner Hand zu schnappen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Messer aufzugeben und hastig über eine Mauer zu springen, um ein wenig Abstand zu gewinnen.
Die Schreie der beiden Vollidioten hallten derweil über die Freifläche. Sie hatten sich maßlos überschätzt.
Doch Bahe hatte nicht mal Zeit den Kopf zu schütteln. Ununterbrochen musste er hin und her springen, über Mauern, durch halb zerfallende Türen kleiner Festungsverschläge oder einfach nur über steinernen Schutt der überall verstreut lag.
Was sollte er bloß machen? Komm schon, Bahe, denk nach! Schallt er sich innerlich selbst.
Keine Pfeile mehr, sein Messer verloren… unbewaffnet hatte er einfach keine Chance gegen so viele von den verdammten Kreaturen.
Die beiden Idioten hatten zumindest ein Schwert gehabt…
Moment mal!
Ein Schwert!
Sein Schwert! Das war es!
Innerlich verpasste er sich selbst einen Arschtritt für die Tatsache, dass er vor Panik tatsächlich sein neues Artefakt in seinem Speichergegenstand vergessen hatte.
Mit einem Satz brachte er genug Abstand zwischen sich und die Wildwurzelkaninchen und griff in seinem Speichergegenstand nach dem dunklen Schwert, welches er erst vor kurzem für sich gewonnen hatte.
Als sich das Schwert in seiner Hand materialisierte, breitete sich eine innerliche Ruhe in ihm aus. Mal sehen, wer zuletzt lacht, dachte Bahe grimmig.
Dann schwang er sein Schwert der nächsten Kreatur entgegen, die nach ihm schnappen wollte.
Was danach passierte, ließ ihn jedoch fast erneut an Ort und Stelle verharren.
Sein Schwert traf die Kreatur seitlich am Rumpf und Bahe verspürte kaum einen Widerstand, als sie Klinge durch den Körper der Kreatur sauste.
Ohne einen weiteren Laut zerfiel das Wildwurzelkaninchen in zwei Hälften und ließ den verblüfften Bahe zurück.
Schwerer Treffer -46 HP
Du hast ein Wildwurzelkaninchen getötet.
Exp +1
„Verdammte Scheiße!“, rief er noch immer überrascht aus, holte aber bereits Schwung, um den nächsten Schlag auszuführen.
Diesmal traf er eine der Kreaturen mitten auf dem Kopf und spaltete die Schädel mit einem ekligen Knacken.
Kritischer Treffer -138 HP
Du hast ein Wildwurzelkaninchen getötet.
Exp +1
„Unfassbar…“, murmelte Bahe für sich selbst und ging mit neu gewonnenem Selbstvertrauen gegen die Wildwurzelkaninchen vor.
Immer schneller ließ er seine Klinge auf die Kreaturen niederfahren und brachte Tod und Verderben. Fast jeder Hieb erlegte eins der verhassten Wildwurzelkaninchen. Blut spritzte, Gedärme flogen durch die Luft und die wenigen Hiebe ihrer Krallen bemerkte Bahe unter dem Adrenalinrausch kaum. Es tat unglaublich gut, sich all den Frust der letzten Minuten von der Seele zu prügeln und in dem Abschlachten der Wildwurzelkaninchen hatte er sein Ventil dazu gefunden.
Sechs Minuten später stand er schnaufend über dem Kadaver der Kreatur, die zuletzt ihr Leben gelassen hatte.
Die beiden anderen Spieler gab es jedoch nicht mehr. Bahe war noch mitten im Kampf gewesen, als die Wildwurzelkaninchen ihnen den Gar aus gemacht hatten. Mit einem Leuchten hatten sich ihre Körper dematerialisiert und waren verschwunden.
Der Respawn-Effekt der Trainingsfestung schien ein anderer als der von Raoie im Allgemeinen zu sein. Vielleicht lief er auch einfach schneller ab. Bahe war bisher noch nie lange genug an einem Platz geblieben, um zu wissen, was mit den Körpern von verstorbenen Spielern geschah.
Ein Keuchen ließ ihn instinktiv die Waffe heben und zur Quelle des Geräuschs herum fahren. Grimmig entdeckte er nur die verdammte Spielerin, die ihm die Situation mit den Wildwurzelkaninchen überhaupt erst eingebrockt hatte.
Die Spielerin stand in einem der Gänge, die zur Freifläche führten und starrte ihn ängstlich an. Als er herum gefahren war, hatte sie sogar ein paar Schritte zurück gemacht. Bei all dem Blut, das durch die Gegend gespritzt war, konnte er nur Vermutungen darüber anstellen, wie er gerade aussah. Wenigstens ein Bisschen Genugtuung, dachte Bahe.
Einen Augenblick danach hallten plötzlich Schritte durch eine Vielzahl von Gängen und diese spukten wenig später Spieler von allen Seiten aus.
Allesamt blieben sie jedoch schockiert im Ausgangsbereich stehen.
Sah er etwa so angsteinflößend aus? Dachte Bahe vergnügt und schwang sein Schwert einmal in der Luft herum, um einen Großteil des Blutes von der Klinge zu entfernen.
Danach trug er sein freundlichstes Lächeln zur Schau und wandte sich an die Neuankömmlinge: „Hallo zusammen!“
Reihenweise zuckten die anderen Spieler einen Schritt zurück.
„…“ Bahe war sprachlos.
Geniella war vor Angst wie erstarrt. Dabei war sie vollkommen ahnungslos auf der Freifläche angekommen.
Innerlich hatte sie noch jubiliert, dass sie diesen Bastard mit den Wildwurzelkaninchen abgefertigt hatte. Da stand dieser Kerl plötzlich vor ihr, inmitten der niedergemetzelten Horde der Kreaturen und lächelte sie Blut überströmt an.
Das blutrünstige Grinsen ließ den Spieler wie die Ausgeburt des Bösen erscheinen… Geniella fragte sich wirklich wer hier das Monster war, als sie die zerstückelten Kadaver der Wildwurzelkaninchen bemerkte.
Sie fröstelte bei dem Gedanken, was er wohl aus Rache mit ihr vor haben könnte.
Dann kamen die anderen Spieler dazu. Sein grimmiger Blick, mit denen er die Umgebung musterte trieben nicht nur sie ein paar Schritte zurück. Ganz zu schweigen von seiner Begrüßung, die an falscher Freundlichkeit und unterschwelliger Bedrohung nicht zu überbieten war.
„Es ist nur ein Spiel… Kein Grund zur Panik…“, flüsterte sie beruhigend immer wieder vor sich her. „Kein Grund zur Panik…“
Kaiwen stand immer noch sprachlos auf einer der Hängebrücken, als Anael die Spieler begrüßte. Die anderen Schaulustigen um sie herum, waren genauso ruhig geworden.
Niemand sagte ein Wort. Selbst die Ausbilder schwiegen verblüfft.
Anaels Hit-and-Run-Verhalten war perfekt ausgeführt worden, bis er keine Pfeile mehr hatte und auch mit dem Messer hatte er sich vollkommen respektabel verhalten. Den Level 2 Spielern hatte er alle Ehre gemacht. Aber dann…
Dann hatte er dieses verfluchte Schwert ausgepackt.
Wie vom Donner gerührt hatte Kaiwen nur da gestanden und beobachtet, wie Anael die Kreaturen auf äußerst brutale Art und Weise abschlachtete.
Ja, es waren Level 0 Monster.
Ja, ihnen war mit guter Technik beizukommen.
Aber nicht mit dieser Art von wilden Hieben, die keinerlei Rücksicht auf die eigene Gesundheit nahmen.
Die Gedärme die durch die Luft geflogen waren… das Blut, das durch die Gegend spritzte… Kaiwen drehte sich immer noch der Magen um.
Spieler höherer Level empfanden es unter ihrer Würde sich mit Level 0 Kreaturen zu beschäftigen. Meistens waren die Kämpfe relativ ausgeglichen, da die Spieler stets bestrebt waren, so viel Erfahrung wie möglich zu sammeln.
Vielleicht lag es daran, dass Kaiwen noch nie ein solches Gemetzel erlebt hatte. So wie es aussah, ging es den anderen Schaulustigen nicht anders. Die anhaltende Stille sprach Bände über den Gefühlszustand der Zuschauer.
„Hallo zusammen!“, vernahm sie am Rande Anaels Worte und konnte vollends nachvollziehen, wieso all die anderen Spieler vor ihm zurückwichen.
Anael war von solch einer mörderischen Aura umgeben, dass man den Abstand instinktiv beibehalten wollte. Sein darauf folgendes Schweigen, verstärkte diesen Effekt nur noch…
„Bwuahaha!“, schallte plötzlich das laute Lachen Tarats über die Festung hinweg. „Gut gemacht, Zahnstocher! Wirklich gut gemacht! Bwuahaha!“
Die Worte des Ausbilders durchbrachen den bedrohlichen Moment und die Schaulustigen, um Kaiwen herum, bemerkten, dass sie vor Anspannung glatt die Luft angehalten hatten.
Mal keuchend, mal zischend, zogen sie allesamt die Luft ein und verfielen danach in aufgeregtes Gemurmel.
„Unglaublich der Kerl…“
„Ist das wirklich ein Level 2 Spieler?“
„Ja, krass oder?“
„Es muss das Schwert sein! Was für ein Artefakt ist es wohl?“
„Gold?!“
„Mach dich nicht lächerlich!“
„Es hat den Rang Gewöhnlich!“
„Wtf?!“
„Kein Scheiß?“
„Ich will das Ding haben…“
„Meint ihr er verkauft es?“
„Pff…“, das unterdrückte Lachen, gehörte zu den letzten Kommentaren, die Kaiwen vernahm, ehe Anael zu einer Erwiderung ansetzte.
„War das etwa schon alles Tarat?“, fragte er herausfordernd.
„Bwuahaha! Fenrir, dein Zahnstocher gefällt mir!“, rief er lauthals seinem Nachbarn zu und wandte sich anschließend an Anael. „Keine Sorge, Zahnstocher. Die Viecher waren doch nur das Aufwärmprogramm!“
Begeistert richtete Tarat sich auf und schrie zu einem Ende der Festung: „Olar, lasst endlich die richtigen Monster frei!“
Es war zu sehen, wie große Gitter angehoben wurden und wenig später hallte ein unheilvolles Kreischen durch die Gänge der Festung.
Kaiwens Augen glitzerten vor Aufregung. Scheinbar war dieser Anael wirklich ihre Goldgrube.
Das unheilvolle Kreischen und Brüllen sorgte dafür, dass Bahe sich wieder auf seine aktuelle Situation konzentrierte.
Hatten die Spieler wirklich Angst vor ihm?
Was auch immer es war, er konnte jetzt nicht auf ihre Gefühle Rücksicht nehmen.
„Ich schlage vor, wir kämpfen zusammen. Wenn diese Viecher nur das Aufwärmprogramm waren, bezweifel ich, dass wir alleine eine Chance gegen die Monster haben, die noch kommen“, erklärte er, während er auf die toten Exemplare zu seinen Füßen zeigte.
Doch noch immer rührte sich kein Spieler.
Letztlich holte er ein Handtuch aus seinem Speichergegenstand und wischte sich so gut es ging, das Blut aus dem Gesicht. Wenig später war es bereits vom roten Blut durchnässt.
„Verdammt…“, murmelte er überrascht. Kein Wunder, dass die Anderen ihm mit Vorsicht begegneten.
Auf seiner Schulter verfing sich beim Abtrocknen irgendetwas in seinem Handtuch und Bahe wühlte genervt nach dem spitzen Gegenstand. Angewidert verzog er den Mund, als er schließlich die abgetrennte Pfote von einem Wildwurzelkaninchen zu Tage beförderte.
Hastig schmiss er die Pfote weg und machte sich mit danach daran über die Kadaver hinweg zu schreiten. Mit kurzer Suche fand er sein Messer und steckte es zufrieden in seinen Speichergegenstand.
„Geniella!“
„Geniella! Wo steckst du?“
Zwei Stimmen lenkten seinen Blick schließlich zu dem Gang aus dem er selbst vorhin erst gekommen war.
„Geniella! Wir haben die Kreaturen in die Flucht geschlagen!“
„Genau, du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen!“
Unter lauten Rufen, traten die Zwillinge aus dem Gang, die zu Beginn des Tutorials noch den gesammelten Zorn aller andern Spieler auf sich gelenkt hatten.
„Ah, da ist sie ja!“, rief einer der Beiden und hielt begeistert zwei Wildwurzelkaninchen hoch. „Schau Geniella, wir haben schon die erste Beute gemacht und ein paar Pfeile haben wir auch noch gefunden!“
„Die Viecher waren überhaupt kein Problem“, schloss sich der andere Zwilling an. „Wir haben achtzehn Stück erlegt, ohne auch nur einen Kratzer davon zu tragen!“
Bahe hätte beinahe laut losgelacht. So dreist zu sein, mit der Arbeit einer anderen Person angeben zu wollen…
Doch die Reaktion von dieser von ihm so verhassten Spielerin verblüffte ihn tatsächlich.
Mit wütenden Schritten lief sie schnell zu ihnen hinüber und verlangte, während sie auf Bahe zeigte: „Gibt ihm die Pfeile!“
„Was?“
„Wieso?!“
„Tut was ich sage!“, schrie sie die Zwillinge förmlich an.
„Ähm… ja… schon gut…“, druckste einer der Zwillinge und wollte auch die Pfeile seines Bruders an sich nehmen.
„Nein!“, sagte der Andere aber bestimmt und erklärte: „Ich will erst wissen, wieso?!“
„Weil ihm die Pfeile gehören“, sagte die Spielerin wütend.
„…äh…“
„…“
Die Zwillinge bekamen große Augen, während ihnen wortwörtlich die Kinnladen herab fielen.
Die Reaktion der Zwillinge war so urkomisch, dass sämtliche Spieler um Bahe herum plötzlich lauthals anfingen zu lachen. Egal, ob in der Festung als aktive Tutorialteilnehmer oder als Zuschauer oben auf den Hängebrücken.
Bahe selbst, zuckte nicht minder vor Lachen, wenn auch in unterdrückter Form. Er hatte schließlich ein Image zu wahren…
Die Spielerin riss den beiden versteinerten Idioten schließlich die Pfeile aus den Händen und trat vor Bahe.
„Tut mir leid wegen vorhin“, sagte sie schlicht, doch Bahe kam nicht umhin ihre Nervosität zu bemerken. „Sind wir damit quitt?“
„Sicher“, antwortete Bahe, der einfach froh, die Pfeile nicht selbst alle aus den Wildwurzelkaninchen ziehen zu müssen. Einen Feind weniger und dafür wieder mehr Ausrüstung, was gab es da noch zu überlegen?
„Dann sollten wir wohl anfangen uns vorzubereiten“, meinte die Spielerin. „Die Monster werden bald hier sein.“
„Helfen deine Idioten mit?“
„Ein Wort von mir reicht, damit sie sich von einer Klippe stürzen…“, murmelte die Spielerin so leise, dass Bahe sie kaum verstand.
„Was?“
„Ja, sie werden helfen.“
„Gut, denn wir sind auch dabei“, erklang es von der Seite und Bahe sah einige weitere Spieler heran treten.
„Und wir auch!“, rief jemand von gegenüberliegenden Seite.
Bahes Mundwinkel zogen sich nach oben. Scheinbar hatte ihm seine Zurschaustellung von Brutalität einiges an Respekt eingebracht.
Ein Fauchen, das nicht mehr allzu weit entfernt war, hallte währenddessen durch die Festung.
„So wie es aussieht, sollten wir uns wohl mit den Vorbereitungen beeilen“, meinte die Spielerin angespannter Miene und hielt ihm ihre ausgestreckte Hand hin. „Ich bin Geniella.“
Bahe ergriff sie und sagte: „Ich bin Anael, Anael Lerua.“
Immer noch begeistert beobachtete Kaiwen wie sich die Spieler ihrer Goldgrube vorsichtig näherten. Es war das reinste Vergnügen zuzusehen wie argwöhnisch und verunsichert sie sich Anael gegenüber verhielten.
Eine Spielerin schaffte es schließlich die Situation zu entschärfen, aber auch nur oberflächlich.
Die Begrüßung der Spieler lief dafür viel zu schnell ab. Sie bezweifelte ernsthaft, dass sich Anael auch nur einen Namen merkte. Sie zumindest, hätte es nicht getan.
Amüsant war auch der Moment, in dem Anael verdeutlichte, dass er als Bogenschütze agieren würde. Sein Schwert würde er nur im Notfall verwenden.
Einige Spieler ringen sichtlich mit ihrer Selbstbeherrschung. Am Ende schwiegen sie jedoch alle. Der verheerende Anblick der vielen Kadaver war Warnung genug, dass man es sich mit ihm nicht verscherzen sollte. Auch, wenn man im Tutorial vielleicht nicht wirklich sterben konnte. Außerhalb der Stadt gab es genug Möglichkeiten einem Spieler das Leben schwer zu machen. Das Anael erst Level 2 war, half angesichts dieser Tatsache auch nur bedingt.
Kurze Zeit später waren endlich alle an ihren Plätzen. Die Bogenschützen hatten sich in der Mitte der Freifläche, auf den erhöhten Überresten von früheren Festungsverschlägen, positioniert und spähten in alle Richtungen, während die Nahkämpfer einen schützenden Ring um sie herum bildeten.
Langsam senkte sich eine bedrohliche Stille über die Freifläche. Die Haltungen der Spieler hätten unterschiedlicher jedoch nicht sein können.
Manche zuckten bei jedem kleinsten Geräusch von rieselndem Gestein, andere waren die Ruhe in Person. Einigen war der Schrecken der letzten Minuten immer noch anzusehen, da sie sich ständig zu Anael umdrehten oder ihn aus den Augenwinkeln beobachteten.
Sie versuchten es zu verheimlichen, machten es damit jedoch nur noch offensichtlicher.
Wieder Andere waren voller Konzentration und Wachsamkeit.
Und dann war da noch Anael, der so tat, als würde er die Blicke der Spieler nicht bemerken und in aller Seelenruhe dabei war, die Krallenspuren an seinem Körper zu verbinden.
Kaiwens Mundwinkel zogen sich belustigt nach oben. Denn welcher Spieler hatte in solch einer Situation schon die Nerven, an die wenigen verloren gegangenen HP-Punkte zu denken?
Nur ihr Goldstück, dachte sie versessen.
Ein Brüllen erklang in unmittelbarer Nähe. Hastig stopfte Bahe die Verbände in seinen Speichergegenstand und ergriff wieder den Bogen samt Pfeil.
Aufgerichtet nahm er seine Umgebung ins Auge, entdeckte aber noch keins der Monster, die jeden Moment auftauchen müssten.
Stattdessen bemerkte er wieder einmal die Blicke der anderen Spieler. Er machte sich keine Illusionen. Die Wenigsten von Ihnen würden sich wirklich den Monstern entgegen stellen, wenn es hart auf hart kam.
Das Ganze hier war schließlich eine Tutorial-Mission zum ersten Erfahren von Kampfsituationen. So viel Kampferfahrung wie Bahe brachte wohl kaum ein Anderer in mit. Egal wie erfolgreich er letzten Endes gewesen war.
Außerdem war er sich relativ sicher, dass er beim Anblick der Kreaturen nicht reiß aus nehmen würde. Die Tatsache hingegen, dass die anderen Spieler ihn so misstrauisch beäugten, sprach Bände über deren Selbstwertgefühl.
Ganz davon zu schweigen, dass er sich dank der Präsentation seines Schwertes außerhalb der Stand von nun an in Acht nehmen musste. Es gab reihenweise Spieler, die ein solch starkes Artefakt im Anfangsstadium des Spiels nur zu gern ihr Eigen nennen würden.
Ein Fauchen in seinem Rücken durchbrach schließlich Bahes Gedanken. Hastig fuhr er herum und konnte beobachten, wie alle Bogenschützen außer ihm, ihre Pfeile auf eine, circa einen Meter große, Raubkatze abfeuerten, die in Windeseile zwischen die Nahkämpfer geprescht war.
Die Pfeile trafen ihr Ziel. Allerdings nicht schnell genug.
Die Kreatur hatte bereits zwei Schwertkämpfer mit ihren Krallen zerfleischt, ehe sie im Sprung zum dritten Spieler endlich zu Boden gestreckt wurde.
Die beiden Spieler hatten nicht mal mehr laut aufschreien können, ehe ihre HP auf 0 gefallen waren. Bahe nahm an, dass sie außerhalb der Festung sofort wiederbelebt worden waren, da sich ihre Körper nahezu augenblicklich dematerialisierten. Der kurze Augenblick jedoch, in denen die Gedärme aus ihren aufgeschlitzten Leibern quollen, hatte genug Schaden angerichtet. Fast alle übrigen Spieler waren kreidebleich geworden. Hier und da übergaben sich sogar Einige.
Unter anderem auch diese Geniella, die ihm erst den ganzen Mist mit der Verfolgungsjagd eingebrockt hatte und anschließend einen auf gute Freunde machte.
Wäre er in diesem Tutorial nicht auf die Hilfe der anderen Spieler angewiesen gewesen, hätte sie sich ihr dämliches tut mir leid sonst wohin stecken können! Von daher musste Bahe sich eher anstrengen, sich seine Belustigung über ihre missliche Lage nicht anmerken zu lassen.
Die Raubkatze war nur leider zu schnell verstorben. Da er mit seinem Pfeil gezögert hatte, konnte er keine Erfahrungspunkte mehr mit abstauben. War es ein Luchs?
Er kam aber nicht mehr dazu die Kreatur zu überprüfen, da er im Gegensatz zu den Anderen ein Geräusch hinter sich bemerkte. Die meisten anderen Spieler waren letztlich so sehr von den Auswirkungen des kurzen wie heftigen Angriffs gebannt, dass sie die nächste Attacke zu spät bemerkten.
„Vorsicht!“, hörte Bahe die Kreatur auf der gegenüberliegenden Seite kommen und wollte die Nahkämpfer noch warnen, da wurden diese aber auch schon von einem grölenden Bären durch die Gegend geschleudert.
Schmerzensschreie folgten und rissen endlich die anderen Spieler aus ihrem Schock. Die Bogenschützen legten an und feuerten ihre Pfeile ab, während sich die Nachkämpfer dem Bären entgegenwarfen.
„Was macht ihr denn da?!“, regte sich Bahe lauthals auf, wurde aber nicht erhört.
Wie blindwütige Berserker versuchten die Schwertkämpfer auf den Bären einzuhacken, nur um durch ein paar schnelle Prankenhiebe unter Schmerzensschreien zurückzuweichen. Die Pfeile waren diesmal, dank der eingeschüchterten Spieler, weit weniger zielgenau. Ein Schütze zu Bahes Linken, traf sogar einen der Nahkämpfer der bereits am Boden lag.
„Ah…“, erschrak der Schütze über seinen fehlerhaften Schuss, bevor der Nahkämpfer im hellen Licht erstrahlte und sich sein Körper dematerialisierte.
Wieder einer weniger, dachte Bahe nur. Wenn es so weiter ginge, würden sie nicht mehr lange überleben.
Du hast gemeinsam mit anderen Spielern einen gewöhnlichen Bären erlegt.
Exp +1
Zehn Pfeile und fünfzehn Schwerthiebe später, fiel der Bär endlich. Doch ihre Verluste waren desaströs.
Fast alle Nahkämpfer waren schwer verletzt und konnten sich kaum noch zur Wehr setzen, bis sie ihre Verletzungen heilten, oder sich ihre HP-Werte erholten. Doch bis auf Bahe schien keiner der Anwesenden auch nur einen Gedanken an heilende Bandagen oder gar Tränke verschwendet zu haben.
So konnte Bahe nur zusehen, wie zwei Schwertkämpfer verbluteten und sich dematerialisierten, ehe das nächste Monster überhaupt auftauchte.
„Hey Anael, hast du nicht noch ein paar Verbände, damit wir uns heilen können?“, fragte einer der Nahkämpfer als er die Auswirkungen der unbehandelten Wunden mit eigenen Augen beobachtete.
„Nein“, antwortete Bahe knapp und fing sich prompt die ungnädigen Blicke der Umstehenden ein.
Pah, er dachte ja gar nicht daran, seine selbst gekauften Verbände rauszurücken, nur um irgendwelchen Spielanfängern einen kleinen Aufschub in diesem Tutorial zu gewähren! Hatten diese Idioten eigentlich eine Ahnung wie teuer die Dinger waren?!
„Passt auf!“, rief plötzlich Geniella und zeigte auf ein weiteres Raubtier, das plötzlich aus den Gängen schoss und hinter einem Festungsverschlag verschwand.
„Verdammt! Ich kann es nicht sehen!“
„Ich auch nicht!“
Hatte Bahe richtig gesehen? Ein Vielfraß? Aber die Kreatur war mindestens eineinhalb Meter groß!
„Da ist das Viech!“, rief einer der Nahkämpfer und deutete auf einen dunklen Schatten, der sich intelligent zwischen den halbzertrümmerten Mauern hin und her bewegte.
Pfeile flogen, trafen jedoch nur steinerne Mauern.
Bahe schwante Böses… diese Kreatur war definitiv anders als ihre Vorgänger.
„Überprüfen!“, murmelte er schnell den Befehl, als der Vielfraß das nächste Mal durch sein Blickfeld schoss.
Vielfraßgigant (Mutation)
Beschreibung: Vielfraße sind natürliche Raubtiere und Allesfresser. Der Vielfraßgigant ist eine seltene Mutation die wesentlich tödlicher ist und auch vor dem Menschen als Ziel seiner Beute nicht zurück schreckt. Er ist äußerst intelligent und seinen gewöhnlichen Artgenossen auch in jeder anderen Hinsicht überlegen.
Level: 5 HP: 150/150
Angriff: 45 Verteidigung: 40
Intelligenz: 8 Schnelligkeit: 40
„Verdammt!“, fluchte Bahe. Was waren das denn für Stats für ein Level 5 Monster?!
„Arg!“, holte ihn ein Aufschrei unliebsam aus seinen Gedanken und Bahe schloss hastig das Fenster.
Der Vielfraß hatte Zweien der Nahkämpfer im Vorbeilaufen den Gar aus gemacht. Ein schnelles Aufblitzen der Klauen und schon fielen ihre Köpfe zu Boden. Zum ersten Mal ärgerte Bahe sich richtig über den schnellen Dematerialisierungsprozess der Spieler, da das grelle Licht ihn blendete und er so den Vielfraß aus dem Blick verlor.
Hastig schaute er sich um, entdeckte die Kreatur aber erst nachdem bereits drei weitere Spieler zerfetzt zu Boden fielen.
„Das Monster ist viel zu stark!“
„Mein Schwert kommt nicht mal durch das Fell der Kreatur!“, rief einer der Nahkämpfer
„Verdammt, wie soll man dieses Monster denn töten können?“, schrie auch ein Bogenschütze zu Bahes Linken. „Meine Pfeile prallen einfach am Fell ab!“
Damit sprach er eine beunruhigende Tatsache an, die auch Bahe aufgefallen war. Wie sollte man eine Kreatur erlegen, die aufgrund ihrer Stats nahezu unbesiegbar war?
Aber Raoie war sehr lebensecht… jedes Lebewesen hatte irgendeine Schwachstelle… Doch wo waren die Schwachstellen…?
Der Vielfraß besaß keine Rüstung, aber sein Fell wirkte scheinbar wie eine. Blieben noch die Körperöffnungen…
Auch nahezu unmöglich, dort einen Treffer zu landen.
Während Bahes Gedanken rasten, fielen noch zwei weitere Nahkämpfer dem Monster zu Opfer und der erste Bogenschütze bekam zu viel.
„Mir reicht es! Ich hau ab!“, rief er, sprang von seiner Mauer und rannte auf die Gänge des Labyrinths zu.
„Ich auch!“, schloss sich sofort ein zweiter Bogenschütze an und brachte damit die Moral der übrigen Spieler vollends zum Erliegen.
„Was tut ihr?!“, versuchte Geniella den Spielern entgegen zu schreien, doch ohne Erfolg. Fast alle Spieler gaben ihre Stellung auf und strömten in verschiedene Richtungen auf die Gänge der Festung zu.
Zwei Speerträger warfen sich der Kreatur in einem letzten Versuch entgegen, verpassten jedoch den flinken Vielfraß, der sie allein mit seiner Körpermasse im Vorbeirennen zu Boden schleuderte.
Das nächste Ziel des Vielfraß war Geniella, die zu Bahes Rechten auf einem Festungsverschlag Stellung bezogen hatte. Scheinbar stufte die Kreatur sie als gefährlich ein, da sie versuchte die Ordnung Spieler aufrecht zu erhalten.
Verdammt, war das Viech schlau, dachte Bahe.
Doch Geniella erkannte die Absicht der Kreatur früh genug und sprang schnell von ihrem Festungsverschlag, wodurch der Vielfraß schräg über sie hinweg sprang. Im Anschluss rannte sie geradewegs auf Bahe zu.
„Scheiße!“, fluchte Bahe. Konnte sie nicht irgendwo anders hinrennen?
Mit zwei, drei Sprüngen kam sie oben auf seinem Festungsverschlag an und rief ihm panisch zu: „Worauf wartest du denn? Jetzt schieß doch endlich!“
Mürrisch verzog Bahe das Gesicht, der immer noch konzentriert nach einer Lösung suchte. Wäre doch eh nur reine Pfeilverschwendung…
Da bemerkte er plötzlich, wie Geniella näher an ihn heran schnellte. Er wollte noch reagieren, da trat sie ihm auch schon von hinten in die Kniekehle, was ihn zu Boden brachte und nahm anschließend Reißaus in Richtung einer der Gänge.
Ihr schadenfroher Gesichtsausdruck brannte sich derweil wie heißes Eisen in sein Gedächtnis.
„…“, Bahe war so wütend, dass er nicht mal mehr einen Fluch über die Lippen brachte. Um diese Spielerin würde er sich ein andermal kümmern. Jetzt ging es erst mal darum, von hier weg zu kommen.
Bahe wollte schon ebenfalls die Beine in die Hand nehmen, als er plötzlich an seinen Vater denken musste. Solche Situationen waren es gewesen, in denen sein Vater oft ihren gemeinsamen Avatar übernommen hatte. Bahe war immer der Besonnene gewesen, der nie riskieren wollte alles zu verlieren. Doch sein Vater hatte immer diese knappen Kämpfe geliebt, in denen man alles auf eine Karte setzte…
Egal was er machte, er würde dem Vielfraß eh nicht entkommen, der in der Zwischenzeit einen der fliehenden Bogenschütze niedergemetzelt hatte und seine Aufmerksamkeit nun auf ihn richtete.
Entschlossen richtete Bahe sich schließlich auf, spannte seinen Bogen und legte seinen Pfeil wieder vernünftig an. Sollte der Vielfraß doch kommen, er würde zumindest nicht kampflos untergehen und letztlich war es doch genau das, worum es hier im Kampftraining ging.
Die Kreatur raste plötzlich auf ihn zu. Mit einer Schnelligkeit, die Bahe für unmöglich gehalten hätte, wenn er seine Augen nicht unentwegt auf den Vielfraß gerichtet hätte, bewegte sich das Monster auf ihn zu. Im Gegensatz zu Geniella brauchte es nur einen Satz, um auf Bahes Augenhöhe zu kommen und durch die Luft auf ihn zuzufliegen.
Bahe hatte die Zeit jedoch ebenfalls genutzt und seinen Stand gefestigt. Den Bogen bis auf das Äußerste gespannt, atmete er konzentriert aus und wartete. Der Vielfraß kam mit erhobener Klaue angeflogen, doch Bahe beachtete sie gar nicht. Sein Blick war starr über seinen Pfeil hinweg auf sein Ziel gerichtet. Im letzten Moment, kurz bevor sie aufeinander prallten, war es als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Auge in Auge blickten sie einander an und dann ließ Bahe seinen Pfeil von der Sehne schnellen. Sofort danach warf er sich rückwärts zu Boden, um der Klaue des Vielfraßes auszuweichen.
Der Pfeil traf unter lautem Aufkreischen und Winseln des Monsters sein Ziel und bohrte sich tief in das Auge des Vielfraßes. Die Kreatur zuckte so heftig zusammen, dass ihr Hinterbein das Dach streifte, wodurch sich die Flugbahn verkürzte und der Vielfraß zu allem Unglück auf Bahe herab fiel, der noch keuchend vom Aufprall in Rückenlage auf dem Dach des Festungsverschlags lag.
Bahe krachte schmerzvoll durch die Holzbalken des brüchigen Daches, während der Vielfraß vom restlichen Schwung von dem Dach rollte und außerhalb des Festungsverschlags zu Boden stürzte.
Orientierungslos und hustend versuchte Bahe sich schnell wieder aufzurichten, verlor jedoch beim ersten Versuch das Gleichgewicht taumelte erneut zu Boden.
„Verdammt… ich bin noch am Leben…?“, redete er mit sich selbst, während er versuchte den Staub in der Luft vor sich weg zu fächern und überprüfte schnell seine Gesundheit.
„43 HP, huh?“, stöhnte er und richtete sich diesmal langsamer auf. Seine Rippen schmerzten, jeder Atemzug tat weh und auch ansonsten hatte er das Gefühl, dass sein ganzer Körper nur noch eine einzige große Prellung war.
Ein Winseln und wütendes Fauchen zog da jedoch schon wieder seine Aufmerksamkeit auf sich. Durch die Risse und Mauerlöcher im Festungsverschlag erkannte Bahe wie sich der Vielfraß gerade wieder erhob und wie wild geworden, mit seinen Klauen an seinem Auge rumfuchtelte. Der Pfeil steckte noch immer darin und bereitete der Kreatur scheinbar einiges an Unbehagen.
Grimmig zogen sich Bahes Mundwinkel nach oben. Man konnte das Monster also doch verletzen.
Seine positive Stimmung verschwand jedoch genauso zügig, wie sie gekommen war, als ihm klar wurde, dass etwas fehlte. Wo war sein Bogen?
Ein Blick nach oben bestätigte ihm seinen unheilvollen Verdacht. Sein Bogen lag auf den alten Dachbalken.
„Scheiße!“, fluchte er über sein miserables Glück und stierte nach draußen, während er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte.
Zu Bahes Überraschung kamen ihm die beiden Speerträger zu Hilfe, die den Vielfraß zuvor verfehlt hatten. Sie nahmen das Monster in die Zange und stachen von gegenüberliegenden Seiten nach dem zweiten Auge des Vielfraßes. Die Kreatur musste sich nun zusätzlich zu seinem schmerzenden Auge, der Attacken der beiden Spieler erwehren, was Bahe eine Atempause verschaffte.
So schnell er konnte, kletterte er aus dem Festungsverschlag und bestieg das Dach, um seinen Bogen zu bergen. Mit dem Bogen in der Hand verließ er eilig das instabil gewordene Dach und suchte sich eine passende Position, um den Speerträgern helfen zu können.
Zehn Meter von der Kreatur entfernt, wollte er einen Pfeil auf seinen Bogen auflegen, als seine Hand nur Bruchstücke zu fassen bekam.
„Mist!“, entfuhr es ihm genervt. Beim Sturz durch das Dach, waren sämtliche Pfeile zu Bruch gegangen.
„Hier!“, rief ihm jemand von hinten zu und kaum einen Wimpernschlag später landeten einige Pfeile zu seinen Füßen.
Bahe sah eine Bogenschützin unweit von ihm auf einer kleinen Mauer stehen, die gerade den ersten Pfeil gen Vielfraß schnellen ließ und nickte ihr dankend zu. Nicht länger zögernd schnappte er sich einen der Pfeile und zielte auf das verbliebende Auge des Monsters.
Das Treffen stellte sich jedoch als wesentlich schwieriger heraus als gedacht. Der Kopf des Vielfraßes zuckte ständig von einer zur anderen Seite und machte es zu einem reinen Glücksspiel auch nur das Gesicht der Kreatur zu treffen.
„Verdammt, ihr solltet euch mal mit dem Treffen beeilen. Wir können das Viech nicht mehr lange in Schach halten!“, rief der Speerträger zu Bahes Rechten, da die Beiden zunehmend in Bedrängnis gerieten.
Scheinbar hatte sich der Vielfraß allmählich an die Schmerzen und das beschränkte Sichtfeld gewöhnt, erkannte Bahe und blickte auf die verbliebenen Pfeile zu seinen Füßen. War dies jetzt wirklich der Moment, um zwanghaft bei den eigenen Vorsätzen zu bleiben?
Nein, mit Sicherheit nicht!
Schnell hob er die Pfeile auf und warf sie zurück zu der Spielerin, die sie ihm zur Verfügung gestellt hatte. Danach rannte er den Speerträgern zu Hilfe, während er den Bogen in seinem Speichergegenstand verschwinden ließ und stattdessen sein Schwert hervor holte.
„Kannst du die Rückseite übernehmen?“, fragte Bahe den Speerträger zu seiner Linken, der sofort verstand und seine Position wechselte. Wenig später stand Bahe mit den beiden Speerträgern in einer Dreiecksformation um den Vielfraß herum, wodurch sie der Kreatur jede sofortige Fluchtmöglichkeit genommen hatten.
Was folgte waren ihre immer wiederkehrenden Angriffe, um der Kreatur zuzusetzen. Für Bahe war dieser Prozess jedoch alles andere als einfach. Bedingt durch seine Waffe, hatte er in Sachen Reichweite einen enormen Nachteil im Vergleich zu den Speerträgern. Der Vielfraß ließ seine Krallen mit solcher Wucht und Schnelligkeit durch die Luft sausen, dass Bahe ein paar Mal nur durch geschicktes Abrollen über den Boden, den gefährlichen Hieben ausweichen konnte.
„Hat irgendjemand eine Idee?“, fragte die Bogenschützin, deren Pfeile bisher leider ergebnislos geblieben waren.
„Das Viech ist einfach zu schnell“, schüttelte der Speerträger rechts von Bahe den Kopf.
„Ich treffe ab und an die Hinterbeine von dem Monster, mache aber viel zu wenig Schaden“, meinte auch der andere Speerträger resigniert.
Anschließend blickten alle Bahe entgegen, doch er war mal wieder in Bedrängnis geraten und konnte sich nur noch mit einem Sprung nach rechts und einem anschließenden seitlichen Abrollen retten. Das übrig gebliebene Auge des Vielfraßes verfolgte ihn dabei die ganze Zeit und Bahe wäre vermutlich zerfetzt worden, wenn der Speerträger zu Bahes Rechten, nicht instinktiv seinen Speer zum Gesicht des Monsters gestoßen hätte.
Dem Vielfraß blieb nichts anderes übrig, als von Bahe abzulassen und nach hinten auszuweichen, um nicht auch noch sein anderes Auge zu verlieren.
„Danke“, rief Bahe, während er schnell wieder seine ursprüngliche Position bezog.
„Verdammt, das war knapp!“, pfiff der Speerträger hinter der Kreatur beeindruckt.
„Muss aber nicht nochmal sein“, brummte Bahe bei weitem nicht so begeistert.
„Leute, konzentriert euch“, sagte die Bogenschützin ungehalten.
„Ja, ja…“, meinte der Speerträger hinter dem Vielfraß und stieß erneut mit seinem Speer zu. Bahe nickte nur.
Der andere Speerträger war indes ruhig geblieben und hatte die Augenbrauen nachdenklich zusammen gezogen.
„Mach das nochmal“, rief er plötzlich an Bahe gewandt.
„Was?“
„Roll dich nochmal so über den Boden in meine Richtung.“
„Haha, seht ihr, Nolen ist auch beeindruckt“, kam der andere Speerträger dazwischen.
„Sehr witzig“, antwortete Bahe mürrisch, als er einen Hieb des Vielfraßes mit Mühe parierte.
„Nein, ernsthaft, mach es nochmal“, verlieh dieser Nolen seinen Worten Nachdruck.
„Wieso?“
„Ich habe gerade fast das Auge von diesem Ding erwischt. Mein Timing war nur ein kleines Bisschen daneben“, erklärte sich der Speerträger.
„Dann los!“, rief die Bogenschützin in Bahes Rücken.
„Hey! So schnell geht das nicht, ich will dabei nicht verrecken!“, äußerte sich Bahe ohne sich umzudrehen.
„Hehe, du hättest sehen müssen, wie sie bei ihren Worten am Grinsen war!“, lachte der Speerträger hinter dem Vielfraß.
„…“, Bahe zog es vor nicht mehr zu antworten und konzentrierte sich auf die Hiebe des Vielfraßes. Zwei, drei Angriffen musste er noch standhalten, ehe er endlich die Gelegenheit fand einen Versuch zu wagen.
Mit einem Sprung nach rechts begann sich die Situation von vorhin zu wiederholen und Bahe hoffte nur, dass dieser Nolen Erfolg hatte.
Das Abrollen über die Schulter folgte Bahes Sprung und nahm ihm vorübergehend die Sicht, nicht aber das Gehör. Ein furchtbar kreischendes Winseln hallte plötzlich über die Freifläche hinweg und ließ Bahe beim Hochkommen erleichtert aufatmen.
Kaum einen Moment später bestätigten sich Bahes Gedanken. Nolen hatte das zweite Auge der Kreatur getroffen.
Wie vom Wahnsinn getrieben drehte sich der Vielfraß ununterbrochen um sich selbst und schlug auf alles ein, was in seine Reichweite kam.
„Sehr gut gemacht Leute!“, rief die Bogenschützin aus.
„Blind ist das Viech jetzt, keine Frage. Aber diesem Ding auch noch den Gar aus zu machen, wird beileibe nicht einfach sein“, meldete sich der Speerträger hinter dem Monster zu Wort, der einigen Abstand zwischen sich und den wildgewordenen Vielfraß gebracht hatte.
„Keine Sorge, Bewen. Das Viech wird schon irgendwann müde werden“, meinte Nolen.
„Schon, aber es könnten noch andere Kreaturen auftauchen“, gab Bahe zu bedenken.
„Oh, Scheiße, das habe ich komplett vergessen!“, sagte die Bogenschützin erschrocken und blickte sich aufmerksam um, während sie die wenigen Pfeile einsammelte, derer sie auf der Freifläche habhaft werden konnte.
„Dann sollten wir uns wohl mit dem Abschlachten beeilen“, erklärte Bewen mit einem, seiner Meinung nach, gefährlich aussehendem Lächeln, während er seinen Speer mit streichelnder Hand liebkoste. Die Illusion wurde jedoch nahezu sofort zerstört, als er unter lautem Fluchen mehreren Hieben des Vielfraßes ausweichen musste.
„…“, die Bogenschützin und Bahe waren sprachlos und schauten zu Nolen.
„Guckt mich nicht so an…“, meinte dieser nur achselzuckend. „Er ist schon immer so gewesen…“
Der Moment währte nicht lange, da Bewen keinesfalls allein klar kam.
„Helft ihr mir jetzt endlich oder wollt ihr wirklich, dass ich drauf gehe?“, rief Bewen erbost, was Bahe, Nolen und die Bogenschützin dazu veranlasste wieder in das Geschehen einzugreifen.
Die folgenden Minuten stellten sich als wahre Geduldsprobe heraus. Sicher, der Vielfraß war nun blind, aber immer noch tödlich. Jeder Attacke der Angreifer folgte ein Klauenhieb der Kreatur in die entgegengesetzte Richtung. Dieses Abwehrverhalten erschwerte es Bahe und den anderen Spielern enorm vernünftige Treffer zu landen. Das Resultat waren unfassbar geringe Schadensmeldungen ihrer gemeinschaftlichen Anstrengungen, wobei die Pfeile der Bogenschützin vollends wirkungslos waren. Sie prallten einfach am Fell der Monstrosität ab. Bahe war jedoch auch nicht viel besser. Durch seine mangelnde Reichweite mit dem Schwert und aufgrund der Gefahr, die ein einziger Treffer des Vielfraßes darstellte, war er gezwungen sicher vorzugehen und konnte der Kreatur nur selten oberflächliche Schnitte zufügen, ehe er sich hektisch zurückziehen musste.
„Deine Pfeile sind ja mal sowas von wirkungslos!“, beschwerte sich Bewen.
„Jep, hast recht, vielleicht sollte ich einfach meine Pfeile sparen“, stimmte ihm die Bogenschützin zu.
„Hey, so war das nicht gemeint. Wie wäre es, wenn ich den Kopf des Vielfraßes zu mir lenke und du schießt auf sein Arschloch“, erklärte er und breitete die Arme aus. „Ihr wisst schon, weiche Haut und so…“
„…“
„…“
Bahe und die Bogenschützin rollten gleichzeitig die Augen.
„Kannst du nicht einmal deine Klappe halten?!“, rief Nolen lauthals der rot angelaufen war. Entweder schämte er sich solch einen Freund zu haben oder war wütend über den fehlenden Einsatz Bewens, dachte Bahe belustigt, während er sich wieder auf den Vielfraß konzentrierte.
„Ich mein ja nur…“, sagte Bewen geknickt, widmete sich aber wieder dem Zustechen mit dem Speer.
Es blieb eine langwierige Arbeit dem Vielfraß den Gar auszumachen. Die Bogenschützin hatte schließlich tatsächlich aufgehört ihre Pfeile zu verschwenden. Bahe musste ihr aber zu Gute halten, dass sie die ganze Zeit wachsam blieb und den Vielfraß in kritischen Momenten ablenkte, wodurch sowohl Bahe als auch die beiden Speerträger, das ein oder andere Mal dem Tode entgingen.
„Ah! Verdammt, fasst hätte ich es vergessen!“, schrie Bewen plötzlich panisch, als die HP des Vielfraßes kurz vor dem Nullpunkt waren. „Hier, nehmt schnell an. Sonst kriegt nur einer von uns die Erfahrung!“
Das musste er Bahe und den Anderen nicht zweimal sagen, als sich vor ihnen ein Fenster mit einer Teameinladung öffnete. So schnell er konnte bestätigte Bahe seine Teilnahme und schloss das Fenster, damit es ihn im Kampf nicht weiter stören konnte.
Nolen war jedoch nicht ganz so schnell und bekam durch das geöffnete Fenster vor ihm zu spät mit, wie der Vielfraß mit einem letzten Aufschrei zum Sprung in seine Richtung ansetzte. Ein Hechtsprung mit vollendeter Bauchlandung auf den umliegenden Schutt rettete ihm das Leben, auch wenn er fluchend in einer Staubwolke verschwand.
Danach brach die Kreatur zusammen und rührte sich wenig später nicht mehr.
Es war kein großes Finale gewesen. Aber es hatte auch keine große Attacke oder Fähigkeit gegeben, der der Vielfraß letztlich erlag. Vielmehr waren es die zahlreichen Stich- und Schnittwunden und der damit einhergehende Blutverlust, die das Monster in die Knie gezwungen hatten.
Du hast mit deinem Team einen Vielfraßgiganten bezwungen!
Da der Vielfraßgigant eine gefährliche Mutation eines gewöhnlichen Vielfraßes ist:
Alle Erfahrung x10
+10 Exp!
Oh, das war eine nette Überraschung. Scheinbar brachten mutierte Monster erheblich mehr Erfahrung ein als gewöhnliche Kreaturen. Das musste er sich merken. Und wenn er sich nicht irrte, gab es sogar noch eine Stufe darüber… Monster mit dem Sonderrang Phantom sollten noch über Mutationen stehen. Was die dann wohl erst an Exp bringen würden?
Andererseits machte er sich keine Illusionen. Eine mutierte Level 5 Kreatur hatte achtundzwanzig Spieler in die Flucht geschlagen und die Hälfte von Ihnen getötet, bevor sie überhaupt reagieren konnten. Dabei waren Level 5 Monster genau das, was den Spielanfängern den Weg in ein erfolgreiches Spielerlebnis ebnen sollte. Wenn eine Mutation es ihnen schon so schwer gemacht hatte, würde ein Phantom Bahe und seine Mitstreiter wohl in Sekundenbruchteilen zerfetzen.
„Fuck, yeah! 10 Exp! Obwohl die Erfahrung geteilt wird!“, sprang Bewen ausgelassen durch die Gegend.
„Also bringen Mutationen eine ganze Menge mehr Erfahrung, als normale Monster“, meinte die Bogenschützin ebenfalls mit einem Grinsen im Gesicht.
„Gut, dass du an die Einladung gedacht hast, Bewen. Aber das verfluchte Benachrichtigungsfenster hätte mich fast umgebracht!“, schimpfte Nolen, der sich noch immer den Staub von der Kleidung klopfte.
„Haha, sorry, aber wenn du dich sehen würdest!“, prustete Bewen bei Nolens Anblick los und krümmte sich vor Lachen.
„Nicht. Witzig“, knurrte Nolen. „Gar. Nicht. Witzig.“
Doch Bewen beachtete seinen angepissten Freund gar nicht und hielt sich stattdessen noch immer lachend den Bauch.
„Scheinbar braucht hier ein gewisser jemand mal wieder eine Tracht Prügel…“, raunte Nolen missmutig und stapfte auf seinen noch immer lachenden Freund zu.
Als sich Bewens Gelächter kurze Zeit später in jaulende Schmerzensschreie verwandelten, konnte Bahe nur belustigt den Kopf schütteln.
„Ein merkwürdiges Paar, was?“, fragte die Bogenschützin, die derweil neben Bahe getreten war.
Bahe nickte nur.
„Ich heiße Tera“, stellte sich die Bogenschützin vor.
„Ich bin Anael“, tat es Bahe ihr nach.
„Du bist doch eigentlich ein Bogenschütze oder?“, fragte Tera.
„Ja, wieso?“
„Ich frage mich, wie du mit Level 2 an ein solch starkes Artefakt kommst, dass noch nicht mal zu deiner eigentlichen Profession gehört. Laut dem Teamprofil bist du auch nicht Mitglied in irgendeiner Gilde oder hast du bei der Teamteilnahme absichtlich deinen Gildennamen verborgen?“
Oh… Interessant, was diese Tera so schnell alles auf den Punkt brachte.
„Es ist… eine lange Geschichte…“, wich Bahe der Frage aus, erklärte aber. „In einer Gilde bin ich aber wirklich nicht.“
„Also hast du ziemliches Glück gehabt“, zuckte Tera mit den Schultern und beließ es dabei.
Nolen hatte inzwischen von seinem Kumpel abgelassen und kam mit freundlicher Mine auf sie zu.
„Hey, auch wenn es eigentlich schon klar ist, ich bin Nolen“, stellte er sich mit einem Nicken vor und zeigte anschließend auf den inzwischen mindestens ebenso staubigen Bewen, der sich gequält erhob. „Und dieses Großmaul da drüben ist Bewen.“
„Tera“, meinte die Bogenschützin knapp aber lächelnd.
Bahe stellte sich auch ein weiteres Mal vor: „Ich bin Anael.“
„Fuck, Nolen! Du hättest nicht so feste Zutreten müssen“, sagte Bewen mürrisch, als er bei ihnen ankam.
„Scheinbar war es nicht fest genug!“, hob Nolen immer noch wütend die Hand.
„Hey, hey… chill Bro!“, hob Bewen die Hände und wandte sich schnell an Bahe und Tera. „Ihr seid beide Bogenschützen oder?“
„Ist doch klar, dass sie es sind, Idiot“, verdrehte Nolen die Augen.
„Ja, aber wieso hat er dann dieses abgefuckt geile Schwert in der Hand?“, erklärte sich Bewen besserwisserisch.
„Ihr seid also Speerträger?“, fragte Bahe, um nicht auf sein Schwert eingehen zu müssen.
„Haha, ja man! Speerkämpfer vom Feinsten im Level 4 Bereich!“, ereiferte sich Bewen sogleich und vollführte einige Stoßarten mit passenden Ausfallschritten.
„Wir haben recht früh verstanden, dass man mit dem Schwert in Raoie nicht sonderlich weit kommt. Zumindest nicht solange man low Level ist“, erläuterte Nolen nicht ganz ohne Stolz.
„Eigentlich waren wir bis Level 2 Schwertkämpfer“, stellte Bewen fest und lachte anschließend wieder drauf los. „Aber wir haben nur auf die Schnauze gekriegt! Hahaha!“
„Wieso kannst du nicht einfach sterben…“, zischte Nolen zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor, während sein rechtes Auge vor Zorn zuckte und er knallrot anlief.
„Was denn? Ist doch nur die Wahrheit. Mein Papa hat immer gesagt…“
„Pffft“, unterdrückten Tera und Bahe währenddessen ihr Lachen und versetzten Nolen damit wohl den letzten Stoß.
„So, jetzt reicht’s!“, rief Nolen und ging erneut auf Bewen los.
„Au, fuck! Man, das tut weh!“, schrie Bewen entsetzt, während er händeringend das Weite suchte.
„…“
„…“
Es dauerte nur einen Wimpernschlag, ehe Bahe und Tera nicht mehr an sich halten konnten und in lautes Gelächter ausbrachen.
„Die beiden sind wirklich…“
„Ja, nicht wahr…?“
„Ich kann nicht mehr…“, meinte Bahe japsend.
„Ich auch nicht…“, quietschte Tera zwischen ihren Lachattacken.
Bahe brachte seinen Lachanfall gerade wieder unter Kontrolle, als unheimliches Geheule plötzlich durch die Festung schallte.
Fast augenblicklich konzentrierten sich wieder alle und Tera brachte es auf den Punkt.
„Wir haben noch keine Benachrichtigung über das Ende des Tutorials bekommen, oder?“
„Nope“, stimmte Bewen zu.
Und Nolen sprach das aus, was auch Bahe durch den Kopf ging: „Was glaubt ihr ist wohl mit den anderen Spielern passiert?“
Wie als Antwort ertönten plötzlich hysterische Schreie und gefluchte Kraftausdrücke die nach und nach in Schmerzensschreien mündeten, ehe die Stimmen einer bedrohlichen Totenstille wichen…
„Also ich bin für einen strategischen Rückzug“, durchbrach Bewen mit seiner dümmlichen Leichtfertigkeit die Stille.
„Dir hat man doch ins Hirn geschissen oder? Wir sind hier im Tutorial!“, regte sich Nolen sofort wieder auf. „Wie oft sollen wir noch daran scheitern?“
„Aber es stimmt schon“, meinte Tera. „Allein der Vielfraßgigant war schon heftig. Was soll denn da sonst noch kommen?“
„Hört sich nach Wölfen an“, vermutete Bahe, als das Geheule erneut durch die Festung schallte. „Und der Ausbilder hat ja gesagt, dass der Schwierigkeitsgrad erhöht wurde.“
„Hey, stimmt ja! Wo sind diese verblödeten Zwillinge?“, klatschte sich Bewen eine Hand vor die Stirn, als sei ihm soeben die Erkenntnis des Jahrhunderts gekommen.
Tera und Bahe schauten sich nur stumm an. Musste ausgerechnet Bewen von Verblödung sprechen?
„Vermutlich verreckt“, zuckte Nolen mit der Schulter. „Die Beiden waren die Ersten, die Reißaus genommen haben, als diese Luchskreatur aufgetaucht ist.“
„Apropos Luchs! Danach der Bär, dann der Vielfraß und jetzt die Wölfe, das sind die großen Raubtiere Europas“, erklärte Bewen enthusiastisch.
„Woher weißt du denn sowas?“, fragte Tera mit hochgezogenen Brauen.
„Auf was spielst du an?“, argwöhnte Bewen.
„Nun… du siehst einfach nicht wie jemand aus, der sowas weiß.“
„Hey, hältst du mich für dumm oder was?“, ereiferte sich Bewen.
„Nicht nur ich“, zwinkerte Tera ihm nur verschlagen zu und wandte sich ab.
„Nolen, könntest du ihr bitte erklären, dass dem mit Sicherheit nicht so ist?“, wandte sich Bewen an seinen Freund.
„Ich kann ihr nur zustimmen.“
„Haha, das ist mein Kumpel. Da hörst du... Hey, was?!“, begann Bewen siegessicher, ehe er fassungslos Nolen anschaute.
„Anael, mein Freund, du stehst doch sicherlich auf meiner Seite, nicht wahr?“, sprach er Bahe hoffnungsvoll an.
Bahe grinste nur über Bewens Gehabe und sagte: „Wenn Bewen mit seiner Vermutung recht hat, dann sollten die Wölfe die letzte Angriffswelle sein. Besser wir überlegen uns, wie wir uns gegen sie erwehren können.“
„Ach, kommt schon!“ regte sich Bewen auf und stiefelte missgelaunt zum Kadaver des Vielfraßgiganten, um daran seinem angestauten Frust auszulassen.
„Die Gänge des Labyrinths bieten keinerlei Deckung“, meinte Tera. „Besser wir bleiben hier.“
„Ich sehe das genauso“, schloss sich Nolen an. „Wir könnten uns in einem dieser Festungsverschläge verschanzen. Die Löcher bieten ideale Möglichkeiten Pfeile aus der Deckung heraus abzuschießen oder mit unseren Speeren zuzustoßen.“
„Hört sich gut an“, nickte Bahe. „Fragt sich nur welchen Verschlag wir nehmen…“
„Haha! Da hast du’s du verfickter Vielfraß!“, zog Bewen plötzlich wieder die Aufmerksam auf sich, als er wie wahnsinnig geworden auf den Körper des Vielfraßgiganten einstach und äußerst merkwürdige Laute von sich gab. „Ey, ey, ey, ey, ey!“
Irgendwie erinnerte es stark an eine Szene aus einem schlechten Kong Fu-Film, in der ein Hauptcharakter gerade die Speerkunst erlernen sollte…
„…“, etwas verstört schauten Bahe und Tera auf Nolens Kumpel, der seinem Verhalten gerade die Krone aufsetzte.
„Bitte, sagt nichts…“, meinte Nolen nur peinlich berührt.
„…“
„…“
„Ok… das macht es auch nicht besser…“, gab Nolen zu.
Ein Heulen, dass plötzlich sehr viel näher klang, riss ihre Gedanken abrupt von diesem Spektakel los.
„Wir sollten uns beeilen“, rief Tera leicht panisch und zeigte auf einen Verschlag, der sich noch im halbwegs akzeptablen Zustand befand. „Der da sieht gut aus.“
„Ja, nichts wie hin!“, stimmte Nolen zu und Bahe folgte.
Hastig legten sie die zwanzig Meter zurück und stürmten in den Festungsverschlag. Mit ein paar schnellen Tritten schoben sie den gröbsten Schutt hinaus, um sich einen sicheren Stand zu schaffen und bemühten sich anschließend darum die alte Holztür zu schließen.
„Verdammt, dieses Ding klemmt“, ächzte Tera und Bahe kam ihr sogleich zur Hilfe.
„Wo ist Bewen?“, fragte Nolen verwirrt und gemeinsam schauten sie zum Kadaver des Vielfraßgiganten, an dem Bewen noch immer seine Wut ausließ.
„Du Vollidiot! Beweg deinen Arsch gefälligst hier rein, bevor die Wölfe dich zerfleischen. Ich werde das Tutorial kein weiteres Mal mehr mit dir absolvieren, wenn du wegen deiner eigenen Blödheit verreckst!“, schrie Nolen aus Leibeskräften.
„Hä, was?“, kam Bewen zu sich, ehe er plötzlich kreidebleich wurde und die Beine in die Hand nahm.
Mit wütendem Gekläffe und Geheule kamen fast im gleichen Moment die ersten Wölfe auf die Freifläche der Festung gerannt und Tera rief panisch: „Wir müssen diese Tür zu kriegen!“
„Oh scheiße, fast vergessen“, fluchte Bahe diesmal und Nolen und er beeilten sich es ihr gleich zu tun und an der Tür zu ziehen.
Die Scharniere waren verrostet und es kostete sie ihre gesamten Kraftreserven die Tür nach und nach ein Stück zu bewegen. Als sie die Hälfte geschafft hatten, sprang Bewen herein und rief panisch: „Worauf wartet ihr noch? Macht die Tür zu!“
„Ich schwöre dir, irgendwann bringst du uns mit deinem Schwachsinn noch um!“, brachte Nolen seine Wut zum Ausdruck, während Bahe die Tür mit Stößen seiner Schulter schloss und erleichtert aufatmete.
Keine Sekunde später krachte etwas dumpf von außen gegen die Tür und wütendes Knurren war zu vernehmen. Die Tür hatte sich glatt wieder einen Spalt geöffnet und Bahe warf sich schnell ein weiteres Mal mit Wucht dagegen, um den Wölfen keinerlei Möglichkeiten zu geben ins Innere zu kommen.
„Legt schon los und schlachtet diese Wölfe ab. Ich kümmere mich um die Tür“, sagte Bahe zu den Anderen und musste sogleich dem nächsten Aufprall standhalten.
Nolen und Tera nickten und begannen durch die Nischen und kleinen Löcher der Mauern ihre Waffen einzusetzen. Bewen hingegen, stand einfach nur da.
Als Nolen sah, wie sein Kumpel Löcher in die Luft starrte, platzte ihm der Kragen: „Was ist denn jetzt schon wieder los? Hilf uns endlich!“
„Aber ich bin doch so dumm… ich weiß gar nicht wie…“, meinte Bewen schlicht und zuckte mit den Schultern, während er ein besonders dümmliches Grinsen aufsetzte und sich auf seinen Speer stützte.
Tera und Nolen waren sprachlos.
Während Bahe, ob der Wahnwitzigkeit ihrer Situation, fast lachen musste. Mit einem Grinsen sagte er schnell: „Aber wir brauchen doch unbedingt ein so weltbewegendes Genie wie dich! Die Beiden haben sich doch nur über dich lustig machen wollen, weil sie neben deiner Intelligenz wie dumme Urzeitmenschen aussehen.“
„Ist das wahr?“, fragte Bewen mit gespielter Überraschung und hob seine Augenbrauen.
„Selbstverständlich, ich bin der reinste Neandertaler!“, nickte Nolen eifrig, während Tera es ihm gleich tat und sagte: „Verzeih uns bitte unsere Unwürdigkeit.“
„Haha! Wieso habt ihr das nicht gleich gesagt?“, lachte Bewen und sagte mit einem breitem Grinsen. „Keine Sorge, ich verzeihe euch euer beschämendes Verhalten. Worauf warten wir noch? Töten wir ein paar Wölfe!“
„…“
„…“
„…“
Das Knurren der Wölfe holte sie alsbald aus ihrer sprachlosen Starre und ließ sie eifrig ihren kleinen Festungsverschlag verteidigen.
Bahe hatte alle Mühe die Tür gegen die ständigen Rammstöße der Wölfe geschlossen zu halten und konnte sich am aktiven Kampf nicht beteiligen. Aber zumindest hielt sich Bewen diesmal an seine Aussage und brachte genau wie der Rest alle Kraft auf, um die Wölfe durch die Lücken des Verschlags abzustechen.
Es war ein langwieriger Prozess. Die Wölfe waren unglaublich wendig und wichen den meisten Angriffen geschickt aus. Selbst Teras Pfeile fanden nur selten ihr Ziel.
Es war kein Wunder, dass der Rest der Spieler in den Labyrinthgängen dieser Wolfshorde erlegen war.
Aber es gab nicht nur schlechte Neuigkeiten. Die Wölfe waren individuell wesentlich schwächer als der Vielfraßgigant. Lediglich ihre Anzahl war das Problem.
Na ja… lediglich… war dann doch untertrieben.
Mit einem Stoß wurde Bahe mal wieder zurück geschmissen. Hastig warf er sich erneut von innen gegen die Tür und schloss den kleinen Spalt, der sich gerade aufgetan hatte.
„Kommt ihr voran?“, fragte er.
„Nicht wirklich“, antwortete Nolen und schüttelte den Kopf.
„Es geht…“, meinte Tera. „Meine Pfeile machen einfach zu wenig Schaden. Selbst wenn ich treffe. Ich brauche mindestens 4 Pfeile pro Exemplar, bevor diese verdammten Wölfe verrecken.“
„Bei mir sieht es auch nicht viel besser aus“, sagte Bewen ausnahmsweise mal ernsthaft. „Ich habe bisher erst vier der Viecher getroffen. Einen konnte ich töten, den Rest nur verletzen. Diese Hütte hier ist ja zur Verteidigung schön und gut, aber durch die winzigen Öffnungen hat man offensiv kaum Möglichkeiten.“
„Hey, da tut sich was!“, rief Nolen plötzlich. „Die Wölfe ziehen sich zurück.“
Gespannt lauschten alle auf die Umgebung und lugten durch Ritzen und Spalte in den Mauern, um irgendetwas ausmachen zu können.
Dann wurde es still.
„Sind sie abgehauen?“, fragte Tera schließlich in die ungewohnte Stille hinein.
„Ist unwahrscheinlich“, sagte Bewen. „Ich meine… das hier ist ein Tutorial zum Kampftraining. Wäre doch idiotisch, wenn die Monster vor den Spielern weg rennen…“
„Oh Scheiße…“, fluchte Nolen plötzlich.
„Was ist?“, verlangte Bahe zu wissen.
„Macht euch bereit, die Wölfe versuchen es über das Dach!“, rief Nolen aufgeregt.
„Hä? Wie sollen die Viecher da rauf kommen?“, fragte Bewen.
„Die springen vom gegenüberliegenden Festungsgebäude hier rüber!“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Tera. „Die Dachbalken sind doch total brüchig. Die halten den Aufprall niemals aus!“
„Haltet die Speere nach oben!“, meinte Bahe, während er fieberhaft nach einer Möglichkeit suchte, die Wölfe erfolgreich zu bekämpfen.
Nolen und Bewen kamen derweil Bahes Aufforderung nach und richteten ihre Speere zum Dach hin aus, was sich angesichts der Enge der Räumlichkeit als gar nicht so einfach erwies.
Kaum waren die Speere senkrecht gestellt, krachte auch schon ein Wolf auf das Dach und fiel mitsamt des morschen Holzes auf sie hinunter.
Tera schrie spitz auf und hielt sich die Arme über das Gesicht, während Bahe in all dem Chaos einem erneuten Aufprall an der Tür stand halten musste. Er war so abgelenkt gewesen, dass die Tür fast aufgestoßen worden war.
Trümmerteile prasselten auf seinen Rücken. Einige auch auf seinen Kopf, aber er biss die Zähne zusammen.
- 1 HP
- 2 HP
- 5 HP
- 3 HP
Schadensmeldungen öffneten sich vor ihm, als er kleinere Verletzungen davon trug. Grimmig betrachtete er seine übrig gebliebenen 32 HP, ehe er die Benachrichtigungsfenster schloss. Er fühlte sich zunehmend beschissen und hustete sich erneut in der staubigen Luft die Seele aus dem Leib. Seine Bedürfnisse, wie Hunger und Durst meldeten sich mittlerweile auch. Verdammt, sie mussten dieses Tutorial endlich hinter sich bringen.
Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass die beiden Speerkämpfer tatsächlich erfolgreich gewesen waren. Der durch das Dach gefallene Wolf war auf die beiden spitzen Enden ihrer Speere gefallen und zuckte noch im letzten Todeskampf.
„Alle ok?“, fragte Nolen ehe ihn ein erneuter Hustenanfall befiel.
Bahe und die anderen Beiden nickten nur, um nicht noch mehr Staub einatmen zu müssen.
Der Wolf gab ein letztes Fiepen von sich, bevor er erschlaffte und sich ein weiteres Benachrichtigungsfenster öffnete:
Dein Team hat erfolgreich einen Wolf erlegt!
+1 Exp
„Fuck it! Der ganze Aufwand nur für einen einzigen Erfahrungspunkt?“, regte sich Bewen auf. „Raoie ist sowas von Hardcore, was dass Farmen betrifft. Ich frage mich wirklich, wie die Gildenanführer es zu Level 100 geschafft haben…“
„Du darfst nicht vergessen, dass wir gerade zu viert sind. Eigentlich wären es wohl 4 Exp“, versuchte Tera ihn zu beschwichtigen.
„Ja, klar… 4 Exp sind so viel besser…“, rollte Bewen die Augen.
„Leute, falscher Zeitpunkt zum diskutieren“, fuhr Nolen dazwischen. „Wir müssen uns was ausdenken, bevor der nächste Wolf durch das Dach geflogen kommt.“
„Werdet erst mal schnell den Wolf von euren Speeren los“, wies Bahe sie an und sagte dann: „Am besten wir öffnen die Tür.“
„Hast du den Verstand verloren?!“, blaffte Bewen.
„Nein, keine Sorge“, rümpfte Bahe die Nase und begann seine Idee zu erklären: „Das Dach können wir nicht kontrollieren, die Tür aber schon. Anstatt uns vollkommen zu verbarrikadieren und weiter mit der Ungewissheit von einem plötzlichen Eindringen leben zu müssen, ist es doch viel besser sie kontrolliert herein zu lassen. Die Tür ist keine besonders große Öffnung. Mit euren Speeren, meinem Schwert und Teras Pfeilen als weitere Deckung sollten wir den kleinen Bereich auf jeden Fall verteidigen können.“
„Machen wir’s!“, stimmte Nolen zu und auch Tera nickte.
„Verdammt! Na gut“, gab sich auch Bewen geschlagen, der umständlich versuchte seinen Speer aus dem Kadaver zu ziehen, der noch immer auf ihren Speerspitzen hing.
Es dauerte einige qualvolle Sekunden, bis die beiden endlich den toten Wolf von ihren Speeren bekommen hatten. Die ganze Zeit über blickten sie sorgenvoll immer wieder nach oben. Doch es kam kein weiterer Wolf angesprungen.
„Seid ihr soweit?“, fragte Bahe, nachdem einem weiteren Stoß stand gehalten hatte.
Alle nickten und Bahe riss mit Kraft die Tür auf. Ein Wolf hatte erneut zum Sprung gegen die Tür angesetzt und wurde von dem plötzlichen Öffnen vollkommen überrascht. Mit voller Wucht sprang er regelrecht in die Speerspitzen, die Bewen und Nolen genau rechtzeitig gesenkt hatten.
Kritischer Treffer!
- 35 HP
Kritischer Treffer!
- 40 HP
Diesmal sah Bahe, wie zwei schwere Schadensmeldungen über dem Wolf aufragten, ehe ein weiteres Fenster erschien:
Dein Team hat erfolgreich einen Wolf erlegt!
+1 Exp
Hastig schloss Bahe das Benachrichtigungsfenster und hieb sein Schwert diesmal mit der flachen Seite mit aller Wucht gegen den erlegten Wolf, um ihn von den Speeren zu schieben.
„Haha! Friss das, du Fellknäul!“, freute sich Bewen, ehe er mit Nolen gemeinsam an den Speeren zog, um Bahe zu helfen, den Kadaver zu lösen.
Danach sprang Bahe schnell zurück und blickte durch die offene Tür hinaus auf das offene Festungsgelände.
Zwanzig Augenpaare waren wütend knurrend auf sie gerichtet.
„Ich weiß ja, ich hab’s schon mal gesagt“, meinte Bewen gut gelaunt mit breitem Grinsen. „Aber worauf warten wir noch? Töten wir ein paar Wölfe!“
Bahe kam nicht umhin zu bemerken, wie Teras und Nolens Mundwinkel gefährlich nach oben zuckten und auch er selbst begann amüsiert zu lächeln.
Trotz Bewens amüsanten Verhalten hielt Bahe seine Konzentration starr geradeaus gerichtet. Die Wölfe hatten sich in einem Halbkreis um die geöffnete Tür angeordnet und wenn er den Geräuschen trauen konnte, befanden sich noch ein paar weitere Exemplare rund um den alten Festungsverschlag.
Das Rudel jagte verdammt intelligent und sicherte sämtliche Fluchtmöglichkeiten ab.
Es dauerte nicht lange, da kamen die nächsten zwei Wölfe angesprungen. Wie wild stürmten sie auf die Türöffnung zu, nur, um im Türrahmen von Nolens und Bewens Speeren empfangen zu werden. Bei ihrem Ausweichen behinderten sich die Wölfe gegenseitig, sodass Bewen die Chance nutzen konnte und einem der Wölfe den Speer in die Schulter stieß.
Unter einem lauten Aufheulen zog sich der verletzte Wolf aus der Türöffnung zurück und erlaubte so dem anderen Rudelmitglied vorzustoßen.
Der zweite Wolf schaffte es zunächst den Speeren auszuweichen, bis ein Pfeil Teras ihn an seiner Flanke erwischte und ihn ablenkte. Die beiden Speerkämpfer zögerten keine Sekunde und verletzen auch diesen Wolf mit kraftvollen Speerstößen kritisch:
Kritischer Treffer!
- 25 HP
Kritischer Treffer!
- 30 HP
Die Gesundheit des Wolfes sank auf jämmerliche 15HP dahin. Doch ehe Bahe seinen Todesstoß vollführen konnte, traf ein weiterer Pfeil Teras sein Ziel und beendete den letzten Kampf des Tieres.
Seines eigentlichen Ziels so plötzlich beraubt, half Bahe nur erneut dabei die Speere aus dem Kadaver zu lösen und rückte im Anschluss wieder hinter Nolen und Bewen zurück.
Dieser Prozess wiederholte sich im Folgenden noch einige Male, bis schließlich acht Wolfskadaver im Eingangsbereich des Verschlags über einander lagen. Nur zwei Mal hatte Bahe tätig werden müssen, als sich die Wölfe an den Speerspitzen vorbei gewunden hatten. Ansonsten waren die Wölfe in der zunehmenden Enge der Türöffnung ein ums andere Mal den Speeren und Pfeilen zu Opfer gefallen.
Mittlerweile rührten sich die Wölfe außerhalb nicht mehr und verweilten vielmehr in einer geduckten Lauerstellung.
„Worauf warten sie?“, fragte Tera.
Bahe wollte schon antworten, doch der Rudelanführer kam ihm zuvor. Das Alphamännchen heulte einmal laut auf und wandte sich zum Rückzug. Es dauerte kaum ein paar Sekunden, bis alle restlichen Wölfe in den Gängen des Festungslabyrinths verschwunden waren.
Auch, wenn Bahe einen entsprechenden Verdacht gehegt hatte, das so abrupte Verschwinden des Rudels, ließ auch ihn verblüfft zurück.
„Haben wir… das Tutorial geschafft?“, fragte Nolen ungläubig.
„Keine Ahnung“, meinte Bewen achselzuckend. „Aber zumindest haben wir eine Verschnaufpause.“
„Müssen echt alle Wölfe töten, bevor wir das Tutorial bestanden haben?“, fragte schließlich auch Tera in den Raum hinein, als sich nach einer Weile noch immer nichts getan hatte.
„Wenn dem so ist, sollten wir uns besser auf die Jagd machen“, versuchte sich Nolen aufzuraffen. „Sonst endet das Tutorial ja nie…“
„Wer klettert zuerst da rüber?“, fragte Bewen auf die Kadaver zeigend, die die Tür versperrten.
Drei Augenpaare landeten sofort auf Bewen, dessen Mine sich sofort verfinsterte.
„Immer der, der fragt“, grinste Tera.
„Sehr witzig“, raunte Bewen nur zurück, machte sich aber daran aus dem Verschlag zu klettern.
Bahe kletterte als nächstes, dicht gefolgt von Tera und Nolen bildete den Schluss.
Als Nolen sie alle aus dem Festungsverschlag geklettert waren, öffneten sich endlich die längst überfälligen Benachrichtigungsfenster:
Du hast das Tutorial II erfolgreich abgeschlossen!
+ 100 Exp
Du hast das Tutorial II bereits mit dem ersten Versuch abgeschlossen!
+ 100 Bonus-Exp!
Du hast das Tutorial II mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad erfolgreich absolviert!
+ 200 Bonus-Exp!
„Verdammt!“, hauchte Bahe, dem fast die Augen ausfielen, als er die enormen Erfahrungswerte sah. Bei keiner der Tutorialmissionen hatte er bisher Erfahrung bekommen, aber hier gleich 400 Exp auf einen Schlag!
„Woohooo!“, kreischte Bewen derweil lautstark und vollkommen aus dem Häuschen.
„Hell yeah!“, rief auch Nolen begeistert.
„400 Exp!“, schrie auch Tera ausgelassen. „Aber die 300 Bonus-Exp haben wir uns ja mal sowas von verdient.“
„Sehe ich auch so…“, grinste Bahe, der plötzlich verstummte, als er sah wie Bewen und Nolen, mit über die Schultern gelegten Armen, gemeinsam auf der Stelle tanzten.
„Oooleeee! Ole, ole!“, sang Bewen furchtbar schief, während Nolen kreischte: „We are the Champions!“
Tera und Bahe sahen sich einen Moment an, blickten zurück zu dem Paar, das die Füße in die Luft warf und sich immer wieder grölend im Kreis drehte, ehe sich ihre Blicke ein weiteres Mal trafen. Dann lachten sie so heftig los, dass sie sich auf den Knien abstützen mussten, um sich nicht vor Lachen auf dem Boden zu kugeln.
Es dauerte ganze zwanzig Sekunden ehe Nolen bemerkte, dass Tera und Bahe noch immer über ihn und Bewen lachten.
Panisch löste er sich von Bewen, als er begriff, welcher Fauxpas ihm da gerade unterlaufen war. Hastig brachte er seine ausgelassene Begeisterung unter Kontrolle und straffte seine verstaubte Kleidung, um seine Verlegenheit zu überspielen.
All seine Bemühungen, nicht zu peinlich drein zu blicken, verstärkten Bahes und Teras Lachattacken jedoch nur noch. Scheinbar war Nolens Wesen dem seines Freundes Bewen doch sehr ähnlich. Er wollte es nur nicht zugeben!
Nolen musste noch eine halbe Minute der Verlegenheit überstehen, in denen Bewen immer wieder versuchte ihn zum Mittanzen zu bewegen, ehe sie plötzlich in einem weißen Licht erstrahlten und sich im nächsten Moment außerhalb der Trainingsfestung wiederfanden.
Begeisterter Applaus und schrille Pfiffe begrüßten die überrumpelten vier Überlebenden des Tutorials und der Anblick der Menschenmasse um sie herum, ließen Bewens Augen groß werden.
Bahe hingegen konnte nicht fassen, dass ihm all diese Spieler beim Absolvieren des Tutorials bis zum Ende zugesehen hatten. Erst beim Training, dann hier und jetzt klatschten sie schon wieder… Was war hier los?
„Nolen! Nolen!“, tippte Bewen seinem Freund auf die Schulter.
„Was?“
„Wir sind Stars! Die feiern uns gerade voll ab!“
„Jetzt bilde bloß nichts ein. Die feiern Anael.“
„Tue ich doch gar nicht! Boar… die heiße Schnecke hat mir gerade zugezwinkert…“
„Pass auf, dass du nicht sabberst.“
„Nolen, willst du dich schon wieder mit mir anlegen? Scheinbar war dir unsere letzte Auseinandersetzung nicht Lehre genug…“
„Du hast wohl vergessen, wer gewonnen hat.“
„Ich habe dich gewinnen lassen. Wenn dein Ego einen Kratzer kriegt, bist du nämlich unausstehlich.“
„Wie war das?“
„Du hast schon richtig gehört“, meinte Bewen nur.
Doch scheinbar wollte Nolen sich das Ganze nicht länger gefallen lassen, was dazu führte, dass sie sich wenig später bereits wieder gegenseitig über den Erdboden prügelten.
Die Schaulustigen nahmen die ungewöhnliche Reaktion ihrer Helden mit ausgelassener Begeisterung auf und feuerten die Beiden in ihrem Unterfangen sogar lauthals an.
„Idioten…“, schüttelte Tera nur den Kopf, während Bahe den Blick inzwischen von den Zuschauern auf die Ausbilder gerichtet hatte, die gerade auf sie zukamen.
„Meinen Glückwunsch, Anael“, gratulierte Fenrir, ehe er rabiat zur Seite geschoben wurde.
„Du Grünschnabel hast doch tatsächlich das erschwerte Kampftraining bestanden!“ blökte Tarat lautstark. „Dir ist schon klar, dass du demnächst unter meinen Fittichen trainieren musst? Du hast weit mehr Talent mit dem Schwert als mit dem Bogen, mein Junge.“
„Hey Tarat, willst du mir etwa meinen Schüler streitig machen?“, fragte Fenrir entrüstet.
„Was heißt denn hier dein Schüler? Er hat seine Ausbildung bei dir doch abgeschlossen. Ich war selbst dabei, als du das gesagt hast“, zuckte Tarat nur die Schultern.
„Tarat…“, sagte Fenrir warnend und trat nah an seinen Ausbilderkollegen heran.
„Was denn…?“, bot Tarat ihm jedoch sogleich die Stirn und baute sich nun seinerseits vor Fenrir auf.
Bahe grinste bei dem Geschehen noch innerlich in sich hinein, als Olar, der Ausbilder der Trainingsfestung an ihn heran trat.
„Du und deine Freunde haben es den Umständen entsprechend gut gemacht. Eigentlich habe ich nicht erwartet, dass irgendjemand den erhöhten Schwierigkeitsgrad schafft“, sprach er sein ernst gemeintes Lob aus. „Anael, nicht wahr?“
„Ja genau und vielen Dank“, antwortete Bahe schnell.
Olar kam ihm etwas näher und meinte: „An deiner Stelle sollest du Tarats Angebot annehmen und dich von ihm im Schwertkampf unterrichten lassen.“
„Ähm… welches Angebot?“, stellte Bahe natürlich sofort die Frage, als er erahnte, dass sich hier eine Quest oder zumindest ein Situation zu seinen Gunsten anbahnte.
„Tarat, hast du ihm etwa noch kein Angebot unterbreitet?“, blaffte Olar seinen Kollegen an.
„Hä, was?“, blinzelte Tarat verwirrt mit den Augen, als er sich von Fenrir abwandte.
„Dein Angebot…?“, wiederholte Olar seine Frage.
„Ähm…“, schwamm Tarat noch immer.
„Du wolltest Anael doch anbieten, ihn kostenlos zu trainieren, oder?“
„Aber sicher, sicher“, bestätigte Tarat ohne weiter nachzudenken, da er einfach froh war, eine Lösung präsentiert zu bekommen.
„Na, da hätten wir’s ja“, zwinkerte Olar Bahe zu und wandte sich zum Gehen. „Nutze die Chance. Wenn du es innerhalb der nächsten zwei Wochen schaffst, sein Training zu bestehen, hätte ich einen Auftrag für dich.“
„Ich werde mein bestes geben!“, rief Bahe Olar noch nach, der ihm bereits den Rücken zugewandt hatte und auf Bahes Kommentar nur noch mit der Hand winkte.
Fenrir war inzwischen hingegen in lautes Gelächter verfallen und meinte immer noch lachend an Tarat gewandt: „Hast du jetzt echt versprochen Anael kostenlos zu trainieren? Dir ist schon klar, dass er das erste kostenlose Training bereits bei mir abgeschlossen hat, oder?“
Bahe konnte danach beobachten, wie Tarat plötzlich große Augen bekam und sich an die Stirn fasste.
„Scheiße!“, fluchte er und drehte sich in die Richtung in der Olar in der umstehenden Menschenmenge verschwunden war. „Olar, du Bastard!“
Doch Olar blieb verschwunden. Tarat wandte sich schließlich Bahe zu und meinte griesgrämig: „Versprochen ist versprochen, Zahnstocher. Du magst schon ein akzeptables Schwert haben, aber der Kampf mit dem Schwert erfordert Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit, ganz zu schweigen von einem raschen Geist. Bevor du nicht meinen Eignungstest bestanden hast, brauchen wir gar nicht weiter über deine Übungsstunden reden. Wir treffen uns übermorgen Vormittag um 10 Uhr auf dem Übungsgelände und wehe, du kommst zu spät!“
Quest [H]
Erfolgreiches Bestehen des Eignungstests
Der Ausbilder Tarat hat dir angeboten dich kostenlos zu trainieren, verlangt dafür aber, dass du zunächst seinen Eignungstest absolvierst. Um den Eignungstest antreten zu können, musst du in zwei Tagen pünktlich um 10 Uhr auf dem Übungsgelände erscheinen. [H]
Bitte beachte:
Bei nicht erscheinen, verfällt das Angebot des kostenlosen Trainings und auch Olar wird dich nicht weiter verpflichten.
„Keine Sorge, Tarat. Ich werde da sein“, versicherte Bahe sofort bei der Aussicht auf eine Reihenquest.
„Gut“, nickte Tarat, ehe er wütend davon stapfte. Scheinbar hatte er mit Olar noch ein Hühnchen zu rupfen…
„Mach’s gut, Anael. Ich sollte nicht zulassen das Tarat und Olar sich gleich gegenseitig die Köpfe einschlagen“, rief Fenrir Bahe noch zu, bevor er dem wütenden Tarat hinterher rannte.
„Es ist so krass, wie lebensecht sich die NPCs in Raoie verhalten, oder?“, meinte Tera, als sie an Bahe heran trat.
Bahe konnte nur nicken.
„Und Glückwunsch zu der Reihenquest. Wie hast du das angestellt?“, wollte Tera wissen.
„Keine Ahnung“, zuckte Bahe mit den Schultern. „Im Grunde habe ich nur das erste Tutorial bei Fenrir absolviert.“
„Welche Aufgabe hast du bekommen?“
„Ich musste mehrere tausend Schüsse auf eine zehn Meter entfernte Zielscheibe schießen. Wieso?“
„Mehrere tausend? Und du hast das durchgezogen?“, fragte Tera verblüfft.
Bahe nickte achselzuckend nur erneut.
„Pah… wahrscheinlich erklärt es das“, gab sich Tera geschlagen. „Du bist so ziemlich der einzige Spieler den ich kenne, der jemals diese verfluchte Tutorialaufgabe abgeschlossen hat…“
„Und du hast mit deinem Level 3 so viel Erfahrung?“
„Haha, Touché!“, lachte Tera und hob nun ihrerseits achselzuckend die Hände. „Aber es gibt im Internet einige Statistiken, die festhalten, welche Aufgaben am meisten absolviert wurden und die deine, wurde in der gesamten Zeit in der Raoie nun schon spielbar ist, erst knappe neunhundert Mal abgeschlossen.“
„Hmmm… stimmt schon“, meinte Bahe nachdenkend. „Hätte ich mit dem Training meine Stats nicht aufbessern können, wäre ich wahrscheinlich auch versucht gewesen die Aufgabe abzubrechen.“
„Du hast Attributpunkte bekommen?“, fragte Tera neugierig.
„Keine frei verfügbaren, das Training hat sich schlicht weg auf meine Kraft, Ausdauer, Physische Konstitution und Widerstandsfähigkeit ausgewirkt“, erklärte Bahe. „Ähnlich wie Sport im Real-Life dich ebenfalls stärker werden lässt.“
„Verdammt Anael, ich habe ja auch schon davon gehört, dass man durch Training in Raoie seine Stats aufwerten kann. Aber du bist tatsächlich der Erste, den ich kenne, der sich wirklich an sowas versucht hat“, meinte sie kopfschüttelnd. „Ich meine, klar wurde ich durch das Farmen auch stärker. Schließlich habe ich immer wieder Pfeile abgeschossen. Aber allein durch eine Tutorialmission? Durch so stumpfsinniges auf eine Zielscheibe schießen? Mir wäre stink langweilig gewesen… Wie viele Attributpunkte hast du denn in den einzelnen Kategorien bekommen?“
„Moment…“, sagte Bahe mehr um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, als um wirklich nachgucken zu müssen. Er tat so, als ob er sein Charakterprofil öffnen würde und überlegte.
Tera war verdammt neugierig.
Die grundlegenden Dinge, die er bisher mit ihr geteilt hatte, waren kein Geheimnis. Es war viel mehr eine Frage von Durchhaltevermögen, ob man hinsichtlich der Tutorialaufgaben erfolgreich sein konnte.
Bahe war sich jedoch nicht sicher, ob er ihr verraten sollte, wie seine Stats aussahen. Denn wie gut kannte er sie wirklich? Im Grunde war er ihr erst seit einigen Minuten begegnet...
Erhöhte Attributpunkte erlaubten einem Level 2-Spieler einen Spieler mit höheren Level zu besiegen. War es da sinnvoll, eben diese Vorteile einer Fremden zu offenbaren?
„Ah, bevor ich es vergesse“, murmelte Tera plötzlich, ohne Bahes Antwort abzuwarten und reichte ihm ihre Hand. „Wie du im Gruppenprofil vielleicht schon gesehen hast, ist mein richtiger Avatarname Sister Act. Freut mich dich kennen zu lernen, Anael Lerua.“
„Gleichfalls“, antwortete Bahe und ergriff ihre Hand und fügte mit hochgezogenen Brauen hinzu: „Sister Act?“
„Na ja… Eigentlich Sisteract, aber ich wollte sowohl einen Vornamen als auch einen Nachnamen für meinen Avatar“, erläuterte Tera.
Bahe hatte keine Ahnung wofür Sisteract stehen sollte und zuckte nur die Schultern. Ihm sollte es egal sein.
Tera, die seine Ratlosigkeit wohl bemerkte, rief entrüstet: „Du kennst kein Sisteract?“
„Ähm…“
„Kulturbanause!“
„…“
„Du kennst echt kein Sisteract?“
„Ähm… nein…?“
„Unglaublich!“
„…“
„Hallo zusammen“, sprach sie in diesem Moment ein Spieler aus der Zuschauermenge an. „Wir haben gesehen, dass ihr für Spielanfänger ziemlich ruhig geblieben seid und sogar die Tutorialmission auf erhöhtem Schwierigkeitsniveau bestanden habt. Wenn ihr wollt, möchte meine Gruppe euch gerne anbieten mit uns Farmen zu kommen.“
„Oh, du redest von uns?“, rief Bewen begeistert vom Boden aus, während Nolen ihn gerade, auf dem Rücken liegend, im Schwitzkasten hielt.
„Entschuldige bitte diesen gestörten Idioten“, meinte Tera schnell. „Aber ich bin gerne dabei. Was ist mit dir, Anael?“
„Nein, danke“, lehnte Bahe kopfschüttelnd ab. „Ich habe noch einige Dinge, die ich vorher klären muss. Aber danke für das Angebot.“
„Schade, aber wie du willst“, akzeptierte der Spieler Bahes Entscheidung und meinte: „Ich heiße Reißzahn, wenn du demnächst mal ein Team suchen solltest.“
Bahe nickte nur, während Bewen und Nolen sich von einander lösten und das Angebot im Folgenden begeistert annahmen.
Wie Bahe mit einem einfachen „Überprüfen“ festgestellt hatte, war Reißzahn ein Level 17-Spieler und scheinbar Anführer eines Teams voller Level 15- bis Level 17-Spieler. Es war ihr Glück von so jemanden ohne offensichtliche Hintergedanken zum Farmen eingeladen worden zu sein.
„Und du willst wirklich nicht mitkommen?“, fragte Bewen und meinte dann augenzwinkernd, während er näher an Bahe heran trat: „Ich habe schon mindestens zwei heiße Girls in der Gruppe gesehen…“
Auch, wenn Bahe grinsen musste, Bewen konnte ihn nicht umstimmen. Es gab viel zu viele Dinge, um die er sich kümmern musste, ehe er wieder an eine Monsterjagd denken konnte. Außerdem waren ihm die Blicke der Umstehenden nicht entgangen…
Nicht jeder der Zuschauer hatte rein Positives im Sinn, wie es schien. Bahe war sich im Klaren darüber, dass sein Schwert weit mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, als ihm lieb sein konnte und er sollte wirklich lieber das vorherrschende Chaos der Menge nutzen, um den allzu neugieren Augen zu entgehen.
Letztlich verabschiedete Bahe die Drei, mit deren Hilfe er das Tutorial geschafft hatte. Sie versprachen einander über die Chatfunktion in Kontakt zu bleiben und stellten für einen kurzen Moment einen Kontakt her, damit sie die gegenseitigen Manasignaturen[i] hatten. Anschließend lösten sie das Team auf, damit Bahe seiner Wege ziehen und der Rest dem Team von Reißzahn beitreten konnte.
Bahe nahm sofort die Beine in die Hand und hechtete im Zickzack durch die Menschenmenge. Danach brach er in einem vollen Sprint aus und rannte vom Ausbildungsgelände. Auf den Straßen Waldenstadts angekommen, wich er im Rennen den Passanten aus und bog mehrere Male wahllos ab, ehe er in einer kleinen Gasse schnell die Kleidung wechselte und sich einen Kapuzenumhang über die Schultern warf. Erst danach atmete er auf und mischte sich unter die alltäglichen Fußgänger Waldenstadts, um vollends unscheinbar zu werden.
Ok, vielleicht hatte er mit seiner Paranoia etwas übertrieben… Aber er wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Zumal er für sein nächstes Ziel die Stadt verlassen musste. Eine intensive Auseinandersetzung mit seinen Elementaren war längst überfällig.
Wahrscheinlich wäre er ihrem Ursprung und ihren Fähigkeiten schon viel früher nachgegangen, wenn er nicht all die Ereignisse der Realität im Kopf gehabt hätte. Er hatte sich einfach nicht richtig auf das Spiel fokussieren können…
Seufzend gestand er sich ein, dass er bisher alles andere als profihaft an seine Elementare heran gegangen war. Ihr dauerhaft beschworener Zustand war, soweit er wusste, einzigartig. Es konnte nicht länger angehen, dass er so wenig über sie wusste. Mal ganz davon abgesehen, dass Limonas Tränenausbruch während der letzten Aktion, ja mal sowas von einem Wink mit dem Zaunpfahl war.
„Man!“, gab er wütend von sich, als sein Umhang zum wiederholten Male nervte.
Das billige Ding, war das einzige Kleidungsstück mit Kapuze, welches er sich hatte leisten können. Die ledernen Harnische waren als Artefakte des Bronzeranges für ihn noch unbezahlbar und über die eleganten Mäntel, wie sie von gut betuchten Kaufleuten oder gar Adeligen getragen wurden, wollte er gar nicht mehr drüber nachdenken… Selbst das unauffälligste Kleidungsstück gehobener Qualität fing bei einer Goldmünze an!
Geld… er brauchte Geld… Die Jagd auf Wildwurzelkaninchen hatte sein Überleben und seine Nahrungszufuhr gesichert. Mehr aber auch nicht.
Nachdem er mit seinen Elementaren fertig war, musste er sich dringend wieder auf die Jagd nach einträglicheren Monstern machen.
Auch den Rest des Weges verbrachte er in Gedanken an seine nächsten Aktionen, bis er schließlich südlich der Stadt in die Wälder lief.
Es dauerte nicht lange, dann hatte er die Stelle in der Nähe des Baches wiedergefunden, an der er damals zum ersten Mal seinen Elementaren begegnet war. Da von seinen Elementaren noch jede Spur fehlte, beschloss er an Ort und Stelle zu verharren. Sie würden schon noch auftauchen.
Solange konnte er die Zeit allerdings auch gleich nutzen. Schnell ließ er sich in den Schneidersitz nieder und versuchte sich ein weiteres Mal am Meditieren.
Und es passierte wieder. Er spürte… gar nichts…
Es war zum Haare raufen…
„Welcher Vollidiot hat sich bloß diese Quest ausgedacht…“, murmelte Bahe gerade vor sich hin, als er ein leises Tuscheln hinter ihm vernahm…
Welches verdächtig nach Limona klang…
Verschlagen zogen sich seine Mundwinkel nach oben, während er so tat, als hätte er nichts gehört und sich weiter seiner Mediation widmete.
Konzentriert lauschte er in seine Umgebung und hörte hier und da ein leises Rascheln von Blättern und das gelegentliche Flüstern seiner Wasserelementarin, die nie den Mund halten konnte.
Bahe musste sich wirklich zusammen reißen, um nicht laut loszulachen, als er hörte, wie seine Elementare planten ihn mit lautem Geschrei zu überraschen.
„Noch ein Stück näher. Langsam, Balu“, flüsterte Limona. „Wir sind beinahe nah genug. Nur noch ein Stückchen…“
In dem Moment, in dem Bahe seine Elementarin zum ersten Mal deutlich vernahm, schnellte er plötzlich herum, riss seine Arme hoch und rief: „Baaaah!“
„Waaaaah?!“
„Aaaaah?!“
Kreischten Limona und Brocken vor Schreck laut auf, ehe sie von Balu fielen, der mehrere Sätze nach hinten sprang und sich mit seinem Kopf unter einen Busch versteckte.
Das brachte das Fass für Bahe zum Überlaufen und er musste lauthals loslachen.
Dabei war er sich nicht mal sicher, wo sich ihm der seltsamere Anblick bot. Bei seinen Elementaren, die mit herunter geklappter Kinnlade, noch immer viel zu schockiert drein blickten oder bei Balu, dessen Hinterteil unter dem Busch hervor lugte, in dessen Dickicht er seinen Kopf gesteckt hatte.
Noch immer lachend stand Bahe auf und ging auf seine Elementare zu, die allmählich wieder zu sich kamen. Es war absurd wie deutlich es Limona anzusehen war, dass sie versuchte ihren Schrecken zu verdauen. Sie begann gerade sich aufzuplustern, als Bahe ihr zuvor kam und etwas tat, was er erst einmal getan hatte. Er streichelte ihr den Kopf.
Limonas Gesicht war ein Spiegelbild ihrer Gefühle. Erst wütend, dann verblüfft, dann wieder wütend und wieder verwirrt… Ihr Mund öffnete sich mehrere Male, doch kein Ton kam heraus.
„Es tut mir Leid, dass wir bisher noch nie darüber gesprochen haben, wie ihr zu mir gekommen seid“, sagte Bahe und lächelte. „Genauso auch, dass ich euch immer als Kampfgefährten gesehen habe. Ich wusste es einfach nicht besser. Aber ich hoffe, wir können das heute ändern, was meint ihr?“
„…“
„…“
Zunächst antwortete ihm nur Schweigen. Die beiden Elementare waren viel zu verblüfft, um zu antworten.
„Das… habe ich nicht erwartet…“, meinte Brocken schließlich mit schief gelegtem Kopf. Während Limona die Streicheleinheiten über sich ergehen ließ und keine Anstalten machte, die Stimme zu erheben.
Schließlich stellte Bahe die Bewegungen seiner Hand ein und konnte beobachten, wie Limona nahezu aus ihrer Trance erwachte und vor Scham knallrot anlief.
„Du… Du…“, stotterte sie, ehe sie auf einmal schimpfte: „Glaub ja nicht, dass du nur mit ein paar Mal Kopf streicheln davon kommen kannst!“
Danach drehte sie sich ruckartig zur Seite und spielte verlegen mit einem Grashalm, der zwischen ihren Hosenbeinen empor ragte, bevor sie ihm noch den ein oder anderen Blick zuwarf, wenn sie sich gerade nicht beobachtet fühlte.
Der Anblick war so niedlich und lief ihrer Aussage zuwider, dass Bahe „Tsundere!“ quieken wollte. Er besann sich im letzten Moment aber eines Besseren.
„Wieso… willst du plötzlich mit uns reden?“, fragte Brocken mit großen Augen.
Jetzt war es an Bahe leicht verlegen zu lächeln.
„Limona, hat sich letztens darüber beschwert, dass ich euch kaum meine Aufmerksamkeit widme…“, antwortete er schuldbewusst. „Und letzten Endes hat sie damit recht gehabt…“
„Hmmm…“, nickte Brocken daraufhin verstehend.
Für einen Moment herrschte eine fast bedrückende Stille, bis Bahe fragte: „Limona, Brocken… wie kommt es, dass ihr an mich gebunden seid?“
„Ist das… nicht klar?“, fragte Brocken erstaunt, während Limona immer noch so tat, als würde sie Bahe ignorieren.
„Nein, leider nicht“, sagte Bahe hilflos. „Ich habe zwar so meine Vermutung, aber letzten Endes weiß ich bis heute nicht genau, wie ich eigentlich ein Elementflüsterer wurde.“
„Du hast im… Drachenblut gebadet“, erklärte Brocken.
„Und?“
„Das war’s…“
„…“, genervt musste sich Bahe alle Mühe geben, seine Ungeduld unter Kontrolle zu halten.
„Ich verstehe es aber immer noch nicht…“, sagte er und breitete hilfesuchend seine Hände aus.
„Was ist daran so schwer zu verstehen?“, blaffte Limona plötzlich los. „Du hast mit dem Blut eines Erd- und eines Wasserdrachens eine Verbindung aufgebaut. Daher sind wir jetzt hier, Brocken ein Erdelementar und ich, eine Wasserelementarin. Was ist daran so schwer zu verstehen?“
„Ok, ok“, hob Bahe abwehrend erneut die Hände, um Limona ein Bisschen den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Das habe ich begriffen.“
„Ich verstehe nur nicht, wie ein so naiver und gewöhnlicher Mensch wie du ein Elementflüsterer werden konnte…“, brach es erneut lamentierend aus Limona hervor.
„Das ist mir… auch ein Rätsel…“, meinte Brocken. „Du bist eigentlich viel zu schwach, um eine Symbiose mit Drachenblut überleben zu können. Wie hast du das gemacht?“
„Genau“, schloss sich Limona erneut an. „Der Esel muss unglaubliches Glück gehabt haben…“
„Hey, wieso schon wieder so ausfallend?“, beschwerte sich Bahe vorsichtig.
Limona begann schon sich empört aufzurichten, nur um plötzlich mit einer Hand zu ihren Haaren zu fahren.
„Hmpf!“, gab sie ihm die kalte Schulter, während sie erneut rot an lief.
„Um auf deine Frage zurück zu kommen, Brocken“, begann Bahe, um die Situation zu entschärfen. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich anfangs auf der Flucht vor einem Luaris war und schließlich in die Drachenschlucht fiel. Das Horn des Luaris habe ich an mich genommen. Und mit einer Frucht, die ich etwas tiefer an der Felswand der Schlucht gefunden habe, konnte ich mich zumindest vorübergehend vor dem Hungertod bewahren…“
„Ah… eine Frucht!“, rief Brocken aus.
„Ja…?“
„Hört sich…“
„Ja?“
„Lecker an…“
„…“, sprachlos über die Idiotie seines Erdelementars fuhr sich Bahe mit der Hand über sein Gesicht, während er sich zum hundertsten Male fragte, womit er sowas bloß verdiente.
„Also wisst ihr nichts über die Frucht?“, fragte Bahe.
„Wie sah sie aus?“
„Puh… wie soll ich das beschreiben…“, überlegte Bahe. „Wie eine Mango… nur länglicher und knallgelb. Eine Idee?“
Sprachlos schaute Brocken Limona an und sie schaute zurück. Schweigend zuckten sie schließlich beide die Schultern.
Soviel also dazu… Resigniert rieb sich Bahe über den Nasenrücken.
„Den Rest scheint ihr ja schon fast zu kennen“, führte Bahe seine Erlebnisse weiter aus. „Am Boden der Schlucht angekommen, habe ich aus Versehen einen Erddrachen aufgeschreckt und bin panisch davon gerannt. Scheinbar hat er bei meiner Verfolgung das Gebiet eines Wasserdrachens betreten, was einen Kampf zwischen den Beiden auslöste. Ich hatte mich zwischenzeitlich in einer kleinen Höhle der umgebenden Felswände versteckt. Als ich den Eindruck hatte, dass sich der Kampf gelegt hatte und ich dachte, dass beide Drachen tot waren, wollte ich hinunter klettern. Leider war ich zu dem Zeitpunkt einfach zu entkräftet und bin in eine Erdmulde gefallen, in der sich Wasser und das Blut der beiden Drachen sammelte. Und durch die unzähligen Wunden, die ich bis dahin davon getragen hatte, konnte das Drachenblut in meinen Körper eindringen…“
„Und du hast dir tatsächlich das Drachenblut zu eigen gemacht…“, hauchte Limona kopfschüttelnd.
„Du hast wirklich… unglaubliches Glück gehabt…“, meinte auch Brocken.
„Vielleicht lag es ja an dieser Frucht…?“, stellte Bahe seine Frage in den Raum.
Limona zuckte nur die Schultern und antwortete: „Vielleicht… Auf jeden Fall hat es dir geholfen, das Horn des Luaris zu haben. Es stärkt die Willenskraft und die Konzentration des Trägers enorm.“
„Auch, wenn es eigentlich ein absolutes Tabu ist, einen Luaris zu jagen“, fügte sie nach einer kurzen Pause noch hinzu.
„Also eigentlich… hat dieser Luaris mich gejagt…“, meinte Bahe abwehrend.
„Fragt sich nur wieso, oder?“, kniff Limona angriffslustig die Augen zusammen.
„Schon gut…“, murmelte Bahe kleinlaut. Er hatte keine Lust, ihr Gespräch erneut in Streit ausufern zu lassen.
„Aber irgendwie kommen wir nicht vorwärts…“, meinte Bahe schließlich. „Wieso ich ein Elementarflüsterer bin ist mir ja im Grunde klar, aber was soll ich jetzt eigentlich tun? Ich meine, wir drei sind irgendwie verbunden… aber ich verstehe nicht wofür…?“
„Er hat wirklich… keine Ahnung…“, sprach Brocken.
„Wie auch, wenn es seit Jahrhunderten keine Elementflüsterer mehr gibt…“, stimmte ihm Limona zu.
„Wie viele… Elemente gibt es?“, stellte Brocken auffordernd eine Frage.
„Ähm…“, dachte Bahe schnell an seine Online-Recherche. „Ich meine Zehn…?“
„Genau…“, stimmte Brocken zu.
„Also…?“, fragte Bahe unsicher.
„Was er sagen will ist, dass du bisher nur ein unvollständiger Elementflüsterer bist“, hielt es Limona nicht mehr aus.
„I… Ihr… meint…“, stotterte Bahe, dem es auf einmal schwante.
„Ein wirklicher Elementflüsterer ist mit jedem Element verbunden“, nickte Limona. „Also musst du auch noch das Blut aller anderen Elementardrachen in dich aufnehmen und dir zu eigen machen. Nur dann wirst du ein wahrhaftiger und mächtiger Elementarflüsterer, wie es deine Ahnen einmal waren.“
Berufsquest: Drachenblut der Elementardrachen [S]
Finde die Drachen aller Elemente und mache dir das Blut der lebendigen Drachen zu eigen, um deinen Aufstieg zum wahrhaftigen Elementflüsterer vollziehen zu können.
Es wird noch das Blut folgender Elementardrachen benötigt:
Drache des Windes Drache der Elektrizität
Drache des Feuers Drache der Finsternis
Drache des Eises Drache des Lichtes
Drache des Magma Drache der Lebensenergie
„Oh, Schei… oh… man…“, riss sich Bahe zusammen, der eigentlich drauflos fluchen wollte.
Da bekam er endlich einen Hinweis darauf, wie er in seiner Berufsklasse weiterkam und dann war es gleich so eine Hiobsbotschaft!
Wie zum Henker, sollte er jemals wieder an das Blut eines Drachen kommen und diese Begegnung überleben?
Er hatte damals ja mal sowas von Glück gehabt, dass er es selbst kaum glauben konnte. Es war nur möglich gewesen, weil sich die Drachen gegenseitig bekämpften! Im Grunde war er in den Augen dieser Kreaturen nichts anderes als ein lästiges Insekt gewesen…
Verdammt… dachte er deprimiert. Es waren wahrhaft rosige Aussichten…
[i] Hier muss ich etwas in meiner Geschichte verbessern: Bisher reichte es allein den Namen eines Avatars zu kennen, um mit entsprechender Person eine Chatverbindung aufzubauen. Ich hatte an dieser Stelle vergessen, dass Mehrfachnutzungen des gleichen Namens möglich sind. Da es also theoretisch mehrere Teras, Bewens und Nolens geben kann, muss es ein entscheidendes Merkmal zur Identifikation geben: Die Manasignatur. (Kam in Kapitel 28 das 1. Mal vor.)
„Ja, das habe ich mir auch gedacht, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe“, kommentierte Limona Bahes Verzweiflung.
„Du musst… auf jeden Fall… viel stärker werden… bevor du dich mit den… anderen Drachen anlegen kannst“, meinte auch Brocken.
„So viel ist mir auch klar“, meinte Bahe zerknirscht. „Aber selbst, wenn ich eines Tages mächtig genug bin mich mit den Drachen anlegen zu können, weiß ich immer noch nicht wo ich nach denen suchen soll… Die sind nicht zufällig auch allesamt in der Drachenschlucht?“
Der folgende Moment, in dem Brocken und Limona offensichtlich darüber nachdachten, was für einen Dummkopf sie als Meister hatten, war ihm Antwort genug.
„Ok, ok… antwortet mir erst gar nicht“, verwarf er seine Frage sofort wieder.
„Die Drachenschlucht ist… durch die immerwährenden Kämpfe… des Erd- und des Wasserdrachens entstanden“, erklärte Brocken trotzdem. „Vor einigen Jahren haben sie sich über etwas gestritten und seitdem bekriegen sie sich.“
„Was meinst du denn mit einigen Jahren?“, fragte Bahe, als er über die Größe der Drachenschlucht nachdachte.
„Hmmm… in Menschenjahren… so knappe Tausend… glaube ich…“, überlegte Brocken laut.
Nun… es ergab Sinn. So eine gigantische Schlucht konnte nicht über ein paar Jahre entstanden sein. Andererseits musterte er seine Elementare erneut. Brockens Wortwahl war schon merkwürdig… Wenn tausend Jahre für Brocken keine große Zeitspanne war, dann musste er sich fragen, wie alt seine Elementare wirklich waren… Von ihrem Äußeren erschienen sie ihm nach wie vor als Kinder.
„Ja… tausend Jahre kommt hin. Tante Anomil war schon immer ziemlich nachtragend“, stimmte Limona Brocken zu.
„Tante…?“, fragte Bahe entgeistert. „Du kennst den Namen des Wasserdrachens?“
„Ja, sicher. Der Erddrache heißt Nekcorb“, zuckte Limona mit den Schultern, als ob es selbstverständlich gewesen wäre.
„…“, Bahe wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„Eigentlich… ist es traurig…“, meinte Brocken.
„Hmmm…“, nickte Limona. „Tante Anomil glaubt immer noch, dass Onkel Nekcorb sie betrogen hat. Dabei muss er sich nur an seinen Schwur halten, den er dem Orakel gegeben hat.“
„Könnt ihr nicht einmal eine Geschichte von vorne erzählen?“, bat Bahe seine Elementare.
„Also… Tante Anomil konnte früher… keine Kinder bekommen… weil sie in ihrer… Kindheit schwer verletzt wurde…“, erklärte Brocken. „Viele Jahre nach ihrer Hochzeit… ist Onkel Nekcorb zum Orakel geflogen… und hat um Hilfe gebeten…“
„Moment mal…“, sprach Bahe dazwischen. „Die Drachen sind verheiratet?“
„Ja, sind sie nicht eigentlich ein süßes Paar?“, meinte Limona, während sie vollkommen fehl am Platz, in Schwärmerei verfiel.
Selbst Brocken sah sie missbilligend an und sprach weiter: „Das Orakel hat Onkel Nekcorb… den Wunsch erfüllt… Tante Anomil zu heilen. Aber… im Austausch dafür… musste er versprechen, dass… er ihr niemals von… diesem erfüllten Wunsch erzählen würde. Außerdem… musste er sich verpflichten… eine Dienst für… das Orakel zu leisten.“
Bahe fühlte sich wie in einer kitschigen Liebesserie, die am frühen Abend für frustrierte Mittfünfzigerinnen ausgestrahlt wurde.
Das Grauen erahnend und fast schon gelangweilt hob er die Brauen und meinte: „Wie ging es weiter?“
„Das Orakel gab Onkel Nekcorb den Auftrag für einen bestimmten Zeitraum das Gebiet des Feuerdrachen Aramma zu beschützen“, erklärte Limona schnell. „Aramma befand sich gerade in einem Evolutionsprozess und war geschwächt und angreifbar. Da es zur damaligen Zeit nur noch sehr wenige Drachen gab, war es dem Orakel ein Anliegen einen möglichen Angriff schon im Keim zu Ersticken. Dem Orakel ging es seit jeher stets um das Gleichgewicht Raoies. Für das Orakel gibt es nichts Wichtigeres, was zählen da schon die Methoden, mit denen das Orakel versucht eben jenes Gleichgewicht umzusetzen, nicht wahr?“
Endete Limona mit einer Frage, nur um sogleich fortzufahren: „Onkel Nekcorb kam der Bitte des Orakels nach, um Tante Anomil endgültig zu heilen. Doch was das Orakel Nekcorb verschwieg, war die Länge des Evolutionsprozesses von Aramma. Normalerweise dauern solche Prozesse maximal ein bis zwei Monate. Doch Aramma war an einem Scheideweg ihrer Entwicklung angelangt. Sie brauchte-„
„Moment mal… eine sie?“, fragte Bahe.
„Ja, Aramma ist ein weiblicher Feuerdrache“, nickte Limona und Bahe schlug die Hände vors Gesicht. Er hatte es ja mal sowas von kommen sehen…
„Jedenfalls dauerte es ganze fünf Jahre, ehe der Prozess abgeschlossen war“, ergänzte Limona.
„Dabei sind… fünf Jahre eigentlich… nicht lang für Drachen…“, warf Brocken ein.
„Genau…“, stimmte ihm Limona zu. „Jahre sind für Drachen wie die Tage für euch Menschen. Aber auf Tante Anomil machte es den Eindruck, dass Onkel Nekcorb sie betrog und viel schlimmer noch, er wollte es nicht mal zugeben.“
„Er durfte ja nie… sagen… wieso er Arammas Gebiet… beschützt hatte“, erklärte Brocken.
„Also, er hat sie nie betrogen, konnte sich aber aufgrund seines Versprechens auch nie verteidigen und so ist die eure Tante Anomil davon ausgegangen, dass er sie betrügt und belügt?“
„Genau…“, meinte Brocken traurig.
„Tante Anomil fühlte sich hintergangen und verraten und floh hierher, um alleine zu sein. Doch Onkel Nekcorb konnte nicht ertragen alles für sie getan zu haben, nur um daraufhin abgewiesen zu werden. Er folgte ihr und da er nie auf Tante Anomils Frage antworten konnte, wieso er die Jahre bei Aramma verbracht hatte, wurde sie mit der Zeit immer wütender, bis sie schließlich begannen sich zu bekriegen“, berichtete Limona weiter. „Onkel Nekcorb wollte ihr nie etwas antun, aber egal was er sagte oder tat, Tante Anomil wurde über die Jahrzehnte immer wütender, während ihre Eifersucht sie von innen auffraß…“
Hier pausierte Limona traurig und sprach darauf mit zittriger Stimme weiter: „Jeden Tag erneut mit dem Gesicht ihres Schmerzes konfrontiert zu werden, ließen sie irgendwann zerbrechen. Mittlerweile greift sie jedes Lebewesen an, das in ihre Nähe kommt und doch ist Onkel Nekcorb nie von ihrer Seite gewichen. Jahrhunderte der Kämpfe zeichneten das Land und sorgten dafür, dass sich nach und nach die Drachenschlucht bildete, in der sich die beiden noch heute bekämpfen. Normalerweise verirrt sich kein Lebewesen mehr dort hinunter, nur Onkel Nekcorb verweilt noch dort unten. Stark genug, um es mit ihr aufzunehmen und auch mächtig genug, sie gegen Feinde von außen zu beschützen, die einen wahnsinnig gewordenen Drachen als leichte Beute erachten...“
Limonas herzergreifende Stimmlage und die Tragik der Geschichte hätten Bahe mit Sicherheit nah ans Wasser gebracht, wenn er nicht auf die Lücken und fehlenden Puzzleteile aufmerksam geworden wäre.
Die Erzählung seiner Elementare vernachlässigte nämlich vollends, weshalb nicht einfach jemand anderes dem Wasserdrachen über Nekcorbs Deal mit dem Orakel berichtet hatte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Limona und Brocken die beiden Drachen mit Tante und Onkel ansprachen.
„Ich möchte ja nicht die Stimmung ruinieren“, erklärte Bahe zaghaft, als er die betrübten Blicke der beiden Elementare auf sich zog. „Aber wieso nennt ihr die Drachen Tante und Onkel? Seid ihr mit ihnen verwandt?“
„Nein“, meinte Brocken lächelnd. „Aber sie sind ihren Elementen… jeweils sehr nahe… und damit auch unserem Ursprung.“
„Die Kinder von euch Menschen sprechen die Freunde ihrer Eltern doch auch oft mit Tante oder Onkel an, oder?“, sagte Limona und stellte achselzuckend fest. „Bei uns ist das, das Gleiche.“
„Wer sind denn dann eure Eltern?“, versuchte Bahe seine Neugier zu stillen.
„Raoie!“, rief Brocken freudestrahlend aus.
„Du… meinst, dass die Welt für euch zugleich Vater als auch Mutter ist?“, fragte Bahe skeptisch.
„Manchmal ist er gar nicht so blöd, wie er aussieht, oder?“, stupste Limona Brocken mit der Schulter an.
„Genau“, grinste auch dieser.
„…“, Bahe beschloss darauf nicht einzugehen.
Stattdessen überlegte er, wie er diese Erkenntnis nutzen könnte. Ihm fiel jedoch nichts ein. Zumindest jetzt noch nicht. Wer weiß? Vielleicht wurde die Information irgendwann nochmal wichtig.
„Ok, wieso ihr die Drachen Tante und Onkel nennt, ist mir jetzt klar. Aber wenn ihr von dieser traurigen Geschichte wusstet, verstehe ich nicht, wieso ihr Nekcorb nicht geholfen habt?“, fragte Bahe.
„Das ist… eine lange… Geschichte…“, sagte Brocken.
„Ich möchte auch nicht länger über diese Tragödie sprechen…“, wich Limona ungeschickt aus, was Bahes Neugier natürlich nur umso mehr weckte.
„Ok, lassen wir das für den Anfang… Ich habe aber noch eine ganz andere Frage…“, meinte Bahe mürrisch und fragte danach fast flehend: „Könnt ihr mir helfen mein Mana unter Kontrolle zu bringen?“
„Mana?“, fragte Brocken verwirrt.
„Ach ja, Menschen bezeichnen die Energie, die ein jedes Lebewesen durchfließt als Mana. Also eigentlich meine ich, ob ihr mir helfen könnt, die ganze Energie die in mir schlummern soll, zu bändigen?“, korrigierte sich Bahe.
„Wieso sie bändigen?“, fragte Limona verwirrt. „Sich von ihr durchfließen zu lassen ist doch viel besser…“
„Ganz genau… ist doch idiotisch… Energie zu kontrollieren…“
„Nun… was auch immer es ist…“, versuchte Bahe sich auszudrücken. „Es geht mir darum, dass ich keinerlei Magie wirken kann. Ohne meine Energie zu sehen oder zu fühlen, komme ich nicht weiter…“
„Dabei… können wir helfen…“, sprach Brocken. „Aber es wird… nicht so leicht für dich…“
„Hmmm…“, meinte auch Limona. „Durch unseren Seelenbund, steckt in deinem kleinen und untrainierten Menschenkörper viel zu viel Energie. Es ist fast so, als ob sie in dir feststeckt und gar nicht fließen kann…“
„Aber ihr könnt mir helfen?“, fragte Bahe hoffnungsvoll.
„Es wird dauern…“, antwortete Brocken. „Aber es wird gehen.“
„Wir müssen dafür jedoch den Platz wechseln“, warf Limona ein.
„Was meinst du?“, wollte Bahe wissen.
„Mit welchen Elementen bist du am stärksten verbunden?“, stellte Limona ihm eine Gegenfrage.
„Mit der Erde und dem Wasser.“
„Ganz genau“, sagte Limona. „Deswegen müssen wir einen Ort aufsuchen, an dem du diesen beiden Elementen möglichst nah bist.
„Der Bach hier reicht nicht?“, erkundigte sich Bahe und wies auf den Bachlauf unweit von ihnen.
„Besser als nichts, sicher“, erklärte Limona. „Aber weiter Flussaufwärts befindet sich ein kleiner Wasserfall. Die Stelle ist noch besser.“
Bahe zuckte nur mit den Schultern. Ihm sollte es egal sein. Solange seine Elementare ihm halfen endlich über Magie zu verfügen, würde er sogar seinen Tod und einen Levelverlust in Kauf nehmen.
„Balu!“, rief Brocken den kleinen Bergbär, der sich in der Zwischenzeit in der Umgebung vergnügt hatte, zu sich und nutzte ihn gemeinsam mit Limona als Reittier, was Bahe aber dankend ablehnte. Der letzte Ritt war alles andere als Hintern schonend gewesen. Sofern es nicht anders ging, bevorzugte Bahe es sich auf seinen eigenen Beinen fortzubewegen.
*
*
*
Sin rekelte sich seufzend im Gras des Waldes südlich von Waldenstadt und genoss die wohltuende Sonne auf der Haut. Es gab immer noch viel zu wenige Spieler, die die Natur Raoies wirklich zu schätzen wussten.
Raoie war Sins neues Zuhause geworden. Hier konnte man der realen Welt wahrhaftig entfliehen. Es gab keine Beobachtung, keinen Druck, keine Trauer, kein Herzschmerz, kein Seelenschmerz… In Raoie lebte Sin einfach nur im Hier und Jetzt. Durch eine jede Spielzeit verblasste der grausame Alltag und lieferte stattdessen den Nährboden, den Sin so dringend zum Leben brauchte.
Zuletzt war es immer schlimmer geworden. Ohne Raoie wäre Sin in der Realität wohl schon längst zerbrochen. Dieses Spiel war der letzte Rückzugsort, die letzte Festung die Sin von der Außenwelt abschirmte und zugleich frei sein ließ. Hier konnte man tun und lassen was immer man wollte. Diese vollkommene Freiheit war das größte Geschenk gewesen, welches Sin jemals zu teil geworden war.
Und dieser späte Nachmittag hier… die Sonne, die sich allmählich dem Horizont näherte… das Zwitschern der Vögel… die leichte Brise… Es wirkte so real. Die Möglichkeit diesen Moment zu genießen, war für Sin ein Wunder.
Seelig summte Sin eine Melodie vor sich hin, als sich ein weiteres Wunder ereignete. Der Blattmarker meldete sich plötzlich in den Tiefen des eigenen Unterbewusstseins.
Es war immer noch eine merkwürdige Erfahrung mit den eigenen Fähigkeiten zu hantieren. Besonders diese Verbindung zur Natur Raoies… es war ein seltsames wie ehrfürchtiges Gefühl.
Anfangs hatte Sin regelrechte Angstzustände ausgestanden, als all diese Informationen auf einer Gefühlsebene offenbart wurden, die man normalerweise nicht für möglich halten würde. Doch inzwischen war es für Sin regelrecht zur zweiten Natur geworden, ohne die man nicht mehr leben wollte.
Umso mehr verblüffte es Sin, dass das Ziel Waldenstadt noch verließ, als sich die Spieleinheit bereits dem Ende zuneigte. Auf die Fähigkeit des Blattmarkers war Verlass. Sin spürte definitiv, wie sich der Spieler ganz in der Nähe im Wald aufhielt. Merkwürdiger Weise verharrte der Spieler jedoch an Ort und Stelle, ohne sich fortzubewegen.
Da Sin den ganzen Tag nichts zu tun gehabt hatte, war kurzerhand die Umgebung untersucht worden. Es waren mit Sicherheit keine Monster in der Nähe des Spielers und wenn sich Sin in der Rückmeldung des Blattmarkers nicht täuschte, so saß der Spieler einfach auf dem Boden rum.
„Was treibt der Kerl…?“, murmelte Sin verwirrt vor sich hin.
Es ergab einfach keinen Sinn… Der Typ bewegte sich überhaupt nicht. Würde er Artefakte herstellen oder Magie wirken, hätte Sin schon längst eine Rückmeldung bekommen… Und es waren auch keine anderen Spieler in der Nähe, mit denen er sich unterhalten konnte…
Ein durchtriebenes Lächeln breitete sich auf Sins Gesicht aus. Interessante Ziele waren immer die besten…
Neugierig machte Sin sich auf dem Weg zum eigenen Blattmarker und dem Spieler, welcher bald auf Level 0 gemordet werden würde.
„Woah…“, gähnte Ying laut und ausgiebig, während er auf seinen Auftraggeber wartete.
Vor Langeweile hatte er sogar schon etwas seines Geldes für Bier ausgegeben und es sich im mittelalterlichen Biergarten der Taverne zum blökenden Schaf gemütlich gemacht.
Nur weil er noch zu warten hatte, hieß es ja nicht, dass er auf Komfort verzichten musste. Sich selber beipflichtend, nickte er lächelnd und hob den Bierkrug ein weiteres Mal an seine Lippen.
„Watt für ein schöller Tag, nic wahr?“, meinte ein, offensichtlich schon sehr angetrunkener, Geselle einen Tisch weiter.
Ying schüttelte nur grinsend den Kopf. Glücklicherweise hatte der Betrunkene eine der Mägde angesprochen und nicht versucht ihn in eine Unterhaltung zu verstricken. Den Versuch, die Magd in ein Gespräch zu verwickeln, konnte er dem Besoffenen aber nicht verdenken…
„Verdammt… solche Melonen… mindestens Größe D…“, murmelte er, seine ganze Aufmerksamkeit gänzlich von einer voluminösen Körperregion der Magd eingenommen.
„Was ist Größe D?“
„Wah!“, schrie Ying auf und flog vor Schreck fast von seiner Bank.
„Verdammt!“, fluchte Ying genervt über die Tatsache, dass er gerade die Hälfte seines Gebräus über seine Hose verschüttet hatte. Erst danach nahm er sich die Zeit, die Ursache seines Schrecks genauer in Augenschein zu nehmen.
Ihm gegenüber saß irgendjemand in einem grauen Kapuzenmantel, der die Gestalt komplett verbarg. Ying konnte im Schatten der Kapuze nicht mal das Gesicht ausmachen. Trug die Person noch einen dunklen Schal unter dem weiten Outfit?
„Was ist Größe D?“, fragte die Gestalt ein weiteres Mal. Nun… die Stimme von Yings Gegenüber klang definitiv männlich.
„Nichts… Achem…“, räusperte sich Ying schnell, um seine Verlegenheit zu überspielen. „Nichts von Bedeutung.“
Die Gestalt ihm gegenüber legte den Kopf schief und blickte anschließend im Wechsel von der Magd zu Ying und wieder zurück.
Ying verdrehte genervt die Augen und blaffte: „Was willst du?“
„Bist du Stallion?“, kam eine Gegenfrage.
„…“, Ying brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er wahrscheinlich gerade seinem Auftraggeber blöd gekommen war und beeilte sich zu antworten: „Äh ja, entschuldigt bitte meinen Ton. Seid ihr… Alucard?“
Die Gestalt nickte und fragte erneut: „Was ist Größe D?“
Das Schweigen, dass darauf folgte war so unangenehm, dass Ying schließlich einknickte und erklärte: „Ihre Melonen.“
Wieder legte die Gestalt vor ihm den Kopf schief und während ihr Blick von der Magd zu ihm und wieder zurück wanderte.
„Sie trägt doch gar keine Melonen mit sich herum, nur Bier.“
„…“
Von welchem Stern kam der Typ denn? Meinte der das ernst?
„Ähm… ich meine ihre Brüste…“, sagte Ying leise und gestikulierte entsprechend, um seine Worte zu verdeutlichen.
Der Kopf des Kerls wanderte von der einen Schräglage in die entgegen gesetzte, ansonsten blieb er jedoch still.
Habe ich mich gerade um Kopf und Kragen geredet? Nicht, dass er glaubt ich wäre ein Perverser und mir den Auftrag nicht mehr gibt…
„Oh“, gab Yings Gegenüber schließlich von sich.
„…“, Ying war sprachlos. Der Typ war definitiv nicht normal.
„Magst du Pferde?“
„Wa…?“, gab Ying verwirrt von sich, nur um den Kerl unter dem Kapuzenmantel entgeistert anzustarren.
Doch der Spieler blieb still.
„Was… was meinst du?“, fragte Ying ihn letztlich.
„War die Frage nicht verständlich?“, kam erneut eine Gegenfrage, während der schräg gehaltene Kopf wieder die Seite wechselte.
„Doch… doch…“, versuchte sich Ying, der keine Ahnung hatte, worauf Alucard hinaus wollte.
„Also?“
„Ähm… Pferde sind ok…?“
„Hmm…“ meinte Alucard nachdenklich. „Du findest Pferde nur ok, benennst dich aber nach ihnen?“
„Ah…“, jetzt verstand Ying endlich, worum es ging. „Ja… ähm… das ist wohl so… Aber können wir dieses Thema bitte einfach fallen lassen?“
„Sicher“, meinte der Kerl nur und zuckte die Schultern.
„Danke“, sagte Ying und meinte es auch so. Ihm war schon der Angstschweiß ausgebrochen. Es fehlte noch, dass er sich gleich in die nächste zweideutige Situation hinein bugsierte.
„Also zum Auftrag“, begann der Kerl. „Du kennst noch die Bedingungen?“
„Natürlich“, antwortete Ying sofort.
„Gut“, nickte Alucard. „Der Avatarname des Spielers, den du finden und beobachten sollst, lautet Anael Lerua. Laut meiner Quelle ist er ein blutiger Anfänger, noch nicht mal Level 5. Dahingehend solltest du also keine Probleme bekommen.“
„Anael?“, sprach Ying den Namen nach und überlegte interessiert. „Gab es nicht mal einen Anael in Dreamworld?“
„Oh, du hast von ihm gehört?“
„Sicher, wer denn nicht?“, nickte Ying vielsagend. „Er ist vor kurzem erneut in die Schlagzeilen gekommen, weil er angegeben hat mit Raoie beginnen zu wollen…“
„Genau, in Dreamworld war er seinerzeit eine Nummer für sich“, bestätigte Alucard.
„Moment mal, du sagst er ist noch nicht mal Level 5?“, fragte Ying verblüfft. „Kann es etwa sein, dass dieser Anael Lerua, eben jener Anael aus Dreamworld ist?“
„Glaubst du ernsthaft, dass der Progamer Anael nach Wochen im Spiel noch immer unter Level 10 wäre?“, stellte Alucard eine weitere Gegenfrage.
„Ok… hast recht, ist Quatsch.“
Alucard nickte nur, ehe er ansetzte: „Nimmst du den Auftrag an?“
„Selbstverständlich!“, freute sich Ying sofort.
„Gut“, sagte Alucard. „Die erste Rate wird morgen früh auf dein Konto überwiesen. Deine Dienstzeit beginnt damit Morgen. Noch Fragen?“
„Wo finde ich diesen Anael und worauf genau soll ich achten?“
„Laut meinen Informationen trainiert er regelmäßig auf dem Ausbildungsgelände der Armee hier in Waldenstadt“, erläuterte Alucard. „Versuch dein Glück dort.“
Ying nickte.
„Versuche dich beim Beobachten möglichst unauffällig zu verhalten“, fuhr Alucard fort. „Ich will nicht, dass er mitbekommt, dass ich ihn überwachen lasse. Und wenn er auf irgendeine Art von Tor oder verschlossenes Versteck stoßen sollte, benachrichtigst du mich sofort. Hast du mich verstanden?“
„Klar, kein Problem“, antwortete Ying.
„Benachrichtige mich auch, wenn er Waldenstadt verlässt. Ich habe bisher leider keinen Teleportationszauber auftreiben können. Von daher würde mir für solch einen Fall nur die altmodische Art bleiben, dich zu begleiten.“
„Nichts für ungut, Boss“, meinte Ying. „Aber wozu hast du mich dann überhaupt eingestellt?“
„Du kannst ihn über große Entfernung heraus beobachten“, sagte Alucard missbilligend. „Ich hatte doch erwähnt, dass er nichts mitbekommen soll.“
„Stimmt… habe nicht weiter gedacht“, hob Ying beschwichtigend die Hände.
„Dann sollte alles geklärt sein“, sagte Alucard, stand auf und wandte sich zum Gehen.
„Oh, eins noch“, blieb er zwei Schritte vom Tisch noch einmal stehen. „Ich erwarte jeden Tag ein Update über die allgemeine Situation von dir, verstanden?“
„Wird gemacht, Boss!“, antwortete Ying und rieb sich innerlich bereits die Hände. Ab Morgen würde er selbst außerhalb seiner Arbeitszeiten vernünftiges Geld machen. Damit sollten die Pflegekosten seiner Großmutter für die nächsten zwei Monate problemlos zu erwirtschaften sein.
Und was musste er dafür tun?
Nur einen Newbie beobachten! Haha, wieso konnte das Leben nicht immer so einfach sein?
Sin kam gerade noch rechtzeitig. Feines Geäst gab genügend Deckung, um zu beobachten, wie der gesuchte Spieler aufstand und sich weiter von der Stadt entfernte.
Merkwürdig war jedoch, dass er anscheinend ziemlich intensive Selbstgespräche führte. Sin spürte keinerlei Manaregung, was die Chatfunktion ausschloss. Dennoch fragte Sin sich mehr als nur einmal, ob vielleicht nicht doch noch jemand anderes in der Nähe war. Es war aber schlicht weg niemand zu entdecken.
Na ja, außer einem Bergbärenjungtier… Aber die Anwesenheit von dem Vieh erklärte immer noch nicht, wieso er scheinbar mit mindestens einer weiteren Person redete.
Letztlich verbannte Sin die Merkwürdigkeiten aus den eigenen Gedanken und konzentrierte sich vielmehr wieder auf den ursprünglichen Vorsatz, die folgende Spielzeit des Spielers äußerst unangenehm zu gestalten.
Mit einem geflüsterten Befehl schnellten die nächsten Äste eines Strauchs plötzlich peitschenartig gegen die Gliedmaßen des Spielers.
Schmerzensschreie zeugten vom erfolgreichen Einsatz von Sins Fähigkeiten, während der nächste Angriff bereits vorbereitet wurde.
Was folgte, war ein seltsam anmutendes Schauspiel aus Schmerzensschreien und tänzerischen Ausweichmanövern. Die Verzweiflung ließ den Spieler dabei Verrenkungen vollbringen, die Sins Mundwinkel mehr als nur einmal zucken ließen.
Aber was sprang der Kerl auch so durch die Gegend?
Im Grunde spürte man dergleichen Angriffe doch kaum. Bei einem normalen Schmerzempfinden von zehn Prozent waren Attacken, die einem gerade mal 1 HP raubten, doch mehr als zu vernachlässigen.
Außer… hatte der Typ sein Schmerzempfinden höher gestellt?
Es war die einzig brauchbare Erklärung…
Aber wieso tat man sowas?
Nun… wen interessierte es…?
Viel wichtiger war… jetzt war Zeit Spaß zu haben…
Der nächste Zweig peitschte den Spieler und die Flüche und Schmerzensschreie hinterließen ein schadenfrohes Grinsen auf Sins Gesicht.
„Verfluchte Scheiße!“, rief Bahe wütend aus, als er von einem weiteren Zweig am Rücken getroffen wurde. „Was ist hier los?“
„Wir haben dir schon dreimal gesagt, dass wir das auch nicht wissen“, meinte Limona entnervt.“
„Pass auf!“, deutete Brocken derweil auf den nächsten Ast, der in seine Richtung schlug.
„Das war auch keine Frage an euch!“, schrie Bahe und fuhr fort: „Ich bin einfach nur stinksauer, dass ich nicht weiß, was hier vor sich geht!“
„Wütend zu sein bringt auch nichts“, sagte Limona, die zusammen mit Brocken auf Balus Rücken saß und mal wieder ihre besserwisserische Ader raus hängen ließ.
„Das ist mir scheiß egal!“, machte Bahe seiner Wut erneut Luft und fing diesmal erfolgreich einen heran schnellenden Ast ab, nur um im darauffolgenden Moment von hinten von zwei weiteren Zweigen erwischt zu werden.
„Ah! Verdammt!“, schrie er auf und langte in seinen Speichergegenstand. „Jetzt reicht’s! Ihr wollt euch mit mir anlegen, nur zu. Ich mache Kleinholz aus euch!“
Zwei Ästen ausweichend, holte er sein Schwert hervor und schlug sofort wie wild geworden auf alle heran nahenden Äste und Zweige ein.
„Ich mache euch fertig!“
„Ah!“
„Hah! Wie gefällt dir das!“
„Aua! Scheiße!“
„Komm her du beschissener Baum!“
„Arg… Wieso habe ich mir noch keine Axt besorgt!“
„Limona! Brocken! Macht irgendwas!“
„Fuck it! Ich bin raus!“
Sein Wutanfall und neu gewonnene Zuversicht herrschten ganze zwei Minuten, ehe er die Beine in die Hand nahm und das Weite suchte.
Die peitschenden Sträucher und Bäume verfolgten ihn, bis er schließlich zu dem kleinen Wasserfall kam, an den Limona und Brocken ihn ursprünglich führen wollten.
Die größeren Sträucher und Bäume reichten aufgrund des felsigen Untergrundes nicht bis zum Ufer des Baches und gaben Bahe endlich eine Atempause von der Tortur.
„Hah…“, atmete Bahe schwer auf allen Vieren kniend. „Was war… das für eine Scheiße? Seit wann wird man von Bäumen und Sträuchern angegriffen?“
„Es ist wirklich merkwürdig… Ich habe irgendetwas gespürt… Aber es ist nicht unnatürlich…“, meinte Brocken unschlüssig.
Erschöpft ließ er sich auf den Rücken nieder und starrte seine Elementare an.
„Was soll das heißen?“
„Normalerweise ist so ein Verhalten der Pflanzen nicht normal“, erklärte Limona. „Irgendein Zauber muss dahinter stecken. Aber dann hätten wir das Ungleichgewicht in der Natur spüren müssen…“
„Und hier war das… nicht der Fall…“, ergänzte Brocken.
Wenn sich seine Elementare schon keinen Reim darauf machen konnten, wie sollte es ihm dann möglich sein?
Genervt checkte er seinen Gesundheitsstatus und stellte missmutig fest, dass er gerade 56 HP verloren hatte…
Verdammt, er hätte in diesem verhexten Wald echt sterben können, wenn er dort noch länger geblieben wäre.
Tief einatmend wandte er seinen Kopf Richtung Himmel und schloss für einen Moment die Augen, um wieder vollständig zu Atem zu kommen und auch seine Elementare verhielten sich ausnahmsweise mal ruhig.
Ein Knurren seines Magens durchbrach jedoch wenig später das kurzzeitige Schweigen und mit einem Check seines Charakterprofils stellte Bahe fest, dass es höchste Zeit wurde wieder etwas Nahrung zu sich zu nehmen.
„Da hat wohl jemand Hunger“, meinte Limona spöttisch.
„Menschen sind schon… arme Kreaturen…“, nickte Brocken. „Ihr müsst immer… wieder… feste Nahrung aufnehmen… um überleben… zu können.“
„…“,Bahe hielt sich diesmal zurück und sagte nichts. Immerhin hatte er soeben neben den Zeilen erfahren, dass seine Elementare glücklicherweise nicht auch noch mit Nahrung versorgt werden mussten. Gut, eigentlich kam diese Erkenntnis viel zu spät. Wären die Elementare abhängig von einer ständigen Nahrungszufuhr, wären sie unter seiner tollen Fürsorge wohl schon längst verreckt, dachte Bahe sich selbst für seine Nachlässigkeit verfluchend.
„Was ist mit Balu?“, fragte Bahe er schließlich.
„Um ihn kümmere ich mich schon“, versicherte Brocken stolz.
„Alles klar“, antwortete Bahe. „Dann muss ich gleich also nur für mich was machen.“
Bahe musterte die Umgebung und gab zu, dass sein momentaner Aufenthaltsort wohl am besten für ein schnelles Lagerfeuer geeignet war.
Da ihn keine zehn Pferde mehr in den Wald bewegen würden, suchte er sich am Bachufer alle trockenen Äste und Zweige zusammen, derer er habhaft werden konnte und machte sich daran ein Feuer zu entfachen.
Natürlich war es schwieriger als gedacht. Dabei hatte er seine überflüssige Zeit der letzten Tage in der Realität gut genutzt und sich genau über entsprechende Überlebenstechniken in der Wildnis erkundigt. Trotzdem… Theorie und Praxis waren grundverschiedene Dinge.
Es dauerte ganze zwanzig Minuten, ehe er endlich ein akzeptables Feuerchen entfacht hatte, von dem er sicher war, dass es in einem unbeobachteten Moment nicht gleich wieder ausgehen würde.
Wie sehr ihm Magie in solchen Momenten helfen könnte… Er durfte gar nicht darüber nachdenken…
Mit einem Griff in seinen Speichergegenstand, holte er etwas von dem Fleisch der letzten Wildwurzelkaninchen hervor und spießte es auf einen kleinen Stock, nachdem er die Rinde entfernt und ihn im Bach gesäubert hatte.
Wenig später brutzelte eine fast fertige Wildwurzelkaninchenkeule über dem Feuer und verströmte einen so wohltuenden Duft, dass Bahe regelrecht das Wasser im Munde zusammen lief.
Trotzdem hielt er sich noch zurück und beförderte stattdessen die wenigen Gewürze und Kräuter aus seinem Speichergegenstand, derer er bisher habhaft geworden war. Salz, Pfeffer, Thymian und Rosmarin.
Tatsächlich war ein beträchtlicher Anteil seines Vermögens in diese Luxusgüter des mittelalterlichen Raoies gewandert.
Vorsichtig streute er die Kräuter ringsherum auf die Kaninchenkeule und hielt den Stock nun höher, damit sie nicht gleich verbrannten und noch einen Moment Zeit hatten ihr Aroma zu entfalten.
Soweit so gut, zu seinen im Internet recherchierten Kochkünsten…
Aber immerhin, mit einem Stück Brot aus seinem Speichergegenstand war sein Mahl fürs Erste perfekt.
Ein Rascheln von Blättern ließ seinen Kopf jedoch ruckartig hoch fahren. Misstrauisch beäugte Bahe die Gestalt, die soeben durch die Sträucher am Waldrand getreten war.
Bahe war sich wirklich nicht sicher, wen oder was er da vor sich hatte…
War es ein Spieler? Oder doch nur ein NPC?
Das Gesicht der Gestalt war nicht zu erkennen, aber die hochgewachsene Statur und die breiten Schultern deuteten auf einen Mann hin. Andererseits konnte sich Bahe nicht wirklich sicher sein, da sein Gegenüber eine ungewöhnliche Rüstung am ganzen Körper trug, die am ehesten mit der Textur einer Baumrinde vergleichbar war.
Die Rüstung verdeckte auch das Gesicht der Person und ließ somit nur viel zu viel Vermutungsspielraum.
„Überprüfen…“, murmelte Bahe schnell den Befehl.
Charakter: Sin of Birth
Beruf: ??? Level: ??
Rang der Berufsklasse: ??? Erfahrungspunkte: 678/50000
Titel: ??? Gesundheit / HP: 3040/3040
Fraktionszugehörigkeit: Neutral Energie / Mana: 5000/5000
Volkszugehörigkeit: ??? Ruhm: 3700
„Was zum…“, stieß er aus, ehe er sich unter Kontrolle hatte.
Aber wen hatte er da vor sich?!
Sin lachte aus voller Kehle, als der Spieler das Weite suchte. Es war so amüsant gewesen, wie der Kerl durch die Gegend gehüpft war, dass Sin sich sehr zusammen reißen musste, um nicht schon vorher die eigene Position zu verraten.
Mit solch einem Newbie zu spielen, hatte doch tatsächlich mehr Spaß gemacht als gedacht. Lustig war auch, dass das Bergbärenjungtier die ganze Zeit vor seinem Meister davon gelaufen war. Es hatte immer genügend Abstand zwischen sich und dem Spieler gehalten, um nicht ins Kreuzfeuer der schwingenden Äste zu geraten.
Zumindest hatte es den Kerl nicht gänzlich allein zurück gelassen. Dachte Sin, die süße Rache auskostend.
Daraufhin hatte sich Sin natürlich an die Fersen des Spielers geheftet und durch das Dickicht des Waldes beobachten können, wie der Typ sich zunächst erholte und anschließend begann irgendein Fleisch zu grillen.
Ohne die eigenen Fähigkeiten zu verraten, hätte Sin den Newbie vor dem Bach nicht weiter ärgern können, weshalb vorläufig nur das Abwarten übrig blieb. Schließlich wollte Sin vorläufig lieber unter dem Radar bleiben. Unnötige Aufmerksamkeit war das Letzte, was Sin sich wünschte und einen Spielanfänger, der plötzlich Gerüchte über die eigene Person verstreute, hieß es dementsprechend zu vermeiden.
Diesen Idioten auf Level 0 zu morden ließ sich schließlich auch unbemerkt bewerkstelligen. Aber man musste eben Geduld haben.
Irgendwann wurde es Sin dann doch zu langweilig. Sich streckend, machte Sin gerade die ersten Schritte auf den Spieler zu, als ein köstlicher Grillgeruch herüber wallte und Sin augenblicklich zum Stillstand brachte.
Was auch immer es für ein Fleisch war, das dort zubereitet wurde… Es roch himmlisch!
Nicht das Sin ein Problem damit gehabt hätte genügend Rationen und Proviant in den eigenen Speichergegenständen mit sich zu schleppen.
Aber eine selbst zubereitete Mahlzeit war zugegebener Maßen etwas anderes. Es war tatsächlich das erste Mal, dass Sin solch einer Person begegnete. Normaler Weise mühte sich niemand mit dergleichen ab.
Raoie bedeutete Sin wirklich viel. Nicht zuletzt durch den unglaublichen Detailreichtum war Raoie für Sin mittlerweile weit wichtiger als die Realität geworden. All diese kleinen Dinge ermöglichten es, sich so richtig in diese Welt hinein versetzen zu können. Ohne den hohen Realitätsgrad, wäre es letztlich nie möglich gewesen dem furchtbaren, realen Leben zu entfliehen. Raoie wäre nur ein Spiel unter vielen geblieben.
Im Zusammenhang mit dem unwiderstehlichen Geruch, der von Sekunde zu Sekunde stärker wurde, war sich Sin allmählich nicht mehr so sicher, ob der Spieler wirklich den Tod verdiente.
Konnte man jemanden, der Raoie genauso sehr lebte wie man selbst, wirklich umbringen?
Sin wusste es nicht…
Zumal es ja im Grunde klar war, dass dieser Newbie niemals allein das Jungtier der Granitfelsspinne bezwungen haben konnte. Vielleicht war er nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?
Sin war einfach so wütend gewesen, dass irgendjemand oder irgendetwas als Frustrationsventil herhalten musste und da kam dieser Spielanfänger gerade recht…
Hin und her gerissen verharrte Sin an Ort und Stelle, bis ein eigenes Magenknurren die Entscheidung fällte.
Der Typ konnte auch später noch seinen Tod finden. Aber wieso nicht vorher ein leckeres Essen genießen?
Mit festen Schritten trat Sin aus der Deckung und stellte zufrieden fest, wie der Spielanfänger sich augenblicklich versteifte.
„Wer ist… denn… das?“, fragte Brocken.
„Keine Ahnung…“, meinte Limona schulterzuckend.
Bahe ignorierte hingegen seine Elementare als er erkannte, dass sich die Gestalt vor ihm weit über seinem Level befand und kam fast augenblicklich ins Schwitzen.
In seiner übereilten Flucht vor den peitschenden Ästen, hatte er vollends den Überblick verloren und war sich nicht mehr allzu sicher, ob er sich noch in der sicheren Zone rund um Waldenstadt befand.
Hatte es dieses Individuum auf seine Artefakte abgesehen, konnte er sich womöglich nur seinem Schicksal ergeben… Was definitiv keine nette Aussicht war…
„Oh, oh…“, gab Brocken wenig hilfreich von sich, während Balu vor Schreck hinter einen der nächsten großen Steine sprang, der ihn mal wieder nur zur Hälfte verstecken konnte.
„Du solltest dir wirklich etwas einfallen lassen…“, meinte Limona panisch. „Wer auch immer das ist, ist weit mächtiger als du es bist…“
Die Gestalt kam zügig auf Bahe zu, was ihn im Anbetracht der hilfreichen Kommentare seiner Elementare innerlich bereits in Panik ausbrechen ließ.
Doch dann setzte sich die Gestalt urplötzlich gegenüber von ihm, auf die andere Seite des Feuers hin und zeigte auf die Kaninchenkeule und anschließend auf den eigenen Mund. Oder zumindest auf die Stelle, an der Bahe den Mund der Gestalt vermutete.
„…“
Für einen Moment herrschte vollkommene Stille.
„Du solltest langsam mal den Mund zuklappen“, gab Limona piepsend den hilfreichen Hinweis, der Bahe endlich aus seiner Schreckstarre löste und er schloss seinen Mund schnell.
„Du willst… was abhaben…?“, fragte er zögerlich.
Die Gestalt nickte und streckte fordernd die Hand aus.
„Ähm… ok…“, antwortete Bahe kleinlaut und wollte die fertige Kaninchenkeule gerade zerteilen, als die Gestalt mit flacher Hand auf einen der umliegenden Steine schlug und die fordernde Bewegung diesmal bedeutungsschwerer vollführte.
„Ich glaube… es will… alles haben…“, meinte Brocken.
„Äh… du… willst alles haben…?“, formulierte Bahe passend eine Frage, der die Ansicht seines Elementars teilte.
Wieder ein Nicken, wenn auch diesmal weit energischer als beim letzten Mal.
„Aber… das ist mein Essen…“, versuchte sich Bahe, doch als die Gestalt plötzlich Anstalten machte wütend aufzuspringen, meinte er nur schnell: „Schon gut! Schon gut! Du kannst alles haben!“
„Dummkopf!“, schimpfte Limona zischend. „Da ist etwas weit mächtiger als du es bist und du widersprichst dem Ding auch noch?!“
Bahe wollte bei Limonas Worten schon die Augen verdrehen, besann sich aber eines Besseren.
Gequält übergab Bahe den dünnen Stock mit der gesamten Kaninchenkeule samt Schenkel, welchen die Gestalt ohne ein Wort entgegen nahm.
Stattdessen konnte Bahe entgeistert beobachten, wie sich die Gesichtsmaske, die Teil der Rüstung zu sein schien, merkwürdig nach vorne verschob und so scheinbar unten eine Öffnung bildete, durch die es der Gestalt möglich war das Wildwurzelkaninchenfleisch zu verspeisen.
„Das ist… praktisch…“, murmelte Brocken.
„Kann ich nur zustimmen“, gab auch Limona von sich.
Es dauerte keine zwei Minuten, da wurde ihm der Stock, um das Kaninchenfleisch erleichtert, mit einer auffordernden Geste zurück gereicht.
„Du… willst noch mehr?“, traute Bahe seinen Augen kaum.
Die Gestalt schüttelte den Kopf.
„Haha, du hast Glück gehabt!“, lachte Limona laut auf.
„Du meinst also… das ich mir was machen soll?“, fragte Bahe entnervt mit zuckender Augenbraue.
Diesmal nickte Bahes Gegenüber.
„Wer oder… was es auch ist. Es… scheint nett zu sein“, sagte Brocken.
„…“, Bahe beschloss es sprachlos hinzunehmen und widmete sich in einem zweiten Versuch seinem Essen.
Dennoch beäugte er die ganze Zeit misstrauisch die Gestalt, die regungslos vor ihm saß. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, was sein Gegenüber von ihm wollte…
War die Gestalt wirklich nur für das Essen hier…?
„Bist du… bist du eigentlich ein Spieler?“, rang sich Bahe schließlich durch, die Frage zu stellen, die ihm noch viel mehr auf den Lippen brannte.
„Was meinst du mit Spieler?“, fragte Limona verwirrt.
Bahe beachtete sie jedoch gar nicht und hielt seine Aufmerksamkeit auf die Gestalt vor ihm gerichtet.
Die Reaktion seines Gegenübers überraschte ihn dann aber doch. Die Gestalt legte den Kopf schief und begann dann merkwürdig zu zucken.
„Was ist denn jetzt los?“, fragte Limona verwirrt und stellte damit die Frage, die auch Bahe beschäftigte.
Wie zur Antwort beugte sich die Gestalt zur Seite, ergriff einen Stock und kratzte ein paar Worte in das steinige Erdreich.
Bist wohl vollkommen dämlich, was?
„…“, nach dem Lesen der Worte verschlechterte sich Bahes Laune zusehends. Was nicht zuletzt an den lauten Lachanfällen seiner Elementare lag, die sich über den Satz wohl köstlich amüsierten.
Was erlaubte sich der Typ vor ihm denn bitte?!
Wie konnte Bahe denn sonst feststellen, mit wem er sich hier unterhielt, wenn diese seltsame Rüstung jeglichen Speichergegenstand verbarg, anhand derer man andere Spieler normalerweise ausmachen konnte.
„Du bist also ein Spieler, wenn ich das richtig verstehe…“, stellte Bahe ein Bisschen zu zögerlich fest, denn sein Gegenüber begann erneut zu zucken. Aber erst als die Gestalt sich auf den Oberschenkel klopfte, verstand Bahe, dass der Spieler vor ihm, ihn wohl gerade auslachte, wenn auch lautlos.
Wütend blieb ihm nichts anderes übrig, als stillschweigend mit den Zähnen zu knirschen… Nicht, dass er Frustration in Raoie mittlerweile gewohnt wäre…
Dennoch brachten seine noch immer lachenden Elementare gerade das Fass zum Überlaufen. Konnten die nicht einmal auf seiner Seite sein?!
„Könnt ihr nicht einmal die Klappe halten?!“, herrschte er sie an.
Der Spieler vor ihm zuckte bei seinem plötzlichen Wutausbruch jedoch vor Schreck zusammen und schaute irritiert auf Bahes Elementare.
„Beachte sie nicht“, meinte Bahe nur erklärend. „Die haben nur Unsinn im Kopf.“
„Stimmt doch… überhaupt nicht!“, rief Limona immer noch prustend vor Lachen, während sie sich auf dem Rücken rollte.
„Wieso versucht ihr dann ständig mich zu verarschen?“, zog Bahe herausfordernd die Augenbrauen hoch, bekam vor Gelächter jedoch keine Antwort.
Als Bahe sah, wie der Kopf des Spielers daraufhin immer wieder von ihm zu seinen Elementaren und wieder zurück wanderte, wäre Bahe am liebsten im Boden versunken.
Wie sollte er das Verhalten dieser beiden Idioten schon erklären?
Da begann der Spieler vor ihm plötzlich erneut etwas in den Boden zu kratzen…
Neugierig las Bahe einen Moment später die geschriebenen Worte:
Führst du gerne Selbstgespräche?
„Hä? Was?“, fragte Bahe verwirrt, bis ihm plötzlich ein beunruhigender Gedanke kam. Dieser Spieler sah tatsächlich so aus, als ob er seine Frage ernst meinen würde…
Wenn man diesen Gedanken weiter spann, dann gab es einige Dinge, die auf einmal Sinn ergaben…
Weshalb waren die Körper seiner Elementare so durchscheinend?
Warum hatte niemand auf Brocken reagiert, als er damals in Toreromanier auf Balus Rücken ritt?
Wieso hatte ihn dieser Berserker, Deraka, nicht auf seine Elementare angesprochen, als er und Bahe sich gegenüber gestanden hatten?
Brocken und Limona waren auf jeden Fall in Sichtweite gewesen…
„Du siehst sie nicht?“, rang Bahe sich schließlich die Frage ab.
Wieder kratzte der Spieler etwas in den Boden.
Wen?
Auch, wenn er die Antwort quasi schon wusste, er wollte auf Nummer sicher gehen und fragte dazu seine Elementare: „Kann es sein, dass er euch nicht sehen kann?“
„Hmmm…“, bejahte es Brocken mit einem Nicken und fügte noch ernst hinzu: „Wir dachten… es wäre… offensichtlich… da unsere Gestalt noch so durchsichtig ist…“
„Ihr dachtet? Wolltet ihr mich vielmehr nicht einfach nur verarschen?!“, redete Bahe sich in Rage und vergaß darüber vollkommen sein Gegenüber, der weiterhin schweigsam Bahes Umgebung absuchte, während sein Blick zwischendurch immer mal wieder zu Bahe zurück wanderte.
Seine Elementare verfielen nach Bahes Vorwurf nur erneut in einen ihrer ihm schon so bekannten Lachanfälle, dass Bahe vor Wut gleich wieder das Blut ins Gesicht schoss.
Wie gerne er ihnen die Hälse umdrehen würde…
Bemüht sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, atmete er tief ein und aus, doch die Worte, die der Spieler diesmal in den Boden kratzte, halfen der Situation auch nicht wirklich.
Mit imaginären Freunden komplexe Gespräche zu führen zeugt nicht gerade von geistiger Gesundheit…
Meinte dieser Kerl das ernst?
„Gr…“, nur mit größter Selbstbeherrschung gelang es Bahe, das tiefe Grollen in seiner Kehle zu ersticken, welches sich gerade Lösen wollte.
Den Spieler amüsierten seine unterdrückten Wutanfälle jedoch augenscheinlich, da er erneut zu zucken begann und sich eine Hand vor die Gesichtsmaske hielt.
Bahes Laune erreichte damit den absoluten Tiefpunkt.
„Nur damit du es weißt, ich rede hier nicht mit imaginären Freunden! Das sind durch meine Berufsklasse an mich gebundene-“, panisch schlug er sich die Hand vor dem Mund, als er begriff welcher Lapsus ihm da gerade beinahe unterlaufen war.
Limona rief nur erneut lachend: „Haha, da hat er sich fast versprochen… So eine Schande, beinahe wären wir ihn los geworden, Brocken!“
„Das war nicht… nett“, meinte Brocken jedoch eher traurig. „Du hast… nicht an uns… gedacht…“
Du hast fast deinen Seelenbund mit deinen Elementaren verraten
Treue von Brocken - 5
Das war zu viel für Bahe.
Den Spieler mit dem hohen Level ignorierend, sprang Bahe auf und schrie dem Bach hinter sich seine Wut entgegen, während er mit dem nächst greifbaren Stock auf einen kleinen Felsen am Bachufer einschlug.
Natürlich zerbarst das poröse Holz sofort, prallte vom Felsen ab und knallte mit voller Wucht gegen seine Stirn.
„Ah, Fuck!“, schrie Bahe schmerzerfüllt auf und ein weiteres Fenster klappte auf:
Törichtes Verhalten - 5 HP
„…“, Bahe stand im wahrsten Sinne des Wortes kurz vor einer Ohnmacht…
Kapitel 74 Erde und Wasser
Seiner Zornesspitze folgte aber schnell die Ernüchterung. Bahe wusste nur zu gut, dass es sinnlos war, sich aufzuregen. Dennoch… manchmal musste man seiner Wut einfach freien Lauf lassen. Das half auch, die Reaktionen seiner Elementare zu ignorieren, die sich vor Lachen immer noch auf dem Rücken über den Boden kugelten.
Mit einem Blick zu seinem Gegenüber sagte Bahe: „Du musst mich für völlig bescheuert halten…“
Was folgte war nur ein Wort:
Stimmt
Bahe seufzte und sah, wie der Spieler noch etwas hinzufügte:
Es ist aber auch amüsant dich zu beobachten.
„He…“, musste Bahe dann doch grinsen und versuchte anschließend „Dein Nickname ist Sin of Birth, oder? Bist du nur wegen dem Essen hier?“
Sin schüttelte den Kopf und kratze erneut Worte in den Boden:
Du hast vorhin nicht alles erklärt, mit wem redest du?
Tja… jetzt hatte er den Salat, dachte Bahe.
„Also… aufgrund einer klassenspezifischen Quest darf ich dir das nicht sagen“, zuckte Bahe mit den Schultern. „Ich kann nur sagen, dass es mit Sicherheit keine imaginären Freunde sind, sondern eher sowas wie Geister, die mich ständig in den Wahnsinn treiben.“
„Hey, was heißt hier in den Wahnsinn treiben? Wir sind doch die Liebenswürdigkeit in Person!“, entrüstete sich Limona.
„Siehst du nicht, dass ich versuche hier eine Unterhaltung zu führen?“, gestikulierte Bahe in Richtung des Spielers und verdrehte die Augen.
Sin hob die Brauen, als er ihn beobachtete und weitere Worte in den Boden ritzte:
Und das soll ich glauben? Du wirkst eher wie ein Schizophrener…
„Gib es auf!“, lachte Limona erneut los. „Solange er uns nicht sehen kann, wird er dir nie glauben.“
„Was ist… ein Schizophrener?“ fragte Brocken hingegen irritiert.
„…“, Bahe verdrehte nur die Augen.
„Egal was ich sage, du wirst mir eh nichts glauben…“, zuckte Bahe schließlich die Achseln und setze sich wieder.
Sin of Birth blieb jedoch still.
„Du willst mir nicht verraten, wieso du hier bist?“
Noch nicht.
Lauteten die nächsten Worte, die in den Untergrund gekratzt wurden.
Bahe zog nur fragend die Augenbrauen hoch, erhielt von seinem Gegenüber aber keine weitere Erklärung.
„Bist du wirklich stumm?“, fragte Bahe, der diese Art von extrem merkwürdigem Selbstgespräch nicht mehr aushielt. Auf der einen Seite seine Elementare von denen er Antworten bekam, die aber anscheinend niemand anderes sehen konnte und auf der anderen Seite ein realer Gesprächspartner, der nicht sprechen wollte oder konnte…
Doch an Stelle einer Antwort begann Sin of Birth nur erneut zu zucken und zu zittern.
Na toll… dieser Idiot lachte schon wieder!
Nicht das Bahe es gewagt hätte, dies laut zu sagen… Aber trotzdem, es nervte ihn tierisch.
Wahrscheinlich konnte Sin of Birth durchaus reden, wenn er wollte. Immerhin ließ Raoie selbst gehbehinderte Menschen wieder laufen…
Der Geruch des fertigen Wildwurzelkaninchenfleisches lenkte Bahes Aufmerksamkeit schließlich wieder auf sein Grillvorhaben. Hastig nahm er den Stock mit dem Fleisch vom Feuer und pustete, um die überflüssige Hitze schneller zu vertreiben.
Sin of Birth lehnte sich währenddessen zurück und blickte sich um. Es wirkte fast so, als ob er die Umgebung nach Bahes Geistern absuchen würde…
In den folgenden Minuten genoss Bahe endlich seine wohlverdiente Mahlzeit und brachte die Hungeranzeige in seinem Charakterprofil damit schnell wieder aus dem bedrohlichen Bereich.
Trotzdem war es eine merkwürdige Erfahrung die ganze Zeit beobachtet zu werden. Zumindest wie sich ein Affe im Zoo fühlte, wusste er jetzt.
Kurze Zeit später hatte Bahe das Feuer selbst gelöscht, da Limona sich natürlich wieder mal dagegen entschieden hatte ihm zu helfen. Nach ihren Worten, war dies die Rache dafür, dass er sie beinahe verraten hatte.
Wenigstens hatte er keine ihrer Treuepunkte verloren. Im Stillen dankte er den Machern von Raoie dafür, dass seine Elementare solch verschiedene Charaktereigenschaften besaßen und er nicht immer gleich mit einem kollektiven Treueverlust oder dergleichen rechnen musste.
Währenddessen schien dieser Sin of Birth immer noch nicht verschwinden zu wollen. Bahes Interaktionen mit seinen Elementaren hatten dem merkwürdigen Spieler mehr als einmal zum stillen Lachen gebracht und lieferten ihm dadurch scheinbar genug Anreize zu bleiben.
Was Bahe allerdings nun zu einem offensichtlichen Problem brachte. Was sollte er sagen, damit der Typ endlich verschwand?
Bahe blieb im Folgenden still und nach und nach breitete sich ein unangenehmes Schweigen aus. Selbst Limona und Brocken hielten zur Abwechslung mal den Mund und beobachteten zusammen mit Bahe ihr Gegenüber.
Eine ganze Weile saßen sie so da, während Sin of Birth nur die Arme vor der Brust verschränkte und den Kopf von der ehemaligen Feuerstelle zu Bahe und wieder zurück wandern ließ.
Dachte er nach?
Bahe wurde aus dem Typen einfach nicht schlau…
Er wollte schon ein weiteres Mal einen Gesprächsversuch wagen, als Sin of Birth seinen Stock ergriff und eine neue Botschaft in den Boden ritzte:
Das Essen war lecker. Mach beim nächsten Mal aber was anderes. Bergbärenfleisch schmeckt auch vorzüglich.
„…“, Bahe stand für einen kurzen Moment doch tatsächlich die Kinnlade offen, während Brocken entrüstet aufschrie: „Niemals! Balu… Balu… wird nicht gegessen!“
„Oh man…“, stöhnte Limona und legte kopfschüttelnd die Hände vors Gesicht, ehe sie Brocken anblaffte. „Der Kerl hat doch überhaupt nicht gesagt, dass er deinen Spielkameraden essen will!“
„Er kriegt Balu nicht!“, erklärte Brocken herausfordernd ein weiteres Mal und ignorierte Limonas Satz dabei vollkommen.
Bahe war hingegen viel zu sehr mit der anderen Bedeutung dieser Worte beschäftigt…
Beim nächsten Mal…
Es lief ihm eisig den Rücken runter, als er daran dachte noch einmal dem Willen dieses Spielers ausgeliefert zu sein.
„Was… was meinst du mit beim nächsten Mal?“, rang sich Bahe schließlich zu der unheilvollen Frage durch und konnte beobachten, wie Sin of Birth abermals zum Stock griff, was dieses Mal jedoch erheblich länger dauerte.
Ich war hier um dich zu töten. Aber dein Essen war lecker und du bist witzig. Deswegen habe ich beschlossen abzuwarten, wie dein Essen beim nächsten Mal schmeckt. Wenn es gut ist, lasse ich dich ein weiteres Mal leben. Ansonsten kann ich dich ja immer noch umbringen.
„Was zum…“, begann Bahe und hob den Kopf um dem Typen die Meinung zu sagen, doch Sin of Birth war verschwunden.
„Hä?!“, rief Limona aufgebracht, die mindestens genauso überrascht wie Bahe war.
„Gut, dass er weg ist“, nickte Brocken nur zufrieden und ignorierte die Tatsache, dass sich der Kerl plötzlich in Luft aufgelöst hatte.
„Ich habe nur einen Moment nicht hingesehen… wie konnte er so schnell verschwinden? Selbst ein Teleportationszauber braucht länger, um aktiviert zu werden…“, sprach er seine Gedanken aus und blickte dabei seine Elementare an.
„Das würde ich auch gern wissen…“, murmelte Limona immer noch auf die Stelle schauend, an der Sin of Birth verschwunden war.
„Brocken, was ist mit dir?“, fragte Bahe.
„Ist mir doch egal, er wollte Balu fressen!“
„…“
War ja mal wieder typisch… wenn es drauf ankam, waren seine Elementare nutzlos.
Dennoch… zumindest war er jetzt jeden überflüssigen Ballast los und konnte sich auf sein ursprüngliches Vorhaben konzentrieren.
„Limona, Brocken, da wir wieder alleine sind, könnt ihr mir jetzt helfen über mein Mana… äh, ich meine über meine Energie zu verfügen?“
„Hä, was sagst du?“, fragte Limona verwirrt, scheinbar von Bahe aus den Gedanken gerissen, während Brocken griesgrämig schwieg.
„Ob ihr mir nun helfen könnt, über meine Energie zu verfügen…?“, wiederholte Bahe seine Frage.
„Ah ja, da war doch was“, stimmte Limona ihm unerwarteter Weise sofort zu und murmelte dann: „Ich mag es gar nicht, dass dieser Typ so plötzlich erscheinen und verschwinden kann, ohne dass ich das merke…“
An Bahe gewandt fuhr sie fort: „Es wird höchste Zeit, dass du mächtiger wirst und dich nicht mehr von solchen Idioten rum schupsen lassen musst. Setz dich da vorne unter den Wasserfall auf die Felsen, dann können wir mit deinem Training beginnen.“
„Wie Training?“
„Ja, glaubst du etwa, dass ich nur mit den Fingern schnipsen muss, um Dummheit in Genialität zu verwandeln?“
„Limona…“, begann Bahe warnend.
„Ja…?“, antwortete Limona zuckersüß mit hochgezogenen Brauen.
„… ach, nichts“, gab sich Bahe schnell geschlagen. Schließlich war er es, der etwas von seinen Elementaren wollte und nicht umgekehrt.
Schnell zog er sich bis auf die grobe Unterwäsche aus, die in diesem mittelalterlichen Fantasysetting zum Standard gehörte und kletterte vorsichtig auf den kleinen Felsen unterhalb des Wasserfalls.
Der Wasserfall des Bachlaufs war alles andere als spektakulär. Im Sitzen fiel ihm das Wasser nur sanft auf die Schultern, aber Limona schien zufrieden.
Sie wandelte den Aggregatzustand ihres Körpers mal wieder in flüssiges Wasser und floss förmlich über die Bachoberfläche, bis sie vor Bahe Stellung bezog.
„Gut“, meinte sie und fragte: „Sitzt du bequem?“
„Ich denke schon“, gab Bahe zur Antwort.
„Das ist wichtig“, sagte Limona nickend. „Im Folgenden solltest du dich nicht bewegen, da sind taube Füße oder dergleichen eher unpraktisch.“
Bahe nickte nun ebenfalls, soweit war er mit Limona einer Meinung. Welch Seltenheit, dachte er.
„Nun zu den Gründen, weshalb wir überhaupt hier sind“, begann Limona von Neuem. „Die Energie in deinem Körper ist stark von zwei Elementen Raoies geprägt, von der Erde und dem Wasser. Welche Überraschung…“, wedelte Limona dabei belustigt mit den Händen. „Schließlich sind Brocken und ich ja auch an dich gebunden. Das hat aber auch zur Folge, dass es dir schwer fällt neutrale Energie in deinem Körper zu finden. Normalerweise sind Elemente in den Körpern unerfahrener Menschen wesentlich schwächer ausgebildet. Hinzu kommt obendrein noch, dass du unfassbar viel Lebensenergie in dir versammelt hast. Wärst du kein Elementflüsterer, würdest du Gefahr laufen, jeden Moment vor unbändiger Macht zu platzen. Kannst du mir noch folgen?“
„Soweit komme ich mit“, bestätigte Bahe.
„Gut“, nickte Limona, obwohl sie ihn vorübergehend noch skeptisch musterte. Danach erklärte sie weiter: „Aus diesen Gründen sind wir hier her gekommen. Wir haben hier beide Elemente, sowohl Wasser als auch Erde, in ihrer reinsten Form vertreten. Du sitzt auf einem Felsen und damit auf dem Element Erde und lässt Wasser über dich fließen. Näher kannst du den Elementen nicht kommen, wodurch es für dich leichter wird Energie, die von eben diesen Elementen geprägt ist, wahrzunehmen.“
Bahe hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder bei Limonas Ausführungen.
„Brocken und ich werden dich bei diesem Prozess zusätzlich unterstützen. Aber glaube nicht, dass es einfach sein wird…“, pausierte Limona bedeutungsschwer, ehe sie fortfuhr: „Versuche für den Anfang zunächst mal alleine die Energie in dir und um dir herum wahrzunehmen.“
„Äh… und wie soll ich das machen?“
„Uff… ich vergesse immer wieder mit wem ich mich herum schlage…“, seufzte Limona, während sie sich an die Stirn fasste. „Schließ die Augen und versuche die Energie um dich herum zu erspüren.“
Auch, wenn er es schon viele Male hoffnungslos versucht hatte, kam er Limonas Worten nach. Aber da war einfach gar nichts… Er spürte wie sich sein Brustkorb beim Atmen bewegte... wie das Wasser des Baches ihm über die Schultern plätscherte… Sonst nahm er nichts wahr…
„Da ist nichts…“, meinte er zögerlich, stellte aber überrascht fest, dass Limona aufmerksam die Augen zusammen gekniffen hatte.
„Hmmm…“, nickte sie. „Es ist genauso, wie ich es mir gedacht habe. Versuche es nochmal und höre erst auf, wenn ich es dir sage.“
Bahe zuckte die Schultern und schloss erneut die Augen. Er atmete tief ein und aus und versuchte so gut es ging an nichts zu denken. Erneut war da nur das Wasser, das Felsgestein unter ihm und die Luft an den Stellen an dem ihn die anderen beiden Elemente nicht berührten. Was bezweckte Limona damit?
Grimmig verbannte er alle Zweifel aus seinen Gedanken und konzentrierte sich so gut es ging auf seine Umgebung.
„Spüre jetzt in dich hinein “, sprach Limona auf einmal ganz sanft. „Löse dich von allen Geräuschen und Gefühlen die von außen auf dich einströmen und konzentriere dich nur auf dich.“
Für einen Moment war Bahe von ihrem sanften Tonfall überrascht, kam dann aber ihren Anweisungen nach. Es war eine merkwürdige Erfahrung… Nach und nach verschwanden tatsächlich alle Umgebungsgeräusche und wurden durch ein leichtes Kribbeln in seinem ganzen Körper ersetzt. Gedanklich hielt er sich an diesem neuartigen Gefühl fest. Es war nicht zu vergleichen mit dem Kribbeln, wenn einem irgendwelche Gliedmaßen einschliefen… es war sanfter und doch wirkten die Stellen an denen er es verspürte so… lebendig… War das die Energie, die seinen Körper durchfloss?
„Sehr gut“, durchbrach Limona seine Konzentration. „Jetzt solltest du die Auswirkungen der Energie in deinem Körper verspürt haben. Du kannst aufhören.“
Neugierig öffnete Bahe die Augen. Was würde er wohl als nächstes erfahren?
„Brocken, ich brauche jetzt deine Hilfe“, wandte sich Limona an Bahes anderen Elementar.
„Schaffst du… es nicht alleine?“, meinte dieser mürrisch.
„Boar, jetzt hör schon endlich auf eigeschnappt zu sein!“, ereiferte sich Limona. „Balu ist doch gar nichts passiert!“
„Könnte es aber noch!“
„Dann hilf mir, damit unsere Dumpfbacke von Meister, demnächst etwas dagegen unternehmen kann!“
„Ist ja… schon gut…“, gab Brocken klein bei und erhob sich.
„Wieso muss Brocken helfen?“, fragte Bahe.
„Vorhin habe ich schon mal gesagt, dass du die neutrale Energie in dir nicht wahrnehmen kannst, weil dich die Elemente Erde und Wasser zu sehr geprägt haben. Genau das versuchen wir jetzt zu ändern. Brocken und ich werden die Energie, die sich in deinem Körper einem der beiden Elemente verschrieben hat, bündeln und dadurch mehr Raum für die neutrale Energie in deinem Körper schaffen. Diese musst du dann nur noch erfühlen können“, erklärte Limona. „Was zugegebenermaßen leichter gesagt ist als getan.“
„Du sagtest bereits, dass es dauern würde“, sagte Bahe, der immer noch hoffte vielleicht ein Ausnahmetalent zu sein.
„Genau, es wird dauern“, nickte Limona ernst. „Besonders, weil wir dir nur begrenzt helfen können. Die meiste Arbeit muss von dir kommen. Für den Anfang musst du erst mal lernen die verschiedenen Energien zu unterscheiden… Aber der Reihe nach“, winkte sie ab, als Brocken durch das Wasser gewatet kam und fügte hinzu: „Schließe erst mal wieder die Augen.“
Bahe beobachtete noch, wie sich Brocken an seine Seite auf einen der Felsen im Wasser setzte und ihm zu nickte, ehe er die Augen schloss.
„Fühle wieder in dich selbst hinein. Finde das Gefühl von vorhin wieder“, meinte Limona in sanftem Tonfall.
Begierig ignorierte Bahe seine Umgebung und konzentrierte sich nur auf sich selbst. Er war erstaunt, wie leicht er sich erneut in diesen Zustand hinein versetzen konnte.
Doch dann nahm er plötzlich zwei kleine Hände auf seinen Schultern wahr und hörte Limona sagen: „Wir versuchen uns jetzt mit dir zu verbinden. Das kann aber nur funktionieren, wenn du dich darauf einlässt. Eigentlich besitzt du unfassbar viel Energie für einen Anfänger, aber für unsere Verbindung ist selbst das noch zu wenig. Du wirst nur einen kurzen Moment durch unsere Augen schauen können. Hoffentlich erkennst du die Unterschiede schnell genug.“
„Bist du bereit?“, fragte Brocken.
Bahe nickte.
„Gut“, sagte Limona. „Dann fangen wir jetzt an.“
Gespannt wartete Bahe auf irgendeine Veränderung als er plötzlich etwas Unbekanntes an seinem Bewusstsein verspürte. Es war eine Art Licht, wenn er sich nicht täuschte… es fühlte sich an wie eine Mischung aus Umarmen, Zerren, Klopfen und Handreichen zugleich.
Dann erschien ihm plötzlich ein Benachrichtigungsfenster vor dem inneren Auge, welches ihn beinahe aus der Fassung brachte:
Limona und Brocken wollen von sich aus ihren Seelenbund mit dir aktivieren!
Stimmst du zu, werden deine beiden klassenspezifischen, legendären Fähigkeiten „Erdmaterie“ und „Wassermaterie“ aktiviert.
Du verfügst noch nicht über genug Mana, um auch nur eine der Fähigkeiten von dir aus aktivieren zu können. Erlaubst du deinen Elementaren, den Seelenbund zu aktiveren, kann es folgenschwere Konsequenzen für dich haben!
Aktivieren?
Ja? / Nein?
Bahe war zwar verblüfft, aber letztlich hatte Limona ihn ja bereits vorgewarnt. Ohne zu zögern erlaubte er die Aktivierung des Seelenbundes und konnte sich schon bald vor Verwunderung nicht mehr einkriegen.
Er hielt die Augen noch immer geschlossen, doch trotzdem sah er sich plötzlich selbst und obendrein aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Doch noch viel erstaunlicher waren die Farben die ihn in wolkenartigen Gebilden umgaben. Braun- und Blaufarbtöne sammelten sich je auf einer Hälfte seines Körpers, wodurch ihre Farben immer intensiver wurden. Waren das die elementgeprägten Energien?
Ein Gefühl der Ehrfurcht stieg in ihm auf, als er beobachtete wie sich die Farben verdichteten und sich plötzlich ein weißes, pulsierendes Leuchten aus seinem Innern heraus kristallisierte…
Doch dann wurde eins der Blickfelder auf einmal dunkel! Das andere Blickfeld wandte sich daraufhin schnell von seinem Körper ab und Bahe entdeckte wie Limonas Körper in erschreckend durchsichtiger Form zurück ins Wasser fiel. Dann verschwand auch das zweite Sichtfeld und eine Welle der Erschöpfung drohte sein Bewusstsein wegzuschwemmen.
Mit einem letzten Kraftakt schaffte er es seine Augen einen Spalt zu öffnen und sah, wie auch Brockens Körper viel durchsichtiger als sonst zusammen gesackt auf seinem Felsen lag. Dann fiel Bahe jedoch ebenfalls. Irgendwo im Innersten seines Unterbewusstseins schrie etwas auf, dass er nicht im Wasser ohnmächtig werden dürfte, doch er war zu keiner Regung mehr fähig. Er glaubte noch zu merken, wie er ins Wasser fiel, dann wurde es dunkel um ihn.
Kapitel 75 Die Quest zum Level-Up
Mit einem Hustenanfall kam Bahe überraschend zu sich, nur um sich gleich darauf einer warmglitschigen Zunge erwehren zu müssen, die ihm über das Gesicht fuhr.
„Uhä!“, spuckte er angewidert aus und kam zum Sitzen, als ihm klar wurde, wer dafür verantwortlich war.
Balu ließ es sich jedoch nicht nehmen weitere Versuche zu starten, Bahe seine Zuneigung spüren zu lassen und kletterte freudig auf Bahes Rücken, um dessen Gesicht erreichen zu können.
Nur mit Mühe konnte Bahe den jungen Bergbären schließlich dazu bringen, die hartnäckigen Zungenattacken endlich sein zu lassen und sich eine andere Beschäftigung zu suchen.
Als Balu damit begann auf verschieden große Felsenbrocken zu klettern, konnte Bahe endlich seinen eigenen Zustand genauer unter die Lupe nehmen.
Er war patsch nass und kalt war ihm auch. Mit einem Blick auf seine restliche Spielzeit, die ihm in seinem Charakterprofil angezeigt wurde, stellte er fest, dass er scheinbar eine knappe Stunde bewusstlos gewesen war…
Kein Wunder das ihm kalt war, wenn er solange in den nassen Sachen herum gelegen hatte…
Aber verdammt!
Ihm blieb nur noch eine halbe Stunde im Spiel!
Es war unglaublich, dass man sogar während der Spielzeit in Raoie ohnmächtig werden konnte, wie im realen Leben…
Tja, wie war das nochmal… Realitätsgrad von 98%?
Manchmal war es einfach nur nervig…
Er lag kaum einen halben Meter vom Bachlauf entfernt. In Anbetracht der Schleifspuren auf dem Boden seiner Position und der teilweise gerissenen Kleidung, war wohl Balu derjenige gewesen, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte.
Kopfschüttelnd betrachtete Bahe das Bergbärenjungtier, dass im kindlichen Spiel am herumtollen war. Wie wahrscheinlich war es denn, dass ihm quasi das Pet seines eigenen Pets das Leben rettete?
Auf jeden Fall musste Bahe sich in den nächsten Spielzeiten bei Balu revanchieren und ihm irgendeine Delikatesse mitbringen… Was die Frage aufwarf, was Bären denn gerne aßen? Honig?
Egal… Er würde sich später drum kümmern.
Bahes Elementare lagen nicht weit von ihm entfernt ebenfalls am Ufer, ihre Körper muteten jedoch beängstigend durchscheinend an.
Spätestens jetzt musste man sich fragen, inwiefern sie überhaupt realen Einfluss auf das Spielgeschehen nehmen konnten. Geister konnten normalerweise keinem Lebewesen Schaden zufügen... Vielleicht konnten sie diese erschrecken, wobei man sich dann fragen musste, ob alle Lebewesen sie gleichermaßen wahrnahmen?
Spieler scheinbar nicht… Aber was war mit anderen Lebensformen?
Jetzt wo er daran dachte… Hatte Brocken nicht damals die Wildwurzelkaninchen mit seinem Geschrei aufgeschreckt?
Auch den Luaris, die Wächterkreatur des Katharsees, hatten sie bändigen können. Allerdings hatte Limona damals behauptet, dass Brocken und sie doch so viel mächtiger als die Kreatur wären…
War das alles nur Geschwafel gewesen?
So oder so musste er warten bis sie aufwachten.
Ein kalter Luftzug ließ ihn plötzlich erzittern und Bahe beschloss sich zunächst mal um die wichtigste Angelegenheit zu kümmern, dem Anziehen von trockener Kleidung.
Mit euphorischer Genugtuung griff er in seinen Speichergegenstand und holte trockene Wechselklamotten heraus. Sein Gürtel war einfach sowas von praktisch… Einmal hatte er sich sogar schon in der Realität dabei erwischt, wie er versucht hatte mit einem Griff nach unten etwas zu Essen aus dem Nichts her zu zaubern…
Kopfschüttelnd musste er über sich selbst grinsen. Den Göttern sei Dank, hatte es niemand bemerkt…
Das Umziehen gestaltete sich dennoch als Kraftakt. Bahe fühlte sich noch immer unglaublich schwach auf den Beinen. Dabei waren seine Nahrungsbedürfnisse noch zu 88% gestillt. Mit einem weiteren Blick in sein Charakterprofil stellte er fest, dass sein Mana auf 0 gefallen war und er zudem unter einer negativen Statusmeldung litt.
Aufgrund einer Überbeanspruchung war seine Manaregeneration für die nächsten zwei Stunden ausgesetzt und seine Nahrungsbedürfnisse um das Vierfache erhöht!
Scheinbar war dies der Grund, weshalb er sich so hundeelend fühlte und es selbst nach dem Klamottenwechsel kaum besser wurde.
Außerdem wurde bei seinen beiden legendären Fähigkeiten nun ein Countdown angezeigt. Er würde sie erst wieder in einer Woche nutzen können. Nun… um genau zu sein, würden seine Elementare diese Fähigkeiten erst wieder in einer Woche aktivieren können. Er selbst hatte nicht nur zu wenig Mana, er konnte ja immer noch nicht damit umgehen.
Wozu hatten seine Elementare sich bloß so übernommen?
Fragen über Fragen…
Bahe brannte förmlich darauf endlich mehr erfahren zu können. Aber da sein Mana für diese Spielzeit völlig erschöpft war, konnte er sich das wohl abschminken.
Ungeduldig und entschlossen, die restliche Spielzeit nicht vollkommen zu verschwenden, ging er schließlich zu seinen Elementaren und stupste sie an.
Nichts…
Vorsichtig schüttelte er sie ein, zwei Mal und stellte erleichtert fest, dass sie sich allmählich rührten.
„Uh…“, kam Brocken stöhnend zu sich.
„…“, während Limona ihn nur schweigend anstarrte, ehe sie meinte: „Wehe unser Opfer hat dir nichts gebracht.“
Bahe grinste nur, Limona war ganz die Alte.
„Wie geht es euch?“, fragte er.
„Hmmm… als ob man mich… ewig durch die Luft geschleudert hätte…“, antwortete Brocken.
„Ich fühle mich, als ob man mich über irgendein Feuer zum Trocknen aufgehängt hätte“, murrte Limona genauso griesgrämig wie Brocken.
„Ihr seht irgendwie noch durchscheinender als vorher aus…“, meinte Bahe zögerlich.
„Das kommt daher… dass wir dir geholfen… haben“, erklärte Brocken. „Und du hattest… zu wenig Energie in dir…“
„Genau“, führte Limona weiter aus. „Da du nicht genug Energie bereitstellen konntest, obwohl du schon viel mehr hast als jeder andere normale Mensch mit deiner Erfahrung, mussten wir die restliche Energie bereitstellen.“
Hier legte sie eine bedeutungsschwere Pause ein und sagte danach todernst: „Wir sind bei der Aktivierung des Seelenbundes fast gestorben… So schwach habe ich mich Jahrhunderte nicht mehr gefühlt…“
„Ok… und wie kann ich euch helfen?“, fragte Bahe.
„Helfen…?“, wiederholte Brocken die Frage etwas schwer von Begriff.
„Ja, wenn ich der Grund bin, weshalb es euch so schlecht geht, dann ist es ja wohl das Mindeste, wenn ich euch helfe wieder gesund zu werden, oder?“, erläuterte Bahe.
„Siehst du… Limona? Er ist… ein guter Mensch“, stellte Brocken ganz versonnen fest.
Brocken hat sich sehr über dein Hilfsangebot gefreut!
Treue von Brocken +5
Jawohl! Es geht doch!
Schrie Bahe innerlich, war jedoch bemüht sich nach außen hin nichts anmerken zu lassen.
„Ja, ja, ist ja schon gut“, versuchte Limona es so aussehen zu lassen, als ob sie sich davon nichts annehmen würde.
Bahe kam jedoch nicht umhin zu bemerken, wie ein leichtes Rosa ihre Wangen zierte. Wollte da etwa jemand nicht zu den eigenen Gefühlen stehen?
Nicht, dass das Benachrichtigungsfenster, welches sich gerade geöffnet hatte, etwas mit Bahes Beobachtungsgabe zu tun gehabt hätte:
Limona hat sich sehr über dein Hilfsangebot gefreut!
Treue von Limona +5
Nein…
Das Benachrichtigungsfenster hatte mit Sicherheit nichts damit zu tun…
„Und? Wie kann ich denn jetzt dafür sorgen, dass es euch wieder besser geht?“, fragte Bahe ein zweites Mal, ohne weiter auf Limonas Verhalten einzugehen.
„Du musst uns eigentlich gar nicht helfen. Brocken und ich sind beide nur vollkommen erschöpft“, erklärte Limona. „Der Bach wird mir helfen wieder zu Kräften zu kommen, genauso wie Brocken das Erdreich des Waldbodens hilft. Morgen wird es uns schon wieder besser gehen.“
„Moment mal…“, meinte Bahe. „Wieso habt ihr euch Beide dann vorhin so gefreut?“
„Ich weiß nicht wovon du redest!“, antwortete Limona wie aus der Pistole geschossen.
„Brocken?“
„Ähm… Das… wird nicht ganz… so einfach werden…“, sagte Brocken.
„Was meinst du?“
„Na ja… uns wird es bald… schon wieder besser gehen… aber auf der anderen Seite… du bist noch viel… zu schwach, um dahin… zu kommen“, antwortete Brocken.
„Hä? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr… Und wo muss ich denn überhaupt hin?“, wollte Bahe wissen.
„Wir sind nur… vorübergehend geschwächt…“, erklärte Brocken. „Und was… deine Frage betrifft… Wir müssen… zu mehreren Orten. Es würde mir… helfen, wenn… wir zum Belungagebirge reisen…“, äußerte sich Brocken.
„Und mir wird es helfen, wenn wir die Ulana erreichen“, warf Limona dazwischen.
„Die Ulana…?“, fragte Bahe verwirrt.
„Das ist der Fluss, der durch die Drachenschlucht fließt“, erklärte sie knapp.
„Ähm… ja…“, gab Bahe von sich, der das Gesagte erst mal sacken lassen musste. Wovon faselten seine Elementare da?
„Jetzt guck doch nicht so…“, schüttelte Limona den Kopf, die Bahes Miene vollkommen fehldeutete. „Die Ulana fließt zwar durch die Drachenschlucht, aber der Teil zu dem wir müssen, liegt weiter Flussaufwärts und verläuft über normale Hügel und Felder. Dort ist der Zugang wesentlich leichter. Trotzdem wissen wir natürlich, dass du da vorerst nicht hinkommen wirst.“
„Moment mal… ich komme hier nicht hinterher…“, bemühte Bahe sich um sein Verständnis. „Was genau erzählt ihr mir hier eigentlich?“
„Ja, du wolltest doch wissen, wie du uns helfen kannst oder nicht?“, fragte Limona schnippisch.
„Ja, natürlich, aber wieso müssen wir dann zu diesen Orten?“
„Wenn wir da sind, erklären wir es dir“, meinte Limona mal wieder in ihrem lapidaren Tonfall.
Doch Brocken ließ es diesmal nicht auf sich beruhen und sagte: „Wir sind Elementare… soviel weißt du. Außerdem… siehst du ja… wie durchsichtig wir… sind. Du hast dich… ja immer schon… gefragt, wieso wir dir kaum helfen… oder?“
Bahe nickte eifrig, der heilfroh war, endlich ein paar Antworten zu bekommen.
„Das liegt daran, dass… wir in dieser Dimension erst… noch wachsen müssen“, erklärte Brocken. „Durch den Seelenbund… mit dir, ist es uns möglich … in dieser Dimension einen realen… Körper anzunehmen.“
„Den ihr aber noch nicht besitzt, oder?“, fragte Bahe dazwischen.
„Richtig“, stimmte ihm Brocken zu. „Wir sind bisher… nur für… dich sichtbar.“
„Aber wieso hat euch dann dieser Luaris gesehen?“
„Aus den gleichen Gründen, aus denen er auch auf uns gehört hat“, sagte Limona. „Wir sind die reinsten Elementarwesen Raoies und der Luaris hat eine sehr starke Verbindung zu den Elementen Erde und Wasser. Deswegen konnte er nicht nur unsere Gestalt wahrnehmen, sondern unterschwellig auch all die Macht, die wir eigentlich besitzen.“
„Und was ist mit den Wildwurzelkaninchen?“
„Da habe ich… viel von meiner Energie… eingesetzt, um mich… kurz bemerkbar zu machen“, antworte Brocken.
„Ok…“, dachte Bahe laut nach. „Also könnten euch theoretisch auch Menschen sehen, wenn ihr euch besonders stark anstrengt?“
„Nicht wirklich“, schüttelte Limona den Kopf. „Tiere sind für Energieformen wie uns empfänglicher. Menschen sind viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, als dass sie im Hier und Jetzt leben. Sie denken immer nur an all die Dinge, die sie erledigen müssen, dass die Gegenwart mit ihren Besonderheiten an ihnen vorbei gerauscht ist, ehe sie es merken.“
Nun ja… immerhin hatten sich gerade einige seiner Fragen geklärt. Doch ihm brannte die Nächste bereits wieder auf der Zunge.
„Brocken, du hast vorhin von Dimensionen gesprochen, bevor ich dich unterbrochen habe. Was meintest du damit?“
„Hmm… Wie erkläre ich… es am besten…“, murmelte er, bevor er zu erklären begann: „Zuvor befanden wir… uns immer in der Welt der Geister und Elementarformen, eine Welt… der energetischen Wesen. Viele Energiewesen überschreiten mit… der Zeit die Grenze zu dieser… Dimension Raoies, in der die physisch lebendigen Wesen… zu Hause sind. Doch die Wenigsten können länger… in ihr verbleiben… oder gar einen physischen Körper annehmen. Schon gar nicht… so Mächtige wie wir es sind. Es würde ein Ungleichgewicht… in die Welt Raoies bringen.“
„Und dabei seid ihr immer so auf das Gleichgewicht bedacht, nicht wahr?“
„Genau“, warf Limona ein und sagte: „Da dir der Idiot ja jetzt schon alles gesagt hat, kann ich genauso gut auch den Rest erklären.“
Nach einem vorwurfsvollem Blick zu Brocken fuhr sie fort: „Es ist nicht nur unsere Natur, sondern auch die Raoies, alles im Gleichgewicht halten zu wollen. Deswegen lässt sie so mächtige Wesen wie uns nicht einfach in die Welt der Lebenden hinein. Wir müssen hier wie jedes anderes Lebewesen wachsen und uns nach und nach unsere Kräfte aneignen. Und da kommst du ins Spiel. Du bist der Anker an dem wir uns gebunden haben. Der Anker, der uns in dieser Welt lange genug beschützen soll, bis wir selbst dazu in der Lage sind. Eine Aufgabe, die du so nebenbei bemerkt, bisher nicht wirklich erfüllt hast.“
Wieder pausierte sie, diesmal jedoch mit einem vorwurfsvollem Blick in Bahes Richtung und erläuterte dann weiter: „In dem Moment, in dem wir uns entschieden haben in diese Dimension zu kommen, haben wir uns verpflichtet gewisse Ungleichgewichte zu beseitigen. Für jedes Ungleichgewicht, das wir beseitigen, werden wir stärker. Jeder Bitte der Natur Raoies, die wir erhören, kann uns Flügel verleihen. Verstehst du was ich meine?“
„Hmmm… ich glaube schon“, bestätigte Bahe es mit einem Nicken. „Ungleichgewichte vom Element Erde zu beseitigen helfen Brocken und die vom Element Wasser zu beseitigen helfen dir?“
„Genau“, sagte Brocken heftig nickend.
„Aber was genau meint ihr denn mit Ungleichgewichten?“
„Bist du sicher, dass du es schon wissen willst?“, fragte Limona. „Schließlich wird es noch lange dauern, bis du soweit bist, dass du die entsprechenden Orte aus eigener Kraft aufsuchen kannst.“
„Limona, Brocken“, sprach Bahe beide seiner Elementare an. „Wenn ihr mir nicht sagt, was ich dort zu tun habe, kann ich mich doch auch nicht darauf vorbereiten. Umso mehr ich über die Aufgabe weiß, die ich dort vollbringen muss, umso eher können wir darüber nachdenken, wie es zu bewältigen ist.“
„Hmpf! Ausnahmsweise hat er mal recht…“, meinte Bahe Limona murmeln zu hören.
„Ein Ungleichgewicht… besteht dann, wenn irgendeine… Macht in den natürlichen Ablauf der… Dinge eingreift“, sagte Brocken.
„Was nichts anderes bedeutet, als dass jemand zum Beispiel die Lebewesen des Belungagebirges abschlachtet oder Erdelementare versklavt. Es kann alles Mögliche sein“, stellte Limona klar und zuckte anschließend die Schultern.
„Das ist… das Problem…“, nickte Brocken. „Wir spüren nur, dass… wir dorthin müssen… Mehr können wir… dir noch nicht sagen…“
„Ok…“, gab Bahe von sich, während er über das Gehörte nachdachte.
„Bist du denn… immer noch bereit uns… zu helfen?“, fragte Brocken.
„Aber natürlich“, versicherte Bahe.
„Du kommst also mit uns zum Belungagebirge und zur Ulana und hilfst uns einen Teil unserer alten Macht wiederzuerlangen?“
Berufsquest: Lasse deine Elementare in ihrer alten Macht erstrahlen! [S]
1. Teil der Reihenquest: Suche das Belungagebirge auf [F]
Finde einen Weg unversehrt zum Belungagebirge zu kommen.
Deine HP-Zahlen dürfen nicht unter 99% deiner maximalen Gesundheit fallen.
„Habe ich es euch nicht schon längst versprochen, Brocken?“, grinste Bahe, der beim Anblick des Benachrichtungsfensters beinahe in Freudensprünge ausgebrochen wäre und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: „Also ja, ich werde tun was ich kann, damit wir so schnell wie möglich dorthin kommen.“
„Großartig!“, freute sich Brocken sichtlich.
„Jetzt macht aber mal halblang… so schnell wird das alles nicht gehen…“, murrte Limona mehr, um in ihrer Rolle als Nerv tötende Spielverderberin zu bleiben, als dass sie es ernst meinte.
„Keine Sorge, Limona, ich kenne schon meine Grenzen“, lachte Bahe über ihr Verhalten amüsiert.
„Hmpf!“, gab Limona abwertend von sich und ging ein paar Schritte bis sie sich am Ufer des Baches ins Wasser legte.
In seinen Gedanken musste Bahe ihr jedoch zustimmen.
Seine Elementare hatten es durchaus richtig eingeschätzt. Allein das Belungagebirge lag schon viel zu weit südlich. Ohne die Karte der Wolfsunionsmitglieder wäre er niemals unbeschadet dorthin gekommen und auch der Rückweg wurde ihm nur dank des Tobsuchtsanfalls einer gigantischen Kreatur geebnet, welche die gesamte Umgebung Kilometerweit in Aufruhr versetzt hatte. Alle Monster waren damals geflohen und hatten ihm so ermöglicht am Leben zu bleiben.
Über die Stelle, die Limona umschrieben hatte, wollte er lieber noch gar nicht nachdenken. Wenn er es richtig im Kopf hatte, kreuzte ein großer Fluss tatsächlich das südlichste Ende der Drachenschlucht. Allerdings befand sich der Ort soweit südöstlich, dass er sich ohne Level 50 niemals dorthin wagen würde.
„Ah!“, fasste Bahe sich plötzlich an die Stirn, als ihm ein weiterer Gedanke kam. „Ich habe noch eine Frage!“
„Und die… wäre?“, wollte Brocken wissen.
„Als wir vorhin unseren Seelenbund aktiviert haben, waren diese farbigen, wolkenähnlichen Gebilde die elementgeprägten Energien?“
„Raoie sei Dank!“, rief Limona erschöpft aus. „Es war nicht umsonst!“
„Und dieses weiße, pulsierende Licht… war das die Lebensenergie, die ich erfühlen muss?“
„Genau“, grinste Brocken. „Einen kleinen… Fortschritt hast du also… schon gemacht.“
„Hmmm…“, nickte Bahe nachdenkend. Zumindest hatte er schon mal ein Bild vor Augen. Es machte den Prozess nicht einfacher, aber etwas bei einer Meditation visualisieren zu können stimmte ihn positiv.
„Meditiere so viel du kannst“, sagte Limona schläfrig. „Umso eher du ein Gespür für die reine Lebensenergie in dir bekommst, umso eher können wir dich ihre Nutzung lehren. Versuche die elementgeprägte Energie gedanklich zur Seite zu schieben und dich nur auf die reine Lebensenergie zu konzentrieren. Das ist der schwierigste Teil.“
„Hmmm…“, gab Bahe seine Zustimmung von sich und setzte sich sogleich in den Fersensitz, um einen letzten Versuch zu wagen. Er schloss gerade die Augen, als es ungewöhnlich schwarz um ihn herum wurde.
Keinen Moment später, öffnete sich ein helles Benachrichtigungsfenster vor ihm:
Deine tägliche Spielzeit in Raoie ist abgelaufen.
Du wirst nun automatisch ausgeloggt.
Kapitel 76 Harte Arbeit
In der Realität erwachte Bahe mal wieder leicht desorientiert, als sich das Dimensional Leap-System gerade wieder öffnete. Gähnend stieg er heraus und streckte sich.
Sich im Zimmer umschauend suchte er schnell seine Sportsachen zusammen und begab sich ins Badezimmer. Duschen lohnte sich noch nicht, da er gleich seine Trainerin treffen würde. Aber vom Schlaf und der Spielsezession verschwitzt, wollte er sich zumindest ein Bisschen frisch machen.
In kompletter Trainingskleidung trat er schließlich in die Küche. Seine Großmutter war ebenfalls schon auf und bereitete gerade Frühstück vor. Seitdem Bahes Mutter aus dem Krankenhaus entlassen worden war und zu Hause bleiben konnte, zauberte sie täglich eine Vielzahl an Speisen auf den Tisch. Congee, ein Reisbrei war immer dabei, auch wenn die Toppings von Tag zu Tag wechselten. Außerdem gab es mal wieder Baozi, welche nichts anderes als Dampfbrötchen waren und das, was Bahe bereits das Wasser im Mund zusammen laufen ließ, seitdem er die Küche betreten hatte, Jianbing.
Dabei handelte es sich im Grunde um eine Art Mischung aus Omelette und Crêpe, welche mit Frühlingszwiebeln, roter Bohnenpaste, Chilisoße und einer Vielzahl an Gewürzen besonders schmackhaft gemacht wurde.
Es gab ganze Restaurants, welche sich rein darauf spezialisierten, aber die Jianbings seiner Großmutter waren mindestens genauso gut.
„Guten Morgen Oma“, begrüßte er sie und beugte sich über ihre Schulter, um zu schauen, wie lange die Jianbings wohl noch brauchen würden.
„Ah, guten Morgen, Bahe“, antwortete sie und drückte ihn anschließend spielerisch weg. „Nicht so ungeduldig. Die Jianbings sind in einer Minute fertig.“
„Du machst aber viele“, staunte Bahe nicht schlecht. „Xue und Xiao schlafen doch noch, oder?“
„Ja, aber deine Mutter ist schon wach“, erklärte Lin. „Sie muss vernünftig essen, um wieder zu Kräften zu kommen.“
„Wenn du sie weiter so verwöhnst, wird sie noch dick und fett, Oma“, lachte Bahe.
„Oh… da hast du schon recht…“, meinte seine Großmutter nachdenklich und verzog spöttisch den Mund. „Vielleicht sollte ich lieber wieder darauf verzichten…“
„Nein, nein. Ist schon gut so“, wehrte Bahe rasch ertappt ab. „Ich glaube für ein paar Tage braucht sie die umfangreichen Mahlzeiten noch.“
„Ist das so…?“, hob Lin die Augenbrauen und musste sich sichtlich zusammenreißen nicht laut los zu lachen.
Bahe wandte sich lieber schnell ab. Es gab keinen Grund eine Schlacht weiterzukämpfen, die man nicht gewinnen konnte…
Er flüchtete sich ins Wohnzimmer, von wo er seine Mutter auf dem Balkon stehen sah und begab sich zu ihr.
„Du bist schon wach?“, fragte seine Mutter, als sie ihn bemerkte.
„Ja, nach dem Frühstück bin ich ja mit meiner Trainerin verabredet.“
„Trainerin, ja?“, kam es belustigt zurück.
„Mama…“, verzog Bahe gequält das Gesicht, was seine Mutter zum Lachen brachte.
„Ah…“, brach sie das Lachen jedoch abrupt ab und Bahe sah, wie sie sich an den Kopf fasste.
„Was ist los?“, fragte er besorgt.
„Nur die Kopfschmerzen“, meinte sie nach einem Augenblick. „Bei jeder kleinsten Anstrengung pocht in meinem Kopf, selbst wenn ich lache. Aber mach dir keine Sorgen. Das soll für die ersten ein bis zwei Wochen normal sein.“
„Hmmm…“
„Aber nochmal zurück zur Trainerin…“, ließ sie nicht locker. „Da läuft also wirklich nichts?“
„…“, Bahe war sprachlos. „Wer bist du und was hast du mit meiner Mutter gemacht?“
„Ja, was denn…?“, schmunzelte sie. „Es ist schließlich das erste Mal, dass du dich allein mit einem Mädchen triffst… und du nennst sie obendrein Meisterin!“
„Ich… ich gebe es auf…“, rang Bahe um Worte, während er die Hände in die Luft warf und zurück in die Küche flüchtete. Was nur einen weiteren, kurzen Lachanfall zur Folge hatte.
Lin war gerade mit der Zubereitung fertig geworden, als ihr Enkel wieder in die Küche platzte und eifrig den Frühstückstisch zu decken begann.
Das Gelächter auf dem Balkon war ihr nicht entgangen. Sie war so erleichtert, ihre Tochter wieder lachen zu hören, dass ihr beinahe der letzte Jianbing anbrannte. Über sich selbst grinsend, hob sie ihn schnell aus der Pfanne und würzte ihn nach.
Zwei Minuten später saßen sie zu dritt am Frühstückstisch und machten sich gemeinsam über das hauptsächlich warme Frühstück her.
„Má, hat Bahe dir auch davon erzählt, wer ihn von heute an trainieren wird?“, hörte Lin ihre Tochter fragen. Es wäre eine einfache Frage gewesen, wenn der Unterton nicht Bände gesprochen hätte.
„Ah, du meinst dieses Mädchen, oder?“, sprang sie sofort darauf an. Sehr zum Leidwesen ihres Enkels, der sie böse anstarrte.
„Genau“, sagte Sulin und ließ ihren nächsten Satz absichtlich verschwörerisch ausklingen. „Sie trainiert ihn ganz allein…“
„…“
Da ihr Enkel noch schwieg, setzte Lin noch einen drauf.
„Mir hat er erzählt, dass es seine Meisterin ist“, meinte sie ebenso verschwörerisch wie ihre Tochter und fügte noch hinzu: „Außerdem soll sie erst vierzehn sein…“
„Oh…“, gab Sulin gespielt überrascht von sich.
„Ihr habt Spaß daran, oder?“, hielt es ihr Enkel nicht mehr aus und äußerte sich genervt.
„Ist sie denn hübsch?“, ließ Sulin nicht locker.
„Mama!“
„Ich hoffe du überlegst es dir nochmal und ziehst dir bessere Klamotten an, Bahe“, sagte Lin und zuckte mit den Schultern. „Da wir jetzt sowieso schon Bescheid wissen, musst du auch keinen falschen Anschein mehr erwecken.“
„Ihr… ihr…“, rang ihr Enkel sichtlich um Worte.
„Was?“, grinste Sulin und auch Lin konnte ihre schadenfrohe Miene nicht verbergen.
„Vergesst es…“, sagte Bahe nur noch und begann wie wild sein Frühstück in sich hinein zu stopfen.
Lin versuchte mit Sulin zusammen ihren Enkel noch ein paar weitere Male aufzuziehen. Doch er ließ alles stillschweigend über sich entgehen, bis er in Rekordzeit aufgegessen hatte und unter ihrem lauten Lachen das Weite suchte.
„Danke, Má“, vernahm Lin wenig später ihre Tochter.
„Wofür?“
„Dafür, dass ihr euch um ihn gekümmert habt.“
„Er war doch die meiste Zeit gar nicht hier“, seufzte Lin, als sie gequält an die Zeit dachte, in der Bahe in irgendeiner Bruchbude gehaust hatte.
„Aber er hatte zumindest einen sicheren Hafen, an den er zurückkehren konnte“, meinte Sulin.
„Hmmm…“
„Er hat so viel für mich getan…“, sagte Sulin bewegt.
„Er hat so viel für uns alle getan, Sulin“, korrigierte Lin ihre Tochter.
„Ja, du hast recht“, nickte sie. „Bahe, Xue und Xiao sind alles was mir noch von Aurel geblieben ist. Unser Leben war ein so bescheidenes, bis ich ihn damals kennen gelernt habe. Ich habe mein Glück kaum fassen können, als ich ihn erkannte, dass er es wirklich ernst mit mir meinte, weißt du? Ich meine… ich, eine einfache Büroangestellte, geht plötzlich mit einen erfolgreichen ausländischen Geschäftsmann aus…“
Bedrückt hielt sie einen Moment inne und sagte dann den Tränen nahe: „Die wenigen Jahre, die ich mit Aurel hatte, waren wie ein Traum. Dann kam der Flugzeugabsturz und nach und nach verlieren wir durch meine eigene Dummheit wieder alles… Ich meine… Bin ich so naiv, Má?“
Als Lin sah, wie sehr es ihre Tochter schmerzte versagt zu haben, stand sie schnell auf und umarmte sie von hinten.
„Nichts davon ist deine Schuld, mein Schatz. Man lernt aus Fehlern sein ganzes Leben. Dein Vater und ich haben uns auch nicht vorstellen können, dass dieser verfluchte Shang uns die ganze Zeit nur etwas vorspielt…“
„Bahe ist wahrhaftig der Sohn seines Vaters“, meinte Sulin leise. „Er hat uns nie aufgegeben. Er litt viel lieber selbst als zuzulassen, dass ich diesen Tumor vielleicht nicht überlebe. Und all dieses Geld, welches er angeschleppt hat… Es wird nicht lange reichen, oder?“
„Mach dir darum keine Sorgen, Sulin“, meinte Lin zärtlich, als sie ihrer Tochter vorsichtig über den Kopf strich. „Dein Vater geht wieder arbeiten. Die nächsten Wochen deiner Reha-Behandlungen können wir noch finanzieren und danach müssen wir halt wieder etwas kürzer treten. Wie du schon sagtest, nichts, was wir nicht gewohnt sind.“
„Aber Pá wird auch nicht ewig für uns sorgen können“, äußerte sich Sulin besorgt.
„Es hilft alles nichts, wenn du dich jetzt verrückt machst, mein Schatz. Zu allererst musst du wieder gesund werden, dann kannst du dir einen Job suchen und uns auch unterstützen“, sagte Lin bestimmt. „Erinner dich an das, was die Ärztin gesagt hat. Eine positive Grundstimmung ist sehr förderlich für den Heilungsprozess, weißt du noch?“
„Ja“, nickte Sulin mit einem Lächeln. „Danke, Má.“
„Nicht dafür“, strich Lin ihrer Tochter noch einmal über den Kopf und setzte sich anschließend wieder an ihren Platz.
„Was glaubst du eigentlich?“, grinste Sulin. „Ist dieses Mädchen mehr als nur seine Trainerin?“
„Hmm…“, überlegte Lin für einen Moment, ehe sie lächelnd den Kopf schüttelte. „Ich glaube eher nicht. Bahe ist noch viel zu sehr damit beschäftigt, wie er uns unterstützen kann, als das er etwas mit Mädchen anfängt.“
„Dabei hätte er schon längst eine Freundin haben müssen. Er ist achtzehn!“, meinte Sulin bedauernd.
Lin wollte schon wieder etwas Aufmunterndes sagen, als sie den Schalk in Sulins Augen bemerkte. Wenn sie sich solche Gedanken, um ihre Kinder machen konnte, schien es ihr wirklich zunehmend besser zu gehen, dachte sie im Stillen und lächelte leise vor sich hin.
Bahe war nur zu froh gewesen vom Frühstückstisch verschwinden zu können. Seine Mutter hatte definitiv viel zu gute Laune für eine Frau, die noch vor kurzem vor dem Tode stand. Das seine Großmutter bei dem Thema um Huilan mitmachen musste, hatte dem Ganzen dann die Krone aufgesetzt.
Das sie auch immer gleich davon ausgingen, dass er anderweitige Interessen an einem Mädchen hatte, sobald er sich mal mit einem traf…
Frauen…
Vermutlich konnte der Weltuntergang gerade im vollen Gange sein und sie würden trotzdem noch jede Information über sein Liebesleben aus ihm heraus quetschen wollen…
Bahe schüttelte den Kopf. Als ob es in den letzten Monaten überhaupt etwas über sein Liebesleben zu berichten gegeben hätte… Er war so voller Sorgen gewesen, dass kaum einen Gedanken an das andere Geschlecht verschwendet hatte.
Zuletzt war es im Grunde genommen während seiner Schulzeit gewesen. Mit Feiying hatte er oft über die Größe bestimmter Körperregionen herum gealbert, nur um meistens böse Blicke der weiblichen Schülerschaft zu ernten, wenn sie mal wieder nicht diskret genug gewesen waren.
An die Erinnerung musste Bahe grinsen. Vollkommen unschuldig war er keinesfalls, manchmal hatten sich die Mädels durchaus zu recht beschwert.
Wobei ihm da gerade ein Gedanke kam… Hatten seine Hände in Roaie nicht zuletzt noch etwas zu greifen gehabt?
Das Gefühl von warmer Weichheit war erstaunlich real gewesen…
Verdammt, dachte er. Beim nächsten Mal musste er solch einen Moment mehr auskosten. Nicht, dass er es drauf anlegen würde, aber wenn schon, dann richtig, nicht wahr?
Was diese Geniella wohl jetzt gerade machte?
Eigentlich war es ihm egal. Hübsch war sie auf jeden Fall gewesen, aber ihre Art andere Spieler auszunutzen gefiel ihm gar nicht.
Ohne es wirklich zu merken hob sich nach und nach seine Stimmung und so genervt Bahe sich auch auf den Weg gemacht hatte, mittlerweile war seine Gereiztheit wieder guter Laune gewichen.
Er betrat gerade das Parkgelände, wo er sich mit Huilan treffen sollte. Nach fünf Minuten Fußmarsch über einen der Wege, kam er am verabredeten Wasserspiel an.
Bahe war sechs Minuten zu früh dran, aber Huilan wartete bereits auf ihn. Beim näher kommen, konnte Bahe jetzt nicht anders als seine Trainerin noch einmal genau in Augenschein zu nehmen.
Ihre vierzehn Jahre ließen ihre weiblichen Reize nicht unbedingt hervorstechen, aber sie waren durchaus vorhanden. Sie war definitiv eher der athletische Typ. Schlank, aber nicht dürr. Die eng anliegende Jacke ließ die kleinen Rundungen ihrer Brüste erkennen, die zu ihrer Figur passten. Über ihren Hintern, der in einer weiten Trainingshose steckte, konnte Bahe nur Vermutungen anstellen.
Doch es war ihr Gesicht, was ihn an meisten ansprach. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einer stylischen Kurzhaarfrisur frisiert, die im wilden Durcheinander abstanden und teilweise über die Stirn fielen. Zusammen mit ihren tiefbraunen Augen und den forschen, aber dennoch femininen Zügen, wirkte sie aufgeweckt und lebhaft. So ganz anders als die meisten chinesische Mädchen, die nur darauf bedacht waren ein perfektes Äußeres zur Schau zu tragen.
„Hallo Huilan“, begrüßte Bahe sie.
„Guten Morgen“, grüßte sie grinsend zurück und sagte gespielt bedrohlich: „Ich hoffe, du bist bereit, heute Höllenqualen zu erleiden.“
„Bitte habe Mitleid mit mir!“, flehte Bahe ebenso gespielt, was ihr ein Lachen entlockte.
„Ganz so einfach wird das aber nicht“, schüttelte sie den Kopf immer noch lächelnd, nur um daraufhin ernst zu werden. „Hast du die Liste mit Lebensmitteln dabei, um die ich dich gebeten habe?“
„Äh… ja“, antwortete Bahe und zog die Liste mit den Lebensmitteln, die sie zu Hause hatten, heraus.
„Gut“, nahm Huilan sie mit einem Nicken entgegen und fragte: „Und wie groß und schwer bist du?“
„Ich wiege circa 47kg.“
„Und die Größe?“
„1,62m…“, seufzte er deprimiert.
„Ok“, nickte sie als Zeichen ihres Verstehens und las aufmerksam die zusammen gestellte Liste der Lebensmittel.
„Alles klar“, meinte sie wenig später und sah ihn an. „Was weißt du alles über Training und Ernährung?“
„Nur das Übliche…“
„Und das wäre?“
„Man sollte sich ausgewogen ernähren und regelmäßig Sport treiben“, zuckte Bahe mit den Schultern.
„Und weiter?“
„Ähm… Bei der Ernährung sollte man darauf achten, dass ausreichend Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße aufgenommen werden und vor allem auch auf Vitamine und Mineralstoffe“, versuchte Bahe sein Glück.
„Und beim Sport?“, fragte Huilan unnachgiebig.
„Soweit ich weiß, sollte man nicht zu oft trainieren, höchstens dreimal die Woche oder so. Mehr weiß ich darüber nicht“, gestand Bahe.
„Ok“, nickte Huilan. „Für den Anfang war das gar nicht mal so schlecht. Aber du weißt schon, dass dein Gewicht nicht gerade gesund ist, oder?“
„Sicher, nur habe ich vor ein paar Wochen regelmäßig einige Mahlzeiten ausfallen lassen müssen, um für meine Familie Geld auftreiben zu können“, erklärte sich Bahe. „Mir war klar, dass ich das nicht ewig machen konnte.“
„Nicht ewig, du bist gut…“, schüttelte Huilan den Kopf. „Du bist extrem unterernährt, wenn ich mich nicht irre“, meinte sie ernst. „Die Mangelernährung ist vielleicht auch ein Grund dafür, weshalb du so klein bist, obwohl du ja europäischer Abstammung bist. Dabei ist das noch die kleinste… Nebenwirkung…“
Sie betonte das letzte Wort besonders stark, um ihn scheinbar auf den Ernst der Lage hinzuweisen.
„Was ich dir sagen will…“, setzte sie an und machte dann eine bedeutungsschwere Pause. „Wenn du so weiter gemacht hättest, wärst du wahrscheinlich in den nächsten Wochen zum ersten Mal zusammen gebrochen. Ein, zwei Mal hättest du das vielleicht noch überlebt. Aber danach hätte eine Anstrengung jederzeit tödlich enden können.“
Bahe brauchte einen Moment, um das Gesagte richtig verarbeiten zu können. Er war vollkommen baff.
„Ich…“, Bahe wusste gar nicht wie er darauf antworten sollte.
„Verstehst du jetzt, wie bedrohlich sich deine Mangelernährung auf dich ausgewirkt hat?“
„Ähm… ja… natürlich“, nickte Bahe aufgewühlt.
„Bevor wir mit deinem Training anfangen, werden wir dich deswegen erst mal wieder zu einem halbwegs unbedenklichen Gewicht bringen müssen“, erklärte Huilan. „Und da kommt jetzt spätestens die Ernährung ins Spiel.“
Soweit kam Bahe hinterher und nickte nur.
„Es gibt zwei grundsätzliche Regeln, die niemand wirklich brechen kann. Abnehmen kann man nur, wenn man weniger zu sich nimmt, als der Körper braucht und Zunehmen, indem man mehr, als der Körper braucht, zu sich nimmt“, stellte Huilan fest. „Im Großen und Ganzen kann man für jeden der beiden Prozesse sagen, dass neunzig Prozent die Ernährung ausmacht. Die anderen zehn Prozent sind dann der Sport, das Training, wie auch immer…“
„So viel?“, wunderte sich Bahe.
„Sicher, überlege doch nur mal. Was bringt es zu trainieren, wenn man direkt im Anschluss eine Pizza ist?“
„Nichts?“
„Nicht ganz“, sagte Huilan. „Das Training sorgt dafür, dass die Pizza relativ harmlos in deinem Körper abgebaut werden kann, ohne dass sich Fettpolster in deinem Körper anlegen. Es ist also nicht gänzlich umsonst. Aber auf der anderen Seite wird die Pizza deinen Körper nicht wirklich mit den Nährstoffen versorgen können, die er braucht. Vielmehr muss er sogar Energie aufwenden, um die Pizza zu verdauen und Muskeln können erst recht nicht aufgebaut werden.“
„Ok, wenn du es so formulierst“, musste Bahe ihr zustimmen.
„Deswegen wird es in nächster Zeit umso wichtiger sein, was du zu dir nimmst“, stellte Huilan klar. „Das Wichtigste ist, dass du zunächst ausreichende Mahlzeiten zu dir nimmst!“
„Keine Sorge, dass mache ich schon die letzten beiden Wochen wieder“, meinte Bahe und kratzte sich dann leicht verlegen den Kopf als er sagte: „Genau genommen habe ich schon ein Kilo zugenommen, seitdem ich wieder bei meiner Familie lebe.“
„Das ist überhaupt nicht schlimm!“, bekräftigte Huilan ihn. „Das ist vielmehr das Beste, was dir passieren konnte!“
„Na, dann…“, grinste Bahe.
„So gut es auch ist, ich habe mir deine Liste angesehen… und wir werden an einigen Dingen arbeiten müssen.“
„Was meinst du?“
„Es geht darum, was du wann zu dir nimmst“, sagte Huilan. „Gibt es bei euch regelmäßig traditionelles chinesisches Frühstück oder irgendwas Westliches?“
„Meine Großmutter macht immer chinesisches Frühstück.“
„Dann esse für die nächsten Wochen nur Congee. Ich will jetzt nicht total in die Details gehen. Das wäre für den Anfang zu viel. Aber kombiniere den Congee jeden Morgen mit etwas Obst und einer Hand voll Nüsse. Honig zum Süßen ist erlaubt. Aber verzichte, wenn es irgendwie möglich ist, auf Wurst oder Käse.“
„Congee? Die nächsten Wochen?“, fragte Bahe, der davon alles andere als begeistert war, da er normalerweise gerne etwas Herzhaftes zum Frühstück aß.
Huilan nickte und hob hilflos die Hände: „Das ist der beste Ratschlag, den ich dir geben kann.
„Wenn du meinst…“, gab sich Bahe deprimiert geschlagen.
„Es ist wirklich lebenswichtig, dass du dich daran hältst. Dein Körper ist total angeschlagen, er kann so fettige Mahlzeiten am frühen Morgen noch nicht richtig verdauen. Warst du nicht total schläfrig als du in der Bahn unterwegs warst?“
Jetzt wo sie das sagte…
Bahe konnte sich noch genau daran erinnern, wie er bereits auf dem Weg zu U-Bahn zunehmend schlapper wurde. In der U-Bahn selbst, hatte er darum kämpfen müssen, wach zu bleiben. Sonst machte er nach dem Frühstück immer eine Verdauungspause… Oder er ließ das Frühstück komplett weg…
„Du hast recht“, stimmte er Huilan schließlich zu. „Soll ich auch für Mittags und Abends irgendwas beachten?“
Huilan schüttelte den Kopf: „Nicht so viel auf einmal, für den Anfang ist das in Ordnung. Sobald dein Gewicht die fünfzig Kilo Marke überschreitet, können wir mit deinem richtigen Training anfangen und dann wird es auch Vorgaben für die anderen Mahlzeiten geben.“
„Alles klar“, sagte Bahe.
„Ah, eins noch! Iss bloß kein FastFood!“
„Ok, das sollte ich hinkriegen“, meinte Bahe erleichtert, der schon mit Schlimmeren gerechnet hatte. „Aber andererseits heißt das Alles jetzt, dass ich quasi noch mit dem Training warten muss?“
„Hehe“, lachte Huilan auf einmal diabolisch. „Du kannst vielleicht noch nicht regulär trainieren, aber mach dir keine Illusionen. Auf dich warten Wochen voller harter Arbeit!“
Sofort fühlte Bahe sich unbehaglich. Irgendwas sagte ihm, dass diesmal nicht alles an Huilans Verhalten gespielt war.
„Und was meinst du damit…?“, fragte er zögerlich.
„Hmmm….“, zog sie ihre Antwort künstlich in die Länge, ehe sie fragte: „Wie steht es um deine Dehnbarkeit?“
„Ähm… keine Ahnung“, musste er zugeben.
„Beuge dich mal mit gestreckten Beinen nach vorne und versuche den Boden zu berühren“, sagte Huilan.
Bahe kam der Aufforderung nach und beugte sich nach vorn. Seine Finger stoppten etwa eine Handbreite vor dem Boden. So sehr er sich auch streckte, dass Ziehen in der Rückseite seiner Beine wurde schnell zu schmerzhaft.
„Weiter komme ich nicht“, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Oha…“, seufzte Huilan und fasste sich fassungslos an die Stirn.
„Nicht gut?“, stellte Bahe die unnötige Frage.
„Ganz genau…“, schüttelte Huilan nur den Kopf. „Gar nicht gut. Ich muss mich korrigieren. Es werden nicht Wochen harter Arbeit, sondern Monate!“
Ja, klar… Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn er Mal ausnahmsweise schnelle Fortschritte machen würde…
„Womit kann ich denn nun anfangen?“, fragte Bahe deprimiert.
„Du…“, begann Huilan, nur um abzubrechen, sobald sie Bahes Gemütszustand bemerkte.
Mit zwei Schritten schnellte sie plötzlich an Bahe heran und rammte ihm mit voller Wucht ihre kleine Faust in den Bauch.
Mit einem Keuchen sackte Bahe überrascht zusammen und stützte sich mühsam mit den Unterarmen auf, um wieder zu Atem zu kommen.
„Ab sofort bist du mein Schüler!“, schnauzte Huilan ihn wütend an. „Die Schüler der Chin-Familie zeigen keine Schwäche! Und erst recht keinen schwachen Willen! Hast du mich verstanden?“
Bahe hatte immer noch mit den Nachwirkungen ihres Schlages zu kämpfen. Er wollte sich gerade räuspern, um danach endlich antworten zu können, als ihn diesmal ein Tritt von Huilan von den Knien riss und auf den Rücken fallen ließ.
„Ich habe gefragt, ob du mich verstanden hast?“, rief sie erneut.
Doch Bahe war noch viel zu sehr damit beschäftigt nach Luft zu schnappen. Der Tritt hatte seinen Brustkorb von der Seite getroffen und ihm die Luft aus der Lunge gepresst, so dass er diesmal noch viel weniger in der Lage war zu sprechen.
Huilan kannte jedoch kein Erbarmen. Ihr Fuß flog erneut heran und Bahe rollte sich instinktiv zur Seite. Um Haaresbreite wäre sein Brustkorb auch von der anderen Seite malträtiert worden, doch eben nur beinahe!
Grimmig rappelte er sich auf und starrte Huilan wutentbrannt an. Ja, er wollte trainiert werden, aber was dachte sie sich bitte dabei ihn nicht mal antworten zu lassen?
„Spinnst du…“, setzte er lauthals an, nur um ein weiteres Mal von ihr überrascht zu werden, als sie ihn am Kragen packte und mit einem Ruck zu sich heran zog.
„Schon viel besser!“, nickte sie dann, während sie ihm tief in die Augen blickte. „Sei wütend, wenn es dir hilft. Meinetwegen hasse mich, aber versinke nie wieder in deinem selbst ausgedachten Selbstmitleid. Du willst was ändern? Dann reiß dich zusammen und tu was dafür!“
Danach stieß sie ihn von sich und Bahe taumelte verblüfft einige Schritte zurück. Dieses vierzehnjährige Mädchen hatte dem kurzen Moment solch eine Intensität verliehen…
Geistesabwesend rieb er sich die Arme, über die sich noch immer eine Gänsehaut zog.
„Also, was soll es sein? Willst du weiter jammern?“
Bahe schüttelte nur den Kopf.
„Gut, dann können wir ja mit dem Training beginnen“, sagte sie harsch und wies ihn an: „Mache die gleiche Dehnübung noch mal. Beuge dich nach vorne, halte die Beine gestreckt und versuche den Boden mit den Fingerspitzen zu erreichen.“
Ohne zu zögern kam Bahe der Aufforderung nach.
„Jetzt halte die Position, bis ich dir weitere Anweisungen gebe.“
Für den Moment dachte Bahe nicht weiter nach und tat einfach wie ihm geheißen. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie Huilan sich auf einer nahegelegenen Bank niederließ und danach zu ihm herüber schaute. Bahe konzentrierte sich fast augenblicklich wieder auf seine Dehnübung. Es fehlte noch, dass Huilan dachte, er würde sie beobachten.
„Gleich ist eine Minute um. Du wirst die Übung aber mindestens noch eine weitere Minute halten, verstanden?“
Bahe nickte.
„Gut“, sagte sie und verfiel wieder ins Schweigen.
Auch Bahe schwieg und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die momentane Übung. Es war mehr als nur frustrierend die eigenen Fingerspitzen die ganze Zeit eine Handbreite über dem Boden zu sehen. Egal, wie sehr er sich anstrengte, seine Muskeln wollten einfach nicht nachgeben. Er wollte gar nicht an seine frühere Zeit im Schulsport nachdenken, wo es noch problemlos möglich gewesen war.
„So, das reicht. Richte dich auf und schüttel deine Beine aus.“
Fast hätte Bahe vor Erleichterung laut geseufzt, konnte sich in letzter Sekunde aber noch zusammen reißen. Kaum oben, wurde ihm aber schon ein Tritt gegen die Innenseite seines linken Fußes verpasst und Bahe krachte augenblicklich in eine Grätschhaltung. Mit Mühe fing er seinen Körper ab und richtete sich wieder auf.
„Du brauchst zu lange!“, herrschte ihn Huilan ein weiteres Mal an und baute sich ihm auf. „Streck deine Beine durch! Nein nicht so! Das Knie muss ganz durchgestreckt sein. Wofür hast du denn Ohren am Kopf, wenn du sie nicht benutzt! Richte deinen Oberkörper aus. Oh… willst du was sagen? Nein? Habe ich mir auch gedacht…“
Die nächsten Minuten vergingen mit Huilans herrischen Rufen und Anweisungen, während Bahe sein Bestmögliches tat, ihren Befehlen nachzukommen. Nach und nach vergingen Stunden, in denen Bahe eine Dehnübung nach der Anderen durchführte und nicht selten blieben neugierige Passanten stehen, um zuzusehen, wie eine Vierzehnjährige einen jungen Ausländer ununterbrochen zusammenschrie.
Zweieinhalb Stunden später beendete Huilan das Training endlich und verschwand nachdem sie ihm klar gemachte hatte, dass er besser am nächsten Morgen noch vor der Schule, um 6 Uhr hier aufkreuzen sollte.
Bahe sackte vollkommen erschöpft zusammen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass einfache Dehnübungen auf Dauer so anstrengend sein konnten.
Und verdammt noch mal! Das Huilan so streng sein konnte, wäre ihm auch nie in den Sinn gekommen. Er war vier Jahre älter als sie und doch hatte er sich nur zu schnell von ihr anschreien lassen und es als vollkommen normal akzeptiert.
Nachdem er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, breitete sich nach und nach ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
In dem einen Moment, in dem negative Gedanken mal wieder drohten sich seiner zu bemächtigen, hatte sie ihn mit Gewalt zurück in die Gegenwart geholt und ihn nicht einmal mehr Blinzeln lassen. Unerbittlich hatte sie ihn angetrieben und von einer Übung in die nächste befördert, wodurch er wenig später nicht mal mehr die Kraft gehabt hatte, sie innerlich verfluchen zu können.
Anweisungen waren von ihr gekommen und er hatte sie umgesetzt. So einfach war das.
„Scheinbar habe ich das gebraucht“, murmelte Bahe vor sich hin, als ein merkwürdiges Glücksgefühl von ihm Besitz ergriff. Er war vollkommen erschöpft, während er sich auf die Beine kämpfte und doch fühlte er sich irgendwie großartig.
Die irritierten Blicke der Einheimischen ignorierend, wabbelte Bahe schließlich mehr als das er ging, zurück zur U-Bahn-Station und machte sich auf den Weg nach Hause.
Wenn er Morgen früh bereits um 6 Uhr morgens hier sein wollte, dann würde er noch eine Stunde früher aufstehen müssen. Was andererseits auch bedeutete, dass er mit Raoie heute schon früher beginnen musste, wenn er seine vollen zwölf Stunden Spielzeit pro Tag ausnutzen wollte.
Trotz seines erschöpften Zustandes beschleunigte er seine Schritte daraufhin ein Wenig. Er hatte so viel zu tun und viel zu wenig Zeit wie es schien…
Mit einem Seufzen ließ sich Huilan auf ihren Sitz in der U-Bahn nieder und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Sie plagten Gewissensbisse, wie sie mit Bahe umgegangen war. Der junge Ausländer hatte eigentlich nichts falsch gemacht und doch war sie beinahe vollkommen ausgerastet.
Wenn Bahe nur nicht so deprimiert gewesen wäre... Dieser Moment… in dem er so in Selbstmitleid versunken war.
Sie hatte sofort an ihren Vater denken müssen. Genauso hatte er damals ausgesehen, als er begann zur Flasche zu greifen. Immer und immer wieder hatte ihr Vater einfach nur so da gesessen und stumpf und teilnahmslos vor sich hin gestarrt.
Als sich ihre Erinnerungen in Bahes Verhalten spiegelten, hatte sie einfach nicht mehr an sich halten können. Sie schrie ihm immer wieder ihre unterdrückte Wut entgegen. Jeder Schrei befreite sie ein Stück mehr von all dem Schmerz, den sie über Monate in sich hinein gefressen hatte. Bahe war nur ein Ventil, welches sie so dringend gebraucht hatte.
Umso länger sie darüber nachdachte, umso mehr schämte sie sich für ihr Verhalten. Bahe wollte sich verteidigen können und was machte sie? Sie nutzte sein Vertrauen aus, reagierte sich an ihm ab und fügte ihm obendrein noch körperliche Schmerzen zu…
Morgen…
Ja, Morgen früh würde sie ihre Rolle als seine Trainerin richtig erfüllen. Jetzt musste sie zunächst mal wieder zur Ruhe kommen.
Gequält lächelte sie, als sie stumm durch ihr Abteil blickte. Sie musste sich zusammen reißen. Es konnte ja nicht angehen, dass sie bald auch noch unter Depressionen litt. Sie war eine Chin. Eine Chin weinte nicht. Eine Chin war nicht traurig. Die Chin-Familie war immer guter Dinge, also war sie das auch!
Sich selbst Mut machend, straffte sie ihre Haltung und murmelte leise: „Eines Tages wird Pá auch ohne Alkohol auskommen können… Ganz bestimmt…“
„Haha, da kommt also einfach so ein Bursche dahergelaufen und meint doch tatsächlich mir den Geldbeutel stehlen zu können. Du hättest sehen sollen, wie sich der Knilch gewunden hat, als ich ihn am Handgelenk packte und soweit hochhob, dass nicht mal mehr seine Zehenspitzen den Boden erreichten, haha!“, lachte Tarat aus vollem Hals und ließ sich bequem auf einer Bank nieder. „Der Kerl hat zunächst mal seine wohlverdienten Ohrfeigen kassiert, ehe ich ihn anschließend gegen die nächste Hauswand geschleudert habe. Ich sage dir, irgendein Knochen ist da bestimmt zersplittert, zumindest dem Geräusch nach zu urteilen, haha. Aber da ist er halt selbst schuld, hehe.“
„…“, Bahe presste nur die Zähne aufeinander, während er sich krampfhaft darum bemühte, seine Haltung beizubehalten. Die „Bank“ auf der Tarat in diesem Moment saß, war nämlich nichts anderes als Bahe, dessen Aufgabe darin bestand in einer Liegestützposition zu verweilen.
Nach einigen qualvollen Sekunden erhob sich Tarat wieder und verpasste ihm einen leichten Klaps auf den Hintern, während er meinte: „Du kannst wieder aufstehen.“
Bahe wäre dem wohl nachgekommen, wenn der leichte Klaps Tarats nicht die Wucht einer ausgewachsenen Wildsau gehabt hätte und ihn zu Boden schleuderte.
- 10 HP
„Grr…“, mit Gewalt riss er sich zusammen und verfluchte innerlich diesen Grobian von Schwertkampfausbilder. Seit geschlagenen vierzig Minuten mühte er sich inzwischen mit diesem beschissenen Eignungstest Tarats ab. Dabei war er sich nicht mal sicher, ob Tarat diesen überhaupt mit jedem Anfänger durchführte. Für ihn wirkte es vielmehr so, als wolle sich Tarat dafür rächen, dass er Bahe umsonst ausbilden musste.
Bis zu diesem bescheidenen Eignungstest war der Tag eigentlich nur so verflogen. Nachdem er mit Huilan am Morgen trainiert hatte, war er schnellst möglich nach Hause gefahren und hatte einige Zeit mit seiner Familie verbracht, ehe er sich diesmal bereits am frühen Abend in sein Dimensional Leap-System legte.
Wieder in Raoie angekommen, hatte er die ersten dunklen Stunden bei seinen Elementaren im Wald mit meditieren verbracht, ehe er sich beim ersten Tageslicht in die Richtung des Trainingsgeländes von Waldenstadt aufgemacht hatte. Eigentlich hätte er es sich denken können, dass ihn dieser verfluchte Ausbilder härter ran nehmen würde, als andere Spieler. Aber das es so schlimm werden würde, dass Bahe zur vollkommenen Erschöpfung getrieben wurde… damit hatte er nicht gerechnet.
„Hey, du bist ja immer noch am Boden. Komm schon, aufstehen. Keine Müdigkeit vorschützen!“
Mühsam stand Bahe auf und straffte sich, als Tarat ihn streng in Augenschein nahm und anschließend einmal um ihn herum ging.
„Ich sag’s dir gleich. Von deiner Statur her bist du für den Schwertkampf eigentlich völlig ungeeignet. Du musst definitiv mehr auf die Rippen bekommen, also iss in nächster Zeit mehr. Sonst haut dich ja der kleinste Gegenwind um, hast du mich verstanden?“, fragte Tarat.
„Natürlich.“
„Gut“, nickte Tarat. „Dann werde ich jetzt auch meinen Teil der Abmachung einlösen und dich trainieren. Schließlich hast du soeben meinen Eignungstest bestanden.“
„Oh…“, gab Bahe erleichtert von sich.
„Freu dich mal nicht zu früh, Zahnstocher“, grinste Tarat durchtrieben, ehe er sich abwandte und auf eins der umstehenden Gebäude zuging.
„Komm mit!“, winkte er Bahe zu sich, während er weiter auf das Gebäude zu ging.
Bahe beeilte sich ihm hinterher zu kommen, während er seine immer noch erschöpften Gliedmaßen ausschüttelte. Wenig später betrat er kurz hinter Tarat das kleine festungsähnliche Gebäude, welches sich als Waffenkammer entpuppte.
Als sie in einer Halle ankamen, in der eine Vielzahl von Schwertern unterschiedlichster Art aufgereiht waren, sagte Tarat: „All diese Waffen fallen unter die Kategorie der Blankwaffen, genauer der Hieb- und Stichwaffen. Egal, ob Dolche, Kurzschwerter, Rapiere, Degen, Langschwerter und so weiter… du findest hier alles. Wichtig ist an dieser Stelle im Grunde nur, dass nicht jedes Schwert für Zahnstocher wie dich gleichermaßen gut geeignet ist. Normalerweise würde ich dich eingehender beraten was deine Waffe betrifft, aber du besitzt ja schon ein ausgesprochen gutes Stück. Lässt du mich mal sehen?“
„Ähm… ja, klar“, sagte Bahe und holte schnell sein Schwert aus seinem Speichergegenstand hervor.
„Hmmm…“, gab Tarat bewundert von sich. „Das ist so ziemlich das beste Schwert, welches man im Rang Gewöhnlich finden kann. Wo hast du es her, wenn ich fragen darf?“
„Eine mehrere Meter große Spinnenkreatur am Rande des Belungagebirges hatte dieses Schwert in ihrer Speicherdimension.“
„Eine mehrere Meter große Spinne? Am Belungagebirge? Ernsthaft?“, glotzte Tarat ihn überrascht an.
„Ähm… ja…?“
„Und du hast das überlebt?“, fragte Tarat immer noch vollkommen verdattert.
Bahe nickte und meinte achselzuckend: „Ja, schließlich stehe ich ja hier.“
„Bwuhaha!“, lachte Tarat laut los und klopfte ihm so fest auf eine Schulter, dass Bahe beinahe eingeknickt wäre. „Das ist mein Schüler! Nur die Besten lernen unter mir! Bwuhahaha!“
- 8 HP
Sich die Schulter reibend, bemühte sich Bahe um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck, auch wenn ihm allmählich die Geduld ausging. Kann dieser Bastard nicht mal seine Kräfte kontrollieren?
Er hatte in der letzten Stunde verdammte 43 HP verloren! Und das nur, weil dieser Kerl seine Kräfte nicht im Zaun halten konnte.
„Das solch ein Einfaltspinsel wie du tatsächlich eine Begegnung mit einer Granitfelsspinne überlebt!“, schüttelte offensichtlich amüsiert den Kopf. „Du kannst von Glück sagen, dass es scheinbar nur ein Jungtier war. Ansonsten hätte dich keine zehn Pferde schnell genug in Sicherheit bringen können.“
„Woher weißt du, dass es eine Granitfelsspinne war?“
„Weil es in der Region bekannter Weise keine anderen Spinnenarten von dieser Größe gibt“, antworte Tarat augenzwinkernd und meinte plötzlich: „Schau dir dein Schwert mal genau an. Ich wette, du hast es noch nicht wirklich einschätzen lassen, oder?“
„Nein“, schüttelte Bahe begeistert den Kopf, als er erahnte, was Tarat ihm wohl anbieten wollte. Prompt öffnete sich auch schon das Benachrichtigungsfenster:
Schwert der Nacht
Rang: Gewöhnlich
Beschreibung: Ein Schwert aus ausgezeichnet verarbeitetem, schwarzem Stahl der Eisberge. Ein Stahl der besonders für seine Widerstandsfähigkeit geschätzt wird.
Wert: 10 Silbermünzen
Effekt:
Angriff +49
Kraft +2
Schnelligkeit +2
Haltbarkeit: 100%
„Danke dir, Tarat!“
„Ach, wofür denn“, winkte er ab und sagte mit einem diabolischen Grinsen: „Auch ein gutes Schwert wird dich nicht vor dem wichtigsten Teil einer jeden Waffenausbildung bewahren, Anael...“
„Und… der wäre?“, stellte Bahe schließlich die Frage, als er begriff, dass Tarat extra darauf wartete.
„Harte Arbeit, Bwuahahaha!“, lachte er lauthals los und machte sich daran die Halle zu verlassen. „Worauf wartest du noch? Jetzt kommt das richtige Schwertkampftraining! Mach dich auf wochenlange Quälerei gefasst! Denn ich, Tarat Derenir, habe große Ansprüche an meine Schüler! Bwuahaha!“
Der Kerl wäre echt sowas von einem Kandidat für die beste Bösewichtlache, dachte Bahe und machte sich resigniert daran Tarat zu folgen. Es half scheinbar alles nichts… Kaum war er mit der Quälerei zu den Tutorials fertig, folgte dem nicht nur harte Arbeit in Raoie, sondern auch im realen Leben…
Er hatte zwei Wochen, um die Reihenquest bei Olar starten zu können. Bis dahin musste er Tarats Training absolviert haben… Besser er fing an, machte er sich selbst Druck und kam nicht umhin an Huilan zu denken, wie sie ihn heute Morgen noch angetrieben hatte.
Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.
Langsam fing er an, seiner Meisterin alle Ehre zu machen, oder?
Teil 2/2!
RiBBoN
Kapitel 77 So einschüchternd bin ich doch gar nicht, oder?
Tarat führte ihn anschließend zu einem neuen Bereich auf dem Trainingsgelände. Überall standen menschliche Attrappen herum, die seltsam viel Ähnlichkeit mit Vogelscheuchen aufwiesen. Einzig ihre Aufmachung unterschied sie von solchen. Während die ein oder anderen nur aus Strohballen bestanden, waren ausgewählte Exemplare auch mit Lederharnischen, Kettenhemden, Rüstungen und dazugehörigen Helmen ausgestattet.
Bisher waren noch keine weiteren Spieler oder NPCs zu sehen, wahrscheinlich war es einfach noch zu früh.
„Willkommen auf dem Trainingsplatz der Schwertkämpfer!“, rief Tarat begeistert und wies mit einer Handgeste auf das umliegende Gelände. „Hier wirst du die Grundsätze des Schwertkampfes lernen. Du wirst die geballte Kraft erfahren, die in all deinen Bewegungen steckt, als auch die feinen Kniffe, welche dich lehren werden richtig mit ihr umzugehen.“
Bahe fasste sein eigenes Schwert dabei noch einmal fester und nickte begeistert. Er konnte es gar nicht mehr abwarten, sich auszuprobieren.
„Die letzte Dumpfbacke, die ich unterrichten durfte, hat doch tatsächlich gedacht, dass man beim Schwertkampf den Gegner nur vor sich her treibt und dabei mit Schlägen eindeckt. Was natürlich vollkommener Schwachsinn ist“, bemerkte Tarat abfällig und schaute Bahe ernst an. „Wenn ich dich trainiere, dann ernsthaft. Ich habe hohe Ansprüche, also gibt es bei mir keine Spielereien. Vor allem nicht, wenn ich die ganze Sache hier um sonst mache, verstanden?“
„Klar“, antwortete Bahe.
„Gut“, nickte Tarat und sagte: „Fangen wir an. Erste Lektion, der Schwertkampf besteht zu gleichen Teilen aus Ausdauer, Koordination, Konzentration, Kraft und Schnelligkeit. Will dir jemand etwas anderes weismachen, hat diese Person keine Ahnung. Im Klartext heißt das, dass bei einem Schlag von oben, dem sogenannten Oberhau, nicht nur die Arme, die das Schwert führen, wichtig sind, sondern auch die Fuß- und Beinarbeit. Kannst du mir noch folgen?“
Diesmal nickte Bahe.
„Ja, klar…“, schnaubte Tarat. „Der Theorie kannst du folgen, aber kannst du es auch praktisch umsetzen? Wohl eher nicht.“
Danach ging er auf einer der Strohpuppen zu und fasste ihr an die Schulter, ehe er zu erklären begann: „Diese Attrappe hier, wird für die nächste Zeit dein Trainingspartner sein, Anael. An ihr wirst du dich am Oberhau versuchen und gleichzeitig deine Beinarbeit trainieren. Die Beinarbeit ist zunächst das Wichtigste an der ganzen Sache. Auf den Schlag kommt es nicht an, verstanden?“
„Wieso ist die Beinarbeit denn so wichtig?“
„Gute Frage“, lobte Tarat und trat ein paar Schritte von der Strohpuppe zurück. „Schau mal her.“
Anschließend vollführte er mit seinem eigenen Schwert einen Schlag von oben hinab auf die Strohattrappe. Das Schwert sauste mit voller Wucht durch die Attrappe hindurch, teilte sie in zwei und krachte in den Erdboden.
„Wow…“, brachte Bahe hervor, der die Wucht hinter dem Schlag förmlich gespürt hatte.
„Ähm… Habe meine Kräfte unterschätzt….“, kratzte Tarat sich vor Verlegenheit am Kopf. „Wir nehmen einfach eine neue Attrappe…“
Erst jetzt verstand Bahe, dass Tarat es wohl gar nicht beabsichtigt hatte, die Strohpuppe zu ruinieren und musste sich sein Grinsen verkneifen.
„Hier, nehmen wir die“, wies Tarat diesmal auf eine Attrappe in voller Rüstung und nahm wieder seine Grundposition ein. Danach führte er seinen Schlag zum zweiten Mal aus. Erneut fraß sich das Schwert durch die Menschenattrappe und schnitt dabei durch die Rüstung als wäre sie weich wie Butter. Das Ergebnis war eine weitere zerstörte Trainingsattrappe.
„…“ Bahe war sprachlos… Machte der Kerl das extra?
„…“, Tarat guckte dabei jedoch nicht minder verblüfft aus der Wäsche.
„Was zum Henker!“, schrie Tarat dann plötzlich aufgebracht und machte seiner Frustration Luft. „Wer hat mir diese scheiß Qualität verkauft?! Da will man hier eine einfache Übungsdemonstration starten und die Dinger zerfallen wie die Knochen meiner Großmutter!“
Bahe konnte nur amüsiert den Mund halten. Fehlte noch, dass er für Tarat das Fass zum Überlaufen brachte.
„Arg, verdammt, bevor ich noch so ein Ding demoliere, machen wir es einfach ohne“, entschied Tarat genervt und wandte sich an Bahe: „Also, schau her und pass auf.“
Danach vollführte er dein Schlag ein weiteres Mal und schaute anschließend Bahe an.
„Hast du es gesehen?“
„Ich denke schon…“, meinte Bahe, der nicht so ganz wusste, worauf Tarat hinaus wollte.
„Gut, dann schau dir auch diesen Schlag an“, verlangte Tarat und machte sich an eine erneute Ausführung des Schwertschlags. Diesmal bewegte er sich jedoch dabei und machte ein, zwei Schritte in Angriffsrichtung. Sein Schwert peitschte jedoch nicht schneller als zuvor durch die Luft.
Nachdenklich runzelte Bahe die Stirn. Es sollte ja um die Beinarbeit gehen. War der Raumgewinn so wichtig? Klar, zum Ausweichen… Aber hier ging es doch um eine Angriffsbewegung… Auswirkungen auf die Wucht des Schwertschlags schien die Bewegung auch nicht gehabt zu haben...
Bahe war verwirrt.
„Und was war der Unterschied?“, fragte Tarat.
„Du hast dich vorwärts bewegt.“
„Genau, aber was noch?“
„Na ja… der Schlag mit dem Schwert sah genauso heftig aus, wie zuvor… Da gab es keine Unterschiede mehr.“
Tarat grinste: „Hehe, du hast es also nicht gesehen.“
Jetzt verstand Bahe gar nichts mehr.
„Ich habe mich nicht nur nach vorn bewegt, sondern auch leicht zur Seite“, erklärte Tarat.
„Halte dein Schwert mal in beiden Händen vor dir in dieser Grundstellung“, bat er Bahe und machte die Grundhaltung vor.
Bahe folgte seinen Anweisungen, stellte sich passend auf und nahm das Schwert so in beide Hände, dass die Spitze schräg nach oben zeigte.
Tarat stellte sich gegenüber von ihm auf und demonstrierte seinen Schlag diesmal etwas langsamer. Fast augenblicklich erkannte Bahe den Knackpunkt. Wäre Tarat einfach auf ihn zugelaufen, hätte Bahe, durch eine einfache Streckung der Arme, sein eigenes Schwert in Tarats Brust stoßen können, ehe dieser überhaupt seinen Schlag vollführt hätte.
Indem Tarat also nach rechts tänzelte, konnte er Bahes Schwertspitze ausweichen und gleichzeitig nah genug heran kommen, um mit seinem Schwertschlag einen Treffer zu landen.
„Hast du es jetzt gesehen?“, fragte Tarat.
„Ja, du bist zur Seite ausgewichen, um meinem Schwert entgehen zu können.“
„Genau“, nickte Tarat ernst. „Nur durch gute Beinarbeit sicherst du dir in einem Kampf Mann gegen Mann einen Vorteil. Selbstverständlich kannst du durch gute Beinarbeit auch deinen Schlägen und Hieben mehr Kraft verleihen. Ich habe das nur nicht gezeigt, weil dies schon zu weit geführt hätte.“
Und wahrscheinlich hättest du auch wieder irgendetwas zerstört… Dachte Bahe im Innern grinsend.
„Nun zu deiner Aufgabe…“, zog Tarat die Spannung in die Länge und lächelte schadenfroh.
„Du wirst an einer der Strohattrappen anfangen und den Oberhau etwa zwei- bis dreihundert Mal üben. Aber denke daran, dass dein Fokus auf der Beinarbeit liegen soll.“
Tarat demonstrierte jeden einzelnen Schritt mehrmals und erläuterte auch, wie das Schwert von oben, leicht schräg gehalten, nach unten geführt wurde. Es gab mehrere Formen des Oberhaus. Mal wurde das Schwert beim Oberhau weit nach hinten gehoben, mal nur über den Kopf, mal mehr oder mal weniger schräg gehalten… Dazu kam dann noch die Beinarbeit, die im Grunde aus einem Nachstellschritt bestand. Aber all das in kurzer Zeit erklärt, forderte Bahes Konzentration doch sehr.
„Tarat, ich denke, ich habe alles verstanden. Aber sag mal, wieso bringst du mir ausgerechnet diesen Schlag bei?“, fragte Bahe. „Ich meine… Dieser Oberhau ist eine so offene Schlagart, jeder menschliche Gegner kann die Lücken in meiner Verteidigung doch problemlos ausnutzen.“
„Damit du genau zu dieser Erkenntnis selbst kommen konntest“, sagte Tarat sichtlich mit ihm zufrieden. „Es kommen ständig junge Leute zu mir, die heroische Schwertkämpfer werden wollen und glauben, mit solch mächtigen Hieben, Kämpfe gewinnen zu können. Diese erste Lektion soll dir zum Einen die Wichtigkeit der Beinarbeit verdeutlichen und zum Anderen die Schwächen in großen Angriffsbewegungen aufzeigen.“
„Ok, dass macht Sinn“, stimmte Bahe zu.
„Dennoch kann es immer mal die Situation geben, dass ein solcher Schlag von oben von Nutzen sein kann und da der Oberhau so ziemlich die einfachste Angriffsform des Schwertkampfes ist, fange ich gewöhnlich damit an“, erklärte Tarat noch weiter. „Oh, und dann wäre da noch eine dritte Sache. Hast du dich je gefragt, wieso nicht jeder Mensch Magier werden möchte?“
„Äh… nicht wirklich…“, antwortete Bahe, dem dieser Gedanke tatsächlich noch nie gekommen war. Worauf wollte Tarat hinaus?
„Hat es nicht damit zu tun, dass viele Menschen für die Profession der Magier ungeeignet sind?“, fragte Bahe schließlich.
„Da liegst du falsch. Für Menschen, die eine schlechte Affinität mit den Elementen haben, ist noch lange nicht alles verloren. Sie sind nur entweder auf glückliche Umstände angewiesen oder werden sehr viel länger brauchen, um sich den Elementen zu nähern. Aber letztendlich kann jeder Mensch ein Magier werden“, sagte Tarat. „Was dann allerdings zu der Frage führt, wieso nicht jeder Mensch Magier wird, wenn diese doch so mächtig sind, nicht wahr?“
„Stimmt…“, gab Bahe zu.
„Komm mal mit“, wies Tarat ihn an und ging mit ihm zusammen zurück zur Waffenkammer. Bahe folgte ihm bis in die hinterste Ecke des Gebäudes. Hier lag normalerweise alles im Dunkeln und wurde nur von einer Kerzenlampe, die Tarat mit sich trug, erleuchtet. Zu Bahes Erstaunen, zog Tarat plötzlich an einer Fackelhalterung, wodurch sich die Wand an der Stelle zurückzog und den Blick auf eine steinerne Treppe freigab, die nach unten führte.
Oha! Bahes Augen glitzerten sofort begeistert, als er begriff, dass sich hier eine seltene Gelegenheit auftat.
„In der Regel müssen sich die jungen Leute erst beweisen, bevor ich die ein oder anderen hier hinunter führe“, sagte Tarat und begann die Treppe hinab zu steigen. „Aber bei dir mache ich mal eine Ausnahme. Du bist tatsächlich der Erste, der mich sofort darauf angesprochen hat, wieso ich ihm unsinniges Zeug beibringe, anstatt abzuwarten, haha. Diejenigen die es bisher bemerkten, haben sich nie getraut mich direkt damit zu konfrontieren, haha.“
Da schnellte er plötzlich herum und fragte Bahe mit zusammengekniffenen Augenbrauen: „So einschüchternd bin ich doch gar nicht, oder?“
„Äh… nein… natürlich nicht…“, stotterte Bahe vor Schreck.
„Wusste ich es doch! Haha!“, lachte Tarat und ging weiter.
Verdammt nochmal…
Wenn Tarat nur wüsste wie gruselig das gerade gewesen war, dachte Bahe und atmete tief durch. Der Bastard musste diese Kerzenleuchte bei seiner Frage natürlich genau unter sein Gesicht halten. Jeder Horrorstreifen ließ da grüßen… Soviel zu nicht einschüchternd…
Nachdem er sich halbwegs beruhigt hatte, folgte er Tarat weiter hinunter. Die Treppe führte kreisförmig hinunter und war zwar nicht übermäßig lang, aber als sie schließlich in einer Art Halle ankamen, war sich Bahe ziemlich sicher, dass sie sich mindestens drei Stockwerke unter der Erde befanden.
„Warte kurz“, meinte Tarat und ging ohne auf eine Antwort von Bahe abzuwarten weiter.
Bahe sah nur, wie sich die einzige Lichtquelle nach und nach weiter von ihm entfernte, bis sie schließlich verschwand und ihn in vollkommener Dunkelheit zurückließ.
Es war seltsam so plötzlich in der Finsternis zu stehen. Fast augenblicklich beschleunigte sich seine Atmung, nur um sich kurze Zeit später wieder zu beruhigen, als er sich innerlich immer und immer wieder sagte, dass die Treppe direkt hinter ihm war. Selbst, wenn Tarat nicht zurückkäme, würde er den Rückweg auch alleine finden. Notfalls auf Händen und Knien mit langsamen vortasten.
Dann erstrahlte die Halle auf einmal in hellem, weißlichem Licht vieler Kristalle, die an den Wänden und der Decke angebracht waren.
Bahe seufzte aufatmend und staunte nicht schlecht, dass die Halle doch noch um einiges größer war, als anfänglich von ihm gedacht.
„Beeindruckend, nicht wahr?“, fragte Tarat, der an einem Ende der Halle hinter einer Säule hervor gekommen war.
Bahe nickte nur und sah sich um. Die Halle erstreckte sich über mindestens achthundert Meter in der Länge und dreihundert Meter in der Breite. Nie im Leben hätte er damit gerechnet so viel freien Raum unterhalb der Erde zu finden.
Über die ganze Länge der Halle waren immer wieder kreisförmige Steinformationen im Boden zu erkennen und auch die Wände ließen entsprechende Muster erkennen.
„Dies hier ist die Trainingsstätte für uns Ausbilder oder auch für all diejenigen, die außerordentliches Talent bewiesen haben“, fuhr Tarat fort. „Und wir sind hier, um deine Frage vollständig beantworten zu können.“
Tarat stellte die Kerzenlampe auf den Boden ab und trat erneut hinter die Säule, hinter der er zuvor schon einmal verschwunden war. Es dauerte nicht lang, da kam Leben in eine der kreisförmigen Flächen auf dem Hallenboden. Die Steine in der Kreisformation glühten auf und wuchsen zu einer Art Mauer, welche sich in die Höhe erhob. Kaum einen Moment später trat Tarat wieder hinter der Säule hervor und stellte sich mitten auf eine kreisförmige Fläche die sich an seinem Ende der Halle befand.
„Bleib dort stehen und bewege dich ja nicht“, sagte er und fügte nach einem Moment mit einem Augenzwinkern hinzu: „Oh, und ich würde dir empfehlen bei meiner nächsten Aktion genau hinzuschauen.“
Direkt danach zog er sein Schwert und hob es über den Kopf. Bahe erkannte ohne Probleme die Grundhaltung des Oberhaus. Doch dann war Bahe auf einmal wie gebannt. Verblüfft schaute er auf das Schwert Tarats, welches in einem gräulichen Licht erstrahlte.
Es dauerte nur ein paar Sekunden bis die Intensität des Lichtes ihren Höhepunkt erreicht hatte. Dann schrie Tarat plötzlich auf und riss das Schwert mit aller Kraft nach vorn herunter. Doch damit war es nicht getan. Das gräuliche Licht schoss von seinem Schwert davon und flog mit unfassbarer Geschwindigkeit auf die Mauer zu. Mit einem Krachen prallte das Licht schließlich gegen die Mauer und eine Staubwolke breitete sich aus.
Vor Neugierde brennend, musste Bahe abwarten, bis sich der Staub gelegt hatte. Doch die Mauer stand noch!
Verwirrt schaute er zu Tarat, der bereits auf ihn zukam und seine Enttäuschung scheinbar bemerkte. Amüsiert verzog dieser seinen Mund zu einem Grinsen und meinte erneut augenzwinkernd: „Warte ab.“
Teil 3/7!
RiBBoN
Kapitel 78 Teilerkenntnisse
Bahe wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Mauer zu und entdeckte wie die obere Hälfte plötzlich an zu wanken begann. Kurze Zeit später krachte der obere Teil nach vorne hinunter und sorgte für eine zweite Staubwolke, während Bahes Gedanken rasten.
Es war klar, dass er hier gerade einer Fähigkeit der Schwertkämpferklasse begegnet war und einer verdammt mächtigen noch dazu! Würde er diese Fähigkeit auch lernen?
Begeistert schaute er zu Tarat, welcher ihn selbstzufrieden angrinste.
„Nicht schlecht, was?“
Bahe nickte eifrig und fragte: „Was muss ich tun, um das auch zu können?“
„Haha“, lachte Tarat und schüttelte nur den Kopf. „Träum weiter, als ob so ein Zahnstocher wie du, einen solchen Schlag ausführen könnte.“
„Wieso denn nicht?“
„Darum ging es hier doch gar nicht“, ignorierte Tarat die Frage. „Es sollte dir vielmehr aufzeigen, wieso nicht jeder Mensch Magier werden möchte. Ist dir das klar geworden?“
„Weil Schwertkämpfer auch Fernkampfattacken erlernen können, die den Zaubern der Magier ebenbürtig sind?“, gab Bahe das Offensichtliche augenverdrehend von sich.
„Ganz genau. Wirst du gut genug in deiner Profession, ist es vollkommen egal, welche Richtung du eingeschlagen hast“, meinte Tarat ernsthaft. „Egal, ob Bogenschütze, Schwertkämpfer, Schmied oder Bauer. Sie alle haben die Möglichkeit Techniken zu erlernen, die es ihnen ermöglichen, den Kampf gegen einen Magier zu gewinnen.
„Das verstehe ich ja, aber was muss ich können, um diese Technik zu erlernen?“
„Du lässt auch nicht locker, was?“
„Ja, was erwartest du denn nach dieser Darbietung von gerade eben?“
„Hehe, ich wusste, dass meine Ausstrahlung etwas besonderes ist“, fühlte Tarat sich bestätigt und hakte die Hände in seinen Schwertgürtel ein. „Aber so einfach ist es nicht. Du musst nämlich dein Mana perfekt beherrschen können. Kannst du das schon?“
„War ja klar…“, seufzte Bahe. „Nein, kann ich noch nicht.“
„Siehst du?“, zwinkerte Tarat ihm zu. „Außerdem dürfte ich dir diese Technik nur dann beibringen, wenn du dich der Profession der Schwertkämpfer verschreibst.“
„Oh…“, verstand Bahe, dass es hier keinen Sinn machte nachzuhaken.
„Aber ich könnte sie dir noch ein paar Mal zeigen, rein zu eigenen Trainingszwecken, versteht sich“, zuckte Tarat die Schultern und grinste verschmitzt.
„In der Tat, dass könntest du. Du würdest mir ja auch absolut nichts beibringen“, bestätigte Bahe seinen Ausbilder.
„Allmählich verstehst du, dass es keinen Sinn macht mir zuzuschauen.“
„Ganz genau, es ist einfach vollkommen sinnlos.“
„Na, wieso vertreiben wir uns dann mit diesem absolut sinnlosen Unterfangen nicht noch ein Bisschen die Zeit?“, stellte Tarat die Frage in den Raum und begab sich zurück zu der Steinformation am Ende der Halle.
Er verschwand erneut kurz hinter der Säule und wenig später erwachten plötzlich mehrere Steinformationen in der ganzen Halle zum Leben. Überall erhoben sich Mauern verschiedener Dicke auf magische Weise aus dem Boden und bildeten offensichtlich Ziele für Tarats Schwertkampftraining.
Die folgenden Minuten waren von dem Krachen und Zerbersten steinerner Mauern geprägt und erlaubten Bahe ein fürs andere Mal Tarats Technik zu beobachten.
Es war faszinierend.
Bei jedem Hieb löste sich dieses gräuliche Licht von Tarats Schwert und Bahe war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um Element geprägtes Mana handelte. Wenn er sich nicht irrte, dann nutzte Tarat das Element Luft, um seine Attacken schneller und wuchtiger werden zu lassen.
Es war kein Zauber, wie ihn die Magier ausführten. Zumindest soweit er das mit seiner geringen Erfahrung in Raoie bisher sagen konnte. Aber Tarat nutzte nichts desto trotz Mana, um eine Attacke über weite Entfernungen zu schmeißen, was eigentlich nicht möglich sein sollte.
Nach einer halben Stunde kam Tarat schwer atmend zu ihm zurück und sagte: „Boar, ich bin fix und fertig.“
Der Kommentar brachte Bahe zum Grinsen.
„Verbrauchst du bei dieser Technik Mana?“
„Ja“, nickte Tarat. „Aber es ist kein Zauber. Vielmehr nutzt man das eigene Mana, um die physischen Auswirkungen des Schlags zu verstärken.“
„Also, bringt Magieresistenz nichts dagegen?“
„Gut aufgepasst“, freute sich Tarat.
„Hmmm…“
„Aber so gut wie sie aussah, ist diese Technik gar nicht, Anael“, meinte Tarat und fragte erwartungsvoll: „Kannst du mir sagen, wieso?“
Bahe überlegte kurz und antwortete dann: „Dieser Hieb braucht Zeit in der Vorbereitung? In einem Kampf kommt es auf jede Sekunde an, aber hier hast du jedes Mal mehrere Sekunden still gestanden, ehe du ihn ausgeführt hast.“
„Sehr gut, hahaha!“, lachte Tarat los. „Das ist mein Schüler!“
„Ich habe doch gar nichts gesehen…“, zuckte Bahe nur die Schultern.
„Bwuahaha! Natürlich, natürlich, mein Schüler hat überhaupt nichts gesehen! Bwuahaha!“, grölte Tarat nach Bahes Kommentar nur noch lauter los.
„…“, Bahe schüttelte nur belustigt den Kopf. Wie konnte dieser Ausbilder bloß ständig so schnell zwischen seinen Verhaltensweisen wechseln?
„Aber jetzt mal ernsthaft“, meinte Tarat prompt, nachdem er sich beruhigt hatte. „Ich bin eine absolute Niete in der Ausführung dieser Technik. In einem Kampf kann ich solche Angriffe vergessen. Aber dennoch gibt es ihre Vorzüge. Denn im Gegensatz zu menschlichen Gegnern wissen Tiere und Monster nicht, mit was sie es zu tun haben und stürmen oft wie wild auf dich zu. Mit dieser Art von Attacken kannst du gefährlichen Kreaturen den ersten Schlag versetzen, ehe sie überhaupt an dich heran kommen und in seltenen Fällen, kann ein solcher Schlag den Kampf beenden, bevor er überhaupt begonnen hat. Damit meine ich nicht ausschließlich den Tod der gegnerischen Kreatur. Monster mögen weniger intelligent sein als Menschen, aber sie haben ein weit besseres Gespür für nahende Gefahr. Oftmals konnte ich mit einer solchen Attacke langen und ungewissen Kämpfen entgehen. Manchmal ist Bluffen besser als Durchhaltevermögen.“
„Da steckt so viel Wucht hinter jeder Attacke und du bist trotzdem noch eine Niete?“, fragte Bahe mit hochgezogenen Brauen.
„Na ja… Niete ist vielleicht übertrieben“, gab Tarat zu. „Aber für die Meister und Großmeister der Schwertkämpfer sind solche Attacken nicht schwerer als ein Fingerschnippen. Es geht eher darum, dass es ihnen möglich ist, solche Angriffe besser zu kontrollieren. Sie brauchen nur einen Sekundenbruchteil, um einen entsprechenden Schlag auszuführen und können ihn so auch in Kämpfen mit menschlichen Gegnern einsetzen.“
„Also… es ist kein magischer Angriff, oder?“, fragte Bahe nachdenkend.
„Nein.“
„Aber wie wehrt man sich dann dagegen?“
„Ah, jetzt verstehe ich“, meinte Tarat und erklärte: „Diese Angriffe sind mächtig, keine Frage. Aber letztlich kannst du sie mit deinem Schwert abblocken, mit der gleichen oder einer mächtigeren Attacke negieren oder du weichst aus. Natürlich hängt das alles auch von der Qualität deines Schwertes und deiner Verteidigung ab. Ablenken ist immer besser als blocken… Aber das führt jetzt zu weit. Du solltest froh sein, dass ich heute ein dringliches Bedürfnis verspürte, trainieren zu gehen…“
Zum Schluss beendete er seine Ausführungen mit einem Augenzwinkern.
Bahe seufzte.
Immer nur diese Teilerkenntnisse…
Aber zumindest hatte er heute eine Vorstellung von möglichen Techniken der Schwertkampfklasse bekommen. Noch dazu auf einem Niveau, welches die wenigsten Spieler wohl zu dieser Zeit vollbringen konnten.
Er besaß bereits eine legendäre Berufsklasse, was es schwierig machte Techniken anderer Berufsklassen zu erproben, ohne die eigene Berufsklasse aufgeben zu müssen. Wenn man noch eine Standard Berufsklasse besaß, war es kein Problem diese zu wechseln, um andere Klassen kennen lernen zu können und sich gegebenenfalls um zu entscheiden. Hier verlor man nichts. Aber sobald man eine Spezialisierung oder versteckte Berufsklasse entdeckte, würde man diese für immer verlieren, wenn man sich vorübergehend einer anderen Klasse zuwandte.
Bahe würde einen Teufel tun und seine legendäre Berufsklasse wegschmeißen, nur weil er auf Schwertkampftechniken neugierig geworden war. Er hatte von Anfang an eine magische Klasse wählen wollen, nur hätte er nie gedacht, dass diese legendäre Berufsklasse es ihm am Start so verdammt schwer machen würde…
„Wie dem auch sei“, riss Tarat ihn aus seinen Gedanken. „Du solltest jetzt wirklich nach oben gehen und an einer der Attrappen trainieren. Übe immer wieder den Oberhau und achte auf deine Beinarbeit. Führe Beides zusammen dreihundert Mal richtig aus und du kannst für die nächste Lektion zu mir kommen, verstanden?“
Quest [H]
Erfolgreiches Ausführen des Oberhaus
Der Ausbilder Tarat Derenir erwartet von dir 300 richtige Ausführungen des Oberhaus samt Beinarbeit an einer der Attrappen auf dem Ausbildungsgelände. [H]
Status: 0/300
„Klar“, bestätigte Bahe.
„Gut“, zeigte sich Tarat zufrieden. „Ich muss hier noch das Licht ausmachen, als geh ruhig schon vor. Und wer weiß… Vielleicht hat dir meine Demonstration ja doch die ein oder andere Einsicht beschert.“
Bahe ließ sich das nicht zweimal sagen und rannte schnell nach oben. Er schnappte sich eine einfache Attrappe mit Lederharnisch und begann seine Trainingsreihe.
Wie war es noch gleich gewesen?
Zunächst die Schrittstellung, danach das Schwert hoch führen, anschließend als Erstes das Schwert in Bewegung setzen und unmittelbar darauf die richtige Schrittabfolge zur Unterstützung des Oberhaus.
Bahe schwang sein Schwert dabei leicht schräg nach unten und traf die Übungsattrappe ziemlich genau da, wo sich im Normalfall das Schlüsselbein befunden hätte. Im Gegensatz, zu den Kreaturen im Tutorial, durchschnitt sein Schwert das Hindernis diesmal nicht. Stattdessen spürte er den Aufprall in seinen Handgelenken. Beinahe hätte er sein Schwert sogar fallen gelassen. Die starken Vibrationen des Schwertes in den Fingern trafen ihn völlig unerwartet. Es war, als ob sich ein taubes Gefühl in seinen Fingergliedern ausbreiten würde, nicht unähnlich der Prellung des Ellenbogens. Denn auf das Taubheitsgefühl folgte schnell ein unangenehmes Kribbeln von den Fingerspitzen bis hin zu den Handflächen.
Mit etwas Mühe hob er sein Schwert von der Attrappe, ließ es nach unten sinken und schüttelte sich die Hände aus. War das normal?
Nun, er würde es gleich heraus finden…
Doch nach den nächsten Schlägen musste Bahe sich eingestehen, dass er den Schwertkampf wohl unterschätzt hatte. Selbst mit reduzierter Wucht blieben die Vibrationen des Heftes bestehen. Es dauerte nur nicht solange, bis das Taubheitsgefühl verschwunden war.
Hoffentlich gewöhnte er sich schnell daran, dachte er zerknirscht.
Wie sich heraus gestellt hatte, musste er den Oberhau nämlich mit voller Wucht durchführen, um die dreihundert richtigen Ausführungen zu erreichen. Der Questeintrag in seinem Charakterprofil hatte nur Hiebe gezählt, die er mit voller Kraft absolviert hatte.
Seufzend hob er erneut sein Schwert und machte sich daran die Schläge umzusetzen. Die ersten zehn, zwanzig Hiebe ließen seine Hände, Handgelenke und Unterarme aber bereits so stark brennen, dass er eine Pause einlegen musste.
Mit einem Blick in sein Charakterprofil kontrollierte er währenddessen seine Fortschritte.
„Haa… erst zwölf richtige Ausführungen?“, rief er aus. Scheinbar hatte er sich bei den anderen Hieben nicht richtig konzentriert.
Widerwillig hob er sein Schwert erneut über den Kopf und brachte sich in Ausgangsstellung.
„Wie bin ich nur darauf gekommen, dass es leichter als das Bogenschießtraining sein würde…“, murmelte Bahe.
Dann legte er von vorne los.
Sein Dimensional Leap-System war noch im Begriff sich vollständig zu öffnen, da war Bahe schon hell wach. Ein Wunder, wenn er die Uhrzeit auf seinem Smartphone in Betracht zog. Verdammte fünf Uhr morgens!
Schnell eilte er ins Badezimmer, machte sich frisch, schlüpfte in Trainingsklamotten und ging leise in die Küche. Schließlich waren zu dieser Uhrzeit selbst seine Großeltern noch nicht wach. Mit ein paar schnellen Handgriffen kochte er sich seinen Congee zusammen, süßte ihn noch mit Honig und schnitt sich eine Pluot[i] in zwei Hälften auf und entfernte den Kern.
Nüsse hatte er noch keine zu Hause, die würde er sich heute nach der Schule kaufen müssen.
Mit seiner schnellen Mahlzeit setzte er sich an den Frühstückstisch und schaufelte sich das Essen in den Mund.
Es schmeckte ihm schon, etwas Besonderes war es allerdings auch nicht. Zumal Bahe sich nicht sicher war, wie er in ein paar Wochen über dieses Essen denken würde… Mehrere Wochen nur Reisbrei… bäh… irgendwann musste ihm das doch zum Hals raushängen…
Nun ja… noch war es nicht soweit.
Die Pluot schmeckte ihm gut und für einen kurzen Moment genoss er richtig die fruchtige Süße auf der Zunge.
Danach rang er für einen Augenblick mit sich, ob er spülen sollte oder nicht. Schließlich entschied er sich dafür. Schlechte Angewohnheiten kamen viel zu schnell zurück, wie er sich selbst eingestehen musste. Also verpasste er sich kurzerhand einen geistigen Arschtritt und säuberte sein Frühstücksgeschirr, ehe er alles wieder weg räumte, Schuhe und Jacke anzog und die Wohnung verließ.
Den Weg zur U-Bahn legte er noch im Dunkeln zurück, es waren aber schon die ersten Pendler überall auf den Straßen und den Fußgängerwegen zu sehen. Im morgendlichen Gewirr schlängelte er sich schnellstmöglich zur U-Bahn-Station und verpasste natürlich gerade so seine Bahn.
„Der Tag fängt ja schon gut an…“, brummte Bahe und ließ sich auf einer nahegelegenen Bank nieder. Die nächste Bahn würde erst in zehn Minuten kommen. Wenn er später von der Station zum Park etwas zügiger ging, würde er immer noch pünktlich am Treffpunkt sein.
Für ein paar Minuten beobachtete er das rege morgendliche Treiben in der U-Bahnstation. All die Pendler, die zur Arbeit fuhren, um ihren Familien ein gutes Leben zu ermöglichen. Ihr Anblick brachte ihn in Gedanken unweigerlich zur Situation seiner eigenen Familie. Ja, das Schlimmste war überstanden, aber eben noch nicht alles.
Zurzeit verdiente nur Bahes Großvater Geld, seine Mutter würde noch einige Zeit ausfallen, ehe überhaupt an Arbeit zu denken war. So gute Fortschritte sie in ihrer Erholung auch machte.
Er selbst war in Raoie bisher auch noch völlig unbrauchbar… Es wurde Zeit, dass er endlich mal auf Monsterjagd ging und Artefakte fand, die er an spendable Spieler oder gar Sammler verkaufen konnte.
Seine letzte Spielzeit hatte er zum Großteil für das Schwertkampftraining und das Erspüren des eigenen Manas genutzt. Der Rest des Tages war für das Jagen von Wildwurzelkaninchen, dem Zubereiten einer Mahlzeit als auch für einen erneuten Besuch der Bibliothek drauf gegangen.
Training schön und gut… aber langsam hatte er das Gefühl auf der Stelle zu treten. Er musste schneller voran kommen, wenn er seiner Familie helfen wollte… und zwar dringend!
Mit einem metallenen Quietschen fuhr in diesem Moment endlich seine Bahn in die Station und Bahe stieg hastig ein, um möglichst noch einen Sitzplatz zu ergattern.
„So ist es gut“, bemerkte Huilan, nachdem Bahe seine Beine ein Wenig mehr durchgestreckt hatte. „Denke immer dran, es gibt hier keinen Wettkampf. Wenn du schummelst, schadest du nur dir selbst.“
Bahe nickte und atmete gepresst, während er sich soweit er konnte in der Grätsche befand und versuchte die Hände am Boden abzustützen.
Er war gerade noch rechtzeitig gekommen zum Treffpunkt im Park gekommen. Die Sonne ging gerade erst auf und die Wiesen des Parks waren teilweise noch in leichtem Dunst und Nebelschwaden gehüllt gewesen.
Huilan hatte sich für ihr gestriges Benehmen entschuldigt, was Bahe gelinde gesagt ziemlich überrascht hatte. Das Image einer harten Trainerin war für ihn seit jeher mit asiatischer Kampfkunst verbunden gewesen.
Scheinbar war das nur ein Klischee vom Feinsten, was?
Im Anschluss sie ihn erneut bei all seinen Dehnübungen angeleitet. Diesmal jedoch wesentlich entspannter und ausführlicher.
„Wenn du dich demnächst zu Hause dehnst, halte deine Übungen immer mindestens dreißig Sekunden. Ansonsten haben Dehnübungen nämlich keinen Effekt“, erklärte sie gerade. „Besser sind natürlich fünfundvierzig Sekunden oder eine Minute.“
„Alles klar“, antwortete Bahe, der gerade mit leichtem nach vorn Wippen versuchte, seine Handflächen auf den Boden zu bekommen.
„Oh und lass das vor und zurück Wippen sein!“, ermahnte sie ihn streng. „Das ist gefährlich für deine Bänder. Du holst dir eher eine Zerrung als das es dir nützt. Geh auch nie über dein Limit hinaus. Was du heute nicht schaffst, wird Morgen vielleicht schon anders sein. Aber wenn du dich überlastest, kann es passieren, dass dein Körper seine Bänder noch weiter zusammenzieht und du noch stärkere Verkürzungen deiner Muskeln davon trägst.“
„Echt jetzt?“
„Jep, der Körper merkt irgendwann, wenn die Muskeln kurz vor dem Zerreißen stehen“, sagte Huilan. „Für solch einen Notfall sorgt er für einen kurzen Moment der totalen Entspannung, ehe er sie dann mit aller Gewalt noch viel fester zusammenzieht, um eine größere Verletzung zu vermeiden. Und genau deswegen ist das Wippen beim Dehnen so gefährlich. Ok, kannst hoch kommen.“
„Endlich!“, sagte Bahe erleichtert und kämpfte sich aus der Grätsche heraus. „Es wird noch ewig dauern, bis ich meinen Fuß mit ausgestrecktem Bein über Kopfhöhe heben kann.“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Ja, muss ich das nicht für Kung Fu können?“
Huilan lachte laut auf, während Bahe seine Beine ausschlackerte.
„Nein… also schon… aber Kung Fu kann man auch mit weniger Dehnbarkeit lernen. Fürs Erste reichen deine kleinen Fortschritte völlig aus“, meinte sie beruhigend. „Die Dehnübungen machen wir aus gesundheitlichen Gründen. Ja, Dehnbarkeit hilft bei jedem Kampfsport und jeder Verteidigungstechnik. Aber es geht vor allem auch darum, dass du dich demnächst beim Training nicht so leicht verletzt. Verkürzte Bänder und Muskeln sorgen dafür, dass du viel verletzungsanfälliger bist. Sind die Sehnen und Muskeln in deinen Beinen verkürzt, kannst du dir viel schneller Knieverletzungen zuziehen und das Gleiche gilt auch für alle anderen Gelenke im menschlichen Körper.“
„…“, Bahe nickte nur knapp. Unfassbar, was dieses Mädchen alles in ihrem Köpfchen hatte…
„Worauf wartest du noch? Ab in die nächste Übung! Leg dich auf den Boden und spreize die Arme ab, anschließend versuchst du mit einem Fuß deine Hände zu berühren.“
„Ich mache ja schon…“, brummte Bahe und begab sich auf den Boden. Er musste noch vierzig Minuten von dieser Quälerei aushalten… Und das Schlimmste war, er hatte es sich selbst auferlegt…
Teil 4/7!
RiBBoN
[i] Pluots sind Früchte des Pluotbaumes. Eine Kreuzung aus japanischer Pflaume und der Aprikose. Pluots sind schmackhaft, aromatisch und sehr, sehr süß.
Kapitel 79 Das Meme und seine Auswirkungen
Erschöpft und sich immer noch wie ein Wackelpudding fühlend, kam Bahe schließlich wieder zu Hause an. Es war dabei nicht mal ein unangenehmes Gefühl. Auf merkwürdige Art und Weise fühlte er sich nach jeder Trainingseinheit zum Dehnen besser als vorher. War es der Gedanke etwas für die eigene Gesundheit getan zu haben?
Bahe zuckte die Achseln. Es war schlicht und einfach neu für ihn.
„Da bist du ja endlich!“, rief seine Großmutter, als er durch die Wohnungstür trat. „Du hast nicht mehr viel Zeit, du musst in zwanzig Minuten schon zur Schule los.“
„Ich weiß, Oma“, versicherte Bahe seufzend, er war extra von der U-Bahnstation nach Hause gerannt und jetzt noch verschwitzter als zuvor.
„Dann mach, dass du in die Dusche kommst“, meinte sie. „Brauchst du noch was zu Essen für die Schule?“
„Hmmm… Kannst du mir ein Bisschen Obst und Nüsse einpacken?“, fragte Bahe.
„Solange du überhaupt etwas isst… ich bin mir nicht sicher, ob dieses Mädchen weiß, wovon sie spricht…“, murmelte seine Großmutter finster drein blickend.
„Oma…?“, fragte Bahe und hob die Augenbrauen.
„Ich mach ja schon, Obst und Nüsse werden es sein…“, gab sich seine Großmutter resigniert geschlagen.
Bahe grinste nur und lief gleich ins Bad, krallte sich sein Duschhandtuch und schälte sich mühsam aus seinen Trainingsklamotten. Die Dinger klebten in ihrem feuchten Zustand viel zu sehr. Wenig später lief ihm bereits das warme Wasser über Kopf und Gesicht.
Es amüsierte ihn immer noch wie widerstrebend seine Großmutter gestern eingewilligt hatte, dass er sich an Huilans Grundsätze für seine Ernährung hielt. Ihrer Meinung nach, sollte er möglichst schnell große Mengen in sich hinein stopfen. Was es war, war ihr zwar egal, aber nur Obst, Nüsse und Congee waren aus ihrer Sicht keine geeignete Lösung um möglichst schnell einige Pfunde mehr drauf zu bekommen. Und das, um es mal in ihren Worten zu sagen, hatte er wohl mehr als nötig.
Aber das sogar seine Mutter für Huilans Methode offen gewesen war, hatte Bahes Großmutter beinahe um den Verstand gebracht. Dabei ging es ja eigentlich nur um das Frühstück. Zu den anderen Mahlzeiten aß er ganz normal.
Scheinbar konnte sich seine Großmutter doch das ein oder andere Mal in etwas hineinsteigern.
Bahes Großvater wiederum, hatte sich größtenteils aus der Diskussion heraus gehalten. Er hatte Bahe nur einmal ungläubig zur Seite genommen, als er begriff, dass Bahe in Zukunft ein vegetarisches Frühstück zu sich nehmen würde. Ob er das ernst meinen würde, hatte er Bahe entsetzt gefragt.
Bahe musste unter der Dusche grinsend den Kopf schütteln. Wehe demjenigen, der seinen Großvater seine tägliche Ration Fleisch verwehrte.
Mit einem Blick auf die Uhr merkte Bahe, dass er sich nun wirklich beeilen musste und griff schnell nach dem Shampoo.
Vierzig Minuten später betrat er gerade noch rechtzeitig das Schulgelände und beeilte sich zu seinem Klassenraum zu kommen. Glücklicherweise war der Lehrer noch nicht da.
Muning und Tanren grüßten ihn, während ihm ein paar der Mädchen mal wieder neugierige Blicke zuwarfen, ehe sie sich wieder ihren Unterhaltungen widmeten. Der Unterricht begann und Bahe bemühte sich so gut es ging zu folgen. Es gab zwischendurch immer mal wieder Themen, bei denen er seine lange Zwangspause arg zu spüren bekam. Besonders Mathe und Chinesisch fielen ihm schwer. Die heimische Sprache besaß so viele Zweideutigkeiten und war so stark von Sprichwörtern geprägt, dass sie ihm selbst nach sechs Jahren immer noch schwer fiel.
Über Mathe gab es nichts zu berichten. Übte man es eine Zeit lang nicht vergaß man einfach viel. Aber hier hatte Bahe zumindest die Hoffnung bald wieder auf dem neusten Stand zu sein.
In der Mittagspause setzte Bahe sich wieder neben Muning, der sich gerade etwas auf seinem Prophone anschaute und lauthals am Lachen war.
„Was ist los?“, fragte Bahe.
„Ach, nichts“, winkte Muning ab, erklärte aber: „Da geht nur seit heute Morgen ein Meme durchs Netz, dass wirklich zum Brüllen ist.“
„Ein Meme?“
„Ja, ich zeig es dir“, meinte Muning und hielt ihm seine Prophone hin.
Interessiert schaute Bahe auf das Hologramm. Es zeigte eine Person von hinten die sich offensichtlich auf der Flucht befand. Der Junge rannte, fluchte und hüpfte im Wechsel, während er von einer wildgewordenen Wildwurzelkaninchenhorde verfolgt wurde.
Schlagartig musste Bahe grinsen, schließlich war es ihm schon genauso ergangen.
„Großartig, nicht wahr? Haha“, lachte Muning und meinte: „Gleich wird es noch besser!“
„Autsch! Fuck! Scheiße!“, fluchte der Junge lauthals, als einige Wildwurzelkaninchen ihn erwischten, während er wie wahnsinnig geworden durch die Gegend sprang, um den nächsten Krallen zu entgehen.
Was folgte war eine ständige Wiederholung des gerade gezeigten.
„Autsch! Fuck! Scheiße!“
Und wieder sprang der Junge durch die Gegend.
„Autsch! Fuck! Scheiße!“
„Autsch! Fuck! Scheiße!“
Die Szene wiederholte sich noch mehrere Male, bis schließlich wieder die ersten Sekunden der Flucht zu sehen waren.
Muning lachte die ganze Zeit schallend und hatte offensichtlich Mühe, sein Prohphone gerade zu halten. Erst als das Meme ein zweites Mal abgespielt worden war, beruhigte er sich weit genug, um zu bemerken wie sich Bahes Gesichtszüge verdüstert hatten.
„Was ist los?“, fragte Muning verwirrt.
Bahe wusste nicht wie er darauf antworten sollte… Anfangs war er noch belustigt gewesen, irgendwann dann skeptisch, doch schließlich war er sich zu hundert Prozent sicher, dass er selbst in dem Meme zu sehen war!
Irgendein hirnverbrannter Vollidiot hatte seine Spielzeit in Raoie aufgenommen und zu einem Meme zusammen geschnitten!
„Bahe? Erde an Bahe? Jemand zu Hause?“, fragte Muning, als er vor Bahes Gesicht mit seinen Händen herum fuchtelte.
„Ich habe dich schon verstanden“, sagte Bahe gereizt.
„Und was ist los?“
„Woher hast du das Meme?“
„Aus dem Internet, woher sonst?“
„…“
Ok, es war eine blöde Frage gewesen…
„Fandest du das Meme etwa nicht lustig?“, fragte Muning ungläubig. „Ich habe mich lange nicht mehr so amüsiert…“
„Ist das Meme einfach so aufgetaucht?“, fragte Bahe, da er wissen wollte, wie er so einfach im Internet gelandet war.
„Hmmm… keine Ahnung…“, meinte Muning. „Aber ich kann es heraus finden, wenn du willst.“
„Mach das, bitte“, bat Bahe, der bereits selbst sein Smartphone gezückt hatte und im Internet suchte.
„Klar, aber nur, wenn du mir sagst, wieso du plötzlich so griesgrämig drauf bist.“
„Ha…“, seufzte Bahe.
„Das hier…“, sagte er und deutete dabei auf das Hologramm. „Stammt aus Raoie.“
„So viel ist mir auch klar, schließlich sind da Wildwurzelkaninchen zu sehen.“
„Und es stammt aus einer ganz bestimmten Spielzeit“, ignorierte Bahe Munings Einwand und sagte bedeutungsschwer: „Meiner Spielzeit.“
„Also willst du sagen, dass…“, begann Muning, nur um dann plötzlich große Augen zu kriegen. „Rede keinen Scheiß!“
„…“, Bahe zog es vor nichts mehr zu sagen und wühlte sich stattdessen durch seine ersten Suchergebnisse.
„Hey, hey, Bahe! Du kannst mich hier doch nicht einfach so hängen lassen!“, beschwerte sich Muning. „Du willst mir sagen, dass du das in dem Meme bist?“
„Ja, verdammt!“, sagte Bahe schnell. „Und jetzt sei leise, nicht, dass das jemand noch mitbekommt. Dann werde ich für die nächsten Wochen das Gespött der Schule sein.“
„Aber bist du dir sicher…“, antwortete Muning, während er sich das Meme ein weiteres Mal hochinteressiert anschaute. „Der Kerl ist die ganze Zeit nur von hinten zu sehen. Das Gesicht kann man nie wirklich erkennen.“
„Das ist definitiv das Kampftrainingstutorial in Waldenstadt. Ich habe die Festungsmauern in dem Gang sofort erkannt und es ist gerade mal ein paar Tage her, dass ich diese Szene hinter mich gebracht habe“, erklärte Bahe überzeugt davon, sich selbst in dem Meme erkannt zu haben.
„Wie geil ist das denn?“, flüsterte Muning begeistert und für Bahe immer noch viel zu laut. „Mein bester neuer Kumpel ist berühmt!“
„Haha, sehr witzig“, entgegnete Bahe bissig.
„Hehe, jetzt aber mal ernsthaft“, zwinkerte Muning verschwörerisch zu. „Du hast keine Ahnung welche Wellen, das Meme im Netz geschlagen hat! Aber keine Sorge, ich, Ni Muning, werde mich in einer umfangreichen Recherche voll und ganz der Frage widmen, woher das Meme stammt!“
„Dann halte doch bitte endlich die Klappe und fang an“, sagte Bahe panisch, als ihm klar wurde, wie weit sich das Meme inzwischen verbreitet hatte.
„Hier ist CCTV-1 und willkommen bei den Mittagsnachrichten. Im Studio für uns, Ji Dexin und Mo Minsheng…“
Der nationale Nachrichtensender lief im Hintergrund, während Kaiwen mit einen Grinsen die Ergebnisse ihrer Arbeit an ihrer Visualisierungsfläche bei PG durch ging.
„Autsch! Fuck! Scheiße!“
„Autsch! Fuck! Scheiße!“
Die Schreie im Meme tönten laut aus ihren Lautsprechern. Kaiwen konnte mit ihrer Arbeit nicht zufriedener sein. Es war nicht viel mehr als ein einzelner Schritt. Aber der erste Schritt war immer am schwersten.
Bahe Dragon, dachte sie versonnen. Er wird der Star sein.
Der Star, in dessen Windschatten sie eines Tages den Gipfel ihrer Karriere erklimmen werden würde…
Das Netz war voll von ihrem Meme. Natürlich hatte sie zuvor einen Artikel über ihn geschrieben und mit mehreren zusammen geschnittenen Szenen aus Raoie hinterlegt. Die Schlagzeile?
– Anael aus Dreamworld beginnt seinen Siegeszug in Raoie! –
Die Klicks ihres Artikels waren in kürzester Zeit durch die Decke geschossen! Und dabei war er erst heute Morgen veröffentlich worden.
Denn solange hatte sie warten müssen.
Das Dimensional Leap-System zeichnete einen jeden Tag die gesamte Spielzeit auf und speicherte diese für maximal vierundzwanzig Stunden. Startete man während der nächsten vierundzwanzig Stunden die nächste Spielzeit, wurde das gespeicherte Replay überschrieben. Um diesem Effekt zu entgehen, konnte man das Replay entweder fest auf dem eigenen Dimensional Leap-System speichern oder auf einen externen Speicher herunterladen bzw. sogar in eine Cloud hochladen.
Kaiwen hatte die maximale Frist von vierundzwanzig Stunden extra dafür abgewartet, damit nicht irgendein Spieler, der gestern in Raoie anwesend gewesen war, plötzlich Anaels Aussehen veröffentlichen konnte, nachdem HoF ein Meme von ihm auf die eigene Internetseite setzte.
Ganz egal, was ihre Kollegen hier bei PG über sie dachten. Sie war keineswegs unvorsichtig. Zugegeben, sie hatte ihren Kollegen hier im Sender zu viel Vertrauen entgegengebracht. Aber dies war nun vorbei.
Ihr zukünftiger Arbeitgeber, Hall of Fame, hatte sich sehr über ihr großes Engagement gefreut und ihren Artikel, nach kurzer Prüfung, kurzerhand veröffentlicht. Scheinbar wurde ihr Einsatz von ihrem Chef gern gesehen.
Was konnte besser auf einen guten Start beim neuen Job hindeuten?
Hier, bei PG, gingen scheinbar alle davon aus, dass sie die letzten Tage verzweifelt mit der Suche nach einer neuen Story verbrachte. Stattdessen verfolgte sie eigene Pläne und dass sie hinter dem Artikel steckte, würde erst recht niemand vermuten.
Andererseits musste man fairer Weise festhalten, dass, so groß die Wellen der Aufmerksamkeit anfangs auch gewesen waren, sie inzwischen längst wieder abgeflacht waren. Es war vielmehr das Meme, welches sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Was hauptsächlich daran lag, dass es einfach unfassbar komisch anzusehen war.
Außerdem rätselte alle Welt, um wen es sich wohl handeln könnte. In all ihren Aufnahmen hatte sie extra darauf geachtet, dass Anael immer nur von hinten, oder so von der Seite zu sehen war, dass eine Identifizierung nahezu unmöglich war.
Seine Hintergrundgeschichte, rund um die eigenen ärmlichen Verhältnisse, hatte sie nämlich noch nicht vergessen. Zu viel Aufmerksamkeit war für ihn momentan nur kontraproduktiv. Soweit sie wusste, wurde der Junge immer noch von den Schlägern gejagt und benötigte dringend Geld, um endlich seine Mutter behandeln lassen zu können.
In den nächsten Tagen würde sie ihn besuchen müssen. Insgeheim fragte sie sich, ob der Junge immer noch in der herunter gekommenen Absteige hauste. Immerhin musste der Verkauf des Anwesens erfolgreich gewesen sein, wenn Bahe es sich leisten konnte tagtäglich Raoie zu spielen.
Irgendwie war ihr der junge Ausländer einfach so schnell sympathisch gewesen…
„Und nun zu der faszinierenden Geschichte des jungen Ausländers, dessen Name bisher immer noch ein Rätsel ist“, zog die Stimme der Nachrichtensprecherin, Ji Dexin, Kaiwens Aufmerksamkeit auf sich. „Vor einigen Tagen platzte ein junger Mann aus dem Westen überraschend in Bei En Ruis Pressekonferenz…
Den Rest der Ansage hörte Kaiwen nicht mehr, als sie fassungslos auf das eingeblendete Bild starrte.
„Was macht der Junge denn da?!“, rief sie lauter als gewollt aus.
„Was, Kaiwen, hast du etwa noch nicht davon gehört?“, meinte einer ihrer Kollegen spöttisch.
„Halt’s Maul“, murrte sie nur.
„Haha, lebst du hinterm Mond?“
Kaiwen ignorierte ihren nervigen Kollegen und verfolgte lieber wieder die Nachrichten.
„Bei En Rui hat für heute Nachmittag eine Pressekonferenz angekündigt, in der die Ergebnisse des Falls publik gemacht werden sollen. Experten sind jedoch angesichts dieses extrem früh angesetzten Termins skeptisch, ob so schnell überhaupt ein richtiger Prozess hätte ablaufen können. Die Diskussion um Bei En Rui bleibt ein sensibles Thema. Während…“
Den Rest ignorierte Kaiwen und schaltete ihre Visualisierungsfläche aus. Wenn sie sofort losfuhr, hätte sie noch Zeit zu Mittag zu essen, bevor die Pressekonferenz starten würde. Sie hatte keine Ahnung worin der Junge verwickelt gewesen war, aber sie witterte eine dicke Story hinter den Kulissen, der sie unbedingt auf die Spur kommen wollte. Und wo konnte man am besten anfangen, wenn nicht bei Bahe Dragon selbst?
„Bahe… das wirst du nicht glauben“, meinte Muning keine zehn Minuten später und sah Bahe ehrfürchtig an. „Das Meme stammt von der offiziellen Homepage von Hall of Fame!“
„Von Hall of Fame?“
„Ja, man!“, rief Muning begeistert aus. „Kennst du da jemanden?“
„Nee…“, schüttelte Bahe den Kopf. „Mich hat mal eine Reporterin von PG interviewt, aber die darauf folgende Meldung hat nicht mal eine Minute gedauert und wurde auch mehr dazu genutzt, Werbung für Raoie zu machen.“
„Hä? Moment mal, was?!“, rief Muning verblüfft aus. „Eine Reporterin von PG hat dich interviewt? Und du erzählst mir das erst jetzt?“
„Das war keine große Sache“, winkte Bahe ab und sagte: „Aber ich brauchte das Geld, von daher…“
„So schnell kannst du nicht das Thema wechseln. Wieso wurdest du interviewt?“, ließ Muning nicht locker.
„Ich habe schon lange mit Dreamworld aufgehört und vor ein paar Wochen dann meinen Account verkauft, um meine Familie zeitweise unterstützen zu können“, erklärte Bahe knapp und zuckte mit den Schultern. „Scheinbar sind dabei ein paar Fernsehsender auf mich aufmerksam geworden.“
„Bist du etwa Anael?“, starrte Muning ihn aufgeregt an.
„Ähm… ja?“
„Und du erzählst mir hier allen Ernstes, das wäre nichts Besonderes?“
„Ok, ich habe relativ viel Geld für den Account bekommen. Na, und?“
„Es geht nicht darum, dass du viel Geld gemacht hast. Du bist fucking Anael!“, zischte Muning, bemüht nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Hast du eine Ahnung, wie berühmt du in Dreamworld warst?“
Bahe musste bei Munings verschwörerischer Miene grinsen.
„Wie hast du das damals gemacht? Ich meine, deinen Spielstil so zu verändern?“, wurde Bahe ohne zu zögern von Muning ausgefragt.
„Mein Vater und ich haben abwechselt gespielt“, erklärte Bahe knapp.
„Dein Vater, der…“, mitten im Satz brach Muning ab, als ihm klar wurde worauf alles hinaus lief. „Das erklärt, wieso du aufgehört hast… Sorry, Bahe.“
„Ist schon ok.“
„Aber verdammt! Das ich mal dem Spieler hinter Anael leibhaftig gegenübersitzen würde… Damn!“, nickte Muning fassungslos mit dem Kopf, als er Bahe mit neuer Begeisterung musterte.
„Du weißt schon, dass man Angst vor dir bekommen kann, wenn du jemanden so anstarrst?“
„Du verstehst es immer noch nicht, oder?“, stellte Muning eine Gegenfrage.
„Was?“
„Ich sage das nicht nur zum Spaß, Bahe“, meinte Muning und warf die Hände in die Luft. „Dein Avatar war verdammt noch mal berühmt! Und durch seinen Verkauf ist er wieder richtig bekannt geworden! Schau dir das hier an.“
Ehe Bahe etwas erwidern konnte, hielt Muning ihm bereits sein Prophone hin. Er hatte die offizielle HoF Homepage aufgerufen und den Artikel über ihn heraus gesucht. Sein Focus schien jedoch nicht auf dem veröffentlichten Text als vielmehr auf den Kommentaren darunter zu liegen.
- Anael aus Dreamworld ist zurück!
- Das soll Anael sein?
- Das behauptet doch nur der Artikel!
- Haben Reporter von heute nichts Besseres zu tun, als falsche Infos zu veröffentlichen, nur um mehr Views zu kriegen?
- Was wisst ihr denn schon? Ich war vor zwei Tagen da! Er könnte es wirklich sein!
- Na, klar! Wenn das Anael ist, dann heiße ich Tallios, der Donnergott Raoies…
- Mir ist vollkommen egal, wer er ist. Hauptsache der Kerl war lustig hahahaha…
- Ich war auch da! Der Kerl ist sowas wie eine skurrile Berühmtheit in Waldenstadt. Jeder kennt ihn mittlerweile. Vor kurzem rannte er noch jeden Tag um Waldenstadt. Es gab einen Haufen Spieler die schon Wetten auf sein Verhalten abgeschlossen haben. xD
- Wenn das Anael ist, dann muss es stimmen, oder? Er hat mit Dreamworld aufgehört, um mit Raoie anzufangen!
- Das ist doch nichts Besonderes… Jeder weiß, dass Dreamworld so gut wie tot ist.
- Das ist fucking Anael, ihr Idioten! Fucking ANAEL!!! Ich melde mich noch heute bei Raoie an! Wir können uns bald alle auf eine Show freuen!
- Der Kerl macht doch gerade erst mal das Tutorial… Wieso rasten hier alle so aus?
- Verrückte gibt’s… Aber der Kerl ist echt zum Schießen! „Autsch! Fuck! Scheiße!“ Zum Brüllen!
- Und er rennt vor Wildwurzelkaninchen weg!
- So ein Feigling! Hahaha!
- Stimmt doch gar nicht… Ihr hättet sehen müssen, wie er die Viecher danach abgeschlachtet hat… Das war eine Szene wie aus einem Horrorfilm!
- Ganz genau! Anael ist immer bekannt dafür gewesen, dass er seinen Spielstil rabiat ändert. Erst ist er panisch weg gelaufen und dann hat er sie plötzlich abgeschlachtet! Das ist er 100%ig!
Die Kommentare wollten gar kein Ende nehmen. Nur schwer löste er sich davon und starrte baff auf die Gesamtzahl der Kommentare:
43.843…
Und das seit heute Morgen…
„Krass, oder?“
„Ja…“
„Ich will ja nix sagen, Bahe, aber das sind über vierzigtausend Kommentare zu einem Bericht über dich und deinen ehemaligen Account! In nicht mal ein paar Stunden!“
„Ja, schon klar“, nickte Bahe zerknirscht. „Ich bin berühmt… und das, obwohl ich hier doch besser keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen soll… Hoffentlich merkt keiner, dass ich auf dem Meme zu sehen bin.“
„Keine Sorge, ich habe dich auch nicht erkannt“, warf Muning ein. „Wer immer das Meme zurecht geschnitten und die anderen Bilder des Artikels ausgewählt hat, macht sich große Mühe um dein Aussehen geheim zu halten.“
„Vorläufig… da haben nur leider eine Menge Leute zugesehen“, antwortete Bahe missmutig, als ihm klar wurde, dass er sich wohl für die Zukunft eine Tarnung zulegen musste. Vor allem durfte er in Zukunft nicht mehr so leichtfertig seinen Nickname an andere Spieler raus geben.
„Aber die können nichts mehr veröffentlichen.“
„Hä? Wieso das?“
„Das Dimensional Leap-System speichert die Replays immer nur bis zur nächsten Spieleinheit oder maximal vierundzwanzig Stunden. Es gibt keine Aufzeichnungen mehr über diese Spieleinheit“, erklärte Muning mit einem selbstzufriedenen Grinsen. „Deswegen sage ich ja, die Person war verdammt vorsichtig. Selbst die Spieler die dort anwesend waren, können dich höchstens beschreiben. Ich bezweifele, dass irgendein Normalo seine Tutorialmissionen abspeichert. Auch, wenn das Meme einfach zu geil ist…“
„Quäle mich nur weiter…“, brummte Bahe.
„Hahaha“, prustete Muning los.
„Ja ja… lach du nur. Ich werde heute Nachmittag sowieso noch im Focus der Nachrichten stehen, fürchte ich…“, sagte Bahe und fuhr sich dabei mit den Händen über sein Gesicht.
„Ach, keine Sorge“, meinte Muning aufmunternd. „Halt es einfach kurz und knapp und verabschiede dich durch den Hinterausgang.“
Bahe musste lächeln, als er aus Munings Worten echte Sorge heraus hörte. Es war lange her gewesen, seitdem er das letzte Mal seine Sorgen mit einem Freund teilen konnte. Muning war zwar die Klatschtante der Schule, oder Klatschonkel?
Wie auch immer… Auf jeden Fall fiel er seinen Freunden niemals in den Rücken. Soviel hatte Bahe in der kurzen Zeit bereits über ihn gelernt.
Anfangs hatte er noch Bedenken gehabt, was er ihm erzählen sollte. Aber im Angesicht der Tatsache, dass er eh über fast alles Bescheid wusste, war es ihm idiotisch vorgekommen, die Sache mit Shang und dem Staranwalt Bei En Rui, für sich zu behalten.
Muning war seinen Grundsätzen treu geblieben und hatte sich nie herablassend ihm gegenüber geäußert. Das wusste Bahe sehr zu schätzen.
„Ah verdammt, die Pause ist bald um und ich muss noch zur Toilette“, meinte Muning genervt von der Kürze der Mittagspause. „Ich gehe schon mal vor.“
„Mach nur“, antwortete Bahe und hob den Kopf. Er konnte jedoch nur noch sehen, wie der übergewichtige Muning bereits auf die Tür der Mensa zu lief und dabei seinen Rucksack und Gürtel gleichermaßen festhielt.
Schmunzelnd schüttelte Bahe den Kopf.
Teil 5/7!
RiBBoN
Kapitel 80 Veraltete Technik
Han Ning lief ungeduldig den Gang auf und ab, während er immer noch auf den Jungen wartete. Es war inzwischen viertel vor fünf am Nachmittag, zur vollen Stunde sollte die Pressekonferenz stattfinden. Bahe hätte längst hier sein sollen.
Bei En Rui hatte darauf bestanden, dass Bahe sich, bei seiner Darstellung der Geschehnisse, an ein vorgeschriebenes Skript hielt. Nur leider musste Han Ning dieses Skript noch mit Bahe durchgehen und da er bisher immer noch nicht aufgetaucht war, machte er sich langsam Sorgen, dass ihnen doch noch alles um die Ohren fliegen könnte.
Mit einem Quietschen öffnete sich schließlich die Tür neben dem Warenannahmebereich, vor dem Han Ning die ganze Zeit hin und her wanderte und gab den Blick auf Bahe frei. Er schien sichtlich schwer zu atmen, scheinbar war er hierher gerannt.
„Du kommst spät“, stellte Han Ning vorwurfsvoll fest.
„Sorry, die U-Bahn hatte irgendeine Fehlfunktion und steckte über zehn Minuten fest“, entschuldigte sich Bahe.
„Ok, lassen wir das. Wir haben kaum noch Zeit und wir müssen dringend durchgehen, was du gleich auf der Pressekonferenz sagen wirst“, begann er, nur um von Bahe unterbrochen zu werden.
„Wie wäre es mit der Wahrheit? Das es nicht Bei En Rui war, der mir geholfen hat?“
„…“, Han Ning starrte ihn für einen Moment verblüfft an. Der Junge schien das ernst zu meinen!
„Sag mal, hast du den Verstand verloren?“, rief Han Ning dann aus. „Mai Ping Lun ist nur deswegen nicht hinter dir her, weil wir den Handel mit dem Versprechen abgeschlossen haben, dass Bei En Rui sein Geschäftspartner wird. Wenn du Bei En Rui jetzt diskreditierst, indem du der Öffentlichkeit erzählst, was wirklich passiert ist, bringst du nicht nur ihn gegen dich auf, sondern auch Mai Ping Lun. Glaub mir, ich würde die Beiden genauso gerne wie du bloß stellen. Aber das können wir uns nur erlauben, wenn wir zuversichtlich sind, den Akt zu überleben.“
„Das verstehe ich ja… Es wurmt mich nur so, dass du keinerlei Anerkennung dafür bekommst, dass du mir und meiner Familie so geholfen hast“, sagte Bahe.
Han Ning schüttelte gerührt den Kopf und antwortete: „Das muss es nicht, Bahe.“
„Muss ich den wirklich vor Kameras treten?“
„Ich fürchte da führt kein Weg dran vorbei“, meinte Han Ning. „Bei En Rui braucht die positive Wirkung, die dein abgeschlossener Fall auf sein Image haben wird.“
„Und du brauchst es genauso, damit du deinen Job behältst, nicht wahr?“
„Zunächst einmal ja“, antwortete Han Ning. „Aber ich habe meine Kündigung bereits eingereicht.“
„Hä, was?! Wieso?“
„Ich habe lange genug unter diesem Idioten gearbeitet. Vor allem jetzt, wo er die Kontakte zu Mai Ping Lun hat. Ich will nichts mit diesem Kerl zu tun haben.“
„Und was hast du dann vor?“
„Ich?“, zog Han Ning die Brauen hoch. „Ich werde mit ein paar unzufriedenen Kollegen eine eigene Kanzlei eröffnen. Nichts so großes wie Chen Law Firm. Aber es wird unsere Kanzlei sein und das ist die Hauptsache.“
„Das ist so eine Schande… Wenn du doch nur meinen Auftritt als riesen Werbegag nutzen könntest, wenn ich erzähle, dass du meinen Fall bearbeitet hast. Das wäre die perfekte Werbung für deine neue Kanzlei.“
„Das stimmt wohl“, musste Han Ning zugeben und gequält lächeln.
„Ähm…“, begann Bahe einen Moment danach, doch Han Ning unterbrach ihn.
„Aber, wenn man mal von der Gefahr Mai Ping Lun betreffend absieht, dann würde ich mir auf diesem Weg die gesamte Chen Law Firm zum Feind machen. Ein einzelner Anwalt und sei er auch der Staranwalt der Stadt, ist dagegen ein Witz. Sicher Bei En Rui wird am Anfang versuchen ein paar Strippen zu ziehen, um uns den Start möglichst schwer zu machen. Aber sein Einfluss ist zurzeit noch nicht groß genug, um uns im gesamten Markt unbeliebt zu machen. Die richtigen Bosse der Firma könnten das hingegen schon.“
„Wenn du es so formulierst…“, zuckte Bahe mit den Schultern.
„Deswegen ist es auch für mich verdammt wichtig, dass du den Reportern Honig um den Mund schmierst. Du wirst sowieso nur einen kurzen Moment vor die Kameras gelassen.“
„Wie du meinst“, gab Bahe sich geschlagen.
„Gut, dann jetzt zu deinem Text“, begann Han Ning und reichte Bahe ein Blatt mit einer vorgefertigten Rede.
„Bei En Rui hat sein Möglichstes getan und auch unter großen Druck und Widerständen gegen die Ungerechtigkeit angekämpft, die meine Familie heimgesucht hat…“, Bahe brach ab und fragte: „Ernsthaft? Das kauft mir doch keiner ab!“
„Jetzt siehst du mal, womit ich mich seit Monaten rumschlagen muss. Der Text stammt von Bei En Rui…“
„Also hast du was Besseres?“
„Nicht wirklich…“, gab Han Ning nervös zu. „Deswegen wollte ich ja unbedingt schon vorher mit dir sprechen. Du wirst irgendwie improvisieren müssen. Ich habe diesen Schwachsinn erst vor zwanzig Minuten bekommen und dachte zu dem Zeitpunkt, dass du jeden Moment hier auftauchst…“
„Na, toll…“, gab Bahe nur noch von sich.
„Ganz meine Rede“, stimmte ihm Han Ning resigniert zu.
Die Türen des Aufzugs öffneten sich plötzlich und gaben den Blick auf Bei En Rui samt Gefolge frei. Ein Assistent und der Bodyguard, von dem Han Ning gehört hatte, das er Bahe bei der letzten Begegnung gegen die Aufzugswand geschleudert hatte.
„Bahe Dragon, schön dich wiederzusehen!“, rief Bei En Rui mit seinem besten Allerweltslächeln und trat zu ihnen.
Han Ning sah zu dem Jungen hinüber. Er nickte nur zur Begrüßung.
„Immer noch nicht der Gesprächigste wie mir scheint“, schmunzelte Bei En Rui und wandte sich dann an Han Ning. „Alles bezüglich seines Textes abgesprochen?“
„Natürlich“, antwortete er schnell und fragte sich nervös, ob der Junge vielleicht doch Dummheiten anstellen würde.
„Na, sehr gut“, grinste Bei En Rui über beide Ohren und ging auf die gegenüberliegende Tür zu, die zur Pressekonferenz führte.
Als er nach der Klinke griff, blieb er noch einmal stehen und meinte mit einem Augenzwinkern: „Die Konferenz beginnt gleich. Die ersten zwei Minuten übernehme ich und dann wirst du dich äußern müssen, Bahe Dragon. Auch, wenn Schweigsamkeit eine Tugend ist, in manchen Situationen im Leben muss man immer mit dem größten Wohlwollen sprechen.“
Danach drehte er sich um und verschwand hinter der Tür, die wenig später hinter dem Assistenten und dem Bodyguard ins Schloss fiel.
„Gruselig, oder?“, meinte Han Ning angewidert.
„Jep“, antwortete der Junge. Han Ning konnte förmlich sehen, wie unwohl sich Bahe fühlte. Ihm selbst lief es immer noch eisig den Rücken runter, als er an Bei En Ruis Engelslächeln dachte.
„Komm, bringen wir es hinter uns“, sagte Han Ning nach einem Moment der Stille und Bahe folgte ihm zur Tür.
Was folgte, waren doch tatsächlich acht endlose Minuten, in denen sich Bei En Rui in der Anerkennung der Presse suhlte. Anstatt der veranschlagten zwei Minuten, nahm er sich alle Zeit der Welt, um die Fragen der Reporter so elegant zu umgehen, dass er nicht eine konkrete Zusage machen musste.
Für Bahe war es schlicht weg beängstigend zu sehen, wie leicht er die Reporter an der Nase herum führte. Und das Schlimmste an der ganzen Tatsache war, dass sich mit jeder Minute Bahes eigene Anspannung verstärkte, während er sich krampfhaft darum bemühte sein Lächeln aufrecht zu erhalten. Er wollte diese verdammte Pressekonferenz nur noch hinter sich bringen.
„Immer schön weiter lächeln“, raunte ihm Han Ning zu, der neben ihm stand.
„Ich weiß!“, zischte Bahe mies gelaunt, zwischen seinen, zu einem Lächeln verzogenen, Lippen hervor.
„Nun, dann kommen wir jetzt zu meinem wohl zurzeit prominentesten Klienten!“, erklärte Bei En Rui mit vielsagender Betonung und wandte sich Bahe zu. „Würdest du zu mir treten?“
„Los, nach vorne mit dir“, flüsterte Han Ning, als er Bahe für einen Moment zögern sah.
„Natürlich“, sagte Bahe lautstark mit einem Lächeln als er sich schließlich überwand und neben Bei En Rui auf das Podium trat.
Das folgende Blitzlichtgewitter war heftig und ließ ihn mehr als nur einmal blinzeln, um irgendetwas vor sich erkennen zu können. Direkt danach brandeten ihm eine Vielzahl von Fragen entgegen.
„Hat Bei En Rui sein Versprechen wirklich erfüllt?“
„Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit der Kanzlei Chen Law Firm empfunden?“
„Ganz China rätselt wer Sie sind! Wollen Sie uns nicht Ihre Geschichte mitteilen?“
„Wobei konnte Ihnen Bei En Rui behilflich sein?“
Bei En Rui hob beschwichtigend die Hände und meinte: „Bitte, bitte! Mein Klient wird eine Erklärung abgeben, die all Ihre Fragen klärt. Lassen Sie Ihn dafür zu Wort kommen.“
Anschließend zog er sich ein wenig zurück und gab Bahe mit einer Geste zu verstehen, dass er vor die Mikrofone treten sollte.
Ein zweites Mal blendeten ihn zahlreiche Blitzlichter, ehe er sich all der Reporter mit Kameras und Mikrofonen vor sich bewusst wurde. Mit einem Mal wurde seine ganze Kehle trocken und er musste sich räuspern, ehe er überhaupt einen Ton herausbrachte.
„… Hallo“, fing er schließlich an. „Ich hatte das große Glück von der Chen Law Firm vertreten zu werden und ich kann Ihnen sagen, dass die Probleme meiner Familie glücklicherweise vollständig gelöst werden konnten. Worum es genau ging, möchte ich aus persönlichen Gründen hier nicht nennen und ich bitte Sie alle dies zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang hat mir die Kanzlei außerdem dazu geraten meinen Namen nicht zu nennen. Mir ist bewusst, dass die Öffentlichkeit sehr an meiner Geschichte interessiert ist, aber ich möchte Sie wirklich eindringlich bitten, akzeptieren Sie unsere Entscheidung. Meine Familie musste lange Zeit unter großem Druck leben und eine Masse an Reportern wäre jetzt einfach fehl am Platz. Vielen Dank."
Damit trat er einen Schritt zurück und deutete eine Verbeugung an. Was natürlich erneut einen Ansturm an Fragen mit sich brachte.
„Wären Sie zu einem exklusiv Interview bereit?“
„War es wirklich Bei En Rui, der Ihnen geholfen hat, oder doch nur ein anderer Anwalt der Kanzlei?"
„Die Öffentlichkeit will Ihre Geschichte aber unbedingt erfahren! Geben Sie uns wenigstens eine grobe Vorstellung Ihrer Probleme!"
„Ist es nicht vielmehr so, dass Sie ein bezahlter Schauspieler sind? Wie sollen wir uns darauf verlassen können, dass Sie die Wahrheit sagen, ohne dass wir irgendeine Tatsache zum Nachprüfen haben?!"
„Genau! Bei En Rui, ohne vorgelegte Beweise können Sie und der Junge so ziemlich alles behaupten!"
Bahe ignorierte die Fragen und wandte sich ab, ohne Bei En Rui eines Blickes zu würdigen. Wahrscheinlich brannte der Kerl innerlich vor Zorn. Aber Bahe war es egal. Soweit es ihm sein Gewissen ermöglichte, war er einen Kompromiss eingegangen. Mit einem Seufzen stellte er sich wieder neben Han Ning und beobachtete wie Bei En Rui darum bemüht war, die Wogen zu glätten, die sein kurzer Auftritt hinterlassen hatte.
„Gut gemacht", merkte Han Ning an. „Du hast ihm keine Wahl gelassen."
„Was meinst du?"
„Haha, jetzt tu doch nicht so", grinste Han Ning, der sich offensichtlich bemühte nicht zu hämisch drein zu blicken. „Vor der Öffentlichkeit zu behaupten, dass die Kanzlei dir davon abgeraten hat, deinen eigenen Namen zu nennen... Bei En Rui kocht bestimmt innerlich vor Wut, dass er nicht wie geplant mit deinem Fall angeben kann!"
„Pah, als ob er wirklich alles erzählt hätte, jetzt wo dieser Mai Ping Lun an ihm dran ist", warf Bahe mürrisch ein.
„Sicherlich hätte er den Fall abgemildert umschrieben, aber dein Name und die furchtbare Situation mit deiner Mutter wäre bis ins kleinste Detail ausgeschlachtet worden", entgegnete Han Ning. „Aber wieso habe ich das Gefühl, dass du dir das bereits gedacht hast?"
Jetzt musste Bahe zum ersten Mal wirklich grinsen und sagte nur: „Keine Ahnung was du meinst..."
„Ja nee, ist klar", sagte Han Ning leise, während sein ganzer Körper vor unterdrücktem Lachen zuckte.
Nach und nach schaffte Bei En Rui es schließlich die unzufriedene Reportermeute zu besänftigen und verabschiedete sich schließlich von der Pressekonferenz.
„Na, endlich ist es vorbei", bemerkte Han Ning und gab Bahe zu verstehen, ihm zu folgen. Bahe war hinter Han Ning kaum aus dem Konferenzraum getreten, als ihn eine kalte Stimme von hinten anwies: „Bei En Rui möchte mit Ihnen noch ein kurzes Gespräch führen. Warten Sie hier."
Han Ning verzog die Miene: „Scheinbar will er dich nicht gänzlich unbeschadet davon kommen lassen, Bahe. Mach dich auf was gefasst."
„Hmmm...", nickte Bahe nervös. Ihm war klar, dass er Bei En Rui gerade ziemlich in Bedrängnis gebracht hatte. Vielleicht nicht der beste Schachzug, den er hätte machen können. Aber dieser Arsch verdiente es nicht anders.
Angespannt lief er umher und sah sich ein Bisschen im Raum um. Ein paar Pflanzen vor einem Fenster und einige fest installierte Sitzgelegenheiten. Es war ein schlichter Vorbereitungsraum, nichts Besonderes. Auch, wenn er sich wünschte, dass es hier etwas gab, was ihn von dieser unangenehmen Situation ablenkte. Schließlich setzte er sich am Rand auf die bepflanzte Fensterbank, um so die Fußgänger auf der Straße beobachten zu können.
„Du hast echt Nerven, das muss ich dir lassen!", erklang Bei En Ruis Stimme voll unterdrücktem Zorn.
Bahe atmete einmal tief durch und drehte sich dann um. Diesmal musste er standhaft bleiben. Er konnte sich nicht immer herum schupsen lassen.
Han Ning beobachtete nervös, wie der Junge einmal tief Luft holte, ehe er sich Bei En Rui zuwandte, der mitsamt seines Assistenten und Bodyguards gerade den Vorbereitungsraum betreten hatte.
„Danke“, sagte Bahe schlicht. Augenblicklich hätte Han Ning ihn am liebsten geohrfeigt, um ihn zur Vernunft zu bringen. Musste er Bei En Rui weiter zur Weißglut bringen?
„…“, Bei En Rui war für einen Moment sprachlos, während eine seiner Augenbrauen verärgert zuckte. Scheinbar war er kurz davor seine Maske fallen zu lassen. Bei den Provozierungen von diesem Jungen wohl kein Wunder, dachte Han Ning resigniert.
„Du hattest einen ganz genau festgelegten Text, den du draußen vor den Kameras zum Besten geben solltest!“, zischte Bei En Rui bedrohlich.
„Ach, Sie meinen den Text, den mir noch nicht einmal ein Fünftklässler abkaufen würde?“, fragte Bahe herausfordernd zurück. „Worüber beklagen Sie sich eigentlich? Ich habe Ihre Kanzlei in den größten Worten gelobt, die mir möglich waren. Schließlich wurde mir hier geholfen. Aber Sie, Sie haben nichts dazu beigetragen und vielmehr mich und meine Familie bedroht!“
„Arg…“, fasste sich Bei En Rui theatralisch ans Gesicht und wandte sich an seinen Assistenten. „Siehst du was ich meine? Da reißt man sich für ihn den Arsch auf und so wird einem gedankt, mit bodenlosen Anschuldigungen.“
„Ich weiß wirklich nicht, wo so ein mittelloser, jugendlicher Ausländer wie du, die Nerven her nimmt, einen der Wohltäter unserer Stadt so zu verunglimpfen…“, schüttelte Bei En Ruis Assistent den Kopf und herrschte Bahe an. „Hat er deinen Fall nicht zu deiner Zufriedenheit gelöst? Was gibt dir das Recht, solche Unverschämtheiten über ihn zu verbreiten?!“
„Ach, hat er, ja?“, zog Bahe spöttisch die Augenbrauen hoch und Han Ning trat lieber schnell an ihn heran, um ihn davon abzuhalten, mehr zu sagen.
„Hör auf!“, flüsterte er eindringlich an Bahe gewandt.
„Tianhao, lass gut sein“, schaltete Bei En Rui sich wohlwollend ein und wählte seine nachfolgenden Worte mit Bedacht: „Wärst du so nett, einen Termin beim Chef zu machen? Ich sollte ihm persönlich von diesem… Teil…erfolg berichten.“
„Sicher, Boss“, nickte der Assistent und lief an Han Ning und Bahe vorbei zu den Fahrstühlen. Natürlich nicht ohne Bahe zuvor einen bösen Blick zuzuwerfen.
„Du kannst auch schon gehen Han Ning“, erklärte Bei En Rui. „Du hast gute Arbeit geleistet. Ich möchte einen Moment mit meinem Klienten allein sprechen.“
Han Ning verzog das Gesicht. Bahe allein zu lassen, war im Moment das Letzte was er wollte. Aber solange er hier arbeitete, was nur noch eine Frage von ein paar Stunden war, war Bei En Rui immer noch sein Vorgesetzter…
Er wollte nicht in den letzten Minuten doch noch gefeuert werden. Eine Kündigung aus eigener Absicht war etwas völlig anderes im Lebenslauf als eine Entlassung durch den Vorgesetzten…
„Das können Sie vergessen“, rettete ihn Bahe aber sofort aus dieser Situation als er erklärte: „Solange Ihr Bodyguard hier ist, werde ich mich nicht allein mit Ihnen unterhalten.“
„Nun dann…“, willigte Bei En Rui zu Han Nings Beunruhigung direkt ein. „Chihai, bitte sei so nett und fahre mit Han Ning schon mal hinauf. Mein Klient soll sich doch nicht unwohl in deiner Anwesenheit fühlen.“
Verdammt! Jetzt hatte er keine Ausrede mehr bei Bahe zu bleiben, dachte Han Ning zerknirscht und nahm Bahe in Augenschein. Er schien von der Situation nicht wirklich besorgt zu sein.
„Boss, bist du dir sicher?“, fragte der Bodyguard.
„Keine Sorge“, meinte Bei En Rui mit einem süffisanten Grinsen. „So ist es doch in Ordnung, Bahe? Nur wir zwei?“
Zu Han Nings Grausen nickte der Junge, bevor er etwas sagen konnte.
„Bahe…“, begann er, wurde aber sofort von dem jungen Ausländer unterbrochen.
„Ist schon gut, geh nur.“
„Wie du willst…“, gab Han Ning unsicher von sich und begab sich zusammen mit Bei En Ruis Bodyguard zu den Aufzügen.
Es dauerte eine Minute, die Bahe und Bei En Rui abzuwarten schienen, ehe sich die Aufzugstüren öffneten und sich hinter Han Ning und dem Bodyguard wieder schlossen.
Die Fahrt kam Han Ning wie eine Ewigkeit vor. Ab dem Moment, in dem er Bahe aus dem Blick verlor, hatte die Anspannung von ihm Besitz ergriffen.
War es die richtige Entscheidung gewesen in den Aufzug zu steigen? Hätte er nicht lieber bei dem Jungen bleiben sollen? Was hatte Bei En Rui mit Bahe vor?
Fragen über Fragen…
Tief durchatmend zwang er sich zur Ruhe und ignorierte die stille Anwesenheit von Bei En Ruis Bodyguards, der die ganze Zeit kein Wort von sich gab.
Nach einigen qualvollen Augenblicken stieg er schließlich erleichtert in seinem Stockwerk aus und begab sich zu seinem Arbeitsplatz, um seine restlichen Sachen zu packen.
Viele der Akten und Unterlagen hatte er bereits weitergegeben. Andere wiederum, musste er noch ordnen, bevor er sie ins Lager bringen konnte. War das geschafft, würde zum Schluss nur noch übrig bleiben, seine persönlichen Dinge und Notizen mitzunehmen.
Mit einem Seufzen blickte er sich im Großraumbüro um und beobachtete für einen Moment das hektische Treiben derer, die Jahre lang seine Kollegen gewesen waren. Er glaubte nicht, dass er das hier vermissen würde.
Sein neues Büro versprach Ruhe und vernünftige Arbeit, auf die man sich freuen konnte. Viel besser als die Zustände in dieser Großkanzlei. Zudem arbeitete er mit ein paar seiner alten Freunde zusammen, die hier Ähnliches ertragen hatten.
Es war einfach Zeit für einen Neuanfang.
Mit einem Lächeln musste er daran denken, wie ihn seine Frau bei der Entscheidung sogar unterstützt hatte. Nach seinem bedeutungsvollen Geburtstag hatten sie über eine Vielzahl von Dingen lange und ausgiebig gesprochen. Seine unmenschlich langen Arbeitszeiten, die Quälerei für die Familie, was alles dabei auf der Strecke blieb, all das war Thema ihres Gesprächs gewesen. Seine Frau riet ihm schließlich sogar dazu, den Job zu wechseln. Weniger Geld hieß nicht weniger Glück, wie sie so gern sagte.
Mit einem Lächeln dachte er an das Gespräch zurück. Sie hatte Recht. Es konnte nur besser werden als hier.
Nach und nach machte er sich daran, die letzten Akten ins Lager zu bringen, während der Nachmittag immer weiter fort schritt und sich schon bald dem Abend zuneigte.
Während der ganzen Zeit hörte er aber merkwürdiger Weise nichts mehr von dem Jungen oder Bei En Rui. Han Ning versuchte mehrmals Bahe telefonisch zu erreichen, doch entweder bemerkte der Junge seine Anrufe nicht oder nahm sie einfach nie an.
Um kurz vor sechs Uhr am Abend war er endlich fertig und wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als einer der Führungspartner der Kanzlei, Ma Wenlan, plötzlich hinter ihn trat.
„Hua Han Ning, nicht wahr?“, fragte ihn der Mann.
„Äh, ja genau“, bestätigte Han Ning schnell und fragte verunsichert: „Ist was mit meiner Kündigung nicht in Ordnung?“
„Nein, nein“, antwortete Ma Wenlan. „Ich bin nur hier, um mich für Ihre Dienste über die Jahre hinweg persönlich zu bedanken.“
„Ähm… sicher“, meinte Han Ning verwirrt. Normalerweise kamen die großen Bosse doch nie für sowas hinunter in die unteren Ebenen.
„Außerdem möchte ich mich dafür entschuldigen, was Sie in der letzten Zeit wohl erdulden mussten“, meinte Ma Wenlan ernst. „Sie haben in Ihrem letzten Fall großartige Arbeit geleistet und unserer Firma eine Blamage erspart, die von jemand anderem provoziert worden war. Dafür danke und Ihnen wünsche ich alles Gute für Ihre Zukunft.“
„Das war mein Job“, antworte Han Ning nur und ergriff die ihm dargebotene Hand.
„Bescheidenheit ist eine Tugend“, nickte Ma Wenlan wohlwollend. „Aber in unserem Geschäft kann man davon allein nicht leben. Dies hier wird Ihnen vielleicht in der nächsten Zeit behilflich sein.“
Verdattert nahm Han Ning das Dokument entgegen, welches ihm sein ehemaliger Boss überreichte. Es handelte sich um ein Empfehlungsschreiben!
„Ich weiß nicht was ich sagen soll…“, gab Han Ning überwältigt von sich.
„Wie wär’s mit einem Danke“, zwinkerte ihm sein Gegenüber zu.
„Ah… Danke, vielen Dank!“
„Gern geschehen“, sagte Ma Wenlan lächelnd und wandte sich zum Gehen. „Machen Sie es gut.“
Zurück blieb nur Han Ning, der immer noch verblüfft auf das Empfehlungsschreiben blickte. Das Dokument würde ihm eine Menge Türen öffnen. Grinsend verstaute er das Schreiben sorgfältig in seiner Aktentasche und machte sich dann auf den Heimweg.
Selbst die überfüllte U-Bahn konnte seine Laune nicht trüben, bis sein Prophone plötzlich vibrierte und er eine Videonachricht von dem jungen Ausländer entdeckte. Besorgt öffnete er schnell die Videonachricht und schloss es plötzlich schnell wieder als ihm klar wurde, was er da vor sich hatte!
Mit einem Mal musste er aus vollem Hals loslachen und schüttelte hilflos den Kopf, während er vor Lachen kaum Stehen konnte.
Bahe… Dieser Teufelskerl!
Mehrere Stunden zuvor genoss es Bei En Rui richtig, als sich die Aufzugstüren schlossen und er nicht länger gezwungen war die Maskerade aufrecht zu erhalten.
Sein so oft geübtes Engelslächeln wandelte er schadenfroh zu einem spöttischen Grinsen um und beobachtete zufrieden, wie sich die Haltung des Jungen gleich versteifte. Was die körperliche Präsenz doch für eine Macht in einer Auseinandersetzung hatte…
„Du hast heute einen Fehler begangen, Bahe“, sagte er ernst und verlieh seiner Aussage zudem noch einen bedrohlichen Unterton.
Die Wirkung zeigte sich schlagartig. Der Junge war so verunsichert, dass er sogar unbewusst einen Schritt vor ihm zurück wich.
„Ich… ich weiß nicht wovon Sie sprechen“, rang der Jugendliche sichtlich mit den Worten.
Amüsiert machte En Rui daraufhin zwei Schritte auf den jungen Ausländer zu und baute sich groß auf, ehe er nicht minder bedrohlich als zuvor sagte: „Glaubst du wirklich, dass du es dir noch länger erlauben kannst, dich so zu verhalten?“
„Weswegen denn nicht?“, fragte der Junge mit einem letzten Rest von Willenskraft. „Weil Sie sonst meine Familie bedrohen?“
„Hehe“, gab Bei En Rui von sich und meinte kopfschüttelnd: „Was redest du denn da? Sowas würde ich doch nie tun. Unfälle passieren täglich, darauf hat niemand einen Einfluss. Falls sowas jemals deiner Familie zustoßen sollte, musst du mir versprechen, dass du stark bleibst und nicht dir selbst die Schuld gibst, in Ordnung?“
Ein Grinsen umspielte seine Lippen während der ganzen Zeit, da er sich sehr wohl bewusst war, wie die Leichtfertigkeit seiner Worte verstanden werden konnte.
Letztlich kam es im Leben immer nur auf Geld, Status und Beziehungen an. Geld allein war noch nicht Macht. Macht entstand durch alle drei Dinge zusammen. Knöpfe die man drücken konnte, um jemanden springen zu lassen. Entweder naive Idioten, die sich als Freunde verstanden und die man ausnutzen konnte oder Personen in hohen Positionen, deren schmutzigen Geheimnisse man kannte.
Ohne sich die Hände dreckig zu machen, kam keiner nach ganz oben. Aber da wollte er nun mal hin, dass hatte er sich geschworen.
Dieser lächerliche kleine Ausländer hatte ihm mit der Geschichte um seine verzweifelte Familie schon genug Schwierigkeiten bereitet. Es wurde Zeit diesen Wurm in seine Schranken zu verweisen.
Der Junge rang sichtlich mit sich und En Rui konnte all den Zorn erkennen, den er zu unterdrücken versuchte. Wie leicht der Ausländer einfach zu lesen war…
„Ziemlich schwach, findet Ihr nicht?“, warf der junge Ausländer ihm schließlich vor.
„Oh?“, zog En Rui überrascht die Augenbrauen hoch, sollte das etwa ein letztes Aufbäumen werden?
„Fühlt Ihr Euch wirklich so überlegen?“, spie der Junge ihm kurz danach entgegen, offensichtlich darum bemüht, seinen Mut nicht zu verlieren. „Es sieht eher so aus, als ob Ihr Euch nicht einmal traut mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen! Ihr versteckt Euch hinter diesem Anwaltstitel, obwohl Ihr so viel älter seid und blickt auf mich herab, nur weil das Schicksal es besser mit Euch meinte. Doch was ist hinter dieser Fassade? Ein kleiner Wicht, der Angst hat, sich mit einem fünfzehn Jahre jüngeren Jugendlichen anzulegen? Nur, weil dieser im schlimmsten Fall Eure Schauspielerei aufdecken könnte? Seid Ihr wirklich so feige?“
„Ha…“, keuchte der Junge keinen Augenblick später, während er vornüber zusammen klappte.
Nur mit Mühe riss sich En Rui wieder zusammen und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während er seine andere, zur Faust geballte Hand aus der Magengrube des Jungens löste. Wie konnte dieser Bastard es wagen!
„He… he…“, zog der Junge mit einem, nach Luft hechelnden, Lachen erneut seine Aufmerksamkeit auf sich. „Da habe ich wohl einen Nerv getroffen, was?“
Das reichte endgültig!
Wütend packte En Rui den jungen Ausländer am Kragen, riss ihn mit voller Wucht auf die Beine und presste zornig hervor: „Du hast soeben eine Grenze überschritten, von wo es kein Zurück gibt, du kleiner Bastard! Ich ein Wicht, ja?“
„Arg!“
Ein zweiter Schlag in die Magengrube ließ den Ausländer erneut zusammen klappen, nur um daraufhin wieder empor gerissen zu werden.
„Scheinbar muss ich klarer werden, damit so ein einfältiger Idiot wie du, es auch verstehen kann“, erklärte er wütend, während er sich geringfügig am Leid des Jungen weidete. „Ich hatte nie vor deinen belanglosen Fall zu übernehmen. Was kümmert mich das Leid von mittellosen Schnorrern, die schon längst in irgendeiner Gasse verrotten sollten?“
„Pah!“, spie er aus und fuhr fort: „Dein bester Schachzug war es tatsächlich diesen Sesselfurzer, Hua Han Ning, für dich zu gewinnen. Dabei hatte ich ihn dir nur zur Seite gestellt, um in der Firma mein Ansehen zu bewahren. Wer konnte schon damit rechnen, dass der Trottel auf seine alten Tage noch einmal eine geistige Genialität zustande bringen würde, die mir die Hände vorübergehend bindet und gleichzeitig deinen Fall löst. Mai Ping Lun mit ins Spiel zu bringen… Wenn ich nicht rechtzeitig einen Tipp von einer meiner Quellen bekommen hätte, wäre ich wahrscheinlich am Wochenende gleich bei meiner ersten Begegnung mit diesem gerissenen Schwein einen Kopf kürzer gemacht worden…“
„Nur zu dumm, dass Ihr mich noch nicht losgeworden seid“, säuselte er nach einer kurzen Pause. „Haha… Ihr beide ward so sehr damit beschäftigt mir das Leben zur Hölle zu machen, dass ihr gar nicht bemerkt habt, welche Vorteile ihr mir unbemerkt verschafft habt. Mein Plan sah vor, dich vor den Medien zu einer Aussage zu zwingen. Mir war klar, dass ich besten Falls mit schlechten Ergebnissen rechnen konnte und was macht ihr? Ihr liefert mir die perfekte Pressekonferenz, in der ich vollkommen glaubhaft weder zu positiv noch zu negativ dargestellt werde. Jetzt bleibt mir nur noch übrig, meinen Kontaktmann bei den Medien ein paar ach so vertrauliche Informationen zu zusenden. In denen wird erklärt, wie ich entgegen deiner Meinung zum Trotz darauf bestanden habe, dass du deine persönlichen Daten für dich behältst, um dein Privatleben zu schützen, ganz egal was mit mir passiert und voila! Der aufopferungsbereite Bei En Rui, der Staranwalt der Stadt, ist wiedergeboren!“
„Das… das…“, stotterte der Junge und En Rui labte sich an der Unsicherheit des Ausländers.
„Ach ja und was diesen Mai Ping Lun betrifft… Ich muss sagen, dass wir ziemlich auf einer Wellenlänge liegen“, erwähnte En Rui fast beiläufig und richtete seinen Anzug wieder. „Insgesamt scheint er ein angenehmer Geselle zu sein, der mir helfen wird die Karriereleiter ganz nach oben zu erklimmen. Denn Beziehungen sind der Unterschied zwischen so armseligen Kreaturen wir dir und einem erfolgreichen Anwalt wie mir. Jetzt kostet es mich wahrlich nur noch einen Anruf und das Leben, welches du kennst wird aufhören zu existieren. Von Ping Luns Seite wurde mir zugetragen, dass du zwei kleine Geschwister hast? Du willst doch nicht, dass ihnen etwas zustößt, oder? Menschen- und Organhandel ist etwas Furchtbares sagt man, aber wer weiß, vielleicht findet deine kleine Schwester ja etwas daran mit acht oder neun Jahren einen erwachsenen Freier zu beglücken. Kleine Jungs sollen wohl auch inzwischen im Trend liegen…“
„Du Bastard, wehe du rührst sie an!“, rief der junge Ausländer entsetzt und machte sich daran, ihm einen Schlag zu verpassen. Doch En Rui konnte dem tölpelhaften Versuch problemlos ausweichen, trat dem Jungen von hinten in ein Kniegelenk und brachte ihn so zu Fall. Ein, zwei schnelle Tritte in die Seite beendeten die Aktion, indem sie dem Jungen sämtlichen Ehrgeiz nahmen sich zu erheben.
„Du solltest deine Gewaltausbrüche ein wenig zügeln, mein Kleiner“, schmunzelte En Rui. „Keine Ahnung wie du mit deinem Gerechtigkeitswahn soweit unten auf der sozialen Leiter überhaupt überleben konntest. Aber glaube mir wenn ich dir sage, dass dir dein Glück nicht mehr lange hold sein wird, wenn du dich hier auch nur noch einmal blicken lässt, verstanden?“
„…“
Keine Reaktion, was?
Mit guter Laune trat En Rui zwei weitere Male zu und meinte süffisant: „Sei froh, dass Ping Lun zurzeit seinen Wahlkampf im Auge hat, sonst wärst du längst unter der Erde. Also fick deine Vorfahren bis zur achtzehnten Generation und mach, dass du hier verschwindest. Haha.“
Danach wandte er sich von dem Haufen Elend am Boden ab und betrat den Aufzug. Er hatte lange genug seine Zeit mit diesem Arschloch verschwendet.
Bahe hielt sich zusammen gerollt in Embryohaltung die Seite und wartete angespannt darauf, dass sich die Aufzugtüren schlossen.
„Nur damit du es weißt, ich werde dich nicht vergessen. Es wird der Tag kommen, an dem Mai Ping Lun und ich nicht mehr so stark auf unser Image achten müssen. Und dann, mein Junge, solltest du lieber längst das Weite gesucht haben, hahaha!“
Das grausige Lachen des Anwalts verhallte langsam als sich endlich die Türen schlossen und Bahe erleichtert aufatmen konnte.
Im Folgenden kroch er mitleidserregend zur bepflanzten Fensterbank, ehe er plötzlich problemlos aufstand und zwischen den Blättern einer Pflanze etwas suchte. Wenig später zog er schließlich sein altes Smartphone heraus und beendete die Aufnahme mit einem Grinsen.
Es war alles drauf. Vom Anfang mit Bei En Ruis bedrohlicher Aussage, dass er einen Fehler begangen hätte, bis zum Ende, wo er zusammen geschlagen wurde und elendig aus dem Bild heraus kroch.
Erleichtert seufzte er und rieb sich die Seite, die mehrere Tritte eingesteckt hatte. Glücklicherweise hatte er sich leicht drehen können, sodass seine Bauchmuskeln das Meiste an Kraft abfangen konnten. Aber er würde wahrscheinlich trotzdem einige blaue Flecken davon tragen.
Vorhin hatte er nur einen kurzen Moment gehabt, um sich etwas einfallen zu lassen und sein altes Smartphone war schließlich die Rettung gewesen. So ziemlich jeder besaß mittlerweile ein Prophone. Die Menschen genossen es, die neusten Modelle und dementsprechend vor allem die kleinsten Modelle, mit sich zu führen. Prophones als Ringe und Anhänger von Ketten oder Armbänder waren die beliebtesten Varianten. Doch eins hatten sie alle gemein. Es war vorgeschrieben, dass sie alle rot aufleuchteten, wenn sie eine Aufnahme tätigten, damit niemand jemand anderen unbemerkt filmen konnte. Nicht, dass es den Einheimischen in China nicht sowieso egal gewesen wäre. Aber es zählte der Grundgedanke.
Es gab kaum noch jemanden, der ein altes Smartphone benutzte und die Leute vergaßen schnell, dass es bei diesen Exemplaren keinen Warnmechanismus gab. Ein im Schatten der Pflanze verstecktes Smartphone fiel nicht weiter auf, wenn man nicht aktiv danach suchte und Bei En Rui war in all seiner Arroganz nicht einmal darauf gekommen, dass er etwas dergleichen versuchen könnte.
Jetzt musste er nur noch entscheiden, was er mit seiner Aufnahme unternehmen würde… Die letzten Sätze zu seinen Geschwistern hatten Bahe wirklich getroffen… So gern er dieses Video auch veröffentlichen würde… Wenn er das tat, was hielt Bei En Rui dann davon ab, seine Drohungen wahr zu machen?
Wahrscheinlich war es das Beste, dass Video zunächst mal an Han Ning zu schicken und mit ihm zu bereden, wie er weiter vorgehen sollte. Eifrig suchte er den WE-Chat mit Han Ning heraus und sendete das Video an ihn. Bahe wartete einen Moment, doch nichts passierte. Das Video konnte aus irgendeinem Grund nicht versendet werden.
„Was soll das den jetzt…?“, murmelte Bahe, als er überlegte woran es liegen könnte.
„Ah verdammt, mein Guthaben ist alle“, stöhnte er wenig später und fasste sich seufzend an den Kopf.
Das war der Nachteil, wenn man arm war… Vor einigen Wochen hatte er sich nicht einmal einen Jahresvertrag für den Internetzugang leisten können. Dabei waren die Verträge in China so unglaublich billig, dass so ziemlich jeder Haushalt über mehr High-Speed-Internetvolumen verfügte, als er jemals verbrauchen konnte.
Genervt zuckte er schließlich mit den Schultern und sprach mit sich selbst: „Was soll’s… Jetzt weiß ich wenigstens, was ich auf dem Rückweg noch besorgen muss.“
Anschließend machte er sich auf den Weg zum Warenannahmebereich und verließ das Gebäude auf den gleichen Weg, über den er zuvor gekommen war, um den Reportern zu entgehen.
„Scheiße!“, fluchte Kaiwen zum wiederholten Male, als sich erneut die Reporter anderer Sender in ihr Sichtfeld schoben und ihr den Blick versperrten. Die Pressekonferenz war ein völliger Reinfall für sie gewesen. Dieser junge Ausländer, Bahe Dragon, hatte einen so kleinen Auftritt gehabt, der kaum der Rede wert war. Damit konnte Kaiwen mal gar nichts anfangen.
Jetzt hing sie hier mit den unzähligen anderen Reportern vor dem Haupteingang fest und hoffte darauf, dass sich der Junge irgendwann zeigen würde.
„Arg… eigentlich ist es Unsinn hier zu warten. Als ob Bahe sich hier blicken lassen würde…“, murmelte sie vor sich hin. Wenn schon, dann würde er wahrscheinlich auf anderem Wege das Gebäude verlassen. Es gab doch bestimmt einen Hintereingang…
Kaum war ihr der Gedanke gekommen, machte sich Kaiwen hektisch daran die Straße runter zu laufen. In einem regelrechten Sprint lief sie an der nächsten Kreuzung nach rechts und blickte dreißig Meter später nach rechts in eine Einbahnstraße, die am Gebäude der Chen Law Firm vorbei führte.
„Ist er das…?“, stieß sie aus, als sie in fünfhundert Meter Entfernung jemanden aus dem Anwaltsgebäude treten sah.
Erst war sie sich unsicher und bewegte sich noch zaghaft auf den jungen Mann zu, da er ihr den Rücken zugewandt hatte und in die andere Richtung lief, aber als sie das blonde Haar erkannte, beschleunigte sie ihre Schritte erneut.
„Hey!“, rief sie lautstark. „Hey, warte!“
Doch der Kerl hörte sie scheinbar nicht. Grimmig rannte sie weiter und kam ihm allmählich näher. Aber den Abstand von fünfhundert Metern überwand man nicht so schnell.
„Verflucht ist er schnell…“, presste sie missmutig beim Rennen hervor, während sie beobachtete wie ihr Ziel zügigen Schritts die Straße in die entgegengesetzte Richtung runter lief.
Es lagen immer noch zweihundert Meter zwischen ihnen, als Bahe die letzten Meter der Straße zurücklegte und Kaiwen panisch zu ihm herüber schrie: „Hey, warte! Bahe, ich will mit dir reden!“
Bahe blieb offensichtlich überrascht stehen und drehte sich kurz um.
„Warte! Ich habe Fragen an dich!“, schrie sie erneut lautstark, um ihm zum Bleiben zu bewegen, doch es kam ganz anders, als sie erwartete.
Denn Bahe rannte plötzlich im Affenzahn davon und verschwand am Ende der Straße rechts hinter den Gebäuden.
Verblüfft und schwer atmend kam Kaiwen zum Stehen.
„Was… was denkt sich der Kerl!“, machte sie ihrer Wut Luft und begann von Neuem los zu preschen. Doch an der Kreuzung angekommen musste sie feststellen, dass Bahe verschwunden war. Auf der anderen Seite der Straße befand sich eine U-Bahn-Station. Mittlerweile konnte er überall sein.
„Mist!“, fluchte sie und schob sich ihre, vom Rennen zerzausten, Haare aus dem Gesicht und versuchte sie ein wenig zu glätten. Anschließend richtete sie ihr Jackett und stemmte die Hände in die Hüften.
Scheinbar musste sie ihn erneut in dieser alten Absteige besuchen.
Mürrisch machte sie sich auf den Weg.
„Herr Bei?“, erklang die Stimme seines Assistenten vom Eingang seines Büros und En Rui blickte fragend auf.
„Was gibt es?“
„Herr Ma wünscht Sie zu sprechen.“
„Herr Ma?“, fragte En Rui überrascht nach.
„Ja“, nickte sein Assistent. „Sie hatten mich doch gebeten ein Gespräch mit der Chefetage auszumachen.
„Ja, aber du weißt doch genau, dass ich Herrn Lu damit meinte“, meinte En Rui genervt von der Unfähigkeit seines Assistenten.
„Das ist mir bewusst, Herr Bei. Aber Herr Ma bestand persönlich darauf, die Nachbesprechung bezüglich der Pressekonferenz mit Ihnen zu führen.“
„Oh?“, zog En Rui überrascht die Augenbrauen nach oben und dachte nach. Was konnte die rechte Hand des Firmenchefs denn von ihm wollen?
Viele wussten es nicht, aber die Führungsetage der Chen Law Firm bestand aus dem Firmengründer Herrn Chen, sowie seiner rechten Hand Herrn Ma und dessen Partnern Herrn Lu und Herrn Su.
Durch viele kleine Tricks hatte En Rui es erreicht, gewisser Maßen ein Schützling von Herrn Lu zu werden. Was selbstverständlich der Grund war, wieso er die wichtigen Dinge hauptsächlich mit Herrn Lu besprach.
Es passte ihm gar nicht, dass Herr Ma darauf bestanden hatte, mit ihm sprechen zu wollen. Gegen Herrn Su hätte sein Mentor noch etwas sagen können, nicht aber gegen die rechte Hand des Firmenchefs…
Was wollte er wohl…?
„Dann sollten wir Herrn Ma wohl besser nicht so lange warten lassen, oder?“, meinte En Rui mit einem seiner Engelslächeln und fuhr mit seinem Assistenten eine Etage hinauf.
„Willkommen Herr Bei“, meldete sich eine Sekretärin von ihrem Schreibtisch zu Wort sobald En Rui aus dem Aufzug trat. „Herr Ma erwartet sie bereits.“
En Rui nickte und wollte schon das Büro von Herrn Ma betreten, als die Sekretärin ein weiteres Mal sprach: „Oh, Ihr Assistent wird hier nicht benötigt, Herr Bei.“
„Aber selbstverständlich“, meinte En Rui mit einem Lächeln und wies seinen Assistenten mit einer Kopfbewegung an, unten auf ihn zu warten. Anschließend betrat er das Büro von Herrn Ma.
„Guten Tag, Herr Ma“, grüßte er diesen beim Betreten des Raumes.
„Setzten Sie sich“, meinte dieser nur knapp, ohne von seinen Unterlagen aufzuschauen.
En Rui blieb nichts anderes übrig, als die aufkommende Wut über den fehlenden Respekt herunter zu schlucken und sich seinem Chef gegenüber zu setzen.
Doch zu seiner Verblüffung wurde er weiterhin ignoriert. Es dauerte geschlagene zehn Minuten, in denen es En Rui von Moment zu Moment schwerer fiel seine freundliche Miene beizubehalten, ehe sein Chef schließlich die Unterlagen zur Seite legte und ihn zum ersten Mal anschaute.
„Was macht Ihrer Meinung nach einen guten Anwalt aus?“, fragte in sein Chef schließlich.
„Ähm…“, wollte er sich gerade äußern, da wurde er bereits von seinem Chef übergangen.
„Erfolg und Diskretion“, erläuterte Herr Ma und fuhr fort: „Der einzige Grund weshalb ich Sie bisher geduldet habe, war der Grund, dass Sie eins der beiden Dinge versprachen, Erfolg. Doch das ist im Anwaltsgeschäft nicht alles und ich bin der Meinung, dass Ihr Mentor, Herr Lu, Ihnen viel zu viel durchgehen lässt.“
En Rui schluckte nervös, während er krampfhaft versuchte seine freundliche Maske aufrecht zu erhalten und nach den passenden Worten suchte.
„Ich…“
Doch sein Chef ließ ihn ein weiteres Mal nicht zu Wort kommen und meinte abschätzig: „Lassen sie doch Ihren aufgesetzten, freundlichen Gesichtsausdruck. Ich weiß genau, dass Sie innerlich vor Wut kochen.“
„Aber Herr Ma, wie kommen sie denn…“, gab sich En Rui diesmal schnell entrüstet, nur damit ihm wenig später vor lauter Panik die Worte im Halse stecken blieben. Sein Chef hatte seine Visualisierungsfläche eingeschaltet. Es zeigte das Bild einer Überwachungskamera aus dem Vorbereitungsraum der Pressekonferenz…
Angstschweiß lief ihm fast augenblicklich den Rücken hinunter, als ihm klar wurde, was dies bedeuten konnte.
„Es sollte Ihnen nun klar sein, dass ich sehr wohl weiß, mit wem ich es hier zu tun habe“, meinte sein Chef ohne jegliche Gefühlsregung. „Der einzige Grund weshalb ich Sie nicht entlasse, ist das Image dieser Firma. Wenn ich Sie nach dieser Pressekonferenz feuern würde, hätte die Chen Law Firm damit nur zugegeben, dass die Medien Recht haben. Das wäre für unser Ansehen noch schlimmer als Sie vorübergehend weiter zu beschäftigen. Ihre Art und Weise Aufgaben an fähige Untergebene zu übertragen und selbst dafür die Anerkennung einzuheimsen mag bisher funktioniert haben. Aber das hört ab sofort auf, haben sie mich verstanden?“
En Rui nickte nur benommen.
„Gut“, zeigte sich sein Chef zufrieden. „Ihre Machenschaften mit Mai Ping Lun interessieren mich einen Scheiß, aber Sie werden auf jeden Fall die Finger von diesem Bahe Dragon lassen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Si…Sicher…“, gab En Rui mehr schlecht als recht von sich, dachte aber insgeheim darüber nach, wie er seine Wut an diesem Jungen auslassen könnte…
„Bei allen Himmeln Herr Bei, man kann Sie lesen wie ein offenes Buch“, lachte sein Chef plötzlich. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Der Junge und seine Familie sind mir egal, nicht aber das Ansehen dieser Firma, genauso wenig wie die Leichtsinnigkeit und Dummheit meiner Angestellten!“
En Rui warf seinem Chef einen missbilligenden Blick zu, wurde jedoch nur mit einem weiteren Lachen belohnt.
„Was? Glauben Sie etwa ich liege falsch?“, provozierte ihn sein Chef und spulte das Video plötzlich vor.
Vollkommen verdattert starrte En Rui wenig später auf den Moment, indem Bahe aufstand und sein Smartphone aus der Pflanze zog. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Augenblicke beschleunigte sich entsetzt seine Atmung als ihm nun vollends bewusst wurde, was sein Chef ihm hier eigentlich zeigte.
„Was diese Aufnahme betrifft, müssen Sie sich keine mehr Sorgen machen“, teilte ihm sein Chef wütend mit. „Zumindest solange Sie den Jungen und seine Familie in Ruhe lassen… Mehr fürchte ich, konnte ich aus dieser Angelegenheit nicht für die Firma heraus holen. Sie verstehen, was ich meine…?“
„Natürlich, nur für die Firma…“, nickte En Rui finster.
„Genau“, nickte Herr Ma und meinte anschließend vernichtend: „Dies ist der letzte Fehler, den ich Ihnen durchgehen lasse. Erlauben Sie sich keinen Weiteren. Ab sofort erwarte ich von Ihnen wieder vernünftige Anwaltsarbeit und machen Sie sich keine falschen Vorstellungen. Nach Absprache mit Herrn Lu wird Sie dieser mit Sicherheit nicht mehr als Ihren Schützling ansehen.“
„Selbstverständlich“, stimmte En Rui schnell zu.
„Gut, Sie können gehen.“
Innerlich vor Wut tobend, stand En Rui bemüht beherrscht auf und verließ das Büro so schnell er konnte. Da er seines Ansehens vor dem Chef beraubt worden war, hatte er keinen Grund mehr den Schein zu wahren.
Verdammt, er konnte nur hoffen, dass dieses Arschloch es zunächst für sich behielt und nicht den alten Firmengründer damit behelligte. Zum größten Teil hatte sich Herr Chen eigentlich aus dem aktiven Geschäft zurück gezogen, aber wie konnte En Rui sich sicher sein, dass es dabei blieb?
„Einen schönen Tag noch, Herr Bei“, verabschiedete die Sekretärin ihn freundlich, während er den Aufzug bestieg.
Mit größter Willensanstrengung, setzte er wieder sein Lächeln auf als er sich umdrehte und antwortete: „Ihnen auch noch einen schönen Tag.“
Dann schoben sich die Aufzugstüren in sein Sichtfeld und er ließ sofort die Maskerade fallen.
„Fuck!“, fluchte er, als er seine flache Hand gegen die Aufzugswand knallte.
Wie hatte ihm die Überwachungskamera entgehen können? Und noch viel wichtiger, wie hatte er zulassen können, dass dieser Wurm von einem Jungen ihn dermaßen vorführte? Dieser Sohn einer Schildkröte hatte doch tatsächlich eine Filmaufnahme gemacht!
„Scheiße!“, fluchte er ein weiteres Mal und schlug seine Hand erneut gegen die Aufzugswand.
Wer benutzte heute schon noch Smartphones? Wie hätte er voraussehen können, was dieser Junge vorhatte? Er hatte den Vorbereitungsraum doch kaum zwei Minuten nach diesem Bastard betreten! Wie hatte der Junge so schnell geschaltet? Hatte er seine Unsicherheit eventuell nur gespielt?
Wobei… was war mit diesem Idioten, Hua Han Ning? War das alles vielleicht sein Plan gewesen?
Schließlich hatte er ihn früher mal nach Strich und Faden verarscht…
„Scheiß drauf!“, presste er hervor.
Sie mussten auf jeden Fall alle dafür bezahlen!
Angefangen mit diesem Unglücksbringer, Bahe Dragon, dem naiven Anwalt Hua Han Ning und letztlich würde er es auch seinem Arschloch von Chef heimzahlen…
Die sollten nur abwarten, dachte er hasserfüllt. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Das sich die Fingernägel seiner linken Hand vor lauter unterdrückter Wut in seine Handflächen bohrten, bis die ersten Blutstropfen flossen, bemerkte er gar nicht.
Dann kam der Aufzug zum Stehen und En Rui trat mit seinem typischen Engelslächeln heraus. Einzig seine Augen zeugten beim genauen Hinsehen noch von dem brodelnden Vulkan unter der Oberfläche.
Als Han Ning zu Hause ankam, hieß ihn sofort der leckere Geruch des Abendessens willkommen.
Gedämpftes Rindfleisch, wenn er sich nicht irrte…
Allein beim Gedanken daran lief ihm schon das Wasser im Mund zusammen.
Schnell zog er seine Schuhe aus und begab sich ins Schlafzimmer um sein Jackett abzulegen. Anschließend betrat er noch kurz sein Arbeitszimmer und klappte seine Aktentasche auf. Ganz oben auf, lag das Empfehlungsschreiben der Chen Law Firm und Han Ning konnte einfach nicht anders, als es sich noch einmal anzusehen.
Wie es wohl wäre, seine Frau damit zu überraschen?
Mit einem Grinsen packte er die offene Mappe, in der sich das Dokument befand und machte sich auf zur Küche. Doch kaum an der Tür angekommen, segelten plötzlich zwei Zettel aus der Mappe. Genervt bückte sich Han Ning und griff nach den Blättern, ehe er sich erhob.
„Wieso waren die denn nicht eingeheftet…?“, murmelte er vor sich hin, ehe er plötzlich in der Bewegung verharrte.
Beide Blätter zeigten Fotos, die er nur zu gut kannte… Wenn auch aus anderer Perspektive…
Es waren Aufnahmen von Überwachungskameras. Auf dem einen Zettel war Bahe in seiner Auseinandersetzung mit Bei En Rui zu sehen und der andere Zettel zeigte Han Ning selbst, wie er gerade das Empfehlungsschreiben seines Chefs entgegen nahm.
Auf dem zweiten Blatt stand zudem eine kurze getippte Notiz:
Wenn Sie genau darüber nachdenken, bringt es niemanden Vorteile, die Aufnahme zu veröffentlichen. Ich hoffe, wir verstehen uns.
„Scheiße“, stieß Han Ning frustriert aus.
Allmählich machte alles Sinn.
Er hatte sich schon gewundert, wie er sich die Empfehlung verdient hatte. Aber scheinbar war sie einfach ein Mittel mit dem Zweck gewesen, ihn ruhig zu stellen.
Sicher, Bahe und er konnten Bei En Rui zweifellos bloßstellen, aber was wären die Konsequenzen?
Der Junge hatte durchaus richtig gehandelt, als er ihm das Video schickte. Im WE-Chat hatte er ihn außerdem noch seiner Meinung gefragt, wie er am besten damit verfahren sollte.
Tja, damit war Han Ning sich selbst nicht so sicher…
Auf der einen Seite vermutete er zwar, dass die Drohungen Bei En Ruis nur heiße Luft waren, aber wirklich sicher war er da nicht. Der Trick, Bei En Rui quasi an Mai Ping Lun ausgeliefert zu haben, ging jetzt nach hinten los.
Der Typ war alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse und Han Ning wollte lieber nicht riskieren, sich diesen Mann mehr als notwendig zum Feind zu machen.
Und dann war da jetzt auch noch Ma Wenlan, der ihm dieses ach so tolle Empfehlungsschreiben zugesteckt hatte und Aufnahmen darüber besaß, wie dankbar er es doch angenommen hatte.
Abgesehen davon, dass er sich beim Veröffentlichen des Videos nicht nur die gesamte Chen Law Firm zum Feind machen würde, hätte Ma Wenlan sogar noch die Möglichkeit ihn auf Erpressung zu verklagen. Wieso sonst, hätte er aus heiterem Himmel ein Empfehlungsschreiben vom stellvertretenden Boss persönlich überreicht bekommen, wenn er doch sonst nie etwas mit ihm zu tun hatte?
„Ah…“, seufzte Han Ning resigniert.
Wieso hatte er nicht nachgedacht, als ihm die Empfehlung angeboten wurde? Vermutlich weil er einfach mal Glück haben wollte…
Dabei war der Wink seines ehemaligen Chefs nur zu deutlich gewesen.
Er hatte ihm mit diesen Zetteln zu verstehen gegeben, dass er über alle Sachverhalte Bescheid wusste und ihm gleichzeitig indirekt gedroht, ohne sich jedoch die Finger schmutzig zu machen. Schließlich gab es nichts, was sich zu ihm zurück verfolgen ließ…
Dieser Kerl war nicht umsonst schon so lange im Geschäft…
„Na ja… gänzlich negativ ist die Situation jetzt auch wieder nicht“, redete er mit sich selbst. Immerhin hatte Ma Wenlan es für nötig befunden, sich mit ihm über Umwege in Verbindung zu setzen. Im Umkehrschluss bedeutete dies auch, dass er sich wahrscheinlich längst um Bei En Rui gekümmert hatte.
Han Nings ehemaliger Chef war bekannt dafür niemals lose Enden zu hinterlassen, egal ob vor Gericht oder in der Firma. Wenn er etwas in die Hand nahm, dann wurde auch ein Endergebnis erzielt.
Letztlich war das Video also eine Art Versicherung. Solange Bahe und er es besaßen und nicht veröffentlichten, hatten alle anderen Parteien viel zu viel zu verlieren. Sollten sie es aber veröffentlichen, würde es eine Vielzahl unangenehmer Folgen mit sich bringen, die schwer abzuschätzen waren.
Alles im allen waren sie besser damit beraten das Video geheim zu halten. Er hatte ein Empfehlungsschreiben einer angesehenen Kanzlei und Bahe und seine Familie konnten davon ausgehen nicht behelligt zu werden.
Das auch nicht einmal etwas einfach sein konnte, wenn es diesen Jungen betraf…
Über die ganze Situation konnte Han Ning nur den Kopf schütteln.
„Schatz, wo bleibst du denn?“, rief seine Frau aus der Küche und Han Ning beeilte sich zu antworten: „Ich komme sofort!“
Hastig verstaute er die Empfehlung, samt der anderen Zettel wieder in seiner Aktentasche und begab sich zu seiner Familie.
Bahe konnte er auch nach dem Essen noch kontaktieren und dann… dann hätte er diesen unmöglichen Fall endlich abgeschlossen.
„Bahe! Ich weiß, dass du da bist! Mach auf!“, rief Kaiwen energisch als sie stürmisch gegen die alte Haustür schlug.
Doch die Tür blieb geschlossen.
„Verdammt!“, stieß sie frustriert aus und drehte sich hilflos im Kreis, während sie fieberhaft überlegte, wo der Junge sonst noch sein könnte.
Da es nach der Pressekonferenz bereits später Nachmittag gewesen war, war sie davon ausgegangen, dass der Junge zu seiner Wohnung zurückkehren würde, doch inzwischen hatten sie zwanzig Uhr und der Mistkerl war immer noch nicht aufgetaucht.
Ans Telefon ging der kleine Idiot natürlich auch nicht.
So eine Scheiße aber auch!
„Arg!“, schrie sie wütend und schoss, vor Frust, einen herum liegenden Stein über den alten Hinterhof.
„Was machen Sie denn hier für einen Radau?“, erklang plötzlich eine zarte und fast schon gebrechliche Stimme.
„Wa...“, zuckte Kaiwen überrascht zusammen und entdeckte die alte Dame, die sie damals bei ihrer ersten Begegnung doch netter Weise in Bahes Wohnung gelassen hatte.
Schuldbewusst fuhr Kaiwen such durch die Haare und antwortete: „Tut mir Leid, Frau Ma. Ich muss nur so dringend mit Bahe sprechen und warte jetzt schon seit Stunden.“
„Ah, Sie sind die Reporterin vom letzten Mal“, erkannte die alte Dame Kaiwen und sagte: „Wenn Sie Bahe suchen, muss ich Sie enttäuschen. Er wohnt nicht mehr hier.“
„Was?!“, rief Kaiwen vor Schreck viel lauter aus als gewollt und entschuldigte sich sofort.
„Ist schon in Ordnung“, meinte die Frau Ma. „Bahe hat mir gesagt, dass er wieder zu seiner Familie zieht. Mehr weiß ich aber nicht. Ich habe mich auf jeden Fall für ihn gefreut. Er hat mir erzählt, dass er einiges an Geld verdient hat und deswegen wieder mit seiner Familie zusammen leben könnte. Scheinbar hat ihm Ihr Interview genug Geld eingebracht. Dafür wollte ich Ihnen noch danken.“
„Äh… aber sicher, kein Problem“, sagte Kaiwen schnell und dachte nach. Jetzt, wo die alte Dame es angesprochen hatte. Bahe hatte ihr damals noch vor dem Interview mitgeteilt, dass er seine Wohnung kündigte… Sie hatte es nur schlicht weg vergessen.
Zerknirscht tat sie so, als ob wirklich sie für Bahes Geldregen verantwortlich wäre, setzte ihr Pokerface auf und fragte: „Sie haben also keine neue Adresse von ihm?“
„Leider nein“, sagte die alte Dame. „Dabei war er ein so netter junger Mann.“
„Oh man…“, seufzte Kaiwen.
„Nur nicht verzagen, Sie finden ihn schon. Darf ich Ihnen als Dankeschön für die Hilfe, die Sie ihm und seiner Familie zukommen lassen haben, eine Tasse Tee anbieten?“
„Ah… ehm… nein, danke“, lehnte Kaiwen unangenehm berührt schnell ab. „Ich muss dann jetzt leider weiter. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
„Ich Ihnen auch, mein Kind“, lächelte Frau Ma verständnisvoll und Kaiwen nahm nur noch schleunigst die Beine in die Hand.
Die Situation war ihr wirklich mehr als unangenehm gewesen.
Kurz vor dem Eingang der nächsten U-Bahn-Station blieb sie stehen und überlegte, wie sie den Jungen finden konnte. Musste aber für sich feststellen, dass sie tatsächlich so ziemlich keinen Anhaltspunkt hatte, wo sie ihn suchen sollte…
„Mist!“, fluchte sie leise und stemmte die Hände in die Hüften.
Was sollte sie bloß tun?
Resigniert schaute sie in der Umgebung umher, bis ihr Blick plötzlich an der aufgesprühten Werbung eines Busses hängen blieb. Mit fantastischen Bildern wurde für Raoie und die Dimensional Leap-Systeme geworben.
Das war es!
In Raoie war sie ihm schon einmal begegnet. Das konnte ihr wieder gelingen.
„Ha, ich finde dich schon noch, Bahe Dragon!“, redete sie sich selbstbewusst zu und lief die Treppe zur U-Bahn hinab.
Bahe war gerade dabei in sein Dimensional Leap-System zu steigen, als er so heftig nießen musste, dass er sich fast den Kopf gestoßen hätte.
Redete etwa gerade jemand über ihm?
Man sagte doch, dass man nur so heftig nießen musste, wenn jemand hinterrücks über einen sprach…
Aus irgendeinem Grund wanderten seine Gedanken an die Frau, die wie eine Wahnsinnige auf ihn zugestürmt war, als er aus dem Gebäude der Chen Law Firm getreten war. Mit all den Haaren im Gesicht und dem hysterischem Geschrei hatte sie wie eine Irre auf Freigang gewirkt und er hatte lieber schleunigst das Weite gesucht…
„Ach was soll‘s…“, zuckte Bahe schließlich mit den Schultern und begann sich einzuloggen.
Teil 6/7!
RiBBoN
Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!
1
|
AGoHovi90er • Am 22.09.2024 um 16:49 Uhr • Mit 74. Kapitel verknüpft | |||||||
K.74: „… sinnlos war, sich aufzuregen.“ Das Komma weg. „… seinem Gegenüber, sagte Bahe…“ Komma einsetzen. „Was folgte, war nur ein Wort:“ Komma einsetzen. „… versuchte anschließend, „…“ Komma einsetzen. „… merkwürdige Erfahrung, die ganze Zeit…“ Komma einsetzen. „Zumindest, wie sich…“ Komma einsetzen. „Bahes Interaktionen, mit seinen Elementaren, hatten dem…“ Kommas einsetzen. „… mit Bahe ihr…“ ein „em“ bei „ihr“ dransetzen. „… meinst du mit, beim nächsten…“ Komma einsetzen. „Ich war hier, um dich…“ Komma einsetzen. „…schnipsen muss, um Dummheit…“ das Komma weg. „… flüssiges Wasser um…“ das Wort „um“ einsetzen. „… Gründen sind wir hier her gekommen.“ das Wort „hier her“ wird klein zusammengeschrieben. „… um dir herum…“ das Wort „dir“ durch „dich“ ersetzen. „… ich mich herum schlage…“ das Wort „herum schlage“ wird klein zusammengeschrieben. „… Auge zusammen gekniffen…“ das Wort „zusammen gekniffen“ wird klein zusammengeschrieben. „… und Gefühlen, die von außen…“ Komma einsetzen. „… die Stellen, an denen er es verspürte, so…“ Kommas einsetzen. „…von Meister, demnächst…“ das Komma weg. „… Zustand hinein versetzen…“ das Wort „hinein versetzen“ wird klein zusammengeschrieben. „… mit dir zu verbinden…“ das Wort „zu“ einsetzen. „…Veränderung, als er plötzlich …“ Komma einsetzen. „… fühlte sich an, wie …“ Komma einsetzen. „… inneren Auge auf,…“ das Wort „auf“ einsetzen. „… zu zögern, erlaubte…“ Komma einsetzen. „…die Farben, die ihn…“ Komma einsetzen. „… entdeckte, wie Limonas…“ Komma einsetzen. „… zusammen gesackt…“ wird klein zusammengeschrieben. „… dunkel um ihn herum.“ das Wort „herum“ einsetzen. Mehr anzeigen | ||||||||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 11.03.2023 um 8:24 Uhr • Mit 73. Kapitel verknüpft | |
K.73: „… zusammen reißen…“ wird klein zusammengeschrieben. „… war das Letzte, was Sin…“ das Komma weg. „Sich streckend, machte …“ das Komma weg. „… gehabt hätte, genügend Rationen …“ Komma einsetzen. „… zugegebener Maßen …“ wird klein zusammengeschrieben. „Normaler Weise …“ wird klein zusammengeschrieben. „… Dinge auch nocht?!“ das „t“ bei „nocht“ weg. „… dünnen Stock, mit der…“ Komma einsetzen. „… schein nett zu sein…“ ein „t“ bei „schein“ dransetzen. „… Lesen der Worte, verschlechterte …“ Komma einsetzen. „… ein Bisschen…“ wird klein geschrieben. „… zum Überlaufen.“ Das Wort „Überlaufen“ wird klein geschrieben. „… bekommen, so atmete er…“ das Wort „so“ einsetzen. „… zu führen, zeugt…“ Komma einsetzen. „… es Bahe, das tiefe…“ das Komma weg. „… da es erneut…“ das Wort „es“ einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 19.09.2021 um 17:20 Uhr • Mit 72. Kapitel verknüpft | |
K.72: "... der Taverne, zum blökenden Schaf, gemütlich gemacht.“ Kommas einsetzen. „… Ying genervt, über die Tatsache, dieses er gerade die Hälfte….“ Komma einsetzen und statt „dass“ das Wort „dieses“ ersetzen. „… Ursache seines Schrecks…“ das Wort „Schreckens“ ersetzen. „Das Schweigen, welches darauf folgte, war so…“ ein Komma zwischen „folgte“ und „war“ einsetzen. „… während sein Blick…“ statt „ihr“ das Wort „sein“ einsetzen. „… die entgegengesetzte Richtung, …“ das Wort „entgegen gesetzte“ wird klein zusammengeschrieben und das Wort „Richtung“ einsetzen. „ Also, zum Auftrag“, zwischen „Also“ und „zum“ ein Komma einsetzen. „Laut meinen Informationen, trainiert er…“ ein Komma einsetzen. „… würde er selbst, außerhalb seiner Arbeitszeit, vernünftiges Geld …“ Kommas jeweils einsetzen. „… zu beobachten, wie der gesuchte Spieler …“ das Komma weg. „… fragte Sin sich, mehr als nur einmal …“ ein Komma einsetzen. „… war aber schlicht weg …“ das Wort „schlicht weg“ klein zusammengeschrieben. „… geflüsterten Befehl, schnellten die…“ ein Komma einsetzen. „Das ist mir scheiß egal!“ das Wort „scheiß egal“ wird klein zusammengeschrieben. „… Bäume reichten, aufgrund des felsigen Untergrundes, nicht…“ Kommas jeweils einsetzen. „… seinen Kopf in Richtung Himmel…“ das Wort „in“ einsetzen. „Was ist mit Balu?“ fragte Bahe er schließlich.“ Das Wort „er“ weg. „… einen Moment zeit hatten…“ das Wort „Zeit“ klein schreiben. „Ein Rascheln von Blättern, ließ sein…“ ein Komma einsetzen. „… hoch fahren.“ wird klein zusammengeschrieben. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 14.09.2021 um 9:06 Uhr • Mit 71. Kapitel verknüpft | |
K.71: "... am Platz, in Schwärmerei ..." das Komma weg. "... die Methoden, mit denen ..." das Komma weg. "... und so ist die eure Tante ..." das Wort "die" weg. "... stellte dies achselzuckend fest." das Wort "dies" einsetzen. "... helfen könnt, die ganze Energie die in mir schlummern soll, zu bändigen?" die Kommas weg. "Merkwürdiger Weise ..." wird zusammengeschrieben. | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 13.09.2021 um 13:25 Uhr • Mit 70. Kapitel verknüpft | |
K.70: "Auch, wenn Bahe..." das Komma weg. "... viele Dinge, um die ..." das Komma weg. "... Mal am Meditieren." das Wort "am" durch " ans" ersetzen. "... er so tat, als hätte ..." das Komma weg. "... zusammen reißen, um nicht ..." das Wort "zusammen reißen " wird zusammen klein geschrieben und das Komma weg. "... als er hörte, wie seine ..." das Komma weg. "... Kinnlade, noch immer... " das Komma weg. "... gesprochen haben, wie ihr ..." das Komma weg. "... machte, die Stimme..." das Komma weg. "... nahezu aus seiner Trance..." das Wort "seiner " durch "ihrer" ersetzen. "... zuwarf, wenn sie..." das Komma weg. "... an Bahe, leicht verlegen..." ein Komma einsetzen. "Limona, hat sich..." das Komma weg. "... tat, als würde..." das Komma weg. "... ein Bisschen ..." wird klein geschrieben. "... geholfen, das Horn ..." das Komma weg. "... und es dir zu eigen machen." das Wort "es" einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 15.01.2021 um 17:21 Uhr • Mit 69. Kapitel verknüpft | |
K.69: "... Verhalten, hielt Bahe..." ein Komma einsetzen. "... nur, um im Türrahmen ..." das Komma weg. "... er begriff, welcher ..." das Komma weg. "... bilde dir bloß nichts ein." das Wort " dir" einsetzen. "...denn hier, dein Schüler?" ein Komma einsetzen. "... anbieten, ihn kostenlos ..." das Komma weg. "... froh war, eine Lösung ..." das Komma weg. "... schlicht weg..." wird klein zusammengeschrieben. "... verraten sollte, wie seine ..." das Komma weg. "... 15- bis Level 17- Spielern. " ein "n" bei "Spieler" dransetzen. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 15.01.2021 um 17:04 Uhr • Mit 68. Kapitel verknüpft | |
K.68: "... Hirn geschissen, oder?" ein Komma einsetzen. "... ideale Möglichkeiten an, Pfeile..." das Wort "an" und ein Komma einsetzen. "... hast Du´s, du verfickter ...." ein Komma einsetzen. "Der da, sieht gut ...." ein Komma einsetzen. "... und brachte, genau wie der Rest, alle Kraft auf, um ..." das Komma hinter "auf" weg und die Kommas hinter "brachte" und hinter " Rest" einsetzen. ".... den Spielern weg rennen..." das Wort "weg rennen" wird zusammen klein geschrieben. "... fiel, mitsamt des morschen Holzes, auf sie hinunter." Kommas einsetzen. "... fragte Nolen, ehe ihn ein..." ein Komma einsetzen. ".... bis die beiden..." das Wort "beiden" wird großgeschrieben. "... Bahe zu helfen, den Kadaver ...." das Komma weg. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 12.11.2019 um 15:41 Uhr • Mit 58. Kapitel verknüpft | |||||||
K.58: ".....vergnügen beobachten, wie sich ..." das Komma weg. "....nahm sie ein Bisschen...." das Wort "ein Bisschen" wird klein geschrieben. ".....zusammen leben." wird zusammen klein geschrieben. "..... zusammen leben." wird klein zusammen geschrieben. "......unscheinbar wir möglich...." das "wir" durch "wie" ersetzen. ".....taktisch vorgehen, um sie ...." das Komma weg. ".....verdrehte ob der ...." das Wort "ob" durch "wegen" ersetzen. "....., wie sie sich zunächst..." das Wort "sie" einsetzen. ".....er sich, während seiner innerlichen Auseinandersetzung, vorwärts...." Kommas einsetzen. "....etwas Leiser, damit die ...." das Komma weg . ".....genügend Abstand, hätte Bahe..." das Komma weg. ".......Tempo, dass..." ein "s" bei "dass" weg. "...den Himmeln..." das "n" bei "Himmeln" weg. "....gezwungen hatte, jeden Tag..." das Komma weg. "....heran gehen." wird klein zusammen geschrieben. "Nächstes Mal, warne mich...." ein Komma einsetzen. "....schwer fiel, Abstand ....." das Komma weg. ".....Interesse, es noch..." ein Komma einsetzen. ".....Brockens Treue, war eine...." Komma einsetzen. ".....versuchte jedoch, sich nichts..." das Komma weg. "....große Hilfe, oder?" ein Komma einsetzen. "....oben drauf..." wird zusammen klein geschrieben. ".....schwarz sehen." wird klein zusammen geschrieben. ".....der Schild ziemlich..." das Wort "der" durch "das" ersetzen. "......noch Einiges wert." das Wort "Einiges" wird klein geschrieben. "Denn hatte man schon ein Artefakt für sich beansprucht,......" umschreiben -> "Wenn man schon ein Artefakt für sich beansprucht hatte,...." . "......und der Schild...." das Wort "der" durch "das" ersetzen. ".....Schwertkämpfer, dem die Freude...." ein Komma einsetzen. ".....Bahe konnte, im Anbetracht seines Levels, die Entscheidung...." Kommas einsetzen und das Wort "im" durch "in" ersetzen. ".....nickend und mache..." ein "t" bei "mache" einsetzen. ".....Nerv tötende...." wird klein zusammen geschrieben. "....versuchte, bei ihrem Anblick, seine ..." ein Komma einsetzen. "....Bahe in der Hocke..." das "der" durch "die" ersetzen. "......der Art, wie es sich bewegte,..." Kommas einsetzen. ".....würde es bald losgehen,..." das Wort "es" einsetzen. "....hingegen, ohne Rücksicht auf Verluste, ihre ...." Kommas einsetzen. Mehr anzeigen |
||||||||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 15.10.2019 um 18:24 Uhr • Mit 57. Kapitel verknüpft | |
K.57: "......schlicht weg...." wird klein zusammen geschrieben. ".....entschieden hier her..." das "hier her" wird klein zusammen geschrieben. ".....Reißwölfe, suchen..." das Komma weg. ".....Gold wert." wird groß zusammengeschrieben. ".....ein Bisschen..." wird klein geschrieben. ".....aufgenommen hatten, ohne..." das Komma weg. "......zu können, ohne die ....." das Komma weg. ".....es so, oft..." das Komma weg. "....die, im Level hohen, Spieler...." die Kommas weg. ".....was die die Lef..." beide Worte "die" weg nehmen. ".....nur stumm an,...." das Wort "an" einsetzen. ".....gerade aus..." wird klein zusammen geschrieben. "......nehme an, dir ist..." das Komma weg. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 15.10.2019 um 18:10 Uhr • Mit 56. Kapitel verknüpft | |
K.56: ".....passte ja, wie die..." ein Komma einsetzen. "....Wälda bereist, bevor..." ein Komma einsetzen. ".....Mühe bereitete, nicht..." das Komma weg. ".....plötzlich ein Benachrichtungsfenster..." das Wort "ein" einsetzen. "......uns dort zu treffen?" das Wort "zu" einsetzen. ".....10-Spieler, die alle ihre Attributpunkte in den Stat...Spawnten." die Zahl wird als Wort ausgeschrieben und meinste du bei dem Wort "Stat" vielleicht "Start"? Dann fehlt da ein "r" drin. "....schlicht weg....." wird klein zusammen geschrieben. ".....hatte schlicht weg...." das "schlicht weg" wird klein zusammen geschrieben. "....hatte er ein Tutorial..." ein "e" an "ein" ansetzen. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 15.10.2019 um 17:28 Uhr • Mit 55. Kapitel verknüpft | |
K.55: ".....veranlasst hatte, alles..." das Komma weg. ".....bemüht, stets..." das Komma weg. "....Haustür, um ..." das Komma weg. "....kann ich nur, was?"... ein Komma einsetzen. "....wusste nicht, was sie ..." das Komma weg. "....festzustellen, wie er..." das Komma weg. ".....es das ist, was es....." das Komma weg. "..... über sich selbst, rümpfte er ...." ein Komma einsetzen. ".... er bemerkte, wie der..." das Komma weg. "....Tor schloss sich automatisch..." das Wort "sich" einsetzen. ".....der bemerkte, wie unangenehm es dem Mädchen war, ihren Vater..." die Kommas weg. ".....schlicht weg..." wird klein zusammen geschrieben. ".....zu lassen, wenn ich ihnen...." das Komma weg. ".....kennen würde, der dich...." das Komma weg. "..... Ohren kaum, bei der..." ein Komma einsetzen. "....mich trainiert, seitdem ich..." ein Komma einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 15.10.2019 um 16:30 Uhr • Mit 54. Kapitel verknüpft | |
K.54: ".....eigener Aussage, wollte er ..." ein Komma einsetzen. "Sie tut so, als wisse sie..." ein Komma einsetzen. "Ihr Eltern...." das Wort "Ihr" durch "Seine" ersetzen. ".....meinte Muning, sich sichtlich..." ein Komma einsetzen. "Also, führt...." ein Komma einstzen. "....fragte er schließlich, um sicher ..." ein Komma einsetzen. "...außer mir, davon ...." das Komma weg. ".....ab plötzlich." die Worte vertauschen "plötzlich ab." ".....reich, die Familie..." das Komma weg. "Also, ich meinte...." das Komma weg. "....erfahren würde, wie sich ..." das Komma weg. ".....geübt hatte, um ihr..." das Komma weg. ".....Leidwesen, nur eine ...." ein Komma einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 15.10.2019 um 6:14 Uhr • Mit 53. Kapitel verknüpft | |
K.53: "Sich über sich selbst wundert,...." etwas umschreiben -> "Verwundert über sich selbst, ...." . ".....Festmahl, mit all ihren Lieblingsspeisen, sollte...." Kommas einsetzen. "....sagen können, dass..." das Komma weg und ein "s" bei "dass" weg. "....ins Bad, um sich...." das Komma weg. "....wichtigen Sache, die in..." ein Komma einsetzen. "....stachen, aber in Anbracht der weiten Kleidung, noch besonders..." Kommas einsetzen. "....Schülermassen an sich vorbei ziehen...." das Wort "vorbei ziehen" wird klein zusammen geschrieben. ".....Lehrer, der ersten Stunde, hatte er...." Kommas einsetzen. ".....genau richtig, um dich...." das Komma weg. "....einer Geste sich neben ...." das Wort "sich" einsetzen. "......dachte Bahe, bemühte sich...." das Komma durch das Wort "und" ersetzen. "....hinten an stellen...." das Wort "an stellen" wird zusammen klein geschrieben. "....Augenblicke später, wurde Musik...." ein Komma einsetzen. "....ein Bisschen...." wird klein geschrieben. "......Unterricht, seit fast einem Jahr, genießen." Kommas einsetzen. ".... nichts, was er ...." das Komma weg. "....., groß, für chinesische..." das Komma weg. Mehr anzeigen |
||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 15.10.2019 um 3:24 Uhr • Mit 52. Kapitel verknüpft | |
K.52: "......gekommen, wenn ich dich nicht....." das Wort "ich" einsetzen. ".....alles nur , dank der Schauspielleistung des Jungen, abgekauft." Kommas einsetzen. "Zwischenzeitlich, dachte ich echt er ..." das Komma hinter "Zwischenzeitlich" weg nehmen und hinter "echt" einsetzen. "....zu verstehen, wie intensiv...." das Komma weg. ".....eine Affaire...." das Wort "Affaire" durch "Affäre" ersetzen. ".....Schultern ein Bisschen...." das Wort "ein Bisschen" wird klein geschrieben. ".....gezwungen, etwas für ..." ein Komma einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 14.10.2019 um 19:42 Uhr • Mit 51. Kapitel verknüpft | |
K.51: "....sein Auftreten, ließen darauf..." das Komma weg. "...antwortete Han NIng, der seinen...." ein Komma einsetzen. "....Punkt und sagen Sie, weshalb Sie..." ein Komma einsetzen und das zweite "Sie " wird klein geschrieben. "....strafbar gemacht, als dass ..." das Komma durch dieses ";" ersetzen. "....in Betracht mich, auf der von Ihnen dargelegten Sachlage, unter Druck..." das Komma hinter "mich" weg und zwischen "Betracht" und "mich" einsetzen und das Komma hinter "Sachlage" weg. "....beobachtete Bahe, wie Han Ning...." ein Komma einsetzen. "Bahes nahm die Reaktion..." das "s" bei "Bahes" weg. ".....und Bang Tuos Verhalten wirkten..." ein "n" bei "wirkte" einsetzen. "....sich schließlich, mit all der Wut und Verzweiflung der letzten Tage, dem Anwalt..." Kommas einsetzen. "....mir gesagt, ich soll dir..." ein Komma einsetzen. "...so leicht, dir diese...." ein Komma einsetzen. "....Schlag ansetzen, als ihn..." ein Komma einsetzen. ".....ein Bisschen..." wird klein geschrieben. "...Blicke, der Männer von Mai Ping Luns, brannten sich sie wie ..." Kommas einsetzen und das Wort "sie" weg und das Wort "von" einsetzen. "....wusste nicht, was er sonst..." ein Komma einsetzen. "....weiterhin, seine wütende Grimasse, aufrecht..." die Kommas weg. "...im Wahn, versuchte...." ein Komma einsetzen. "....und krabbelte mehr, als das er ...." ein Komma einsetzen. "....schlicht weg..." wird klein zusammen geschrieben. "....Rücken hinunter, als er Mai Ping..." ein Komma einsetzen. "....zurück halten..." wird klein zusammen geschrieben. ".....eiskalte Blick von Mai Ping..." das Wort "von" einsetzen. ".....eilig hatte, nach unten...." das Komma weg. ".....festigen....Dummer Weise..." das Wort "Dummer Weise" wird zusammen klein geschrieben, wenn es im Mitte des Satzes ist und am Satzanfang, so wie in dem Falle, groß zusammengeschrieben. ".....mein Boss, zwei Fliegen..." ein Komma einsetzen. "...schlicht weg.." zusammen klein geschrieben. "....ein Bisschen...." wird klein geschrieben. "......für meinen Teil, war von...." das Komma weg. "....heraus holen..." wird klein zusammen geschrieben. "....zu sein, der sich für sein Land...." das Komma weg. ".....er endeckte, wie der ....." das Komma weg. "Shang schluckte, als es ihm....." ein Komma einsetzen. "......betrat dort, ohne ...........zu fragen, einen der Züge...." Kommas einsetzen. ".....so dass sie ihm zugewandt...." das Wort "sie" einsetzen. "....Umständen sind 300 000 Yuan...." da fehlt noch eine "0" Null bei der Zahl. "Glücklicher Weise...." wird zusammen geschrieben. "...Bahe überlegte, was er ..." das Komma weg. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 13.10.2019 um 23:46 Uhr • Mit 50. Kapitel verknüpft | |
K.50: "...wenigen Attributpunkte, die er ...." ein Komma einsetzen. "....ein Bisschen...." wird klein geschrieben. "...ihn dazu, sich Tag für Tag..." das Komma weg. "....des Levels 10..." die Zahl "10" durch das Wort "Zehn" ersetzen. ".....Spieler, pro Levelaufstieg nur 2 Attributpunkte...." das Komma weg und die Zahl "2" durch das Wort "zwei" ersetzen. ".....verschiedenen Werten, die man..." ein Komma einsetzen. ".....Zusatzattributpunkte gelangen konnten,......" das Wort "konnten" einsetzen. ".....der verlangten Zeit, von eineinhalb...." das Komma weg. " .....Ausdauer, würde es immerhin..." das Komma weg. ".....dies mal...." wird klein zusammen geschrieben. ".....Bemerkung, dass..." ein "s" bei "dass" weg. ".....aufmerksam gemacht wurden." das Wort "gemacht" einsetzen und das "ü" bei "würden" durch "u" für "wurden" ersetzen. "....nur schauen, was ihm..." das Komma weg. "....zum Trocknen über die Äste eines Busches auf...." das Wort "Trocknen" wird klein geschrieben und das Wort "auf" einsetzen. "....seinem Schwimmtraining, dass ...." ein "s" bei "dass" weg. "....schlicht weg...." wird klein zusammen geschrieben. "....am Katharsee, nördlich von..." ein Komma einsetzen. ".....seiner Haut, nahm er...." ein Komma einsetzen. ".....auch nur eingebildete." das "ge" aus dem Wort "eingebildete" weg. ".....mit bin der...." das Wort "bin" kann weg. ".....das anerkennt, was wir...." das Komma weg. "....spielte mit ihnen, bis das..." ein Komma einsetzen. ".....als mit den Gedanken....." das Wort "den" einsetzen. "......mir erzählt hast, ist ebenfalls...." ein Komma einsetzen. ".....gemeinsam die Privatbereich...." das Wort "die " durch "den" ersetzen. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 07.10.2019 um 19:02 Uhr • Mit 49. Kapitel verknüpft | |
K.49: "....starteten das Tutorial I schlicht weg...." das Wort "das" durch "die" ersetzen und "schlicht weg" wird klein zusammengeschrieben. "....die bereits bei Level 4 ..." das Wort "bei" einsetzen. ".....nie wusste, was als nächstes kam." das Komma weg. "......ein Bisschen...." wird klein geschrieben. "....dabei zu, wie er, wie vom Wahnsinn getrieben, den Gemüsereis ..." Kommas einsetzen. "....der Unmöglichkeit gewesen, erst eine ..." das Wort "gewesen" und Komma einsetzen. ".....nichts anderes übrig, als schnellst möglich ..." ein Komma einsetzen. "....zu entspannen, atmete Kaiwen..." ein Komma einsetzen. Bewegung setzte, klappte auch ..." ein Komma einsetzen. "....Himmeln sei ..." das "n" bei "Himmeln" weg. "...freien Tisch, von einem..." ein Komma einsetzen. "...ein Bisschen.." wird klein geschrieben. "....hüteten ihre kleines Vermögen..." das "e" bei "ihre" weg. ".....der Rang Gewöhnlich..." das Wort "Gewöhnlich" wird klein geschrieben oder wenn du es groß schreiben möchtest , dann gehört "-keit" dran setzen. ".....des Gewöhnlich(keit)-Ranges..." auch hier fehlt nur noch "-keit" dann wird es groß geschrieben. "....beteuchter Kaufleute wieder." das Wort "wieder" einsetzen. "Vor allem, da ihr...." ein Komma einsetzen. "....ihrem Charakterprofil, spielte ihr ......" ein Komma einsetzen. "......ein Bisschen..." wird klein geschrieben. ".....lehnte sie sich in ihrem...." das Wort "sich" einsetzen. "......Übung benötigt,...." ein Komma einsetzen. "Dummer Weise......" wird zusammengeschrieben. "....mahm einem dicken..." das "einem" durch "einen" ersetzen. ".....ihn vorgestern, um die Stadt...." das Komma weg. "Auch, wenn ich nicht ...." das Komma weg. "....wie ne lahme ..." bei dem Wort "ne" die Buchstaben "ei" davor ansetzen. ".....ihr Möglichstes, um die Quelle..." das Komma weg. "Es ist Spieler." -> "Er ist Spieler." das "Es" durch "Er" ersetzen. "....gleichen Grund, wie sie, hier waren." Kommas einsetzen. " ....den Eindruck, um den...." das Wort "um" durch "bei" ersetzen. "....weitreichende Aura, um eine...." das Komma weg. ".....eigene Dummheit, machte sie sich...." ein Komma einsetzen. Mehr anzeigen |
||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 06.10.2019 um 20:38 Uhr • Mit 48. Kapitel verknüpft | |
K.48: ".....seltsames Gefühl, als Bahe...." ein Komma einsetzen. "....sie schließlich in einer Art...." das Wort "einer" durch "einem" ersetzen. ".....man mich und meinen Boss...." umschreiben -> " .....man meinen Boss und mich..." . "...nicht so recht, was er sagen sollte." das Komma weg. "Mit einem Klicken...." das Wort "einen" durch "einem" ersetzen. "...schnellst möglich..." wird klein zusammengeschrieben. "....musste seien Großeltern..." das "seien" meinst du bestimmt "seinen". ".....am Wenigsten...." und "....am Schnellsten....." wird klein geschrieben. "....dir vor, Bahe..." das Komma weg. "....meinte Bahe und rechte..." bei "rechte" fehlt ein "i" drin. "...Not bestehen, diese Dinger...." das Komma weg. "...von dem Anwalt, Hua Han..." ein Komma einsetzen. "....herein kommenden...." wird klein zusammengeschrieben. "....Bahe denn wissen, wie er sich ..." ein Komma einsetzen. ".....Einverständnis, als Feitong..." ein Komma einsetzen. "....seine Großmutter, als sie...." ein Komma einsetzen. "....jungen Mann, wie dich, unseren...." Kommas einsetzen. Mehr anzeigen |
||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 03.10.2019 um 16:14 Uhr • Mit 47. Kapitel verknüpft | |
K.47: "....es hasste, ein jeden Morgen...." ein Komma einsetzen und "an" durch "ein" ersetzen. "...sein eigen nennen...." das Wort "eigen" wird groß geschrieben. "...ihn die Himmel...." das "die" durch "der" ersetzen. "....stolz darauf gewesen, solch ein Glück...." ein Komma einsetzen. "....schlicht weg..." wird klein zusammen geschrieben. "....sämtliche Rechte, bezüglich der Verkaufsbedingungen, abgab." Kommas einsetzen. "....fünf Minuten später, stieg er aus...." ein Komma einsetzen. "....ihm Bahe ein Wenig zu schnell." das Wort "Wenig" wird klein geschrieben. "...das Anwesen ist, dass verkauft...." entweder das Wort "dass " durch "welches " ersetzen oder ein "s" bei "dass" weg. "Nochmals vielen Dank" ein "s" an "Nochmal" einsetzen. "...zur Bestätigung, dass er..." ein "s" bei "dass" weg. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 01.10.2019 um 0:39 Uhr • Mit 46. Kapitel verknüpft | |||
K.46: "....im Fernsehen, rief..." das Komma weg. "...gefallenden Kabel, unweit............Firm-Gebäude, gerichtet." jeweils Komma einsetzen. "....geschlossenen Türen, die zum ....." ein Komma einsetzen. ".....die Augen, ob des ....." das Wort "ob" durch "wegen" ersetzen. ".....Sie mich an,..." das Komma durch einen Punkt ersetzen. "....positioniert war, um im Notfall...." das Komma weg. ".....dazu verpflichtet sein mehrere Fälle...." das Wort "sein" einsetzen. "....längst alle standen, um sich mehr...." das Komma weg. "....dachte Bahe, so fiel er nicht...." das Wort "so" weg. "....die Hand entgegenstreckte, um ihm....." das Komma weg. "....pausierte kurz, um sich zu......" ein Komma einsetzen. "....an stellen..." wird klein zusammen geschrieben. "Kommen mit mir,...." das "n" weg. "....das leuchtete sein....." das "s" bei "sein" weg. "...als Zeichen, dass er...." entweder "dieses" durch "dass" einsetzen oder ein "s" bei dem Wort "dass" weg. ".....falsch verhalten könnte, dass er...." bei dem Wort "dass" die "ss" weg. ".....große Augen, ob der ...." das Wort "wegen" durch "ob" ersetzen. "....passieren könnte, wenn du dich...." das Wort "du" einsetzen. "An Bahe zog sich alles...." das Wort "An" durch "In" ersetzen. "....Büroplatz von rechts an." das Wort "an" einsetzen. Mehr anzeigen |
||||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 25.09.2019 um 21:40 Uhr • Mit 45. Kapitel verknüpft | |
K.45: "....nicht erklären, wieso er...." das Komma weg. "....liegenden Sportplatzes, fallen." ein Komma einsetzen. "...seid Ihr Euch dir sicher...." das "dir" raus und "Euch" wird klein geschrieben. "....,dass sie Euch...." das Wort "sie" groß schreiben und "Euch" klein schreiben. "....Antwort abzuwarten, lief er..." ein Komma einsetzen. "Der Rückfahrt.." das "Der" durch "Die" ersetzen. "....drehte Bahe sich um..." das Wort "sich" einsetzen. "Im Nu, stand..." das Komma weg. "Sie haben vor ein einiger Zeit.." das "ein" weg. "Doch nicht nur, um meine Ehre zu wahren oder?" das Komma hinter "nur" weg und hinter "wahren" und vor "oder" einsetzen. " Es war, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Verzweiflungstat." Kommas einsetzen. "....Möglichkeit gab, Bahes Familie...." das Komma weg. "...liegen könnte, die kein Kapital...." das Komma weg. "...darauf stehenden Kaffee..." das Wort "den" bei "stehen" dransetzen. "....schlucken, irgendwie wieder..." das Komma weg. "Zu sehen..." wird zusammen geschrieben. "...Bei En Rui, das Wort..." das Komma weg. "....diejenigen, die ..." Komma weg. ".....ob ich mir, als Verfechter, der Gerechtigkeit, zu Schade ...." Kommas weg. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 25.09.2019 um 3:02 Uhr • Mit 44. Kapitel verknüpft | |
K.44: "....verschiedenster Verbrecherbanden, als an offizielle..." ein Komma einsetzen. "....Minuten Fußmarsch, bog er..." ein Komma einsetzen. "...vollführen musste, um die Wucht....." das Komma weg. "....lief er gerade aus und ...." das Wort "gerade aus" wird klein zusammen geschrieben. "....klamm ums Herz, als er ..." ein Komma einsetzen. "...Menschenmassen bewegte, ohne irgendjemanden...." das Komma weg. "....Han Ning dazu auf, ihm durch...." das Komma weg. ".... falsch machte, um unauffällig...." das Komma weg. Mehr anzeigen | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 24.09.2019 um 15:50 Uhr • Mit 43. Kapitel verknüpft | |||||||
K.43: "Im war so vieles egal geworden." das "Im" dazwischen fehlt ein "h" . "...mit nichts anderem, als dem von Han Ning..." ein Komma einsetzen. "...da stehen..." wird klein zusammen geschrieben. "...Tag für Tag ins Büro,..." das Wort "im" durch "ins" ersetzen. "...ein letztes Mal, ob...." und "....in die Küche, um...." beide Kommas weg. "...an stellen.." wird klein zusammen geschrieben. "..ein Bisschen.." wird klein geschrieben. "...Nummer des Privatdetektives, um ihn..." das Komma weg. "Den Himmeln sein Dank..." beide "n" ´s bei "Himmeln" und "sein" weg. "...dann mit seinem Essen..." das "mit" einsetzen. "....er frühstückte, schweiften... " ein Komma einsetzen. Mehr anzeigen | ||||||||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 18.09.2019 um 1:53 Uhr • Mit 42. Kapitel verknüpft | |
K.42: "...mit einander...." wird zusammen klein geschrieben. "...jedoch fort, als sie...." das Komma weg. "...verlässt, um nach..." das Komma weg. "...gemacht hatte, sein Geschirr...." das Komma weg. "...schlicht weg...." wird klein zusammen geschrieben. "....der Umgebung, um einen Kredit..." das Komma weg. | ||
|
1
|
AGoHovi90er • Am 17.09.2019 um 17:21 Uhr • Mit 41. Kapitel verknüpft | |
Verbesserung K.41: "...zu verkaufen, um das..." das Komma weg. "..zermarterte, wie...." das Komma weg. "Es dämmerte bereits, als...." ein Komma einsetzen. "...einer Frau, mittleren Alters, geöffnet." Kommas einsetzen. "....fragte sie, bei Bahes Anblick, sichtlich verwirrt." Kommas einsetzen. "...von Dazu, gezogen wäre." Komma einsetzen. "...Rückfahrt, bis zu seiner Großmutter, vor sich." Kommas einsetzen. "...anderes übrig, als am ..." das Komma weg. "...Sorge, dass werde..." ein "s" bei "dass" weg. "... fing schon an, die ganzen...." ein Komma einsetzen. "So, da wären wir..." ein Komma einsetzen. "....wollte, dass Zimmer..." das Komma weg und ein "s" bei "dass" weg. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 28.09.2024 um 20:28 Uhr • Mit 80. Kapitel verknüpft | |
K.80: „…zuversichtlich sind, den Akt….“ das Komma weg. „Ich fürchte, da…“ Komma einsetzen. „…Anwalt, und sei er…“ Komma einsetzen. „…Gesprächigste, wie mir….“ Komma einsetzen. „…schlicht weg….“ wird klein zusammen geschrieben. „…herum führte.“ Wird klein zusammen geschrieben. „…einem Lächeln, als er….“ Komma einsetzen. „…sagen, ohne dass…“ das Komma weg und das Wort „dass“ durch „das“ ersetzen. „Keine Ahnung, was du…“ Komma einsetzen. „…kommen lassen,….“ wird klein zusammen geschrieben. „…ein Bisschen…“ wird klein geschrieben. „…etwas gab, was ihn…“ Komma weg. „…Nerven, dass…“ das Wort „dass“ durch „das“ ersetzen. „…Stimme, mit voll…“ Komma einsetzen und das Wort „mit“ einsetzen. „…nervös, wie der…“ das Komma weg. „Siehst du, was…“ Komma einsetzen. „…her nimmt,…“ wird klein zusammen geschrieben. „…abzuhalten, mehr zu….“ Komma weg. „…Situation, als er…“ Komma einsetzen. „….merkwürdiger Weise….“ Wird klein zusammen geschrieben. „…hinunter, in die ….“ Komma einsetzen. „…schnell wieder, als ihm klar wurde….“ das Komma zwischen „wurde“ und „was“ verschieben zwischen „wieder“ und „als“ hinsetzen. „…zurück wich.“ Wird klein zusammen geschrieben. „…ihm, mit… Familie, schon….“ Jeweils Kommas einsetzen. „…Zeit, diesen Wurm…“ Komma einsetzen. „…bemüht, seinen Mut…“ das Komma weg. „…Angst hat, sich…“ Komma weg. „…geballten Hand, aus…“ Komma einsetzen. „Ich, ein Wicht…“ Komma einsetzen. „…zusammen klappen…“ wird klein zusammen geschrieben. „…wie du, es…“ Komma weg. „…nie vor, deinen…“ Komma einsetzen. „…du kennst, wird…“ Komma einsetzen. „…daran, mit acht oder neun Jahren, einen…“ jeweils Kommas einsetzen. „Keine Ahnung, wie du…“ Komma einsetzen. „…guter Laune, trat…“ Komma einsetzen. „…zusammen gerollt…“ wird klein zusammen geschrieben. „…verhallte langsam, als sich…“ Komma einsetzen. „…zusammen geschlagen…“ wird klein zusammen geschrieben. „…davon tragen.“ Wird klein zusammen geschrieben. „…kleinsten Modelle, mit sich…“ Komma weg. „...das denn jetzt…?“ ein „n“ bei „den“ dransetzen. „…verfügte, als er…“ Komma weg. „…vorbei führte.“ wird klein zusammen geschrieben. „…angekommen, musste…“ Komma einsetzen. „…gewisser Maßen…“ wird klein zusammen geschrieben. „…hatte, mit ihm…“ das Komma weg. „…zu Wort, sobald…“ Komma einsetzen. „…fragte in sein Chef…“ das Wort „in“ durch „ihn“ ersetzen. „…wohl weiß, mit wem…“ Komma weg. „…Grund, weshalb…“ Komma einsetzen. „…zweiten Mal, innerhalb weniger Augenblicke, beschleunigte…Atmung, als ihm …wurde, was…“ Kommas einsetzen und das Komma zwischen „wurde“ und „was“ wegnehmen. „…mehr Sorgen…“ die Wörter umdrehen „Sorgen mehr“ . „…heraus holen.“ wird klein zusammen geschrieben. „…zurück gezogen,…“ wird klein zusammen geschrieben. „…Willensanstrengung, setzte …“ Komma weg. „…Lächeln auf, als ….“ Komma einsetzen. „…zeugten, beim genauen Hinsehen, von dem…“ jeweils Kommas einsetzen. „…Gedanken daran, lief…“ Komma einsetzen. „…Schlafzimmer, um…“ Komma einsetzen. „…oben auf, lag das…“ Komma weg. „…bekannt dafür, niemals…“ Komma einsetzen. „…Zettel, wieder…“ Komma einsetzen. „…energisch, als Sie stürmisch…“ Komma einsetzen. „…netter weise…“ wird klein zusammengeschrieben. „…zusammen leben…“ wird klein zusammengeschrieben. „…schlicht weg…“ wird klein zusammengeschrieben. Mehr anzeigen |
||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 28.09.2024 um 20:15 Uhr • Mit 79. Kapitel verknüpft | |
K.79: „…U-Bahnstation…“ wird auseinander geschrieben „U-Bahn-Station“ . „…ein Bisschen…“ wird klein geschrieben. „...drein blickend…“ wird klein zusammen geschrieben. „…immer noch, wie widerstrebend…“ Komma einsetzen. „…hinein stopfen…“ wird klein zusammen geschrieben. „…Lösung, um möglichst…“ Komma einsetzen. „…lange nicht, vergaß man…“ Komma einsetzen. „…die Hoffnung, bald wieder…“ Komma einsetzen. „...Netz, dass…“ ein „S“ von „dass“ weg. „…von hinten, die sich…“ Komma einsetzen. „…wissen wollte, wie er so…“ das Komma weg. „…heraus finden, …“ wird klein zusammen geschrieben. „…mir sagst, wieso…“ das Komma weg. „…keine Ahnung, welche Wellen das…“ das Komma verschieben zwischen „Ahnung“ und „welche“ einsetzen. „…mit einem Grinsen…“ das Wort „einen“ durch „einem“ ersetzen. „Dann, solange hatte…“ Komma einsetzen. „…fairer Weise…“ wird klein zusammen geschrieben. „…herunter gekommen….“ Wird klein zusammen geschrieben. „…abwechselt…“ das Wort durch „abwechselnd“ ersetzen. „…heißte….“ das „t“ weg. „….Spieler, die schon Wetten…“ Komma einsetzen. „…Meine zu recht…“ das Wort „zu recht“ wird klein zusammen geschrieben. „…, macht sich große Mühe gegeben…“ das Wort „macht“ durch „gibt“ ersetzen und „gegeben“ weg. „…heraus hörte.“ wird klein zusammen geschrieben. „…vorgekommen, die Sache… Rui, für….“ Kommas jeweils weg. „…zu lief…“ wird klein zusammen geschrieben. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 27.09.2024 um 19:16 Uhr • Mit 78. Kapitel verknüpft | |
K.78: „…und entdeckte, wie die…“ ein Komma einsetzen. „…wie du, einen solchen….“ das Komma weg. „…gab Bahe, das offensichtliche augenverdrehend, von sich.“ Jeweils Kommas einsetzen und das Wort „augenverdrehend“ wird auseinander geschrieben und „Augen“ groß geschrieben. „…deiner Profession sein,….“ das Wort „sein“ einsetzen. „….ihnen ermöglichen, den Kampf…“ das Komma weg. „…verstehst du, dass es keinen Sinn…“ das Wort „du“ einsetzen. „…ein Bisschen…“ wird klein geschrieben. „…erlaubten Bahe, ein fürs andere Mal, Tarats …“ jeweils Kommas einsetzen. „…still gestanden, …“ wird klein zusammen geschrieben. „….heran kommen…“ wird klein zusammen geschrieben. „… Licht auszumachen, als geh…“ ein „o“ bei „als“ dran setzen. „Im Gegensatz, zu den…“ das Komma weg. „…den Fingern, trafen ihn…“ Komma einsetzen. „…heraus gestellt…“ wird klein zusammen geschrieben. „…Charakterprofil, kontrollierte ….“ Komma einsetzen. „…hell wach.“ wird klein zusammen geschrieben. „…weg räumte,…“ wird klein zusammen geschrieben. „…. Voran kommen…“ wird klein zusammen geschrieben. „…im Park gekommen.“ Das Wort „gekommen“ weg. „Im Anschluss hat sie….“ das Wort „hat“ einsetzen. „…hoch kommen .“ wird klein zusammen geschrieben. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 27.09.2024 um 19:04 Uhr • Mit 77. Kapitel verknüpft | |
K.77: „….sich her treibt….“ das Wort „her treibt“ wird klein zusammen geschrieben. „….Sache hier um sonst mache, ….“ das Wort „um sonst“ wird klein zusammen geschrieben. „..einen Schlag, von oben hinab, auf die …“ jeweils Kommas einsetzen. „…die Rüstung, als wäre …“ Komma einsetzen. „… er dein Schlag …“ das Wort „dein“ durch „den“ ersetzten. „…wusste, worauf Tarat….“ das Komma weg. „…Kampf, Mann gegen Mann, einen Vorteil.“ Jeweils Kommas einsetzen. „…zum Einen, die Wichtigkeit….“ Komma einsetzen. „…und ging, ohne auf eine Antwort von Bahe abzuwarten, weiter.“ Kommas einsetzen. „…größer war, als anfänglich…“ das Komma weg. „…hervor gekommen…“ wird klein zusammen geschrieben. „… der Halle, waren immer…“ Komma einsetzen. „….Fläche, die sich….“ Komma einsetzen. „…paar Sekunden, bis….“ Komma einsetzen. „….Bahe abwarten, bis sich….“ das Komma weg. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 24.09.2024 um 23:05 Uhr • Mit 76. Kapitel verknüpft | |
K.76: „… Zimmer umschauend, suchte er…“ Komma einsetzen. „… ein Bisschen …“ wird klein geschrieben. „… um zu schauen, wie lange …“ das Komma weg. „Ich glaube, für ein paar …“ Komma einsetzen. „… zusammenreißen, um nicht …“ Komma einsetzen und das Wort „um“ einsetzen. „… pocht es in meinem Kopf …“ das Wort „es“ einsetzen. „… Minuten später, saßen sie zu dritt …“ Komma einsetzen. „… Zeit dachte, in der Bahe …“ das Komma weg. „… sagte dann, den Tränen…“ Komma einsetzen. „… aus Fehlern, sein ganzes…“ Komma einsetzen. „… solche Gedanken, um ihre…“ das Komma weg. „…., dass er kaum einen Gedanken …“ das Wort „er“ einsetzen. „Zuletzt war es, im Grunde genommen, während…“ Kommas einsetzen. „…Mädels durchaus zu recht …“ das Wort „zu recht“ wird klein zusammen geschrieben. „… zu merken, hob sich …“ Komma einsetzen. „…bist bereit, heute…“ das Komma weg. „… die zusammen gestellte…“ das Wort „ zusammen gestellte“ wird klein zusammen geschrieben. „Keine Sorge, dass …“ das Wort „dass“ durch „das“ ersetzen. „… Weg zur U-Bahn…“ ein „r“ bei „zu“ dran setzen. „…heißt das Alles …“ das Wort „Alles“ wird klein geschrieben. „…gepresst, so dass …“ das Wort „so dass“ wird klein zusammen geschrieben. „… frustrierend, die eigenen…“ Komma einsetzen. „.. zusammen reißen…“ wird klein zusammen geschrieben. „Kaum oben angekommen, …“ das Wort „angekommen“ einsetzen. „… Bestmögliches tat, ihren Befehlen …“ das Komma weg. „…und verschwand, nachdem…“ Komma einsetzen. „… der Schule, um 6 Uhr …“ das Komma weg. „… mehr Blinzeln lassen.“ das Wort „Blinzeln“ wird klein geschrieben. „… von ihm Besitz ergriff.“ das Wort „Besitz“ wird klein geschrieben. „…erschöpften Zustandes, beschleunigte er…“ Komma einsetzen. „…wenig Zeit, wie es schien…“ Komma einsetzen. „… einem Seufzen, ließ…“ Komma einsetzen. „… Stück mehr, von all …“ Komma einsetzen. „…dem Schmerz, den sie…“ das Komma weg. „…zusammen reißen.“ wird klein zusammen geschrieben. „…tatsächlich, mir den ….“ Komma einsetzen. „…bemühte, seine Haltung…“ Komma weg. „…schnellst möglich ….“ wird klein zusammen geschrieben. „…nehmen würde, als andere ….“ Komma weg. „….Rang Gewöhnlich….“ das Wort „Gewöhnlich“ wird klein geschrieben. „…. Spinnenkreatur, am Rande des Belungagebirges, hatte dieses ….“ Jeweils Kommas einsetzen. „… schüttelte Tarat offensichtlich….“ das Wort „Tarat“ einsetzen. „….bekannter Weise….“ wird klein zusammen geschrieben. „…erahnte, was Tarat…“ das Komma weg. „Ach, wofür denn?“ , …“ ein Fragezeichen einsetzen. „…ich, Tarat Derenir, habe ….“ Kommas jeweils einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 24.09.2024 um 22:51 Uhr • Mit 75. Kapitel verknüpft | |
K.75: „… ihm klar wurde, wer dafür…“ das Komma weg. „… derjenige gewesen, der ihn…“ das Komma weg. „… das Mindeste, wenn ich…“ das Komma weg. „… heilfroh war, endlich ein paar…“ das Komma weg. „… im hier und jetzt…“ die Worte „hier“ und „ jetzt“ werden groß geschrieben. „… zu Brocken, fuhr sie…“ Komma einsetzen. „… so Mächtige Wesen…“ das Wort „Mächtige“ wird klein geschrieben. „… müssen hier, wie jedes anderes Lebewesen, wachsen…“ jeweils Kommas einsetzen und das „s“ bei „anderes“ weg. „… Ungleichgewicht, das wir…“ das Komma weg. „… lange dauern, bis du soweit…“ Komma weg. „… nachdenken, wie es zu…“ Komma weg. „…damit ihr wir so….“ das Wort „ihr“ weg. „… als Nerv tötende…“ das Wort „Nerv tötende“ wird klein zusammengeschrieben. „… ein paar Schritte, bis sie…“ Komma einsetzen. „… was das die Lebensenergie, die ich…“ das Wort „was“ durch „ war“ ersetzen und das Komma weg. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 14.01.2021 um 19:11 Uhr • Mit 67. Kapitel verknüpft | |
K.67: "... waren seine sämtlichen Pfeile ..." ein "n" bei "sämtliche" einsetzen. "...den Boden, den gefährlichen Hieben..." das Komma weg. "... Speerträger, rechts von Bahe, den Kopf." Kommas einsetzen. "... ein kleines Bisschen..." wird klein geschrieben. "Das Abrollen über die Schulter, folgte..." das Wort "Das" durch "Nach" ersetzen und ein Komma einsetzen. "... Wahnsinn getrieben, drehte sich..." ein Komma einsetzen. "...auf alles ein, was in seine ..." das Komma weg. "Nach jeder Attacke..." das Wort "Nach" einsetzen. "...rief Nolen lauthals, der rot..." ein Komma einsetzen. "...Speerträger, das ein oder andere Mal ..." das Komma weg. "... Verdammt, fasst..." ein "s" bei "fasst" weg. "... ein gewisser jemand..." das Wort "jemand" wird in dem Falle großgeschrieben. "... ein Bogenschütze, oder?" ein Komma einsetzen. "... seid beide Bogenschützen, oder? " ein Komma einsetzen. "Die beiden sind..." das Wort "beiden" wird großgeschrieben. "... glaubt ihr, ist wohl..." ein Komma einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 10.08.2020 um 0:17 Uhr • Mit 66. Kapitel verknüpft | |
K.66: "... begeistert, beobachtete Kaiwen..." ein Komma einsetzen. "... zuzusehen, wie argwöhnisch..." ein Komma einsetzen. "Wieder Andere waren voller..." -> umschreiben "Wiederrum waren die Anderen voller..." . "...Seelenruhe dabei war, die Krallenspuren..." das Komma weg. "Die Wenigsten..." das "st" wegnehmen. "...Tutorial-Mission, die zum ersten Erfahren von Kampfsituationen gehörte. " ein Komma einsetzen und die Wörter "die" und "gehörte" einsetzen. "...wie Bahe brachte wohl kaum ein Anderer in mit." umschreiben -> "... wie Bahe mitbrachte, brachte wohl kaum ein anderer ihn mit." "... reiß aus..." wird zusammen großgeschrieben. "... außerhalb der Stand..." meinst du etwas "Stadt" statt "Stand". "...bis sie ihre Verletzungen heilten, oder sich..." das Komma weg und das "sie" hinter "bis" durch "sich" ersetzen. "... Nahkämpfer, als er die Auswirkungen..." ein Komma einsetzen. "...seltene Mutation, die wesentlich..." ein Komma einsetzen. "...Ordnung der Spieler aufrecht..." das Wort "der" einsetzen. "... Gleichgewicht und taumelte..." das Wort "und" einsetzen. "... erkannte Bahe, wie sich..." ein Komma einsetzen. "... wie wild geworden, mit seinen Klauen..." das Komma weg. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 27.07.2020 um 3:29 Uhr • Mit 65. Kapitel verknüpft | |
K.65: "... Fläche von Ruinen von kleinen ..." ein "von" vor Ruinen einsetzen und das "von" vor "kleinen" durch das Wort "mit" ersetzen. "... begann auch der Erste euphorisch..." das "der" einsetzen. "... steinernen Schutt, der überall..." ein Komma einsetzen. "...als sie Klinge durch..." das Wort "sie" durch "die" ersetzen. "...weiteren Laut, zerfiel das Wildwurzelkaninchen..." ein Komma einsetzen. "... spaltete die Schädel..." das "die" durch "den" ersetzen. "... Adrenalin rausch ..." wird zusammengeschrieben. "... zu wissen, was mit den..." das Komma weg. "... herum fahren." wird klein zusammengeschrieben. "...ein Bisschen..." wird klein geschrieben. "... vor haben..." wird klein zusammengeschrieben. "... Umgebung musterte, trieben..." ein Komma einsetzen. "... bestrebt waren, so viel Erfahrung..." das Komma weg. "Meint ihr, er verkauft..." ein Komma einsetzen. "... Lachen, gehörte..." das Komma weg. "... Monster haben, die noch..." das Komma weg. "... wischte sich, so gut..." ein Komma einsetzen. "... machte sich mit danach daran ..." die Worte "mit" und "danach" vertauschen -> "... machte sich danach mit daran..." . "....dem Gang, aus dem..." ein Komma einsetzen. "... lauten Rufen, traten die ..." das Komma weg. "... die Reaktion, von dieser von ihm so verhassten Spielern, verblüffte..." Kommas einsetzen und das Wort "von" vor "ihm" kommt weg. "... einfach froh, die Pfeile..." das Komma weg und das Komma durch das Wort "war" ersetzen. "... heran treten." wird klein zusammengeschrieben. "...überliegenden..." das "n" am Ende durch ein "r" ersetzen. "... die Spielerin mit angespannter..." das Wort "mit" einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 17.03.2020 um 21:35 Uhr • Mit 64. Kapitel verknüpft | |
K.64: "....Physische....." wird klein geschrieben. "....Zurecht..." klein geschrieben. " ....Berufsklasse, der Elementflüsterer, besitzt...." Kommas einsetzen. "....Spielminuten später, kam er ...." ein Komma einsetzen. "....allen Dingen, wenn ...." Komma einsetzen. "....in Dunkelheit ein." das Wort "ein" einsetzen. "....Sekunde später, erstrahlten...." ein Komma einsetzen. "....verschmolz sich schnell..." das Wort "sich" einsetzen. "....Sekunde später, stürmte ..." ein Komma einsetzen. "... verschmolzen sich zu einer menschlichen..." das Wort "sich" einsetzen. "....ein Bisschen..." wird klein geschrieben. "....gerade genug, um den..." das Komma weg. "....schlicht weg..." wird klein zusammen geschrieben. "....Töten von sich vermehrenden ...." das Wort "sich" weg. "....schlicht weg..." wird klein zusammen geschrieben. "....betraten, merkte er ...." ein Komma einsetzen. "...einer der Anwesenden ...." das Wort "der" einsetzen. ".... das, ist der..." das Komma weg. "... dass er etwas dafür..." das Wort "er" einsetzen. "... hier her..." wird klein zusammengeschrieben. ".... da sie sich zu ihrem ...." das Wort "da" durch "welches" einsetzen. "...fehlte das Training ..." das Wort "das" einsetzen. "... schnellst möglich..." wird klein zusammengeschrieben. "...zu finden, endlich..." das Komma weg. "... mittlerweile, wie kleine..." ein Komma einsetzen. "... Kerl macht, kann ich..." ein Komma einsetzen. ".... ein Bisschen... " wird klein geschrieben. "....ist er schon, oder?" ein Komma einsetzen. "Verdattert, ob der..." das Wort "ob" durch "wegen" ersetzen. ".... der Ort, an dem..." das Komma weg. "... inne halten ..." wird klein zusammengeschrieben. "... ein Bisschen..." wird klein geschrieben. "... grinste Bahe, ob der...." das Wort "ob" durch "wegen" ersetzen. "...großes Tor, etwa fünfzig Meter..." ein Komma einsetzen. "....vor dem Tor hin." das Wort "hin" einsetzen. ".... richtig, Zahnstocher! ..." ein Komma einsetzen. "... ein Bisschen ..." wird klein geschrieben. "... Zeit, euch in der ..." das Komma weg. "... die nächten Minuten ..." bei dem Wort "nächten" fehlt ein "s" dazwischen "nächsten". "... dass die Ausbilder.... " das Wort "die" einsetzen. "... ihn das Kreischen ..." das Wort "das" einsetzen. ".... herum fahren ..." wird zusammen kleingeschrieben. "... Bogen, war vergessen ..." das Komma weg. "Sie sah, wie Anael..." ein Komma einsetzen. "... sich, im wahrsten Sinne des Wortes, vor Lachen kugelte." Kommas einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 04.02.2020 um 17:27 Uhr • Mit 63. Kapitel verknüpft | |
K.63: "....ehe er einen Moment später in ein Lächeln ausbrach." umschreiben-> ...."ehe einen Moment später in seinem Gesicht ein Lächeln ausbrach.." "...Tag ein und Tag aus..." das Wort "und" einsetzen. "....sich gefühlt, als ob ihm jemand..." das Komma weg. "....Wangen liefen, hatte er..." ein Komma einsetzen. "....dazu geben..." wird klein zusammen geschrieben. "...Blick zurück, checkte er seine..." ein Komma einsetzen. "....umso schneller, umso besser..." ein Komma einsetzen und das Wort "umso besser" durch "desto besser" einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 23.12.2019 um 22:00 Uhr • Mit 62. Kapitel verknüpft | |
K.62: "Mit einen kurzen Check...." das "n" bei "einen" durch ein "m" ersetzen. "....den Erlös, samt seines restlichen Vermögens, in Notversorgung...." Kommas einsetzen. "...bessere Alternative, als ein ...." ein Komma einsetzen. "...vereinzelte..." ein "e" noch dransetzen. "....Fähigkeiten, wäre jeder andere...." ein Komma einsetzen und das "r" bei "jeder" weg. "....beobachtete Sin, wie der ..." ein Komma einsetzen. "....einem niedrigen Level..." ein "en" bei "niedrig" einsetzen. "....und nun war alles umsonst..." die Worte "nun war" einsetzen. "....unten im Tal, plötzlich..." das Komma weg. "....vorbei traben...." wird klein zusammen geschrieben. "...Reichweite von Sins magischer..." das Wort "von" einsetzen. "....schnaufend lag er mit dem..." das Wort "er" einsetzen. "....lieber taten, als das...." das Komma weg. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 12.12.2019 um 18:03 Uhr • Mit 61. Kapitel verknüpft | |
K.61: "....der andere Spieler seinen eigenen Schild...." die Buchstaben "en" bei "seinen" weg und das "n" am Ende bei "eigenen" durch ein "s" ersetzen. "Ächzend sah er, wie Balu..." ein Komma einsetzen. "Er kam sich vor, wie auf einer ...." ein Komma einsetzen. ".....noch viel zu klein zu sein um ihn zu tragen." die Worte "zu sein um" einsetzen. ".....beschäftigt, dich sich...." das Wort "dich" durch "die" ersetzen. "....Augenwinkel sah er, wie Deraka..." ein Komma einsetzen. "....am Boden liegen, sowie einen schwer wirkenden ..." ein Komma einsetzen und "en" am Ende von "einen" weg und das "n" am Ende bei "wirkenden" durch ein "s" ersetzen. ".....Sekunden, erreichten...." ein Komma einsetzen. ".....Stirnartefakte, in seinen..." ein Komma einsetzen. "....vor ihrer Hand..." das "r" bei "vor" durch ein "n" ersetzen. Mehr anzeigen | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 18.11.2019 um 16:39 Uhr • Mit 60. Kapitel verknüpft | |
K.60: ".... die Büsche, bis er am ..." das Komma weg. die Zahl "7"sieben, wird ausgeschrieben als Wort. "...und jagte, in gerader Linie von der Wiese weg, in den..." Kommas einsetzen. "Dieses Viech..." das "c" bei "Viech" weg. "....vernahm Lef die ...." meinst du vllt den Namen "Six" als "Lef"? "Was er sah, ließ ihm ..." ein Komma einsetzen. ".....Fels Kommentar, nahm Lef..." ein Komma einsetzen. "....die Zeit, nach dem ...." das Komma weg. "....erschien bei Lef..." das Wort "bei" einsetzen. | ||
|
0
|
AGoHovi90er • Am 16.11.2019 um 13:02 Uhr • Mit 59. Kapitel verknüpft | |
K.59: ".....schlicht weg...." wird klein zusammen geschrieben. "Zugegebener Maßen....." wird zusammen geschrieben. ".....Wassern meines Großväter..." das "s" bei "meines" durch ein "r" ersetzen. "......endlich geschafft hatten sich...." das Wort "hatten" einsetzen. ".....so hinterlistig, einfach die armen...." ein Komma einsetzen. ".....der Gruppe, schienen ....." ein Komma einsetzen. ".....auf Flüchtenden zu." das Wort "zu" einsetzen. "....Versuche, Zwietracht in der Gruppe zu sähen, waren in ...." Kommas einsetzen. ".....wüsste ich gerne, wie du es ihnen...." das Komma weg. "Wag es nicht, enttäuscht von mir...." ein Komma einsetzen. ".....doch etwas gibt, was dir ....." das Komma weg. ".....mit trotzig und stampfte..." das Wort "mit" weg. ".....erwartest Tag ein und Tag aus...." das Wort "und " einsetzen . ".....seltsame Weise ...." wird zusammen klein geschrieben und ein "r" zwischen "e" und "w" einsetzen. Mehr anzeigen | ||
|
|
Kapitel: | 80 | |
Sätze: | 12.957 | |
Wörter: | 237.877 | |
Zeichen: | 1.452.141 |