Storys > Geschichten > Drama > Which side are you on?

Which side are you on?

350
15.01.17 18:16
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Come all of you good workers

Good news to you I'll tell

Of how that good old union

Has come in here to dwell

 

My daddy was a miner

And I'm a miner's son

And I'll stick with the union

Till every battle's won

 

They say in Harlan County

There are no neutrals there

You'll either be a union man

Or a thug for J.H. Blair

 

Oh, workers can you stand it?

Oh, tell me how you can

Will you be a lousy scab

Or will you be a man?

 

Don't scab for the bosses

Don't listen to their lies

Us poor folks haven't got a chance

Unless we organize

Na schön, dachte Fenian, die Leute in meiner Familie neigen dazu, früh zu sterben, also was soll’s?

Er riss sich los von Gedanken und Kameraden, die ihn untergehakt hatten und rannte los, durchbrach das jämmerliche Aufgebot an schmutzigen Arbeitern beim Streikposten vor der Mineneinfahrt und betete zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder eine etwas lückenhafte Version des Vater Unsers, die er noch zusammenbrachte. Er tat das nicht in der Hoffnung auf Absolution, sondern weil irgendetwas brauchte, um sich abzulenken. Also konzentrierte er sich, auf den Text, der ihm so nichtssagend vorkam, dem aber doch ein gewisser meditativer Rhythmus zu Grunde lag.

Vater Unser, der du bist um Himmel…

Es wurde dunkel um ihn her unter seinen Schuhsohlen fühlte er den Schotter, auf dem sich das Gleichgewicht nur schlecht halten ließ.

Geheiligt werde dein Name…

Folgte ihm denn gar niemand? Nicht einmal, um ihn aufzuhalten? Er hörte Geschrei. Riefen sie seinen Namen oder verfluchten sie ihn? Oder schrien sie sich gegenseitig an?

Dein Reich komme…

Finsternis. Kälte. Fenian begann zu keuchen und musste langsamer werden. Wohin? War es irgendwo hier oder noch weiter drinnen?

Dein Wille geschehe…

„Hey, ist da jemand? Ich weiß, dass Sie hier drin sind!“, rief er, „Kommen Sie heraus! Sofort! Kommen Sie sofort zurück!“

Wie im Himmel…

Keine Chance, er würde den Ort nicht mehr finden, an dem er gestern Nacht mit seinen Kameraden tätig gewesen war. Er würde es nicht verhindern können, aber vielleicht konnte er noch ein paar Leben retten. Oder wenigstens bei den Versuch selbst drauf gehen.

So auf Erden…

„Kommen Sie da raus! Sofort! Hier ist irgendwo ein Sprengsatz, der die ganze Mine in die Luft jagt! Kommen sie heraus! Wir wollen niemanden umbringen!“

Unser tägliches Brot gib uns heute…

Niemand reagierte. Niemand hörte ihn. Niemand glaubte ihm. Also rannte Fenian weiter an den Schienen entlang, auf denen ihm jederzeit eine Lore entgegen fahren konnte.

Er stolperte und fiel hin. Kam jetzt die Stelle mit den Schuldigern? Oder die mit der Schuld?

Egal. Er hatte sich das Knie angeschlagen. Es tat höllisch weg. Sicherlich war seine Hose kaputt. Sicherlich blutete er. Sicherlich war das nur ein Vorgeschmack dessen, was ihn erwartete, wenn der Sprengsatz los ging.

Irgendwo hier, dachte er, aber er sah nichts. Wenn er nur nahe genug war, sodass die Explosion ihn augenblicklich in Stücke riss… Der Gedanke, er könnte einen Arm oder ein Bein verlieren und hilflos und verletzt langsam und unter großen Schmerzen verbluten, schreckte ihn mehr als ein plötzlicher, endgültiger Tod.

Was für ein dummer Gedanke, schalt er sich. Jeder Tod ist endgültig! In meiner Familie neigen sie dazu, früh zu sterben, wiederholte Fenian und statt des Vater Unsers betete er nun seine Anverwandten mit samt ihrer Todesarten herunter: Helena, seine Schwester war mit 12 an der Tuberkulose gestorben. Sein Vater hatte mit 52 einen Schlaganfall erlitten. Seine Mutter war ein Jahr darauf mit 47 an gebrochenem Herzen gestorben. Gebrochenen Herzen? Wohl eher an Überarbeitung, korrigierte er sich. Sein Onkel Bernhard war 60 gewesen, als er anfing, Blut zu husten. Nicht mal drei Monate später starb er geistig völlig umnachtet einen erbärmlichen Erstickungstod. Seltsame Krankheit, erinnerte sich Fenian. Seine Großmutter mütterlicherseits…

„Ist hier irgendjemand?“, rief er noch einmal.

Verhungert. In der alten Heimat. Verhungert… lächerlich. Dass es sowas heute noch gab… Lächerlich.

„Kommen Sie heraus!“

Der Großvater war eines Tages einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Hatte sich totgesoffen oder irgendwie sowas.

Und dann ist da Fenian McKenna, dachte er. Hat sich selbst in die Luft gesprengt. Irgendeine Großtante soll ebenfalls den Freitod gewählt haben, erinnerte er sich.

Sterben liegt bei uns in der Familie, dachte er, kein Wunder, dass er sich zu dieser idiotischen Sache hatte überreden lassen. Oder hatte er die anderen dazu überredet?

Oh, wisst ihr, was eine tolle Idee wäre?, er hörte sich selbst die Worte aussprechen, Wenn wir die ganze verdammte Mine in die Luft jagen!

Und dann hatten sie gelacht und ein Bier auf ihn getrunken und dann hatten sie Whiskey getrunken und dann hatten sie nicht mehr gelacht, sondern gesagt: „Wie willst du das anstellen?“

Dynamit, hatte er gesagt und irgendein irrer Kerl hatte behauptet, was von Chemie zu verstehen und einen Mechanismus bauen zu wollen, der die Explosion völlig autonom auslösen könnte.

Wir haben in den letzten Wochen viel zu viel und viel zu oft Alkohol getrunken, tadelte Fenian sich nun selbst, es hätte nur einen nüchternen Moment gebraucht, um zu erkennen, was für eine blöde Idee das gewesen ist. Aber statt den gesunden Menschenverstand einzuschalten, hatten sie ihn systematisch ausgeschaltet, um eben das zu erreichen, was sie schließlich umsetzten: Die Durchführung eines vollkommen idiotischen Plans, der Menschenleben kosten und ihnen wichtige Sympathiepunkte entziehen würde.

Es gab immer ein paar Idioten, die arbeiten wollten. Es fanden sich immer ein paar arme Schlucker, die schlimm genug dran waren, dass sie sich gegen ihre Kollegen stellten, dass sie in Kauf nahmen, gemieden, schikaniert und überfallen zu werden. Aber kalkulierten sie mit ein, in die Luft gejagt zu werden?

Fenian rief noch einmal in die schwarze Dunkelheit hinein und hörte nun zum ersten Mal so etwas wie eine Antwort. Er verstand kein Wort, aber sein Herz wurde ihm leichter. Er war nicht umsonst hierher gerannt. Es gab jemanden, den er retten konnte.

 

Eine Kohlemine war ein Ort von unvorstellbarem Schmutz. Die Dunkelheit resultierte nicht nur aus der Abwesenheit von Licht. Der Staub tat sein Übriges. Er legte sich auf alles, Wände, Steine, Haut, Lungen… Bergleute, so sagte man, wurden erst wieder richtig sauber, wenn der Bestatter ihnen die Kohle, die sich in ihre Gesichter hineingefressen hatte, überpuderte. Und auch Fenian musste husten. Mit seinem Hemdsärmel wischte er sich den Schweiß aus der Stirn und er spürte wie derselbe sich mit dem Staub zu einer öligen Masse vermengte wie zu einem Schutzfilm.

Es ging immer bergab. Hinein, immer tiefer in den Berg. Weiß der Teufel, wie viel Arbeit es gekostet hatte, diese Stollen zu schlagen und wie lange sie schon in Betrieb waren. Immer weiter musste man sich hinein graben und die Erde aushöhlen, bis sie eines Tages in sich zusammenfallen würde wie ein Soufflé.

Und die Stollen selbst wurden getragen von Holzkonstruktionen, die Fenian sich auch dann nicht hätte genauer ansehen wollen, wenn er sie hätte sehen können. Wer überprüfte die Sicherheit hier drin? Niemand, er wusste es, das war ja der Grund, weswegen er das alles in die Luft sprengen wollte. Niemand kontrollierte es. Man beließ es einfach dabei, wie es war, schließlich war es all die Jahre nicht in sich zusammengebrochen. Man hoffte einfach. Man hoffte und betete.

Führe uns nicht in Versuchung…

„Wo sind Sie!“, rief Fenian, nachdem er zum zweiten Mal hingefallen war.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, hallte es ihm entgegen, „Was schreien Sie hier so herum?

Kamen sie ihm entgegen? Sehr gut! Noch einmal rief er: „Kommen sie raus. Es gibt einen Sprengsatz, der die ganze Mine in die Luft sprengen wird!“

„Wo?“

„Ich weiß es nicht“, rief Fenian zurück, „Ich kann nichts sehen!“

„Wie viel Zeit haben wir noch?“

„Das weiß ich auch nicht! Vielleicht noch Sekunden, vielleicht ein paar Stunden.“

Vielleicht funktioniert der Zünder nicht, aber das dachte er nur bei sich.

„Wie viele sind Sie?“, fragte Fenian.

„Fünf“, lautete die Antwort, „Ich komme Ihnen entgegen. Ich habe Licht, dann können Sie den Sprengsatz ausfindig machen und entschärfen. Ja?“

„Äh…“, sagte Fenian kleinlaut, aber er hatte das Gefühl, es hallte durch den ganzen Stollen.

„Ja?“

„Eigentlich… kann ich nichts machen. Sie müssen sofort alle hier raus!“

„Verfluchtes Anarchisten-Pack!“, drang ein Fluch hinauf zu Fenian und es ärgerte ihn. Woher wollte dieser Typ wissen, dass es Anarchisten gewesen waren, die die Bombe gelegt hatten? Es konnten genauso gut ein paar Schuljungen gewesen sein!

„Verfluchte Terroristen!“

„Kommen Sie alle so schnell wie möglich!“

Die Stimme unter Fenian gab die Nachricht weiter, nicht ohne noch ein paar Flüche anzuhängen.

Und dann sah Fenian einen trüben, ölig-gelben Schimmer in der Ferne auftauchen. Nur dass er nicht sagen konnte, ob er wirklich „aus der Ferne“ kam, oder einfach nur erbärmlich wenig Licht abgab.

„Wir kommen rauf!“, sagte der Mann, der das Licht hielt.

„Beeilen Sie sich!“

Sondern erlöse uns von dem Bösen…

Von dem Bösen, dachte Fenian, verhungert war seine Großmutter… Und dann bebte die Erde. Und dann brachen die Holzkonstruktionen. Und dann durchflutete ein ohrenbetäubender Knall den Stollen. Ein Staubtsunami folgte, walzte hinab und begrub alles unter sich. Er führte Geröll mit sich, schleuderte Steingeschosse gegen Fenian und den Mann mit der Laterne. Ein heißer, heller Lichtblitz war kurz zu sehen gewesen, aber der Staub erstickte das Feuer schnell unter sich. Fenian hatte sich instinktiv auf den Boden fallen lassen – zum dritten Mal, eine geradezu messianische Erfahrung -, hielt die Augen geschlossen, als würden die Dinge, die er nicht sah, nicht geschehen.

Was ihm letztendlich das Bewusstsein raubte, war der Sauerstoffmangel. Er japste und hustete, doch es nutzte nichts. Dann versuchte er, die Luft anzuhalten, aber auch das funktionierte nicht. Etwas traf ihn am Kopf. Etwas traf ihn an der Schulter. Etwas traf ihn am Fuß, aber das spürte er schon gar nicht mehr.

Fenian wunderte sich, dass er sich wunderte, dass er nicht tot war. Sich zu wundern, noch zu leben, implizierte irgendwie die Idee, man könnte noch irgendetwas fühlen, wenn man tot war. Aber wahrscheinlich war es normal und in Ordnung, wenn man in einer solchen Ausnahmesituation irrationale Dinge dachte.

Erst sehr langsam wurde ihm gewahr, wo an seinem Körper er überall Schmerz verspürte. Erstaunlicherweise tat sich ausgerechnet sein Knie hervor, das er sich angeschlagen hatte, als er hingefallen war. Lächerlich, dachte er.

Aber andere Schmerzzentren kamen hinzu. Sein Kopf. Je wacher und sich selbst in seiner Situation bewusster er wurde, desto deutlicher fühlte er, dass es hinter seiner Stirn pulsierte. Seine Augen juckten. Seine Handrücken brannten, als hätte er sich dort die Haut großflächig abgeschürft. Er schaffte es nicht, sich zu bewegen und sich die Augen zu reiben, dabei hatte er im Moment kein größeres Bedürfnis.

In seinem Mund hatte sich ein pelziges, trockenes Gefühl breit gemacht und Fenian versuchte, seine Geschmackssinn irgendwie einzuschalten, um herauszufinden, ob er Blut schmeckte. Mit seiner Zunge prüfte er, ob noch alle Zähne an ihren Plätzen waren. Er kam zu zwei beruhigenden Ergebnissen.

Er überlegte, dass es vielleicht klug war, auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht war jemand da, der ihm helfen oder zumindest erklären könnte, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Er rang seiner Kehle ein knurrendes, gurgelndes Geräusch ab, das sogleich einen Hustenreiz auslöste.

„Ah, da ist er ja wieder zurück von den Toten“, knurrte ihn eine Stimme an.

„Zurück bei den Totgeweihten“, präzisierte eine zweite.

Fenian war überfordert. Er gurgelte noch einmal.

„Ach, stell dich nicht so an! Du hast dir nichts getan, Junge!“

Tatsächlich? Fenians Herz umfing für einen Augenblick eine erhabene Leichtigkeit. Nichts getan? Er lebte noch? Die anderen hatten ebenfalls überlebt? Gab es etwa noch Hoffnung? Wo befand er sich eigentlich? Vielleicht sogar in einem schönen, weißen, weichen Bett in einem Krankenhaus? Umsorgt von schönen, weißen, weichen Krankenschwestern?

Nachdem er ein verklebtes Auge mühsam geöffnet hatte, teilte es seinem Gehirn jedoch mit: Dunkelheit.

Vielleicht bin ich blind, dachte Fenian, aber er lag ganz eindeutig nicht auf einer Matratze, auch nicht auf einem Feldbett. Das hier war eindeutig immer noch die Kohlemine und die Stimmen gehörten zu den Männern, denen er das Leben hatte retten wollen und jetzt offensichtlich ihm...

Fenian spuckte eine Masse von schleimigem, körnigen Speichel aus und fragte: „Schaffen wir es nach draußen?“

„Wenn Sie hundert Jahre in die Richtung buddeln vielleicht.“

„Der ganze Stollen ist eingestürzt. Wir sind eingesperrt.“

„Es geht nur nach unten hinein in den Berg, aber nicht mehr hinaus.“

„Oh“, erwiderte Fenian, „Das ist... Ist jemand verletzt?“

„Spielt das noch eine Rolle?“

„Ist jemand tot?“

„Nein. Wir sind alle okay“, sagte eine Stimme, die bisher noch nicht gesagt hatte und die einen arroganten Südstaatenslang aufwies, den Fenian nicht ausstehen konnte. So redeten Texas-Ranger, Typen, die sich für was Besseres hielten, weil sie Säulen vor ihre Farmhäuser bauten.

„Haben Sie Licht?“, fragte Fenian, „Wie lange wird es reichen?“ Plötzlich fühlte er sich durch die Dunkelheit beengt, bedrängt und bedroht.

„Er fragt nach dem Licht?“, spottete der Südstaatler, „Er sollte lieber nach dem Sauerstoff fragen. Oder nach Wasser oder etwas zu essen!“

„Es reicht schon noch für ein paar Stunden“, sagte die raue Stimme, die Fenian noch von vorhin im Ohr war. Mit diesem Mann hatte er vor der Explosion gesprochen und aus irgendeinem Grund glaubte er, in ihm einen Freund gefunden zu haben.

Eine mattgelbe Funzel erschien vor Fenians Gesicht und er blickte in das kohleschwarze Gesicht eines Mannes, den die Jahre nicht ausgemergelt aber gegerbt hatten.

„Bukowski“, stellte er sich vor und reichte Fenian die Hand, um sie ihm gleichzeitig zu schütteln und ihm aufzuhelfen, „Caleb Bukowski.“

„McKenna“, sagte Fenian ein wenig Verlegen. Er hatte Angst, dass die Männer seinen Namen vielleicht schon einmal gehört hatten, „Fenian.“

„Du kommst nicht von hier, was?“, knurrte Bukowski.

„Nicht wirklich“, gestand Fenian.

„Du bist einer von den Jungs, den sie aus Chicago geschickt haben. Stimmt's?“

Sie, das war ein rotes Tuch hier unten unter diesen Leuten und in dieser Situation… Sie, die National Miners' Union, hatte in den letzten Wochen einiges an Sympathie verloren, als die kirchlichen Wohltätigkeitsorganisationen dahinter kamen, dass Kommunisten Probleme mit der Religion hatten und verbreiteten, dass die Vertreter der NMU nur gekommen waren, um Unruhe zu stiften – was eine ziemliche Ungerechtigkeit war, immerhin hatte Fenian selbst in den Suppenküchen der NMU ausgeholfen. Wo waren die Kirchen da gewesen? Unzählige Menschen, die nicht verhungert waren, gegen eine in die Luft gesprengte Kohlemine. Was war das schon? Seine Großmutter war verhungert, weil es keine Suppenküchen gegeben hatte, während ungleich viele Gebäude in der alten Heimat in die Luft gejagt wurden... Iren und Hunger und Sprengstoff. Das gehörte irgendwie zusammen...

„Ach, den erkenne ich auch in der absoluten Finsternis!“, sagte der Südstaatler, „Schwingt große Reden und trifft sich mit fragwürdigen Leuten. Ach was, er ist selbst eine fragwürdige Person. Würde mich nicht wundern, wenn... Sag, weißt du, wer die Bombe dort installiert hat?“

Fenian druckste herum.

Der Mann packte ihm am Kragen und zog ihn zu sich heran: „Würde mich nicht wundern, wenn er es selbst gewesen ist“, dann ließ er ihn wieder zurück auf den Boden fallen.

„Das ist Sam Meyer“, erklärte Bukowski, „von der Nationalgarde.“

„Sehr erfreut!“, sagte Fenian, der seinen Zynismus langsam zurückgewann. Er reichte Meyer die Hand, doch der ergriff sie nicht.

„Eigentlich soll er für unsere Sicherheit sorgen“, sagte Bukowski mit einem abschätzigen Blick, den aber nur Fenian wahrnahm.

„Es wäre hier ganz schnell wieder sicher, wenn man uns erlauben würde, Leute wie den da auf Verdacht festzunehmen.“

„Festnehmen oder erschießen?“, fragte Bukowski.

„Festnehmen. Aber wenn sich einer widersetzt, passiert es nun einmal manchmal, dass sich ein Schuss löst. Sie wissen das so gut wie ich, Cal.“

„Als würden Sie nicht sowieso machen, was Sie wollen“, warf Fenian ein.

„Ganz anders als ihr natürlich“, sagte Meyer, „Allerdings wäre mir kein Gesetz bekannt, dass es jemandem erlaubt, fremdes Eigentum in die Luft zu sprengen.“

Und damit hatte Sam Meyer sich in Fenians Augen bereits entlarvt. Fremdes Eigentum durfte man nicht in die Luft sprengen. Arbeiter unter Tage lebendig begraben war ein weniger großes Problem. Und sowas sagte er jetzt. Sowas wagte er in einer Situation wie dieser zu sagen...

„Fremdes Eigentum“, sagte Fenian, „Ist Ihnen das wichtiger als Ihr Leben?“

„Macht es einen Unterschied?“, fragte der Gardist.

„Wenn Sie sich selbst als fremdes Eigentum betrachten, dann nicht!“

„Hören Sie auf, sich so anzugiften!“, mischte sich ein vierter Mann in das Gespräch ein, „Ihre Grundsatzdiskussion wird uns auch nicht retten. Und sie tut auch nichts zur Sache. Niemand ist das Eigentum von irgendjemandem und niemand hat das Recht irgendetwas oder irgendjemanden in die Luft zu sprengen.“

„Und doch sitzen wir hier!“, erinnerte Caleb Bukowski.

„Gene Waters“, stellte sich der besonnene Mann Fenian vor. Seine Hand war feingliedrig und kaum dazu geschaffen, hart körperlich zu arbeiten. Seine Stimme klang jung, dünn und irgendwie traurig, resigniert vielleicht. Wer konnte es ihm verdenken?

 

„Was wollen Sie tun, Waters? Für uns alle beten?“, fragte Sam Meyer.

„Beten schadet jedenfalls nicht.“

„Dem stimme ich zu“, sagte Bukowski.

„Aber es nutzt auch nicht!“, eine neue Stimme. Fenian fand sie schnarrend und kalt. Natürlich hatte jeder hier das absolute Recht sauer zu sein, aber der arme Gene Waters hatte es nicht verdient, so angegriffen zu werden.

„Was schlagen Sie also vor?“, fragte Fenian.

„Versuchen wir, uns raus zu graben“, sagte der Mann.

„Mit bloßen Händen?“, fragte Meyers.

„Weiter unten liegt genug Werkzeug.“

„Das hier kriegen Sie auch mit Ihrer Spitzhacke nicht zur Seite geräumt, Turner. Viel eher sorgen Sie dafür, dass noch mehr einstürzt.“, sagte Bukowski.

„Aber wir können es versuchen“, beharrte Turner und Fenian hörte, wie seine Schritte sich entfernten.

„Vollkommen übergeschnappt!“, befand Bukowski.

„Er ist noch jung. Verurteilen Sie ihn nicht, weil er an seinem Leben hängt!“, sagte Gene Waters.

„Ich erinnere Sie später dran, wenn wir eingequetscht zwischen Felsbrocken darauf warten, langsam zu ersticken.“

„Wie alt ist Mister Turner denn?“, wollte Fenian wissen.

„22“, sagte Bukowski, „Hat ein Mädchen in Evarts.“

„Na, da hätte ich auch keine Lust zu krepieren“, sagte Fenian.

„Heißt das, Sie haben Lust draufzugehen?“, fragte Meyer.

„Nein, natürlich nicht, aber es ist doch auch noch gar nicht ausgemacht, dass wir sterben werden. Es geht uns doch allen gut, oder nicht? Wir graben uns von innen hinaus und von außen graben sie sich zu uns vor. Ich wette, es dauert nicht einmal ein paar Stunden und wir sind wieder draußen.“

Fenian war eigentlich nicht für irrationalen Optimismus bekannt, aber er glaubte, dass irgendjemand hier einen positiven Geist vertreten müsse und da er sich vor allen Dingen schuldig fühlte, versuchte er diese Schuld durch Hoffnung zu kompensieren.

„Wenn wir jetzt hier voller Tatendrang unserem Tod entgegensehen, dann glaube ich, dass ich mich Ihnen auch noch vorstellen muss“, brummte der letzte der sechs Männer, der bis dahin teilnahmslos geblieben war und dessen Schattenriss Fenian bis jetzt fast gar nicht wahrgenommen hatte, „Mein Name ist Greg Winters und ich komme aus White Star.“

„Freut mich“, sagte Fenian, „In White Star bin ich mal gewesen. Sieht ziemlich übel aus da.“

„Wo sieht es nicht übel aus?“, erwiderte Winters, „Wo nicht?“

„Mister Turner scheint das anders zu sehen“, versuchte Fenian ihn aufzumuntern, „Er scheint mir ein richtiger Idealist zu sein. Man braucht mehr solche Leute. Ich denke, wenn man positiv denkt…“

„Ach halten Sie die klappe, Sie wissen genauso gut wie wir, dass wir hier verrecken werden. Und Turner wird das auch noch früh genug begreifen“, das war Meyer, der sich wieder einmischte, „Was mich viel mehr interessiert, ist, welches verkommene Subjekt diesen Sprengsatz gelegt hat und wieso Sie davon wussten, Mr. McKenna, uns aber trotzdem haben hinein gehen lassen in die Mine.“

„Die Frage ist berechtigt“, sagte Caleb Bukowski, der inzwischen so etwas wie die Vaterrolle übernommen hatte, „Woher wussten Sie davon?“

„Tut es etwas zu Sache?“, fragte Fenian.

„Nein, aber ich will es trotzdem wissen!“, knurrte Meyer.

„Haben Sie sich in diesem gottverdammten County mal umgesehen?“, erwiderte Fenian, um vom Thema abzulenken, „Die Frage ist wohl eher, wer nicht auf die Idee kommt, diese Ausbeuterbetriebe und Todesfallen in die Luft zu jagen! Früher oder später…“

„Ja? Was wäre früher oder später sowieso passiert?“, wollte Caleb Bukowski wissen.

„Die Männer, die da draußen stehen, kämpfen auch für Sie, wissen Sie. Wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern, dann verbessern sie sich auch für Sie und ich finde, wenn Sie schon nicht solidarisch mit ihnen sind, könnten Sie wenigstens ein Verständnis für die verzweifelte Lage aufbringen“, sagte Fenian.

„Ich soll Verständnis für meinen Mörder aufbringen?“, rief Sam Meyer und lachte verächtlich, „Ist das Ihr Ernst?“

„Würden Sie sich am Streik beteiligen, dann wären Sie jetzt nicht hier“, meinte Fenian.

„Das ist der kaltblütigste Zynismus, den ich je gehört habe!“, sagte Gene Waters, „Überlegen Sie, was sie sagen, Mister McKenna! Denken Sie nach! Gibt Ungerechtigkeit Ihnen das Recht, anderweitig Ungerechtigkeit auszuüben?“

„Was ist er?“, fragte Fenian Caleb Bukowski, „Ein verdammter Priester? Er redet wie einer und hat den gleichen selbstgefälligen Tonfall.“

„Sie können auch gerne direkt das Wort an mich richten“, sagte Waters.

„Und? Sind sie ein verdammter Priester?“

„Ihr Hass auf die Kirche muss unermesslich sein, das ist sehr traurig. Hass macht uns nicht stark, er macht uns blind.“

„Das ist keine Antwort!“, rief Fenian.

„Sie antworten ja auch nicht auf meine Frage“, mischte sich Samuel Meyer wieder ein.

„Ich wollte Ihnen das Leben retten!“, erinnerte Fenian.

„Sie wollten uns umbringen!“, erwiderte Meyer, „Ihresgleichen kann nicht anders. Jeder, der euch rotem Pack nicht passt, wird bedroht oder gleich massakriert.“

„Das sagt ja der Richtige!“, sagte Fenian.

Beinahe hätten die beiden sich wieder beim Kragen gepackt, doch Caleb Bukowski trat zwischen die beiden Hitzköpfe und zischte: „Das bringt uns nicht weiter!“

„Nichts bringt uns weiter!“, sagte Sam Meyer, „Aber eine Ratte zu erschlagen, gibt einem zumindest das Gefühl, nicht vollkommen nutzlos hier herumzusitzen.“

„Was ist schon unser Leben gegen das der vielen tausend Männer und Frauen da draußen?“, versuchte es Fenian.

„Und was haben die von einer eingestürzten Mine?“, fragte Bukowski.

„Die Gewissheit, dass sie hier drin schon mal nicht mehr ausgebeutet werden“, sagte Fenian, in seinen Überzeugungen ungebrochen.

„Der Mann ist einfach nicht in der Lage zwischen Theorie und Praxis zu unterschieden.“

„Das sagt ausgerechnet der religiöse Fanatiker“, giftete Fenian Gene Waters an.

„Für Sie ist also jeder, der einen Glauben hat, bereits ein Fanatiker?“, fragte dieser gelassen zurück, „Und sind Ihre Überzeugungen nicht auch mehr ein Glaube als eine Wissenschaft?“

„Sie tun nichts!“, verteidigte sich Fenian, „Sie tun nichts, Sie behindern nur unsere Arbeit!“

„Ihre Hetzreden?“, fragte Meyers.

„Unsere Suppenküchen und Krankenstationen!“

Sechs Männer in der Dunkelheit, in der Tiefe unter dem Berg. Der Weg nach oben: Abgeschnitten. Die Decke und die Wände: Instabil. Licht, Nahrungsmittel- und Wasservorräte für einen Tag. Die Luft wurde stickig. Oder kam Fenian das nur so vor?

Es war warm hier unten. Fenian hatte das Gefühl, der Schweiß, der ihnen ausging, verdampfte in der bewegungslosen Luft. Es begann zu riechen. Salzig. Ranzig.

„Ich muss mal austreten.“

Nach Pisse.

Harry Turner war zurückgekehrt und brachte drei Spitzhacken mit. Aber statt mit der Arbeit zu beginnen, warf er sie seinen Kollegen zu Füßen und sagte: „Wir sind verloren, wenn sie uns nicht rausholen, nicht wahr?“

„Ja.“

„Wir sind verloren.“

Sie alle saßen auf dem Boden und schwiegen oder schmollten sich an und Fenian betrachtete eine der schattenhaften Gestalten nach der anderen.

Caleb Bukowski, groß, breit, zäh und in einem Alter, in dem andere Arbeiter so langsam begannen, den Verschleiß ihrer Körper wahrzunehmen, bekleidete den Posten eines Vorarbeiters und er nahm seine Verantwortung ernst. Verantwortung bedeutete Macht, Macht bedeutete Missbrauch. Fenian beäugte ihn skeptisch. Er war sich nicht sicher, ob Bukowski wusste, dass er von beiden Seiten als Verräter wahrgenommen wurde, dass man ihn, der sich offensichtlich bemühte, aufrichtig zu bleiben, zerreiben würde zwischen den Fronten.

Fenian hatte andere gesehen, die sich nicht entscheiden wollten, die vermitteln wollten, die redeten und Verständnis aufzubringen versuchten. Sie waren alle davon gejagt worden. Entweder die Polizei vertrieb sie aus ihren Häusern oder die Gewerkschaftler. Es gab hier nichts zu vermitteln. Entweder man stahl sich sein Brot oder man verhungerte. Betteln, sich Anbiedern kam nicht in Frage. Niemand mochte Kriecher. Niemand nahm sie ernst.

Aber Bukowski wusste noch nicht einmal, dass er ein Kriecher war, dachte Fenian. Er weiß so wenig und er glaubt an so viel.

Wer glaubt, der gibt seinen Verstand auf, daran glaubte Fenian und der zarte, feingliedrige Mann namens Gene Waters tat ihm eher leid, als dass er sich über ihn ärgerte. Er hielt sich für besonnen und gab sich freundlich, aber in Wirklichkeit fürchtete er sich davor, entlarvt zu werden. So waren alle religiösen Spinner. Sie taten verständnisvoll, so lange man hübsch verzweifelt war, aber sobald man in Aktion trat, zum Angriff überging, fürchteten sie sich davor, ihre abgehobene Position aufgeben zu müssen. Es war leicht, Mitleid zu empfinden. Was nicht so leicht war, war, die Ungerechtigkeiten abzubauen und dabei auf die eigenen Privilegien zu verzichten.

Das einzige, das Fenian daran nicht verstand, war, wieso auch kleine, unbedeutende arme Schlucker wie Gene Waters die arrogante Haltung ihrer Kirche so verteidigten. Fenian hatte miterlebt, wie die religiösen Verbände Stimmung gegen die Gewerkschaft gemacht hatte, obwohl sie die einzige Organisation war, die sich noch um die verelendenden Arbeiter kümmerte, nachdem das Rote Kreuz abgezogen war. Zu viel Gewalt. Zu unsichere Arbeitsbedingungen für die Freiwilligen. Dass Fenian nicht lachte! Unsichere Arbeitsbedingungen… Nichts konnte unsicherer sein, als in so einer Mine zu schuften, nicht einmal der bewaffnete Kampf Arbeiter gegen Nationalgarde.

Seine Großmutter war religiös gewesen, erinnerte sich Fenian, zu Hause in der alten Heimat waren sie alle religiös gewesen, hieß es. Verhungert ist sie an ihrer Religiosität!

Nein, das war nicht gerecht. Ein paar Priester hatten versucht, zu helfen. Hilfsgeistliche, die ihren Job aus Idealismus und nicht aus Raffgier ausübten. Die Bischöfe aber hatten nichts dagegen getan. Der Papst hatte nichts dagegen getan. Tausende waren verhungert. Und Irland exportierte seine Weizenernte.

Das hatte ihm sein Vater eingeschärft: Erst rauben sie dir deine Existenzgrundlage, dann beuten sie dein Land aus, damit es dir nicht helfen kann! Vertraue niemandem! Mach dich von niemandem abhängig! Zahle nicht, wenn du dich ansonsten verschulden musst!

Und es gab immer jemanden, der einem etwas rauben wollte: Den Weizen, das Land, das Haus, die Arbeitskraft, die Zeit, die Gesundheit, die Kinder… Sie leben davon, dass sie dich berauben, hatte sein Vater gesagt. Sie nehmen dir die Vorräte und sagen dir, du sollst die Saatkartoffeln essen, denn nächstes Jahr hast du sowieso kein Land mehr, auf dem du etwas aussähen kannst. Du hast die Wahl: Entweder du stirbst heute oder nächstes Jahr. Und dann wollten sie, dass man dankbar war, dass sie einem die Wahl ließen.

Aber Gene Waters hatte keine Ahnung von derartigen Entwicklungen. Seine Kirche befasste sich nicht mit profanen Themen wie der Kartoffelfäule oder überhöhte Pachtzinsen für unfruchtbares Land. Seine Kirche predigte Mäßigung und Geduld, Demut und Gefügigkeit. Alle predigten das, die etwas zu verlieren hatten. Nur, dass Gene Waters nichts hatte außer seinem Gottvertrauen und das zu verlieren, kam einer Befreiung gleich. Fenian wusste das, denn er hatte es am eigenen Leib erfahren.

Oh sicher, sie sagten zu ihm, er hätte den einen Glauben durch einen anderen ersetzt, aber das stimmte nicht. Der Katholizismus war ein aufgedunsenes über Jahrhunderte zu groteskem Aberglauben angeschwollenes Konstrukt von Ideen, die zu gut gewesen waren, um sie tatsächlich umzusetzen. Stattdessen hatte man sie abgeschliffen, verzerrt und mit Frömmigkeit überdeckt. Frömmigkeit, Angst und dem Versprechen, dass alles gut werde. Später.

Der Sozialismus versprach dagegen ein besseres Leben in absehbarer Zeit. Man sollte sich nicht zufrieden geben mit einem Leben im Elend, sondern sich selbst wertschätzen. Sich selbst, nicht bloß seine Produktivität, seine Kraftanstrengung und Leidensfähigkeit. Es war kein Glauben, man betete nicht, dass irgendjemand es für einen erledigen würde irgendwann, sondern man tat es einfach selbst. Wenn man etwas selbst tun konnte, wenn man etwas selbst tat, brauchte man nicht mehr zu glauben.

Gene Waters, wie er da so saß, wie er ruhig sein Schicksal annahm, im Stillen betete und sich selbst an letzte Stelle setzte, besaß kein Selbstwertgefühl. Und wer kein Selbstwertgefühl besaß, der schätzte auch das Leben anderer gering.

Fenian war im gleichen Alter wie Gene, Mitte 20, aber der andere wirkte auf Fenian wie ein kleiner Schuljunge, unschuldig, aber durch seine Naivität eine Gefahr für die Gesellschaft.

Harry Turner, über ihn wusste Fenian noch nicht viel, außer dass er schnell aufgab. Er war groß, viel zu lang und schlaksig für einen Bergmann unter Tage. Sicherlich arbeitete er nicht hier, weil er es als Berufung betrachtete, sein Leben in der schwarzen Hölle der Stollen zu verbringen. Mit 22 hatte man andere Träume. Fenian erinnerte sich an seine sehr gut: Er wollte die Welt sehen, raus aus der Stadt, hinaus in die Wildnis. Er wollte sehen, wie das Leben war, wenn einen keine Regeln einschränkten, wenn es nur einen selbst und die Natur gab. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, seinen Durst nach Freiheit in einer Kohlegrube stillen zu wollen. Wo konnte man sich beengter und geknechteter fühlen?

Er war der Gewerkschaft beigetreten, weil er gehofft hatte, so etwas für genau solche Menschen wie Harry Turner unternehmen zu können, ihnen eine Perspektive zu geben, ihnen zu zeigen, dass die Welt nicht an den Grenzen ihres Slums endeten. Aber Harry wusste das. Er hatte ein Mädchen in Evarts.

Zum ersten Mal, seit er unter Tage festeckte, dachte Fenian plötzlich an Gwen. Er hatte sie noch nie weinen sehen und er fragte sich, ob sie es täte, wenn sie erfuhr, dass er verschüttet und tot war. Gwens Vater würde aufatmen, aber Gwen selbst? Sie würde jemand anderen finden, vielleicht jemanden wie Harry Turner, und dann würde sie ihn vergessen. Sie waren noch so jung, noch nicht richtig aneinander gewachsen. Es war nicht wahr, dass Menschen, die jung starben, nie vergessen wurden. Gerade sie, die nichts geleistet oder hinterlassen hatten, gingen verloren in den Mühlen der Zeit.

Fenian bemühte sich an Gwen zu denken, obwohl seine Gedanken immer wieder abdrifteten. Aber es gehörte sich doch so. Der Mann in Todesgefahr dachte immer nur ein die Frau, die in seinem Herzen wohnen sollte. Sollte Gwen dort wohnen? Wohnte sie nicht viel mehr in Chicago? Und damit meinte er nicht das obszön große Haus ihrer Familie, sondern die Atmosphäre der mondänen Nachtclubs, wo sie den Schnaps in Kaffeetassen servierten.

Über sowas machte sich in Harlan niemand Gedanken. Die Prohibition lag ohnehin schon im Sterben und richtig gelebt hatte sie nur in den Köpfen verschrumpelter Damen, denen zu langweilig geworden war. Gwen lebte die Verruchtheit der Großstadt, kannte Leute, die andere Leute kannten, die vielleicht nicht ganz sauber waren. Gwen zu zwingen, in jemandes Herz zu wohnen, käme einer Käfighaltung gleich, fiel Fenian ein. Entweder man ließ sie ein und aus, oder sie verabschiedete sich, verflog wie der Rauch ihrer Zigaretten.

Sie rauchte zu viel. Da waren Fenian und Gwens Vater sich einig. Sie ruinierte sich die Gesundheit und zwar vorsätzlich: „Wenn es von Männern verlangt wird, sollte es Frauen zumindest erlaubt sein!“, sagte sie.

Fenian hatte nichts übrig für mondäne Nachtclubs, überlange Zigarettenhalter und die Dekadenz mit der man sich provokativ betrank. In Chicago tranken die Leute zum Vergnügen, in Harlan, um zu vergessen. Er fand die zweite Variante ehrlicher. Gwen hatte gesagt, man könne mit und ohne Kultur trinken und dann behauptet, sie selbst besäße selbstverständlich jede erdenkliche Art der Kultur und Fenian fragte sich, ob es vielleicht die Kultur war, die ihm fehlte.

Er hegte keine Leidenschaften für Dichterlesungen oder Opernabende, er ging nicht gern ins Theater, es sei denn, es wurde eine Komödie gegeben. Gwen dagegen erachtete diese Dinge als „Ereignisse“, bei denen man gewesen sein musste, wenn man sich nicht begraben lassen wollte.

Wie war er nur an sie geraten und sie an ihn? Lange schon nagte der Gedanke in Fenians Hinterkopf, dass er vor allem ein Instrument war, mit dem Gwen ihren Vater ärgerte. Für sie war alles ein Spiel. Jede Provokation war nicht so gemeint, jedes Gefühl sonderbar oberflächlich, jedes Interesse flatterhaft. Würde sie weinen, wenn sie wüsste, dass Fenian in ernsten Schwierigkeiten steckte?

Immerhin kannte sie so etwas nicht: Ernsthaftigkeit, Schwierigkeiten…

Fenian fragte sich, ob Harry Turners Mädchen in Evarts auch solche Allüren an den Tag legte, glaubte aber, dass die Mädchen hier grundsätzlich bescheidener, wenn auch nicht grundsätzlich anspruchslos waren. Alle Frauen wollen, dass man ihnen etwas bietet, dachte Fenian, und das ist in Ordnung, schließlich wollen auch Männer etwas geboten bekommen. Es war also nur fair… Allerdings – und hier musste Fenian zugeben, dass er nicht sicher wusste, wieso – bereitete ihm dieser Gedanke, diese Erkenntnis Bauchgrimmen. Musste man immer für alles bezahlen? Auch für die Zuneigung eines Freundes oder einer Freundin? Konnte man sich nicht ob die Loyalität seiner Familie verlassen, einfach, weil sie einen liebten? Bedingungslos?

Fenian stellte sich Harry Turners Mädchen aus Evarts vor. Sie war sicher nicht so chic gekleidet wie Gwen, aber auch nicht so schäbig wie die Slumbewohner in White Star zum Beispiel. Evarts gehörte nicht den Kohlegesellschaften. Das hieß, hier lebten Leute in ihren eigenen Häusern, führten ihre eigenen Betriebe und waren nicht direkt abhängig vom Wohlwollen der Minenbetreiber. Ein Mädchen aus Evarts konnte unter den in Harlan vorherrschenden Bedingungen so etwas wie eine Grazie sein und Harry Turner hielt sie wahrscheinlich für eine Trophäe.

Viele Männer hielten ihre Mädchen für Trophäen, bis sie sie heirateten, dachte Fenian. Nur bei Gwen und ihm war es umgekehrt. Er konnte sich nicht vorstellen, vor seinen Freunden damit anzugeben, dass er mit Gwen Greystone befreundet war. Sie würden ihn auslachen. Aber sie verstanden einfach nicht, was sie beide zusammenhielt: Blanker Zynismus – das befriedigendste Surrogat für wahre Liebe.

Es war ein Witz, nichts weiter. Aber waren nicht alle Beziehungen im Grunde schlechte Scherze. Der einzige Unterschied war, dass Gwen und Fenian es zugaben und sich damit wahrscheinlich näher standen als jedes andere Pärchen in diesem verfluchten Amerika.

Harry Turner wirkte nicht so, als hätte er die Liebe entlarvt. Er sah eher aus, als hätte er überhaupt keinen Begriff davon. Er ließ die Schultern hängen und suhlte sich in Selbstmitleid. Ab und an seufzte er, ergriff eine Spitzhacke, machte ein paar halbherzige Schläge, legte sie dann wieder zurück. Es nutzte nichts.

Ich hätte für dich gekämpft, dachte Fenian bei sich, auch wenn ich dich nicht leiden kann, auch wenn ich dich für dumm und wankelmütig halte. Menschen können nichts für ihre Schwächen, die meisten können noch nicht einmal was für ihre Torheiten. Vielleicht wärst du mit 30 hier rausgekommen, wärst mit deiner Frau von hier weggezogen in ein eigenes Haus, irgendwohin, wo das Licht besser ist. Und du hättest Kinder gehabt und ein leichteres Leben als unsere Väter und Großväter. Du hättest Geld sparen können und vielleicht wärst du irgendwann einmal verreist und hättest dir unser Land angesehen. Denn das ist es, was Menschen tun sollten: Leben, nicht arbeiten, bis sie tot umfallen.

Faulheit ist eine Tugend, befand Fenian. Wer nichts tun, macht auch nichts falsch oder kaputt. Faulheit hält einen am Leben. Faulheit hält gesund. Und wenn man nicht von Natur aus faul ist, dann sorgt die Natur dafür, dass du trotzdem aufhörst, dich kaputt zu schinden. Krankheiten sind Symptome, dachte Fenian, sie zeigen an, wenn du etwas falsch gemacht hast, das dein Leben gefährdet.

Sieh dir nur Greg Winters dort drüben an! Ein unförmiger Fleischhaufen von Mensch. Aus jeder einzelnen Pore strömt der Alkohol. Die Prohibition: So lebensfähig und fidel wie ein Alkoholiker!

Immerhin wirkte er freundlich und nicht völlig unzurechnungsfähig. Dennoch fragte Fenian sich, ob seine Organisation auch Menschen wie ihm helfen würde. Er dachte: Das sind die Leute, um die es uns gehen sollte, die Schwächsten, Kränksten, Geschundensten, aber Greg Winters ist kein Mitglied der Gewerkschaft, wir tun nichts für ihn, sonst wäre er nicht hier. Hatte er so schlechte Erfahrungen gemacht, dass er niemandem vertraute oder hoffte er gar nicht mehr auf Hilfe? Oder gab es vielleicht gar keine Hilfe? Nicht für ihn?

Oh, einem Harry Turner konnte man zu einem angenehmen Leben verhelfen, aber einem Greg Winters? Er hatte den Großteil seines Lebens schon hinter sich, das sah man, trotzdem kroch er immer noch durch die Stollen. Was konnte man einem wie ihm noch versprechen? Er hatte sicher mehr Unmenschlichkeiten gesehen und am eigenen Leib erlebt als Fenian, der nur darüber sprechen konnte, was andere ihm erzählt hatten, von denen er nicht sicher war, aus welchen Quellen sie ihre Informationen hatten.

Je mehr Fenian darüber nachdachte, desto mehr erkannte er, dass er eigentlich nichts wusste. Man hatte es leicht in Chicago, aber das war nicht das wirkliche Leben. Das nämlich fand hier unten zum Beispiel statt. Anmaßend musste man ihn nennen, wenn man ihn reden hörte, einen linkischen, irischen Jungen, der vor einer Versammlung von echten Kerlen von der Theorie des Arbeitskampfes sprach. Er selbst hatte keinen Tag in seinem Leben je gestreikt.

Sieh es positiv, sagte er sich, wenigstens ende ich nicht so wie Onkel Bernard. Der war Mechaniker gewesen und hatte Autos repariert. Fenian hatte bei ihm ausgeholfen, bis er mit den falschen Leuten die richtigen Gespräche geführt hatte – so hatte Tante Gertrud es ausgedrückt. Sie war eine weise Frau, die wusste, dass man sich in einer Revolution nur aufopfern oder selbst verraten konnte. Sie verfolgte die Vorgänge in der alten Heimat sehr genau, um das erkannt zu haben. Nach dem Tod ihres Mannes hätte sie gerne gehabt, dass Fenian die Werkstatt übernommen hätte, aber da hatte er schon die falschen Pläne auf Basis der richtigen Ideen gefasst. Schließlich hatte sie die Werkstatt verkauft und lebte nun von dem Geld, das sie für die alten Werkzeuge bekommen hatte. Als Fenian aufbrach hatte er verspochen, ihr regelmäßig Schecks zu schicken. Bisher hatte sich kein einziges Mal die Gelegenheit dazu ergeben.

Der Revolutionär gibt mehr Geld aus, als er einnimmt. Diese Lehre hatte er noch nicht ganz verinnerlicht, aber ihm dämmerte, dass irgendetwas in diesem Land gewaltig schief lief.

Fenian musste innerlich lachen, statt an seine liebste Gwen, dachte er an seine alte Schachtel von Tante und an den Onkel, der dieses lästige Leben längst hinter sich hatte. „Fenian“, hatte er gesagt, „Lass dich nicht übers Ohr hauen und hau du auch niemanden übers Ohr! So funktioniert moralisches Wirtschaften.“

Aber „moralisches Wirtschaften“ war zum Scheitern verurteilt. Die Leute wollten zwei Dinge: Sie wollten sich versichern, dass es anderen Leuten schlechter ging als ihnen selbst und sie wollten sich an Leuten orientieren können, denen es besser ging. „Der Mensch ist nur gesund, wenn er ein Ziel hat“, hatte Bernard gesagt, „Und glücklich ist er nur, wenn er jemanden unterdrücken kann. Sei nicht so, Fenian. Sei lieber unglücklich und redlich als glücklich und eine Schlange.“

In einem unredlichen System musste es Verlierer wie Greg Winters geben, damit die Menschen einerseits Ekel und andererseits Furcht empfanden.

Und Furcht war das Stichwort, wenn er sich den letzten seiner Schicksalsgenossen so betrachtete. Sam Meyer verkörperte alles, was Fenian hasste und dennoch kam er nicht umhin, ihn für seine Kompromisslosigkeit zu bewundern. Fenian hatte etwas übrig für Männer mit Prinzipien – selbst wenn es seiner Ansicht nach die falschen waren.

Sam Meyer hockte da und äugte. Er versuchte es unauffällig zu machen, aber Fenian entging es nicht. Sam Meyer tat dasselbe, was er machte: Lauern. Er schätzte die anderen Männer ein und Fenian wusste, es würde früher oder später darum gehen, eine Führungsrolle auszumachen.

Es war eine idiotische Idee, wohin sollte jemand die Gruppe schon führen, aber sie saßen hier vielleicht tagelang ohne Essen und Trinken fest, es würde zu Konflikten kommen, ehe sie alle draufgehen würden und Meyer war im Besitz einer Waffe. Wenn er sich zum Anführer machen würde, hätte Fenian nichts mehr zu lachen.

Man klammerte sich an derartige Gedankenkonstrukte, wenn man verdrängen wollte, dass man bald sterben musste und Fenian wusste, dass es zumindest Meyer genauso ging. Er hatte nicht aufgegeben wie Harry Turner, der es zwar nicht wahrhaben wollte, aber trotzdem am Ende war. Nein, Sam Meyer war ausgebildet dafür, in Extremsituationen die Ruhe zu bewahren und Menschen zu führen. Oder zu verführen?

Während Fenian jedoch Mitleid verspürte, konnte man in Meyers Augen, seiner Mimik und seiner Haltung nichts anderes als reptilienhafte Kälte wahrnehmen. Fenian kannte solche Typen. Gardisten waren alle gleich. Was mochte Meyer wohl denken? Was hielt er von Bukowski, Winters, Turner und Waters? Was er von ihm hielt, wusste Fenian, aber er glaubte nicht, dass er klug genug war, um ihn als Konkurrenten zu erkennen. Wahrscheinlich hielt er Bukowski für das Alphamännchen hier.

Über Waters waren sich Meyer und Fenian sicherlich einig. Er war ein Jammerlappen, der sich selbst gerne reden hörte, auch wenn er nichts hilfreiches zu sagen hatte. Winters musste Meyer mit nichts anderem als Abscheu betrachten und Harry Turner mit Überheblichkeit. Hier war Fenian im Vorteil. Er glaubte nicht daran, dass man Menschen von oben herab lenken konnte. Wenn er Turner überzeugen konnte, dass er es gut mit ihm meinte, hatte er vielleicht einen Freund hier unten.

„Hey, Harry“, sagte Fenian plötzlich kumpelhaft, „Erzählen Sie mal was von Ihrem Mädchen in Evarts. Ist sie hübsch?“

Sam Meyer ließ ein Knurren verlautbaren, aber mit seiner Missbilligung stand er allein da. Den anderen Männern schien es offenbar sehr recht zu sein, sich durch ein Gespräch ablenken zu können und die Vorstellung eines hübschen Mädchens konnten sie gerade alle gebrauchen.

„Oh ja“, sagte Harry Turner, „Sie ist die hübscheste von allen.“

„Mit der zweithübschesten hättest du dich wohl auch nicht zufrieden gegeben“, meinte Fenian scherzhaft.

„Sie selbst würde sich mit dem Titel der zweihübschesten nicht zufrieden geben“, meinte Turner, „Sie ist eine Art Schneewittchen. Alle ihre Freundinnen sind neidisch auf sie und alle meine Freunde sind neidisch auf mich.“

Jetzt nicht mehr, dachte Fenian, sprach es aber nicht aus.

„Catharina Jenkowic ist kein Umgang für einen achtbaren Mann“, sagte Gene Waters, „Das habe ich dir schon mal gesagt und ich sage es dir auch jetzt.“

„Sie müssen ja ziemlich verbohrt sein“, fiel Fenian ihm ins Wort, „Sie verbieten ihm sogar jetzt noch von einer Frau zu träumen, die er gerne hat?“

„Ein anderer als ich wird darüber richten. Ich kann nur warnen.“

„Lassen Sie ihn“, sagte Bukowski, „Die einen mögen hübsche Mädchen, die andere ihren Gott. Aber was wir alle brauchen, ist etwas, an dem wir uns festhalten können, damit wir nicht verzweifeln.“

„Woran halten Sie sich fest?“, fragte Turner Fenian.

„An was schon?“, blaffte Sam Meyer, „An dem guten Gefühl, fünf Abweichler ermordet zu haben.“

Fenian ignorierte ihn wie die anderen und antwortete stattdessen: „Ich hab ein Mädchen in Chicago.“

„Ne echte Großstadtbiene, was?“

„Kann man so sagen. Sie heißt Gwen und ich hätte sie gerne gefragt, ob sie mich heiraten würde.“

„Warum hast du nicht?“, fragte Caleb Bukowski.

„Weil sie mich ausgelacht hätte. Sie lacht über solche Sachen, alles, was sie konventionell findet.“

„Catharina und ich hätten nächstes Jahr geheiratet“, erzählte Harry Turner, „Ich wollte sie demnächst fragen, hab ein bisschen Geld für den Ring gespart und so weiter. Sie hätte bestimmt ja gesagt, wenn ich ihr erzählt hätte, dass ich vorhabe von hier wegzugehen.“

„Weggehen?“, fragte Greg Winters mit seiner schleppenden Stimme, „Wohin denn?“

„Kalifornien hab ich mir überlegt.“

„Und als was, willst du arbeiten?“

„Alles ist besser als das hier, oder?“

„Arbeit, gleich welcher Art, schändet nicht“, sagte Gene Waters, „Du solltest nicht so abfällig darüber reden.“

„Ich hab gehört, sie suchen Leute auf den Plantagen. Arbeit unter freiem Himmel liegt mir mehr und vielleicht könnte ich selbst ein bisschen Land pachten und Obst anbauen. Catharina könnte auch eine Anstellung finden. Sie sagt, sie hätte nichts gegen ein bisschen Arbeit, wenn sie anständig bezahlt ist. Ich stelle mir vor, dass ich Pfirsichbäume anpflanze und sie Konserven herstellt. Vielleicht eröffnen wir eines Tages eine kleine Fabrik.“

„Die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass du hier unten krepierst“, sagte Meyer.

„Sie haben Cal gehört“, mischte sich Greg wieder ein, „Wir alle brauchen was zum Träumen!“

„Und wovon träumen Sie?“, fragte der Gardist.

„Dass Ihresgleichen den Arsch voller Schrotkugeln bekommt.“

Das verwunderte Fenian, aber insgeheim freute er sich. Greg Winters und Sam Meyer waren Feinde? Er fragte sich wieso.

„Leute wie Sie wissen sich nicht anders als mit Gewalt zu wehren“, sagte Meyer.

„Während Sie keineswegs jemals handgreiflich werden“, spottete Fenian und erhoffte sich Zustimmung durch den alten, gebrochenen Mann.

Diese kam jedoch nicht. Stattdessen sage Sam Meyer süffisant: „Eine Reaktion auf realistische Gefahrensituationen für die Bevölkerung erfordert härter Maßnahmen als eine Kirchenpredigt. Ich nehme an, Sie stimmen mir zu, McKenna, dass kein Staat es hinnehmen darf, wenn Bauten in die Luft gesprengt werden?“

Wieder redete er nur von den Bauten und nicht von den Menschen. Fenian knirschte mit den Zähnen. Er wusste, dass es eine Provokation war und dass man in seinem solchen Diskurs nur verlieren konnte: Diskutierte man mit den Provokateuren, machte man sich lächerlich, weil man sie ernst nahm. Diskutierte man nicht, glaubten die Provokateure, dass sie Recht hatten und dass man ihnen zustimmte. Denn natürlich meinten sie das alles ernst. Sie glaubten nur, wenn sie dabei lächelten, kämen sie davon wie ein Lausbub mit einem Streich.

Harry Turner versuchte die Situation zu entspannen, indem er auf das ursprüngliche Thema zurückkam: „Er zählen Sie mal was von Ihrer Freundin, Mister McKenna. Wie sieht ihre Gwen denn aus?“

Fenian beruhigte sich und sagte: Sie ist ziemlich groß. Fast so groß wie ich.“

„Naja, Sie sind ja auch nicht der Größte“, wand Caleb Bukowski ein.

„Ja, ja. Kann schon sein“, sagte Fenian schnell. Vorhaltungen über seine schmächtige Statur hatte sein Onkel Norbert ihm auch ständig gemacht. Er solle mehr essen und weniger rauchen, mehr arbeiten und weniger den Mädchen hinterher schauen und sein Geld nicht für Vergnügungen rauswerfen, sondern dafür sich ein solides Leben aufzubauen.

„Jedenfalls“, fuhr er fort, „lässt sie sich seit einiger Zeit die Haare wieder wachsen. Vor ein paar Monaten hatte sie sie sich ganz kurz geschoren. Es gefiel ihr zuerst, dass die Leute sie entsetzt anstarrten, aber irgendwann wohl nicht mehr.“

„Ein verspäteter Flapper?“, fragte Harry und lachte gezwungen.

„Ach nein“, sagte Fenian, „Gwen könnte es nicht ertragen, wenn man ihr nachweisen könnte, sie sei unmodern. Sie ist einfach Gwen mit den verrückten Ideen.“

„Hört sich nach einer ziemlich verwöhnten Tochter an“, befand Caleb Bukowski und traf damit einen wunden Punkt.

„Sie kann es sich leisten, so zu sein, wenn Sie das meinen, ja“, entgegnete Fenian, „Ihr Vater macht in Schweinefleisch.“ Das sagte Fenian immer, wenn er verschleiern wollte, was Walter Greystone wirklich trieb.

„Also eine Heuchlerin“, befand Gene Waters, „Von oben herab fordert sie Privilegien für sich ein.“

„He, Sie kennen sie nicht, als halten Sie sich mit ihren Urteilen zurück!“, schnappte Fenian, „Sie halten wohl nicht viel von Frauen, hab ich recht?“

Gene Waters verbiss sich etwas, das er noch sagen wollte und sagte stattdessen: „Und halten Sie sich mit ihren Vorurteilen zurück!“

„Es ist kein Vorurteil, wenn ich Ihre Gottesfürchtigkeit lächerlich finde. Die christlichen Lehren sind mir nicht unbekannt, wissen Sie, ich bin ihnen nur entwachsen, weil jeder irgendwann erwachsen werden und Verantwortung übernehmen muss!“

„Glauben Sie ich übernehme keine Verantwortung?“, rief Waters, „Was glauben Sie, tue ich hier? Meine Freizeit gestalten? Ich gehe zur Arbeit, weil es meine Pflicht ist, weil ich nicht faul und eigennützig bin, weil ich für andere etwas leisten möchte...“

„Ach halten Sie den Schnabel, Sie Komiker!“, rief Sam Meyer dazwischen, „Was wissen Sie schon von Pflicht?“

„Es ist unsere Pflicht, uns zusammenzureißen!“

„Na, dann tun Sie das auch!“, riet der Nationalgardist und griente, „Alles, was ich von Ihnen höre, ist Jammern und Moralisieren. Wollen Sie so den Menschen dienen?“

Entlarvend, befand Fenian, nicht gerade freundlich, aber doch entbehrte die Aussage nicht einer gewissen Wahrheit, der er sich gerne und mit Genugtuung anschließen wollte. Aber er sagte nichts, denn lieber erweckte er den Anschein einem Gläubigen zuzustimmen als einem Nationalgardist.

„Catharina würde auch gerne in einer Großstadt leben, glaube ich“, mischte sich Harry Turner wieder ein, „Ich glaube, alle Frauen finden es in der Stadt schöner. Sie mögen das Komfortable.“

„Und haben keinen Sinn für den Preis dafür“, sagte Caleb Bukowski, „Man sollte sich eine Frau suchen, die bescheiden ist und sich zufrieden gibt, mit dem, was man ihr bieten kann. Das ist meine Devise. Ich rackere mich für sie ab – und ich tue es gerne, nicht dass Sie mich falsch verstehen – aber dann soll sie auch dankbar dafür sein.“

„Sie wollen nicht, dass ihre Entscheidungen in Frage gestellt werden?“, fragte Sam Meyer, „Dann heiraten Sie nie, kann ich Ihnen nur raten.“

„Zu spät“, sagte Caleb, „Ich bin es seit 18 Jahren und habe es keinen Tag lang bereut.“

„Erzählen Sie doch was von Ihrer Frau“, bat Fenian.

„Ihr Name ist Melanie“, sagte Bukowski „und sie ist eine dieser Frauen, die eigentlich Engel hätten werden sollen. Sie wissen schon… gewissenhaft, nie ein unangebrachtes Wort, sauberes Haus, gutes Essen. Sie backt einen hervorragenden Apfelkuchen. Mit Zimt. Weiß der Teufel, wo sie das teure Zeug herbekommt… Manchmal veranstalten wir Grillabende in unserem Garten und Melanie macht mit Abstand die beste Marinade. Das sagen alle. Man hat ihr auch gesagt, sie solle die Rechte an ihrem Rezept verkaufen und ihre Künste zu Geld machen, aber sie ist dagegen. Unsere Töchter sollen die einzigen sein, die so kochen wie ich. Wenn es jeder kann, wer soll sie dann heiraten?, sagt sie. Aber wenn Sie mich fragen, ändern sich die Zeiten und man kann sich nicht gegen den Lauf der Dinge stellen. Mädchen werden nicht mehr für ihren Apfelkuchen geheiratet.“

„Sie reden Blödsinn, Bukowski, und das wissen Sie!“, rief Sam Meyer dazwischen, „Wir alle kennen Ihre Frau und die Gewissenhaftigkeit, die Sie so schätzen, ist doch nichts weiter als ein Mantel für Unzufriedenheit. Ihre Frau ist unzufrieden. Unzufrieden mit Ihnen. Sehen Sie sich doch an! Ich denke, da wir sowieso alle verloren sind, können wir ruhig ehrlich miteinander sein, damit wir nicht dumm sterben… Sehen Sie sich an. Was kann eine Frau an Ihnen schon lieben? Sie haben ein nettes Häuschen in Evarts. Das haben Sie sich geleistet, aber sonst? Sogar den Zimt muss Ihre Frau vor Ihnen verstecken, weil sie sowas für Verschwendung halten würden. Essen tun Sie den Kuchen aber gerne, nicht wahr?“

„Das ist eine Unverschämtheit!“, rief Bukowski, „Mischen Sie sich gefälligst nicht in die Familienangelegenheiten anderer Leute!“

„Sie sagen das so, als ob sie glauben würden, dass Sie jemand wären. Leute… die Angelegenheiten zu erledigen haben… Glauben Sie, sie sind unersetzlich? Glauben Sie irgendjemand legt Wert auf einen großkotzigen Pollacken, der ihnen erzählt, dass Fleiß und Tüchtigkeit Tugenden sind, mit denen man es weit bringen kann? So weit wie Sie selbst? Sie sind doch das beste Gegenbeispiel für ihre Theorie.“

„Jetzt halten Sie aber mal die Luft an!“, das war Gene Waters, der eine solche Menschenverachtung nicht durchgehen lassen konnte und vermutlich noch sauer war wegen der Beleidigungen, die er kassiert hatte.

„Und jetzt?“, fragte Meyer, „Freies Land, freie Bürger, freie Meinung. Finden Sie nicht? Mein Punkt ist, dass Bukowski hier einem jüngeren, kraftvolleren Mann einen Arbeitsplatz wegnimmt, weil er gierig ist. Zudem käme ein jüngerer Mann die Gesellschaft auch kostentechnisch deutlich günstiger. Leute wie Caleb Bukowski haben die Gesellschaften in die Krise getrieben. Sie verlangen zu viel Geld und bauen dabei langsam geistig und körperlich ab. Sehen Sie sich nur das Häuflein Elend da hinten an!“ Er wies auf Greg Winters, der eingedöst zu sein schien.

„Ja, das sieht Ihnen ähnlich!“, mischte sich Fenian wieder ein, „Die Arbeiter sollen die Gesellschaften retten, indem sie verhungern.“

„Er sieht nicht gerade verhungert aus“, sagte Sam Meyer, „Muss an den Apfelkuchen liegen…“

„Mister Meyer, ich finde, dass Sie zu weit gehen!“, sagte Harry Turner, „Cal ist ein guter Mann, der seinen Lohn mit ehrlicher, hartes Arbeit redlich verdient wie jeder von uns. Auch Sie! Wir alle zahlen Steuern, damit Sie uns hier…“

„Schikanieren!“, warf Fenian schnell ein.

„Beschützen!“, zischte Turner mit einem scharfen Blick gegen den Gewerkschaftler.

„Der Ire und der Pole verbünden sich, hätte man sich ja denken können!“, sagte Meyer, „Eine Seuche. Der größte Abschaum der weißen Rasse.“

„Was haben Sie für ein Problem mit unseren Herkunftsländern?“, fragte Fenian, „Niemand fragt oder beurteilt Sie nach Ihrem.“

„Weil ich mich assimiliert habe und Ihresgleichen immer noch ihr eigenes Süppchen kocht.“

„Ach, das ist doch Blödsinn“, versuchte es Gene Waters.

„Fenian… Was für ein Name! Wer Sie so genannt hat, muss Sie schon mit der Taufe zum Unfriedenstifter auserkoren haben.“

Fenian fühlte sich ertappt. Tatsächlich hatte man sowohl in seiner Familie als auch in der Familie von Onkel Norbert recht viel darauf gegeben, dass man irisch war. Es stimmte schon, dass sie ihn immer angehalten hatten, sich seiner Wurzeln bewusst zu sein. „Die Amerikaner sind anders. Sie sind wie die Engländer. Sei nicht wie sie!“, hatten sie ihm eingeschärft, „Sie kennen keine Moral, wenn sie Geschäfte machen, das ist der Unterschied. Es ist der Protestantismus, der sie verdorben hat.“

„Es ist der Katholizismus, der sie verdorben hat!“, sagte Sam Meyer.

„Dass Mister McKenna nicht sehr religiös ist, haben wir doch schon festgestellt“, warf Gene Waters ein.

„Es steckt ihnen in den Genen!“, behauptete Meyer, „Generationen von Katholiken unter sich bringen immer neue Generation menschlicher Degeneration hervor.“

„Für jemanden, der noch vor ein paar Minuten die Freiheitsrechte für sich reklamiert hat, haben Sie es nicht so sehr mit der Religionsfreiheit, was?“, fragte Caleb Bukowski, der gelassener wirkte, je aufbrausender der Gardist sich gebärdete, „Ich glaube viel mehr, Ihnen geht ganz schön die Klammer, weswegen Sie nicht mehr wissen, was Sie von sich geben. Ihr Problem ist, dass Sie andere kleinreden müssen, um sich selbst groß zu fühlen. Deshalb arbeiten Sie auch nicht, sondern stolzieren mit ihrem Gewehr durch die Gegend.“

„Ganz genau, so wie Ihre streikenden Kollegen, nur dass ich die Staatsordnung wieder herstelle, welche die anderen untergraben wollen.“

„All diese Diskussionen drehen sich im Kreis, merken Sie das nicht?“, rief Harry Turner dazwischen, „Wir sollten an etwas Schönes denken und wenn Cal der Apfelkuchen seiner Frau glücklich mach, dann ist das meiner Ansicht nach in Ordnung. Und es ist mir verdammt noch mal egal, welche Religion einer hat!“

„Das sehe ich genauso“, sagte Fenian, „Von mir aus kann jeder glauben, was er will, so langer damit niemanden belästigt ihm Schaden zufügt.“

„Nun reden Sie aber bigott“, befand Gene Waters, „Keine Gewalt im Namen der Religion, damit gehe ich d’accord. Aber ach gegen Gewalt im Namen jeder anderen Überzeugung sollte abgeschworen werden!“

Fenian seufzte: „Na schön. Von mir aus. Aber bedenken Sie, dass Fehler gemacht werden. Niemand ist perfekt…“

„Sie haben den verdammten Stollen in die Luft gejagt! Das nennen Sie einen Fehler? Eine Unperfektheit in Ihrem Lebenslauf?“

„Oh, da hat jemand doch Temperament“, lobte Meyer Gene Waters, „Ich hatte Sie für einen kalten Fisch gehalten, aber das eben hat mir gefallen.“

„Ja, weil er Ihren Zynismus kopiert hat, der noch nie jemandem in irgendeiner Weise geholfen hat“, sagte Fenian.

„Sie erwarten wirklich, dass uns geholfen werden kann?“

„Hoffen ist besser, als sich gegenseitig zu zerfleischen!“

„Höre ich da ein Körnchen Religion heraus?“

„Halten Sie die Klappe, Meyers! Niemand interessiert sich für Ihre aufgesetzte Schlagfertigkeit. Wir sind alle erwachsen genug, um nicht auf sowas hereinzufallen!“, sagte Fenian.

„So? Worauf denn reinfallen?“, fragte Harry Turner.

„Auf seine Versuche, einen Sündenbock ausfindig zu machen.“

„Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Wer außer Ihnen soll denn Schuld tragen an unserer Situation?“, lachte Sam Meyer, „Oh, ich sage es Ihnen: Die Gesellschaften, das System, wir alle, die ihn dazu getrieben haben, diesen Anschlag zu verüben, weil er sich nicht anders zu wehren weiß, gegen die allgegenwärtige Unterdrückung. Ich sag Ihnen was, Fenian: Niemand hindert Sie daran, im Wald von Wurzeln und Beeren zu leben! Allerdings können sie damit ihrer Großstadtschlampe nicht imponieren. Ich schätze, wir müssen alle Opfer bringen. Die einen den Luxus des Schmarotzens, die anderen ihr Leben…“

„Lassen Sie Gwen da heraus!“, rief Fenian und wäre dem Gardist beinahe bei die Gurgel gegangen.

„Oh, gerne. Ich dachte nur, weil wir vorhin von den Ansprüchen der Frauen sprachen. Ich bin mir sicher, Ihre Gwen hat mit Ihnen einen großartigen Fang gemacht. Mit Ihnen an ihrer Seite wäre sie nicht so geendet wie Mrs. Melanie Bukowski. Und ohne Sie an ihrer Seite wahrscheinlich ebenfalls. Es ist nur eben so, dass Frauen – auch Ihre Gwen nicht – weder Faulenzer noch Geizkragen heiraten. Leider sind genau das die beiden Eigenschaften, die ein guter Katholik in sich vereint. Sie stimmen mir doch zu, Mister Turner?“

„Ich habe keine Ahnung vom Katholizismus“, sagte der Angesprochene, fügte aber dann hinzu: „Aber ich glaube, dass jede Frau einen Anspruch auf ein angemessenes Leben hat, das ihr Mann ihr bieten sollte.“

„Werden Sie erstmal so alt wie ich und bekommen sie Kinder, dann sehen Sie klarer, was die Ansprüche der Frauen angeht“, sagte Caleb Bukowski nur und bemerkte wie sich ein plötzliches, betretenes Schweigen über die Gruppe legte. Sie alle wussten, dass Harry Turner nicht so alt wie Bukowski werden und auch keine Kinder jemals haben würde.

 

Ein Zeit lang sprach niemand etwas. Es war, als würde ihnen jetzt erst langsam dämmern, in was für einer Situation sie sich befanden. Sie waren tote Männer. Was nutzte Streit? Was nutzten schöne Gedanken? Was nutzten Überzeugungen und Theorien? Noch nicht einmal Rechtfertigungen nutzten etwas, weil Schuldzuweisung ebenso nutzlos geworden waren.

Es ist im Grunde wie das Leben, dachte Fenian, nur dass wir keine Möglichkeit haben, uns abzulenken von dem Gedanken, dass wir sterben werden. Das war – und Fenian erschrak selbst darüber – eine überaus katholischer Gedanke. Wir haben das Nichts erkannt, dachte er, und um uns zu beruhigen, haben wir uns ein „Jenseits des Nichts erfunden“, indem die Existenz einen Sinn hat. Dumm, aber nicht so dumm wie das woran Leute wie Gene Waters glaubten. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Damit konnte Fenian sich nie anfreunden. Helfen konnte man doch immer nur anderen. Für ihn lief es eher auf ein „Hilf anderen, dann werden sie dir helfen!“ hinaus.

Andererseits: Hatte er jemals jemandem wirklich geholfen? Das Gegenteil von „gut gemacht“ ist „gut gemeint“ und er hatte alles, was er in seinem Leben getan hatte, immer bloß „gut gemeint“. Bedeutete das zwangsläufig, dass es falsch gewesen war? War sein nutzloses Leben ab Ende sogar schädlich für andere gewesen?

Wenn er den Männern in den Kneipen sagte, dass sie die Arbeit niederlegen sollten, bis sie angemessen bezahlt und ihre Arbeitsplätze sicher waren, waren das sinnvolle Ratschläge? Lähmte der Streik nicht eher Gesellschaften und waren diese dadurch nicht umso weniger in der Lage, gerechte Löhne zu zahlen und die Arbeitsstätten sicherer zu gestalten. Mussten Menschen wie Greg Winters nicht härter und länger arbeiten, weil er andere dazu aufrief, nicht zu arbeiten?

Wer konnte es sich eigentlich leisten zu streiken? Wer konnte es sich leisten, Mitglied der Gewerkschaft zu werden? Wer nicht Gefahr laufen wollte, aus den eigenen vier Wänden vertrieben zu werden, der schloss sich der Union lieber nicht an. Aber war es richtig, von den Mächtigen einzuknicken, weil man das System sowieso nicht ändern konnte? Sollte man es gar nicht erst versuchen, weil man Gefahr lief, bei dem Versuch, Verluste hinnehmen zu müssen. Egal, was man tat, am Ende hatte man sich die Hände schmutzig gemacht, dachte Fenian.

Gestern noch waren ihm diese Sachen vollkommen klar gewesen. Er wusste, wer der Feind war und er wusste, was zu tun war. Gestern Abend und all die Abende zuvor hatte der Alkohol ihm den Verstand geklärt. Verklärt? Erklärt?

Für Fenian war das Trinken ein subversiver Akt. Alles war für ihn ein subversiver Akt, aber vor allem das Trinken bereitete ihm eine diebische Freude, weil jeder es tat. Jeder übertrat das Gesetz und mit einem Bier in der Hand konnte man seine Saufkumpane viel leichter davon überzeugen, dass auch andere Gesetze zum Brechen da waren.

„Das Gesetz ist für den Menschen da, nicht der Mensch für das Gesetz!“, hatte Fenian ihnen gesagt und Applaus geerntet, „Und wenn ein Gesetz niemanden schützt und alle einschränkt und kriminalisiert, dann ist es ein dummes Gesetz und unsere Pflicht, es abzuschaffen. Faktisch abzuschaffen! Wenn niemand gehorcht, denn herrscht auch niemand!“

Sowas hörten die Leute gerne, die unzufrieden, frustriert und verzweifelt waren, die niemandem mehr vertrauten und auf nichts mehr hofften, dennoch aber noch genug Energie hatten, um ein Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten. Wenn ein Vakuum entsteht, dann kommen die Rattenfänger aus ihren Löchern. War Fenian ein Rattenfänger? Ein Prediger, der nur den bereits Konvertierten Predigte, weil das leichter war, weil er es auf Applaus abgesehen hatte und nicht wirklich auf Veränderung?

Woran glaubte er eigentlich? Es war so leicht gewesen, der Kirche abzuschwören, dass er sich nun nicht mehr sicher war, ob sein Idealismus nicht in Wirklichkeit einem Zynismus und einer Lust am Chaos gewichen war.

Plötzlich fühlte er sich schmutzig. Wenigstens das, dachte er, ich weiß wenigstens noch, dass ich ein Mistkerl bin!

Sam Meyer wusste es ebenfalls, aber es gefiel ihm. Fenian empfand nichts als Verachtung für diesen Mann, der vielleicht in der Lage war, ihn zu entlarven. Wir verachten nur, was wir fürchten, dachte Fenian, Hass ist das Eingeständnis von Furcht, von Selbstzweifeln und Schwäche. Aber wir leben in einer Welt, die Furcht, Zweifel und Schwäche betraft, nicht aber Überheblichkeit. Aus Überheblichkeit aber erwuchs kein Hass, sondern etwas noch Ekelerregenderes: Der Anspruch zu Beherrschen, ein krankhaftes Bedürfnis nach Selbstprofilierung auf Kosten anderer, der Wunsch, Mensch zu lenken, ihnen eine Fahne in die Hand zu drücken und ihnen einzureden, dass an dieser allein das Glück der Gesellschaft festgemacht war.

Es ging immer nur um Fahnen, Uniformen und Symbole. Dabei hatte Fenian gedacht, eine Republik bräuchte keine Wappen, keinen Adel, keine Wahrzeichen mehr. Er hatte sich geirrt. Es war überall. Menschen identifizierten sich mit Zeichen, nicht mit Aktionen. Und eine Firma war auch nicht mehr als ein Symbol. Die Gewerkschaft hatte ein Logo, sogar die Kommunisten hatten ihre Devotionalien. Alle riefen Hurra, wenn ihre Fahne gehisst wurde. Niemand wollte wissen wie viel Blut an diesem Stück Stoff klebte.

Überall, wo sich Gruppen zusammenschließen, dachte Fenian, gibt es Außenseiter, die ausgeschlossen werden, damit sie schwach bleiben. Ohne Unterdrückung geht es nicht. Irgendjemand bleibt immer auf der Strecke. Irgendjemand muss immer die Drecksarbeit machen. Dieses ganze Land schmarotzt von der Sklavenarbeit, die wir alle verrichten. Natürlich war niemand gezwungen zu arbeiten, es stand jedem frei, zu verhungern.

Fenian wurde leicht schläfrig, wie er so seine Gedanken kreisen ließ. Außerdem meldeten sich seine Kopfschmerzen zurück.

„Ich bin durstig“, sagte er und es war ihm peinlich, dass ausgerechnet er als erster damit kam.

„Das heißt, die erwarten, dass jemand mit Ihnen sein Wasser teilt?“, fragte Sam Meyer.

„Ich erwarte es nicht. Ich bitte darum.“

„Sie bitten, aber haben wir eine andere Möglichkeit, als ihnen ihre Bitte zu erfüllen?“

„Sie können ablehnen“, sagte Fenian kühl.

„Einer der anderen vier wird schon ein weiches Herz bekommen, wenn Sie ausgetrocknet und am Verdursten sind. Darauf spekulieren Sie doch!“

„Ich spekuliere auf gar nichts. Ich stelle die Frage, ob ich etwas Wasser bekommen kann. Daraus brauchen Sie keine wirtschaftstheoretischen Überlegungen ableiten. Es war eine Bitte um Wasser und Sie sind nicht der Sprecher der Gruppe!“

„Nur weil Sie es als Bitte formulieren, ist und bleibt es ein Diebstahl. Sie reduzieren jemand anderem die Lebenszeit zu Gunsten Ihrer eigenen und ich frage, wieso sollte jemand das tun?“

„Weil Menschen zur Empathie fähig sind“, sagte Fenian.

„Wenn Empathie das eigene Leben verkürzt, ist sie schädlich“, fand Meyer.

„Ist das Ihr einziger Maßstab?“, mischte sich Gene Waters ein, „Hier, sie können etwas von meinem Tee haben.“ Er reichte Fenian seine Flasche und Sam Meyer hatte erreicht, was er wollte: Fenian wagte es nicht, zu trinken.

Er gab die Flasche Winter zurück und sagte: „Vielen Dank, aber ich will nicht schmarotzen.“

Der Nationalgardist verzog sein Gesicht zu einem süffisanten Grinsen, sagte aber nichts. Er ließ die Situation und die Aussage wirken.

Habe ich mich gerade dem scheinbaren gesellschaftlichen Druck gebeugt?, fragte sich Fenian und in ihm verkrampfte sich sein Magen. Hätte sich etwas darin befunden, hätte er jetzt sicher würgen müssen. Er wusste eigentlich, dass gesellschaftlicher Druck eine Konstrukt war, mit dessen Hilfe dich Reichen sich aus der Verantwortung stahlen. Sie sagten: „Du kannst nicht erwarten, dass andere für die arbeiten, leben und leiden! Das ist Unrecht!“, dabei erwarteten sie fortwährend von anderen, dass sie für sie und ein paar müde Dollars ihr Leben empfindlich verkürzten. Sie sagten: „Wir können die Familien und einfachen Leute nicht damit belasten, all die Faulenzer durchfüttern zu müssen, die nichts leisten und unserer Nation nur schaden und nicht nutzen!“, dabei gäbe es überhaupt keine Arme, wenn es keine Reiche geben würde.

Sie hetzen die Armen gegeneinander auf und stehlen sich davon. Die Armen bringen sich gegenseitig um – egal ob sie sich bekriegen, oder einander helfen. Es ist nicht genug da, das sie verteilen können, während andere ihre Reichtümer bunkern. Kein Boss lebt einen Tag kürzer, wenn er sein Vermögen mit den Armen teilt, aber ein Arbeiter ist mangelernährt, wenn er sein Brot dem Bettler schenkt. Das war nicht gerecht, aber er hatte es gerade akzeptiert.

Nun gut, lenkte Fenian ein, um fair zu sein, gab es hier drin keinen Reichen, der sein Wasser bunkerte. Niemand war schuld an seinem Durst und am Wassermangel. Niemand, nur er selbst. Vielleicht.

 

Fenian schloss die Augen und dachte nicht mehr an Wasser, sondern an Gwen, um sich abzulenken. Er stellte sich vor, wie sie gerade durch die prächtigen Straßen des Chicago Loop schlendert, ein oder zwei Einkaufstüten in der Hand. Wer konnte sich heute noch sowas leisten? Gwen schämte sich nicht dafür. Sie war klug und progressiv, aber sie predigte nicht Wasser sondern Wein.

Er sah vor seinem inneren Auge, wie sie lächelte, wie sie in einem Café saß, rauchte, sich ausruhte und einfach umwerfend aussah. Und er stellte sich vor, wie er neben ihr sitzen, rauchen und einen Milchkaffee mit Schuss serviert bekommen würde. Sie würden sich über Philosophie unterhalten oder über Theater oder einen Kinofilm. Und Fenian würde nicht – wie meistens – völlig ahnungslos oder höchstens oberflächlich informiert sein, sondern eine richtige Unterhaltung mit Gwen führen, die für sie beide ein Gewinn war. Gwen würde ihn für sein kulturelles Wissen bewundern und ihn nicht wegen seiner Unzulänglichkeiten belächeln, um dann zu sagen: „Aber genau deswegen liebe ich dich!“

Wenn Gwen nur erkennen würde, dass sie ihm nicht unter die Nase reiben musste, dass sie besser war als er, dass es für ihn völlig in Ordnung war, von einer Frau belehrt und aufgeklärt zu werden… Er wusste schließlich, dass er zwar was von Autos verstand, aber in anderen Bereichen völlig ungebildet war. Man musste ehrlich zu sich sein. Er zeigte Gwen ja schließlich auch ihre Schwächen beim Verständnis der Funktionsweise des Ottomotors auf…

Nein, in seinem Traum, da konnte er sich mit Gwen auf Augenhöhe über Themen unterhalten, die sie interessierten und es würde sie nicht stören. Sie wäre stark genug, die Stärke anderer anzuerkennen. Und dann würde er sie zum Essen einladen und sie würde darauf bestehen, ihre Bestellung selbst zu zahlen und er würde lächeln und sie würde lächeln und dann würden sie sich küssen, weil Zahlen keine Probleme waren, die der Liebe im Weg standen.

Und dann würden sie da sitzen und Gwen würde ihr bestes Kleid tragen und er seinen einzigen Anzug und auf dem Tisch standen Blumen und es gab Wasser, soviel man wollte. Es war ein quadratischer Tisch für vier Personen und Gwen saß neben ihm zur Rechten. Zu Linken saß Catharina Jenkowic und ihm gegenüber Harry Turner mit einer schmierigen Pomade-Frisur. Sie lachten. Worüber eigentlich? Hatte jemand etwas witziges gesagt oder waren sie einfach nur glücklich und ausgelassen, weil sie feiern konnten, wonach andere sich ihr Leben lang sehnten? Das Geschirr war wie die Bordüren an der Wand mit Gold verziert und die Lampen… ein einziger Traum in Kristall.

Sie tranken Wein und prosteten sich zu und dann sagte Catharina, die so vornehm aussah, dass Fenian sie gar nicht zu beschreiben, sondern nur zu bewundern wagte: „Den Leuten fehlt die Ehrfurcht vor dem Tod!“

„Wie meinst du das?“, fragte Gwen und das war sehr untypisch für sie. Wenn sie etwas nicht wusste, dann schwieg sie normalerweise und hoffte, dass niemand mitbekam, dass sie unsicher war, um dann zu Hause alles zu dem Thema nachzulesen, was sie finden konnte – als Buße oder als Maßnahme der Selbstoptimierung. Aber niemals, niemals würde sie jemanden etwas fragen oder um eine Erklärung bitten. Niemals.

„Wie meinst du das?“, fragte sie und Harry schenkte Fenian und sich selbst Wein nach.

„Wer den Tod bedenkt, der achtet das Leben“, sagte Catharina, spießte mit einer blitzenden, goldenen Gabel eine Tomate auf und schob sie sich in den Mund mit einer Eleganz, die sonst nur Königinnen an den Tag legen konnten.

„Ist das Leben denn wert, geachtet zu werden?“, fragte Gwen und knabberte an einem Stück Brot, das frisch und warm war und den Raum mit seinem Duft erfüllte.

„Wenn wir ihm einen Wert geben“, sagte Catharina, „Wenn wir ihm Glanz, Sinn und Bedeutung verleihen, dann können wir dem Tod mit Stolz begegnen und müssen und nicht schämen für unser Nachlässigkeiten und die vertanen Chancen.“

„Und du glaubst, die Menschen vertun ihre Chancen, weswegen sie den Tod… verachten?“, fragte Gwen.

„Verachten? Banalisieren? Ignorieren? Verdrängen? Welcher Mensch, der seine Vergänglichkeit nicht bedenkt, ist in der Lage, aus seinem Leben das Bestmögliche zu schöpfen? Wer sein Leben lang denkt: Morgen werde ich mich aufraffen, der wird sich nie aufraffen, bis er auf dem Sterbebett liegt und bedauert, nie etwas anderes gesehen zu haben als sein Sterbezimmer.“

„Ich glaube“, sagte Gwen, „Spott ist gesünder als Ehrfurcht.“

„Wer spottet, erkennt die Ketten, in denen er liegt nicht an und bleibt doch gefesselt“, sagte Catharina, „Spott rettet uns nicht.“

„Und Ehrfurcht tut es?“

„Nichts kann uns retten, außer uns selbst, wenn wir uns arrangieren mit den Dingen, die wir nicht ändern können und die ändern, die wir verändern können.“

„Aber wie erkennen wir den Unterschied?“, fragte Gwen, „Erzählen uns die Zeitungen nicht ständig, dass diese oder jene Sache nicht geändert werden kann, obwohl man dafür nur ein paar geschriebene Worte auf altem Pergament ändern müsste? Ist nicht alles veränderbar – zum Guten wie zum Schlechten? Können wir jemals sicher sein?“

„Oh, du wirst sterben, meine Liebe, dessen bin ich mir sicher“, sagte Catharina, „und wenn wir alles in Brand setzen geht es schneller.“

„Und wie zögern wir es hinaus?“

„Indem du alles dafür tust, dass es dir gut geht.“

„Indem du alles dafür tust, dass es mir gut geht“, erwiderte Gwenn und lächelte.

„Das werde ich nicht tun“, sagte Catharina süßlich, „Oder würdest du dich für mich aufopfern?“

„Und wer nichts für sich tun kann?“, fragte Gwen, „Wer tut etwas für die? Und wer tut etwas für mich, wenn ich nichts mehr für mich tun kann?“

„Was nutzt es, Energie für etwas zu verschwenden, für das man nichts mehr tun kann?“, fragte Catharina, „Tu lieber heute, was du tun kannst, dann wird der Tod dich nicht schrecken.“

Fenian wollte etwas sagen, hatte aber vergessen, was es gewesen war. Dann bemerkte er, dass er gar nicht sprechen konnte. Er war stumm. Hatte er überhaupt eine Zunge, oder steckte da ein riesiger Klumpen klebrige Masse in seinem Mund? Er starrte auf seine Finger, die sauber waren und nach Seife rochen. Er war rasiert und gekämmt. Er trug eine Krawatte um den Hals wie eine Schlinge. Kam es ihm nur so vor, oder war es warm und stickig hier drin geworden?

Er hatte sich die Fingernägeln feilen lassen und jemand hatte seine Augenbrauen zurecht gezupft. Er ließ sich Essen und Getränke bringen, dabei war er satt und sein Blick haftete an Catharina Jenkowic, ohne sie wirklich anzusehen. Er schaute durch sie hindurch auf eine Elfenbeinskulptur, die neben einem Zimmerbrunnen aufgebaut war. Wo hatte er das alles schon mal gesehen? Er schaute durch Catharina hindurch, die er nie zuvor gesehen hatte und vernachlässigte Gwen, die sich unwohl fühlte. Hier lief etwas schief und er war schuld daran.

Gwen war allein. Er war stumm. Harry beobachtete, ohne zu denken und Catharina war eine Frau von den Feen. Überirdisch, verführerisch, gefährlich.

Mit einem Schrecken und einem Stechen in der Herzgegend wachte Fenian auf. Wie seltsam, er befand sich immer noch in dieser schmutzigen Kohlegrube und es roch nach allen menschlichen Ausdünstungen nur nich nach Seife oder warmem Brot.

„Nun kommen Sie schon!“, sagte Gene Waters gerade zu ihm, „Trinken Sie etwas! Was habe ich davon, wenn ich Sie um zwei oder drei Stunden überleben?“

Die Farben waren verschwunden, aber die Zunge war wieder da. Träume wirken manchmal realistischer als die Realität, dachte Fenian und die Wirklichkeit ist absurder als jede Religion.

Fast musste Fenian lachen, denn was sich nun einstellte, war etwas, das man normalerweise nicht mit der Erwartung des Todes in Zusammenhang brachte: Langeweile.

„Hat jemand ein Kartenspiel?“, fragte Samuel Meyer, der nun weniger konfrontativ, aber nicht weniger zynisch auftrat.

Niemand hatte Karten.

Und so schwiegen sie wieder eine Weile, bis Fenian Gene Waters fragte: „Glauben Sie, es gibt Situationen, in denen man sein Leben für das eines anderen opfern kann?“

„Unser Herr hat es getan und damit die gesamte Menschheit erlöst?“

Fenian verdrehte die Augen: „Wovon erlöst? Und wie?“

„Vom Tode, indem er wieder auferstand“, entgegnete Waters unbeirrt.

„Ich habe noch nie jemanden auferstehen sehen. Mir scheint, er hat sich, wenn überhaupt, selbst erlöst.“

„Er hat dem Tod den Schrecken und damit seine Macht genommen.“

„Hat sich dadurch aber wirklich etwas verändert, außer dass die Leute sich jetzt diese nette Geschichte erzählen, um nicht zu verzweifeln?“, fragte Fenian.

„Finden Sie, dass das keine Veränderung ist?“

„Ich finde, das ist es nicht. Man hat Verzweiflung durch eine Lüge ersetzt. Es ist ein Rückschritt, keine Revolution.“

„Revolutionen sind auch nicht gerade das, was unsere Herr anstoßen wollte“, meinte Gene Waters.

„Das ist Ihre Deutung“, sagte Fenian kühl und fügte hinzu, „Was ich aber mit meiner Frage eigentlich meinte, war: Ist es möglich, jemanden vor dem sicheren Tode zu bewahren, indem man sich selbst an seine Stelle begibt. Oder enden die meisten Rettungsversuche damit, dass beide sterben? Und wenn beide überleben, war die Rettung dann überhaupt eine Aufopferung? Und ist ein Retter ein Held, wenn er seine Tat überlebt?“

„Na, Sie stellen vielleicht fragen“, kommentierte Caleb Bukowski.

„Merken Sie nicht, worauf er hinaus will?“, mischte sich Sam Meyer ein.

„Worauf denn?“, fragte Harry Turner.

„Er will sich Absolution verschaffen. Gewähren Sie sie ihm ruhig, Waters. Aus der Hölle kann uns niemand retten“, sagte Meyer.

„Absolution“, spie Fenian aus, „Das ist was für Leute, die das Gewicht ihres Gewissens nicht ertragen.“

„Und Sie ertragen es?“, fragte Meyer.

„Wir alle müssen es ertragen. Wir sind für unsere Taten verantwortlich.“

„Dann haben Sie sich ja schon selbst Ihre Frage beantwortet: Ein Held ist derjenige, der so jung stirbt, dass er nie gesündigt hat“, befand der Gardist.

„Sie können sich natürlich eine Situation konstruieren, in der Sie Ihr eigenes Leben gegen das eines anderen tauschen“, sagte Caleb Bukowski, „Aber realistisch sind sie nicht. Um Absolution indes sollten Sie an einer anderen Stelle bitten, Mister McKenna. Von uns kann Ihnen die niemand erteilen.“

„Das erwarte ich auch nicht“, log Fenian. Er hatte sich gewünscht aus jemandes Mund zu hören, dass ihm vergeben sei, dass man seine versuchte Heldentat anerkannte, aber anscheinend wog sein versuchter Mord schwerer.

„Haben Sie Ehrfurcht vor dem Tod?“, fragte Fenian in die Runde.

„Was meinen Sie mit Ehrfurcht?“, fragte Harry Turner und so langsam gewann Fenian den Eindruck, dass der Junge ein ziemlicher Schwachkopf war.

„Ich meine, ob sie den Tod…“, Fenian druckste herum, weil ihm tatsächlich nicht einfiel, wie er es formulieren sollte, „als etwas Großes, Bedeutendes, Wichtiges, Geheimnisvolles, Heiliges betrachten?“

„Was ist schon heilig?“, fragte Greg Winters in seiner Ecke. Der Mann redete wenig, aber anscheinend hörte er aufmerksam zu. Fenian war sich nicht sicher, ob er alles verstand, denn er wirkte immer ein wenig wie im Halbschlaf.

„Das Leben vielleicht?“, schlug Fenian vor.

„Die Güte, der Frieden, die Gerechtigkeit, die Aufrichtigkeit, die Liebe…“, sagte Gene Waters.

„Die Freiheit“, sagte Harry Turner.

„Die Familie“, fand Caleb Bukowski, „Was sagen Sie, Meyer?“

„Nichts ist heilig, wenn alles verloren ist.“

„Ist denn alles verloren?“, fragte Winters, „Für Sie, meine ich. Was hatten Sie zu verlieren?“

„Mein Leben? Meine Freiheit?“, giftete Meyer zurück.

„Und das ist mehr wert, als das, was wir anderen zurücklassen?“

„In meinen Augen ja. Aber Sie mögen das anders sehen, das weiß ich.“

„Halten Sie Ihr Leben also für heiliger als Gregs?“, fragte Gene Waters.

„Halten Sie ihr Leben denn für weniger wert als das eines anderen?“, fragte Meyer zurück.

„Welchen Wert kann ein Leben überhaupt haben?“, gab Fenian zu bedenken, „Wenn es heilig ist – und damit meine ich nicht gesegnet oder so, sondern in einem Maße wertvoll, dass man den Wert nicht messen kann – dann kann man nichts dagegen aufwiegen. Kein anderes Leben und…“

„Und zwei andere Leben?“, wollte Meyer wissen.

„Derjenige, der sein Leben für das von anderen gibt… ist derjenige nicht besonders geheiligt?“, fragte Harry Turner, „Ein Held, meine ich, ist sein Leben nicht vorbildhafter als das eines Schurken?“

„Messen wir den Wert am Vorbildcharakter?“, fragte Fenian.

„Wieso nicht?“, meinte Gene Waters.

„Weil es schlechte Vorbilder gibt, die uns als gute verkauft werden“, sagte Fenian, „Was, wenn man sich irrt und wir alle nur die Fehler unserer Vorfahren wiederholen?“

„Und was, wenn es keine Fehler gibt, nur Entscheidungen?“, fragte Sam Meyer.

„Demnach gäbe es keine Schuld“, das Grinsen auf Fenians Gesicht war breiter, als es angemessen war.

„Mord ist keine Ansichtssache“, meine Meyer.

„Finden Sie nicht?“, fragte Greg Winters, „Was, wenn ich Sie töte, um meine Familie zu retten?“

„Ich bedrohe Ihre Familie nicht, also müssen Sie sie nicht vor mir retten. Es wäre also ein Mord, wenn sie mich töteten und keine Notwehr.“

„Das sehe ich anders“, knurrte Winters.

„Hat er Ihre Familie bedroht?“, fragte Fenian, um Verständnis bemüht.

„Ach, er ist paranoid“, Meyer machte eine wegwischende Handbewegung, „Er glaubt, ich stünde nachts vor seinem Haus und ziele mit dem Gewehr auf sein Schlafzimmerfenster.“

„Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas hier vorkommt“, sagte Fenian.

„Ach, Mister McKenna, Sie konzentrieren sich so sehr auf die Anliegen dieser Rebellen, dass sie uns andere ganz aus dem Blick verlieren. Ich machen Ihnen da keinen Vorwurf. Sie müssen Ihre Leute vertreten, aber wir anderen haben niemanden, der für uns spricht.“

„Was meinen Sie denn damit, Mister Winters, wer sind denn „die anderen“, Ihrer Meinung nach? Ich bin mir sicher, dass wir auch für Sie kämpfen…“, sagte Fenian, aber es klang wie von einem Tonbandgerät abgespult, unehrlich und auswendig gelernt, nicht gültig hier unten.

„Wissen Sie, bevor Sie und Mister Meyer kamen, gab es hier unten auch Sicherheitspersonal, aber in Anbetracht der aktuellen Entwicklung halten die Bosse die althergebrachten Wachdienste nicht mehr für kompetent genug, um für Sicherheit zu sogen und so übernehmen nach und nach diese bewaffneten Hampelmänner in ihren Uniformen Jobs, die zuvor von Leuten aus der Bevölkerung hier ausgeübt wurden. Sehen Sie, ich kenne einen Haufen Arbeiter, die da draußen streiken. Ich kann mich mit ihnen unterhalten und keiner tut mir was, obwohl ich für die andere Seite arbeite. Sie wissen, dass ich eigentlich einer von ihnen bin.“

„Ja, und genau das ist das Problem!“, sagte Meyer, „Man kann sich nicht auf Sie verlassen. Sie fraternisieren mit dem Feind!“

„Dieser Feind ist das Rückgrat dieser Region und dieser Nation!“, sagte Winters, „Und jetzt kommen Sie hier her und sagen mir, dass es nicht so ist, dass ich nicht hart genug arbeite und selbst daran schuld bin, dass meine Frau krank ist und meine Kinder im Dreck leben! Sie erklären mir, dass das Rückgrat der Gesellschaft nicht der Arbeiter sondern der bewaffnete Hampelmann ist, der die Armen vertreibt, vor sich her treibt, damit sie sich bloß nirgendwo niederlassen, und mit ihrer puren Anwesenheit das Prestige dieses Landes in den Schmutz ziehen. Armut soll nicht beendet werden, es reicht, wenn sie nicht mehr gesehen wird. Das ist es doch. Wir sind Ihnen peinlich! Ihnen, den Jungs in Washington und denen in den Vorstandsetagen. Sie sähen uns gerne tot, denn es ist besser, die Menschen sind tot als unnütz, nicht wahr? Aber Mord ist es ja immer nur dann, wenn einer von Ihnen draufgeht…“

„Sie sind es, die diesen Krieg begonnen haben“, sagte Meyer.

„Das sehe ich anders“, sagte Fenian, „Es ist nicht immer derjenige, der als erstes zu den Waffen greift, der zum Aggressor wird. Eine Waffe kann auch der Verteidigung dienen und diese Menschen dort oben, verteidigen ihr Leben und ihre Freiheit.“

„Ihr Recht auf Faulheit, das es nicht gibt“, sagte Meyer.

„Ja, ihr Recht auf ein würdevolles, angemessenes Leben, das auch Freizeit beinhaltet.“

Sam Meyer lachte in sich hinein: „Freizeit haben sie doch jetzt. Warum verbringen sie sie damit, mit Gewehren an Bahngleisen zu patrouillieren?“

„Sie sind also Wachmann?“, fragte Fenian Greg Winters, ohne auf den Gardisten einzugehen, der ihm langsam auf die Nerven ging.

„Noch“, sagte Winters, „Ich glaube, ich bin der letzte. Die meisten anderen haben entweder ihren Job verloren oder sind aus Solidarität mit in den Streik getreten.“

„Warum streiken Sie nicht, wenn sie doch finden, dass der Streik gerechtfertigt ist?“, fragte Fenian.

„Das habe ich doch gesagt: Meine Frau ist krank und ich kann es mir nicht leisten, aus meinem Haus geworfen zu werden. Das würde Gloria nicht überleben.“

„Er nennt es arbeiten, aber er weigert sich, eine Waffe in die Hand zu nehmen“, kommentierte Sam Meyer.

„Ich schieße nicht auf Nachbarn und Kollegen. Sie schießen auch nicht auf mich.“

„Aber es ist Ihr Job.“

„Ich werden nicht fürs Morden bezahlt wie Sie!“, schnappte Winters.

„Wofür dann? Fürs Saufen ja wohl auch nicht. Sehen Sie es ein, man braucht Sie hier nicht. Sie sind hinderlich. Mit Ihren Methoden werden wir das Chaos nur vergrößern und keine Ordnung mehr herstellen. Man kann mit diesen Leuten nicht reden, man muss sie zurechtweisen.“

„Mit der Flinte?“

„Ja, mit der Flinte, Greg!“, sagte der Gardist.

„Es tut mir leid“, sagte Fenian, „Das mit Ihrer Frau. Wie schwer krank ist sie denn? Wenn sie sich bei unseren Leuten meldet, wird ihr sicher geholfen werden, da müssen Sie sich keine Sorgen machen.“

Es klang so falsch, aber irgendetwas musste er sagen. Natürlich machte Greg Winters sich Sorgen, er hatte sich die ganze Zeit um nichts anderes Sorgen gemacht als um seine Frau und seine Kinder und ein paar nette Worte konnten da weder trösten noch helfen. Trotzdem hatte Fenian das Gefühl, dass sie ausgesprochen werden mussten. Alles musste ausgesprochen werden, damit niemand sagen konnte, es wären nicht alle Möglichkeiten diskutiert worden. Nur, dass es hier keine Möglichkeiten gab und keine Diskussion, nur die Befriedigung eines schlechten Gewissens.

„Sie ist bettlägerig“, sagte Winters unbeteiligt, „Sie braucht Medikamente, die wir uns nicht leisten können, aber gesund würde sie damit auch nicht mehr. Sie würde vielleicht etwas länger leben…“

„Und ihnen zur Last fallen“, fiel Sam Meyer ihm ins Wort, „Denken Sie doch mal nach, Greg, der Tod würde sie erlösen und Sie hätten die Möglichkeit neu zu heiraten und ihre Kinder besser zu versorgen.“

„Ich werde niemanden mehr heiraten, Sam, und das sage ich nicht nur, weil wir hier unten festsitzen.“

„Seien Sie doch nicht so pessimistisch. Eine blinde Ex-Hure könnte Sie als gute Partie betrachten…“

„Halten Sie die Klappe!“, fuhr Fenian den Gardisten an, „Wie alt sind denn Ihre Kinder?“

„William ist 22, Winifred wird demnächst 20, Getrud ist 16, Daniel zwölf und James ist letzte Woche neun geworden.“

„Können die Älteren denn nicht die Pflege Ihrer Frau übernehmen?“, fragte Caleb Bukowski.

„William könnte sie zu sich nehmen. Seine Frau könnte sich um sie kümmern. Aber dort wäre sie nicht sicher, verstehen Sie? Will befindet sich im Streik. Jeden Tag könnte er erschossen oder er und seine Familie aus ihrem Haus geworfen werden. Winifred wohnt zwar noch zu Hause, aber ihr Verlobter ist Gewerkschaftsmitglied. Ich weiß nicht, was aus ihr werden soll? Wo soll sie leben? Wie soll sie leben? Und was ist mit den Kleinen? Gertrud ist nicht einfach. Ständig läuft sie davon und wir müssen sie suchen. Ich weiß nicht, wo sie alle hin sollen. Nicht, weil ich hier unten sterben werde, sondern weil wir schon seit Monaten nicht wissen, wie es weiter gehen soll. Sehen Sie, Dan wird vermutlich diesen Sommer nicht überleben und mein Jüngster sieht nicht ein, wieso er die Schule besuchen soll, wenn sein Bruder zu Hause bleiben darf. Wir haben Probleme auf allen Ebenen und manchmal bleiben da essentielle Dinge auf der Strecke. Armut bedeutet nicht, dass man sich nicht seine Wünsche erfüllen kann, es bedeutet, nicht mehr schlafen zu können, weil man sich im freien Fall befindet, weil man nicht aufgefangen wird und ein Schicksalsschlag den nächsten bedingt. Arme Leute sterben nicht, weil sie es müssen, sie sterben, weil sie nicht anders können.“

Fenian schwieg, denn er hatte das Gefühl, dass er nichts sagen konnte, um die Situation weniger schlimm erscheinen zu lassen. Und wenn er es gekonnt hätte, so wäre es Heuchelei gewesen, denn an dieser Situation gab es nichts zu verbessern. Wenn man den eigenen Tod als weniger schlimm als das Schicksal der Überlebenden betrachtete, lief etwas schief.

Genau damit hatte es angefangen, mit dem Eindruck, dass etwas schief lief. Anfang des Jahres wurden die Löhne der Minenarbeiter um 10% gekürzt. Weil alle wussten, dass die Wirtschaftskrise der Harlan County Coal Operators Association zu schaffen machte und sie bereits seit einiger Zeit ihre Kohle unter Kostendeckung verkaufte, wussten die Leute, dass dies wahrscheinlich nur der Anfang war. Wenn man diesen Einschnitt hinnahm, so würden sie andere Einschnitte versuchen, dachte man in der Arbeiterschaft und begann darüber nachzudenken, sich zu organisieren.

Fenian las davon nur in der Zeitung. Damals war er noch in Chicago gewesen und widmete sich ehr theoretischen Arbeitskämpfen als praktischen. Die Situation in Kentucky war damals dennoch nicht mehr als eine Randnotiz gewesen. Fenian glaubte zunächst, dass nicht viel dabei heraus kommen würde, am Ende gaben die Arbeiter immer klein bei. Am Ende sahen sie immer ein, dass es besser war einen schlecht bezahlten Job zu haben als gar keinen. Aber Fenian irrte sich.

Die Familien in Harlan County waren bereits so verarmt, dass sie weitere Einschränkungen nicht überlebt hätten. Es herrschte überall Hunger und Elend. Kinder verwahrlosten, wurden krank, konnten nicht behandelt werden und starben.

Als erste Gewerkschaft versuchten die United Mine Workers of America die Arbeiter zu organisieren und eine angemessene Bezahlung zu erwirken. Aber es zeigte sich, dass Bosse keineswegs an einer friedlichen Beilegung des Konflikts waren. Sie sprachen nicht nur nicht mit den Vertretern der Gewerkschaft, sie erachteten bereits den Beitritt zu einer derartigen Vereinigung als Insubordination und einen Kündigungsgrund. So wurden Arbeiter, bei denen bekannt wurde, dass sie sich einer der UMW angeschlossen hatten, umgehend gefeuert und aus ihren Häusern verjagt.

Aus ihren Häusern verjagt? Als Fenian davon hörte, wurde er stutzig. Wieso konnten die Bosse freie Bürger dieses Landes aus ihrem zu Hause vertreiben? Mit welchem Recht? Mit welcher Rechtfertigung?

Es stellte sich heraus, dass es in ganz Harlan County nur drei Ortschaften gab, die nicht vollständig den Bergbaugesellschaften gehörten. Ganze Städte waren für die Arbeiter gebaut worden, Straßen, Wohnhäuser, Schulen, Kirchen, Geschäfte, Kneipen. Was zunächst aussah wie eine nette, soziale Geste, erwies sich im Endeffekt jedoch als Druckmittel. Denn ein Arbeiter konnte sein Haus nicht einfach von der Gesellschaft abkaufen. Ihm gehörte das Land, auf dem er lebte, nicht. Die Waren, die er einkaufte, ließen das Geld, das er mit seiner Hände Arbeit verdiente, genau dorthin zurückfließen, wo es herkam. Fast ganz Harlan war ein geschlossener Wirtschaftskreislauf und diejenigen, die nichts besaßen, waren nur so lange geduldet, wie sie zu arbeiten bereit waren. Wer sich weigerte, bekam die ganze Gewalt der Eigentumsrechte zu spüren.

Als Fenian davon las, fühlte er sich in seiner Annahme bestätigt, dass Eigentum sich nahezu automatisch vermehrte, solange die Eigentumslosen keine Ansprüche stellten, die über ein knappes Auskommen hinausgingen. Es war nicht Interesse der Bosse, dass ihre Arbeiter sparten oder eigenen Besitz anhäuften. Sie waren darauf angewiesen, dass die Arbeiter auf sie angewiesen waren und darin lag die Macht einer Gewerkschaft.

Lohnarbeit unterschied sich nur in einem Punkt von Sklaverei: Der Möglichkeit, sich zu organisieren und als Kollektiv Forderungen zu stellen. Wenn es hieß „Arbeit oder Hunger“, musste man sich eben eine eigene Alternative aufbauen und die Gesellschaften vor die Wahlstellen: „Gerechtigkeit oder Stillstand!“

Die Realität sah anders aus. Fenian las einen Bericht über die Stadt Evarts, in die zahlreiche vertriebene Gewerkschaftsmitglieder geflohen waren. Evarts war eine der drei eigenständigen Städte des Countys und die dort ansässigen Bürger zeigten Solidarität mit den Minenarbeitern.

Es war eine eigennützige Form der Solidarität, aber immerhin eine, die funktionierte.

Und dann begann der Streik. Und dann kamen die privaten Sicherheitsleute, die kurzerhand mit den vollen Rechten eines Deputy-Sheriffs ausgestattet wurden. Was folgte, war eine Eskalation, die der eines Bürgerkrieges nicht unähnlich war. Sheriff Blair stellte sich voll auf Seiten der Gesellschaften und ließ damit den größten Teil der Bevölkerung im Stich, die sein Vorgehen als nichts weniger als ein Terrorregime beschrieben.

Blair selbst sah jedoch die Gefahr woanders: Die Roten, sagte er, brächten das Chaos, würden die Leute aufwiegeln, seien Schuld an der Gewalt und den Unruhen, bei denen immer häufiger auch Schüsse fielen. Gardisten gegen Streikende, Streikende gegen Streikbrecher. Im Mai diesen Jahres starben vier Männer bei einem Schusswechseln in Evarts, daraufhin wurde die Nationalgarde einberufen und was zur Beruhigung der Lage beitragen sollte, führte zu mehr und größerer Gewalt.

Wer geglaubt hatte, die Nationalgarde sei hier, um die Bevölkerung, die Arbeiter – Streikende und Streikbrecher – zu schützen und für einen Dialog zu sorgen, der irrte. Die Gardisten ersetzten die Privatwächter nicht, sondern ergänzten sie. Mit Tränengas wurden Streikposten und Kundgebungen aufgelöst und Sheriff Blair schränkte eigenmächtig das Recht auf Versammlungsfreiheit für Gewerkschaftsmitglieder ein.

Die Maßnahmen waren erfolgreich. Die Gesellschaften machten kein einziges Zugeständnis und doch waren bis zum Frühsommer alle Gruben wieder in Betrieb. Die UMW hatte auf ganzer Linie versagt.

Und dann kam Fenian mit seinen Leuten…

Es lief gut in den ersten Wochen. Sie hatten Ideen, sie sahen das Glänzen in den Augen der desillusionierten Arbeiter, sie brachten Hoffnung und sie brachten Essen und eine Basis-Gesundheitsversorgung. Für ein paar Wochen konnten sie helfen, aber das County blieb eine Gefahrenzone und die NMW tat nichts, um die Situation zu entschärfen.

„Wir sind hier, um euch zu helfen“, hatte Fenian gesagt, „Aber wir sind auch hier, um etwas zu verändern, damit ihr in Zukunft keine Hilfe mehr benötigt. Aber um das durchzusetzen, benötigen wir hier und heute eure Hilfe.“

Der Erfolg blieb bescheiden. Viele Menschen hatten Angst, sich offen mit Kommunisten gemein zu machen, andere hatten Vorbehalte wegen der aufrührerischen Reden oder der Ablehnung mit den Kirchengemeinen zusammenzuarbeiten.

Da hieß es: „Ihr seid nicht von hier. Was wisst ihr schon von uns?“

Und es stimmte, dachte Fenian jetzt, sie wussten nicht viel von den Menschen hier. Sie sahen lediglich, dass sie litten, hungerten und bedroht wurden. Ihre Mentalität zu verstehen, machten sie sich keine Mühe. Ein Fehler, wusste Fenian nun. Bekannte oder befreundete Menschen, hätte er nicht in die Luft jagen können, aber weil sie ihm unbekannt blieben, weil er sie nur als eine Masse wahrnahm, fand er den Gedanken, dass ein paar wenige vielleicht für die größere Sache sterben könnten, nicht so schlimm.

Jetzt aber saß er hier, selbst jemand, der für die größere Sache sterben würde und bei ihm waren fünf Männer, die er immer besser kennen lernte und denen er inzwischen alles, nur nicht den Tod, wünschte – nicht einmal Sam Meyer.

Fenian musste ihm lassen, dass Meyer eine angenehm pragmatische Sicht auf die Situation hatte. Er redete nicht von Schicksal, Gott, Strafe oder Prüfung. Er sagte, was wirklich Sache war, auch wenn Fenian es nicht gefiel, wenn er hören musste, dass er allein die Verantwortung für all das trug. Immerhin ein Mensch. Immerhin etwas, das man erklären konnte, ohne an irgendetwas glauben zu müssen.

Meyers Zynismus war unerträglich, aber Gene Waters Güte schmerzte. Sie ließ Fenian sich erinnern, dass Moral existierte und dass er sich davon abgewandt hatte. Und das hatte er nie gewollt. Das hatte er auch nicht erwartet, als er sich der NMW anschloss. Er dachte, er sei automatisch im Recht, wenn er für die Schwachen und Armen kämpfte, ganz egal welche Mittel er anwendete. Er begann dies nun zu hinterfragen.

Weil ihn die Gedanken quälten, wünschte sich Fenian, wieder einschlafen zu können. Er schloss die Augen, aber in seinem Kopf hämmerte ein Dröhnen, befände sich in seinem Schädel ein Überdruck, der nicht entweichen konnte.

Catharina Jenkowic hatte seine Gedanken eingenommen und er fürchtete sich vor ihn, ohne sie zu kennen. Vielleicht gerade, weil er sie nicht kannte.

Das eigene Leben für jemand anderen aufzugeben, war das moralisch? Oder war es dumm? War es nützlich? War es erfüllend? War es gut? Bedeutete Selbstlosigkeit Selbstauflösung oder Anpassung?

Fünfzig Musiker, die ein Lied spielen, sind noch lange kein Orchester, dachte Fenian, es braucht jemanden, der sie zusammenhält und den Takt vorgibt. Ein Orchester funktioniert nur als Kollektiv ohne Individuen – wie ein Bienenschwarm. Aber War dieses große, wundervolle Amerika wirklich nichts weiter als ein gigantischer Bienenstock? Und wenn ja, wer schöpfte am Ende den Honig ab?

Fenian möchte überhaupt keine Orchestermusik, er mochte es nicht, wenn alle Menschen gleich gekleidet und gleich frisiert waren, sodass man sie nicht wieder erkannte. Er mochte es, wenn es schiefe Töne gab oder der Rhythmus ein wenig holperte. Er mochte es, wenn Amateure Instrumente spielten, weil ihm das bewies, dass es nicht schlimm war, nicht perfekt zu sein, wenn man nur Freude an dem hatte, was man tat.

Es war eine typisch irische Sache, die Hausmusik einem professionellen Konzert vorzuziehen und es war Fenians persönliche Sache, dass er Honig nicht mochte. Was aus dem Hinterleib eines Tier gequetscht wurde, fand Fenian, sollte man nicht essen.

„Was Ihre Kinder auf sich nehmen, ist beispielhaft“, sagte Caleb Bukowski anerkennend zu Greg Winters, „Sie können mit Recht stolz auf sie sein. Das wollte ich Ihnen nur gesagt haben.“

„Das ist sehr nett“, antwortete Winters.

„Ich hoffe, dass meine Kinder eines Tages genauso reif und verantwortungsbewusst sind im Angesicht der Härten des Lebens.“

„Ihr Pavel ist ja nicht gerade auf dem besten Weg, wie man hört“, erwiderte Winters, der offenbar keinen Grund sah, eine Schmeichelei zurückzugeben.

„Das ist das Alter. Aber Sie haben Recht, wir machen uns Sorgen um ihn. Meine Frau fürchtet, er könne ein Taugenichts werden.“

„Wie alt ist er denn?“, fragte Fenian.

„17“, sagte Bukowski, „Noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, aber auch nicht mehr grün. Er glaubt, er wisse alles besser, dabei weiß er gar nichts von der Welt und der Wirklichkeit und wenn er so weiter macht, wird es auch nie etwas davon kennen lernen. Er ist ein ziemlicher Faulpelz. Ja, ich sage das ganz offen, weil ich nicht will, dass hinter meinem Rücken über ihn oder mich geredet wird. Ich bin nicht glücklich mit ihm, aber vielleicht wird er jetzt, wenn ich nicht mehr da bin, die Augen aufmachen. Vielleicht muss man ihm nur ein wenig Verantwortung übertragen, damit er in die Spur kommt.“

„Und Sie sind bereite dafür zu sterben?“, warf Sam Meyer ein.

„Sicherlich nicht“, sagte Bukowski, „Aber man muss versuchen, immer die positiven Aspekte einer Situation zu betrachten. Zugegeben, es gibt nicht sehr viele hier, aber am Ende etablieren sich immer die guten Sachen und die schlechten werden vergessen. So ist das mit der Geschichte.“

Fenian war sich nicht sicher. Seiner Erfahrung nach, setzten sich nicht die Guten, sondernd die Gewinner durch, die sich danach als die Guten feiern ließen. Wer gut war, entschied sich immer erst, wenn es vorbei war. Wer weiß, dachte er, vielleicht werden wir eines Tages die Demokratie als großen Fehler betrachten. Wenn der Faschismus sich in Europa durchsetzte, war es möglich, dass der Tag nicht allzu fern sein würde.

Was wir glauben, das gut ist, ist zumeist nur das einzige, das von vielen Alternativen übrig geblieben ist und Fenian ahnte bereits, wer bei der Auseinandersetzung in Harlan County am Ende wen schlecht aussehen lassen würde.

Es stimmte nicht, dass Fenian kein Verständnis für abweichende Positionen hatte. Er glaubte nicht an böse Absichten, den Teufel oder dergleichen. Er glaubte viel mehr daran, dass die Menschen egoistisch waren und der Egoismus einzelner gefährlicher war als der Egoismus vieler, wenn man das so ausdrücken konnte… Fenian vertraute nicht auf die Güte, ebenso wie er nicht an das Böse glaubte. Dennoch fand er, dass es schlechte, unmoralische und ungerechte Entscheidungen geben konnte, dass Menschen rücksichtslos und unwissend handelten, dass sie ignorant, kaltherzig oder desinteressiert waren. Manchmal gebar auch die schnöde Ungeduld verhängnisvolle Dekrete.

Fenian wusste, dass es den Kohlegesellschaften nicht gut ging. Er wusste, dass auch sie kämpfen mussten, um zu überleben, aber bei ihnen ging es um den Fortbestand einer Mine, nicht um Menschenleben. Die Mine konnte zur Not auch ohne die Bosse betrieben werden. Die Mine ging nicht weg, wenn die Kredite gestrichen wurden. Sie selbst war ein Wert und irgendjemand würde sich immer finden, der sie betreiben wollte. Schließlich wurde die Kohle gebraucht.

Ja, rote Zahlen schrieb niemand gerne und auf Dauer konnte es sicherlich so nicht bleiben, aber jetzt und hier gab es akute Probleme. Die Arbeiter und ihre Familien brauchten etwas zu essen. Jemand musste Geld in die Hand nehmen, um ihnen zu helfen und wenn es die Kohlegesellschaften nicht konnten, dann musste es eben die Regierung tun. Aber alles, was die Regierung schickte, waren Soldaten, die dafür sorgen sollten, dass niemand sich mehr beschwerte.

Fenian konnte verstehen, dass das Misstrauen gegen Regierung, Polizei, Garde und Vertreter der Gesellschaften größer wurde. Die Atmosphäre war vergiftet. Niemand wollte mehr reden. Niemand wollte mehr zuhören. Also blieb ihnen allen nur, eine Flinte zur Hand zu nehmen.

Dem ganzen lag eine gewisse komische Tragik zu Grunde: Man war aufeinander angewiesen, hielt sich aber gegenseitig für betrügerisch. Die Arbeiter glaubten, dass die Bosse mehr Verzicht üben sollten, um ihre Firmen zu retten, die Bosse glaubten, die Arbeiter sollten sich im eigenen Interesse, ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren, mehr anstrengen. Jeder sollte irgendwas. Die Krise verlangte es, dabei wusste niemand, woher diese Krise gekommen war und wer sie ausgelöst hatte. Wer trug die Schuld daran? Fenian wusste es nicht, wenn er ehrlich war. Und etwas nichts zu wissen oder zu verstehen, war die größte Hilflosigkeit, die er sich vorstellen konnte.

„Wisst ihr, was ich seltsam finde?“, fragte plötzlich Harry Turner.

„Was denn, Schwachkopf?“, entgegnete Sam Meyer.

„Wir sitzen hier ganz ruhig, dabei wissen wir, dass wir bald sterben werden. Wieso sind wir so ruhig? Wieso haben wir keine Angst?“

„Hast du keine Angst?“, fragte Gene Waters, „Dann bist du gefestigter als ich.“

„Ich für meinen Teil habe eine Scheißangst“, gab Fenian zu.

„Ich weiß nicht, was Angst bringen soll“, sagte Greg Winters, „aber ich nehme an, man kann sie ohnehin nicht kontrollieren. Ich habe jedenfalls keine. Zumindest keine große.“

„Ich würde lügen, wenn ich das von mir behaupten würde“, sagte Caleb Bukowski, „Ich habe Angst und ich bin traurig, weil ich meine Familie im Stich lasse.“

„Aber Sie sind alle so gelassen dabei. Und ich auch. Ihre Gelassenheit färbt sicher auf mich ab, aber ich kann sie mir nicht erklären“, sagte Turner, „Ich glaube, ich bin vielleicht bereit zu sterben.“

„Sagen Sie sowas nicht!“, rief Fenian.

„Wieso nicht? Es ist doch besser, er schließt damit ab, als dass er sich hier in die Hosen scheißt und Rotz und Wasser heult“, meinte Sam Meyer.

„Sie haben also auch keine Angst?“, fragte Turner.

„Ich bin dazu ausgebildet, keine Angst zu haben.“

„Dann haben Sie sich einen Teil Ihrer Menschlichkeit abtrainieren lassen“, sagte Greg Waters, „Darauf sollten Sie nicht stolz sein.“

„Ich bin es aber, denn es zeigt, dass ein Mensch durchaus über sich hinauswachsen kann.“

„Um dann sowas zu werden wie Sie?“, fragte Fenian abfällig, „Nein, danke, da bleibe ich lieber ein Untermensch.“

„Das bleiben Sie sowieso, Mister McKenna. Das irische Blut ist nicht zum Herrschen gemacht. Aber zugegeben, leidensfähig seid ihr. Leider bin ich kein Mensch, der andere für ihr Leiden respektiert.“

„Nein, Sie respektieren niemanden!“, sagte Gene Waters.

„Dafür respektieren Sie umso inflationärer, was Ihren Respekt irgendwie wertlos erscheinen lässt.“

„Respekt ist keine Währung!“

„Das ist etwas, das ihr Kirchenkasper nicht versteht: Alles ist eine Währung!“, behauptete der Gardist, „Alles, vom Respekt über die Liebe bis hin zum Aufwand, den man betreibt, um Sie loszuwerden. Je mehr Kugeln ich Ihnen nachschieße, umso beliebter werden sie in bestimmten Kreisen und je weniger Aufmerksamkeit ich ihnen schenkte, umso weniger werden Ihre Interessen ernst genommen und ich deshalb sollten Sie mir dankbar sein, Mister Mac. Ich bringe Sie in die Zeitungen.“

„Glauben Sie wirklich, dass Liebe eine Währung ist?“, fragte Gene Waters entsetzt.

„Wir sind alle Prostituierte, wenn sie es so formuliert haben wollen. Sie verkaufen sich für Geld, Ehre, Zuneigung, Anerkennung, Macht. Selbstlosigkeit ist ein Irrtum und eine Dummheit, die uns und damit der Gesellschaft mehr schadet als nutzt.“

„Glauben Sie dann also, dass man Kranke und Alte Menschen im Stich lassen sollte?“

„Nicht nur die, auch jene, die zu faul oder zu dumm zum Arbeiten sind. Sehen Sie, am Ende tragen die Starken die Last der Schwachen und das schwächt sie, sodass sie irgendwann weniger Last tragen können, wovon dann wiederum niemand etwas hat.“

„Sie wollen die Gesellschaft von menschlichen Ballast befreien?“, rief Fenian dazwischen, „Dann jagen Sie sich selbst eine Kugel in den Kopf!“

„Warum so aufbrausend? Gefällt Ihnen die Realität nicht? So funktioniert die Natur. Der Stärkere überlebt, der Schwächere wird gefressen.“

„Das ist nicht wahr!“, behauptete Fenian, „Auch Tiere sammeln sich in Rudeln und helfen einander durch schlechte Zeiten.“

„Weil es ihnen einem individuellen Vorteil bringt, in der Gruppe zu agieren“, sagte Meyer.

„Sie behaupten also, jegliche Emotion, jegliches Mitgefühl sei unnatürlich? Wieso existiert es dann? Wieso lieben wir unsere Frauen, wenn wir nur Interesse daran haben dürften, uns fortzupflanzen? Wieso lieben wir unsere erwachsenen Kindern, die auf eigenen Beinen stehen und unseren Schutz nicht mehr benötigen? Nein, Meyer, da ist mehr als nur Nützlichkeit in der Welt. Da ist Aufrichtigkeit und Würde und der Wunsch nach Glück und Zufriedenheit. Und der Mensch ist nicht glücklich, wenn er allein ist. Er ist nicht zufrieden, wenn er sein Leben nur auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse ausrichtet.“

„Und Gemeinschaft ist kein Bedürfnis, das er sich mit Großzügigkeit erkauft?“

„Wer das tut, ist ein Heuchler!“, spie Fenian aus, „Kinder, die sich Freunde mit Geschenken kaufen wollen, finden keine, das wissen Sie, weil sie so ein Kind gewesen sind, habe ich Recht?“

„Oh, Sie wollen wissen, was für ein Kind ich gewesen bin? Wollen Sie eine Psychoanalyse an mir durchführen, Mac?“

„Ich will, dass sie einsehen, was für ein Dreckskerl Sie sind!“

„Die Chancen stehen in etwa so gut, wie die, dass Sie einsehen, was für ein Dummkopf Sie sind“, entgegnete Meyer kühl.

„Wissen Sie, was wirklich nutzlos ist?“, warf Harry Turner ein, „Ihre Sticheleien. Es ist Energieverschwendung, finden Sie nicht. Sie werden von hier drinnen aus doch sowieso nichts mehr ändern.“

„Warum streiken Sie nicht, Mister Turner?“, fragte Fenian prompt zurück, „Die meisten Männer in Ihrem Alter nehmen die Verantwortung ihrer Zukunft gegenüber ernst, warum Sie nicht?“

„Weil ich eine Verantwortung gegenüber der Gegenwart habe“, sagte Turner, „Wenn wir jetzt nicht alles dafür tun, um die Produktion aufrecht zu erhalten, wird es in Zukunft keine Jobs mehr geben, die besser bezahlt werden können. Sie sägen den Ast ab, auf dem Sie sitzen, Mister McKenna.“

„Sie meinen, wir sollten uns mit unserer Abhängigkeit abfinden?“

„Jeder ist von irgendwas abhängig und die Gesellschaft hängt von ihren Arbeitern ab. Jeder, der Menschen hat, die von ihm abhängen, sollte verantwortungsvoll handeln und wenn ich die Gesellschaft unterstütze, dann helfe ich ihr dabei uns zu unterstützen.“

„Glauben Sie diesen Irrsinn wirklich?“, mischte sich Greg Winters ein, „Ihnen hat man wirklich das Gehirn einmal kräftig durchgequirlt. Die Gesellschaft hat doch gar kein Interesse an Ihrem Wohlergehen. Es gibt genug Arbeiter, die Sie ersetzen können. Sie sind eine Ressource, kein Individuum in deren Augen.“

„Also sollte man alles dafür tun, um unersetzlich zu werden und einen guten Job zu machen. Ich denke, man hätte sich an mich erinnert, als jemanden, der loyal geblieben ist. Das hätte mir Vorteile eingebracht“, sagte Turner.

„Sehen Sie, der Junge denkt natürlich. Er hat seinen Vorteil erkannt und nutzt ihn, um weitere Vorteile für sich geltend zu machen. Man muss gegen den Strom schwimmen, wenn man etwas bewegen will“, sagte Sam Meyer plötzlich anerkennend.

„So ganz unrecht hat er nicht“, gab Caleb Bukowski zu, „Fleiß ist etwas, das niemanden schändet. Gier schon.“

„Sie halten die verhungernden Kinder dort oben für gierig?“, empörte sich Fenian, „Was sind denn dann die Geschäftsführer und Vorsitzenden und Gesellschafter dieser beschissenen Kohlegrube? Doch nicht etwa altruistisch?“

„Instrumentalisieren Sie nicht immer die Kinder. Deren Eltern handeln unverantwortlich! Sie können nicht erwarten, dass der Staat dafür aufkommt, wenn Eltern ihre Pflichten vernachlässigen. Nicht in einer Krise wie dieser hier!“, sagte Bukowski.

„Das ist ihre Meinung?“, rief Gene Waters angeekelt.

Und wieder die Frage nach der Schuld, dachte Fenian. Wer hat die Kinder auf dem Gewissen? Wirklich die Eltern, die es nicht einsahen, sich selbst zu zerfleischen oder doch eher die Garde, die brutal gegen Demonstranten vorging? Oder die Politiker, die die Nationalgarde einberufen hatte? Oder diejenigen, die diese Krise verursacht hatten? So viele Dinge geschahen, die niemand begreifen konnte und deren Zusammenhänge völlig schleierhaft blieben. Sie geschahen so schnell, unvorhergesehen und gleichzeitig, aber am Ende traf es immer die Schwächsten, die die Misere ausbaden mussten. Und dann musste man sich auch noch als „gierig“ beschimpfen lassen, weil man das alles nicht mehr hinnehmen wollte…

Fenians Kopfschmerz weitete sich aus. Wenn es das Böse nicht gibt, fragte er sich, was bekämpfen wir? Die Dummheit oder den Zynismus?

Caleb Bukowski hatte schließlich doch sein wahres Gesicht gezeigt, dachte Fenian. Anerkennung und Mitleid hatte er mit Greg Winters Kinder, weil deren Vater arbeiten ging. Für all die anderen Kinder hatte er nichts übrig als Verachtung. Ja, für seinen eigenen Sohn hatte er nichts als bittere Worte übrig. Einen Faulpelz hatte er ihn genannt und gemeint hatte er „Nichtsnutz“. Was für eine Geringschätzung!

Fenians Vater hätte so etwas nie vor anderen Leuten gesagt, selbst wenn Fenian manchmal faul in der Schule war und sich herumtrieb, zwielichtige Freunde hatte oder sich auf der Straße prügelte. Sowas taten Jungen nun mal. Es wuchs sich aus.

Auch Onkel Norbert richtete so manche Ermahnung an ihn, nie aber gab er Fenian das Gefühl, Ballast zu sein, obwohl er das natürlich zweifelsohne gewesen war. „Man muss die Kinder loben, wenn es angemessen ist“, hatte der Onkel gesagt, „Und man muss sie tadeln, damit sie sich verbessern, nicht aber, um sie zu herabzuwürdigen. Der Starke beweist seine Stärke damit, dass er anderen aufhilft, nicht darin, dass er andere niederdrückt.“

Fenian stellte sich vor, was er getan hätte, hätte Onkel Norbert ihn jemals einen Nichtsnutz genannt. Er glaubte, dass er davon gelaufen wäre. Ohne Abschied, ohne Versprechen. Davon. Und wahrscheinlich würde er heute nicht mehr leben. Solche Geschichten passierten. Sensible Menschen neigten zu Frustration und unbedachten Handlungen. Naive Menschen wurden ausgenutzt und betrogen. Als junger Mann war Fenian beides gewesen: Sensibel und naiv.

Bukowski hingegen war alles andere als sensibel. Er missachtete seinen eigenen Sohn, ohne sich selbst dabei die Schuld zu geben, dass er in seinen Augen missraten war. Wenn das nicht Heuchelei war!

Nicht jeder wollte in die Fußstapfen des Vater treten und nicht jeder bekam alle Chancen, die er brauchte. Fenian kannte Pavel Bukowski nicht, aber vielleicht war er einfach ein Mensch, dem körperliche Arbeit nicht lag. Vielleicht war ein musisch begabt oder besonders intelligent. Vielleicht wäre er ein großartiger Mathematiker oder ein Architekt oder Farmer geworden. Es war nicht seine Schuld, dass er in einem Kohleabbaugebiet geboren worden war.

„Warum streiken Sie nicht, Mister Bukowski?“, fragte Fenian.

„Führen Sie hier eine Umfrage durch oder ist diese Frage eine verkappte Anklage?“, fragte Caleb Bukowski.

„Es interessiert mich, welch ein Selbstbild ein Mensch hat, der seinen eigenen Sohn verachtet“, erwiderte Fenian.

„Dann hätten Sie ihren Vater fragen sollen“, fand Sam Meyer.

„Mein Vater verachtete mich nicht!“, behauptet Fenian.

„Na, ich nehme an, er weiß noch nicht, dass er seinen Sohn zu einem Mörder erzogen hat.“

„Warum streiken Sie nicht, Mister Bukowski?“, wiederholte Fenian, um Meyer deutlich zu machen, dass er ihn von nun an ignorierte.

„Weil es dumm ist, deshalb“, sagte Bukowski.

„Wieso halten Sie es für dumm?“

„Wer seinen Job verlieren will, der sollte sich bei der Gesellschaft unbeliebt machen. Ich will meinen Job behalten, also tue ich, was man von mir verlangt. Es geht der Nation nicht gut, ich weiß, aber wir lösen die Probleme nicht, indem wir die Arbeit niederlegen, sondern indem wir anpacken und vielleicht auch das ein oder andere Opfer bringen. Wer sparsam lebt, der braucht nicht zu betteln, wenn er nur fleißig ist. Wer aber faul und gierig ist, der muss sich auf die Freundlichkeit von Fremden verlassen.“

„Es ist nicht die Freundlichkeit von Fremden, es ist die Unterstützung der Gesellschaft und des Staates“, sagte Fenian.

„Ach ja? Wollen Sie also, dass andere Ihre Probleme lösen?“

„Es wäre mir sehr recht, wenn jemand von außen versuchen würde, das Problem dieser verschütteten Mine zu lösen“, sagte Fenian.

„Das wird nicht passieren“, meinte Sam Meyer, „und das wissen Sie.“

„Und das ist das Problem mit diesem Land!“

„Nein, mein Lieber, das Problem in diesem Land, sind Leute wie Sie, die Minen zum Einsturz bringen“, mischte sich Caleb Bukowski wieder ein, „Aber sei’s drum. Sehen Sie, wir werden keine Freunde, auch wenn Sie sich das vielleicht wünschen. Ich halte Sie für einen Parasiten, nicht für einen Partisanen. Dennoch bin ich daran interessiert, dass wir hier so gesittet und ruhig wie möglich miteinander umgehen, bis das Unvermeidliche eintritt. Ich will keine Provokationen, keine Angriffe, keine Gewalt, es lohnt sich einfach nicht. Aber ich sage Ihnen hiermit aus tiefsten Herzen, dass ich Sie und Ihresgleichen verabscheue. Sie retten die Welt nicht, indem Sie sie lahmlegen und zerstören. Sie retten sich selbst nicht, indem Sie andere manipulieren. Übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Leben, hätte ich Ihnen geraten, wenn wir noch ein Leben vor uns hätten! Gehen Sie arbeiten und wenn Ihnen der Lohn nicht genug ist, dann gehen Sie und suchen sich einen neuen Job!“

„Wenn es so einfach wäre“, rief Fenian dazwischen, „Bräuchte es keinen Streik. Aber wo finden Sie denn einen anderen Job? In Kalifornien? Glauben Sie das? Mister Turner, glauben Sie, dass sie in Kalifornien gute bezahlte Arbeit finden? Träumen Sie weiter! Es gibt im ganzen Land keine gut bezahlte Arbeit mehr! Im ganzen Land leben die Menschen in improvisierten Camps, stehlen und betteln. Wo soll man hingehen? Wo wird man nicht verjagt? Sie lösen die Probleme dieses Landes nicht, indem sie diejenigen, die überzählig sind, sterben lassen oder von einer Hooverville zur nächsten treiben!“

„Also wenn ein paar Faulpelze das Zeitliche segnen würden, hätte ich kein Problem damit“, sagte Sam Meyer, „Es ist nicht so schwer ein sauberes Leben zu führen, es gelingt genug Menschen, sodass ich durchaus geneigt bin, anzunehmen, dass all jene, die herum jammern, sie würden verhungern, schlicht mit Geld nicht umgehen können. Sie versaufen, verrauchen oder verspielen ihr Geld, werfen es Huren in den Rachen oder geben es irgendeinem anderen armen Tropf. Wer nicht haushalten kann, der hat es nicht verdient, dass man ihm noch mehr Geld in die Hand gibt, das er doch nur wieder verprassen würde, Wir dürfen Schlendrian nicht subventionieren. Erzwungene Sparsamkeit ist eine sehr gute Erziehungsmaßnahme, wenn schon Bundesgesetze nicht eingehalten werden. Oder glauben Sie, wir wüssten nicht, woher der Alkohol bezogen wird? Wenn das Gefängnis schon niemanden mehr schreckt, dann vielleicht die Aussicht auf Armut.“

„Das Gefängnis schreckt die Leute deshalb nicht, weil es den Gefangen dort besser geht als ihnen in dem, was Sie Freiheit nennen würden, in Wirklichkeit aber ein Dasein voller Maloche für einen Hungerlohn ist. Sie reden hier so theoretisch daher, aber Sie werden von Steuermitteln bezahlt, Mister Meyer!“

„Und Sie? Malochen Sie denn hier unten?“, fragte Bukowski.

„Ich hab noch ein bisschen Selbstachtung, wissen Sie?“, giftete Fenian, „Mag sein, dass Sie und Harry Turner hier glauben, irgendwann als Gewinner hervorzutreten aus dieser Geschichte, aber wenn Sie gewinnen, verliert die Geschichte. Vielleicht glauben Sie, Tüchtigkeit macht den Unterschied zwischen wertvollen und wertlosen Menschen, vielleicht glauben Sie, jeder hat die Chance, etwas aus sich zu machen, wenn er nur seine Neigungen und Bedürfnisse überwindet und ganz zum Werkzeug und zur Maschine verkommt. Vielleicht glauben Sie das und vielleicht wünschen Sie sich diese Selbstauflösung ja auch für sich selbst, aber zwingen Sie doch nicht all Ihre Mitmenschen dazu!“

Wir zwingen niemanden“, meldete sich Harry Turner, „Mir ist egal, ob einer streikt oder nicht. Ich tue, was ich kann und ich glaube, dass ich ein Recht auf Bezahlung habe – allerdings nur, wenn ich auch tatsächlich Einsatz zeige. Wie wollen die Leute dort oben mit ihren Flinten und Schildern denn beweisen, was sie können, wenn sie sich weigern? Ich verstehe den Sinn darin nicht. Sie wollen ein gutes Leben? Schön, tun Sie was dafür! Setzen Sie sich ein!“

„Und Ihr Problem, Harry, ist, dass nicht wissen, was Bescheidenheit ist“, sagte Bukowski.

„Ich brauche nicht bescheiden zu sein, wenn ich bekomme, was ich verdiene“, sagte Turner.

„Und bekommen Sie denn, was Sie Ihrer Meinung nach verdienen?“, fragte Fenian.

„Noch nicht, aber ich werde mich hocharbeiten. Jeder fängt mal klein an.“

„Wirklich jeder? Auch die Kinder der Bosse, die das alles hier mal erben werden? Wie klein haben Sie angefangen und wie klein müssen die Kinder von Mister Winters anfangen?“, führte Fenian weiter aus, „Was ist Ihre Definition von Gerechtigkeit, Mister Turner?“

„Es wäre jedenfalls ungerecht, jemandem, der etwas mit seiner Hände Arbeit verdient hat, dieses wegzunehmen, um es jemand anderem zu geben, der nichts verdient hat.“

„Aber hat dieser jemand, der nichts verdient hat, denn nicht gearbeitet?“

„Das kann man nicht sagen. Wie wollen Sie beweisen, dass jemand fleißig war, wenn er nichts hat? Ich glaube, diese Beweisführung ist sehr schnell abgeschlossen.“

„Ich glaube, Mister Winters Kinder haben in ihrem Leben mehr gearbeitet, als die Kinder des Vorstandsvorsitzenden“, sagte Fenian.

„Und ich glaube, die Kinder des Vorstandsvorsitzenden werden eines Tages sehr viel mehr leisten als die Kinder von Mister Winters“, sagte Harry Turner trotzig.

„Ja, weil Mister Winters Kinder verhungert oder erfroren sein werden“, sagte Fenian.

„Und bedenken Sie, dass die Gesellschaften hoch verschuldet sind. Ich möchte diese Kredite nicht bedienen müssen. Es ist eine große Verantwortung…“

„Mister Turner, seien Sie nicht naiv!“, sagte Fenian, „Glauben Sie wirklich, diese Leute haften mit ihrem privaten Vermögen?“

„Ich glaube, dass Sie das beste tun, um den Betrieb am Laufen zu halten und wenn sie Gewinne machen, dann vergrößern sie sich und geben mehr Leuten Arbeit. So verringert man die Armut, nicht über Wohlfahrtsprogramme, die Sie aus dem Nichts heraus finanzieren wollen“, sagte Harry Turner, „Woher wollen Sie das Geld nehmen, Mister McKenna, sagen Sie es mir! Woher nehmen Sie das Geld, wenn Sie alle Betriebe, die Steuern zahlen könnten, bestreiken oder mit Zwängen belasten?“

„Woher soll ihr Lohn kommen, wenn Sie die Betriebe nicht mit Kosten belasten wollen?“, fragte Fenian zurück.

„Wenn der Lohn nicht stimmt, werden die Betriebe keine Arbeiter finden…“, begann Harry Turner etwas herunterzubeten, das er mal irgendwo gehört haben musste, denn verstanden konnte er es nicht haben.

„Ja, was glauben Sie, was dort oben gerade passiert?“, rief Fenian außer sich, „Sie sind gegen ein Recht, zu streiken und argumentieren dann, dass ein gerechter Lohn sich dadurch ermittelt, dass Arbeiter bereit sind, für ihn zu arbeiten? Ist Ihnen nicht klar, dass Sie sich selbst wiedersprechen?“

Turner schwieg.

Fenian aber fuhr fort: „Was sind Sie nur für ein Haufen! Sie singen das Hohelied des Kapitalismus und sind sogar bereit, ihm Ihre eigenen Kinder zu opfern! Lieben Sie Ihren Sohn denn nicht um seiner selbst willen, Mister Bukowski? Oder hassen Sie ihn, weil er nicht in Ihr Weltbild passt?“

„Ich hasse ihn nicht“, sagte Bukowski, „Ich bin enttäuscht von ihm.“

„Lieben Sie ihn aber?“, fragte nun Gene Waters.

„Ich weiß nicht, wieso diese Frage irgendeine Relevanz besitzt.“

„Lieben Sie ihn?“, fragte Fenian.

„Was geht es Sie an?“

„Was sind Sie für ein Mensch, Mister Bukowski?“

„Ich bin ein aufrechter, bescheidener Mann, Mister McKenna, ich schäme mich nicht für das, was ich bin, tue oder sage.“

„Aber für das, was sie fühlen“, schloss Fenian, „Schämen Sie sich dafür, dass Sie Ihren Sohn lieben, oder schämen Sie sich dafür, dass Sie es nicht tun? Sagen Sie es und wir entscheiden, ob Ihre Seele noch zu retten ist.“

„Sie wollen meine Seele retten, Mister McKenna?“

„Ich will, dass sie mit ihr leben können.“

„Ich werde nicht leben.“

„Dann sollen sie guten Gewissens sterben.“

„Indem ich vor Ihnen die Beichte ablege?“

„Nun sagen Sie nicht, dass Sie an sowas nicht glauben!“, mischte sich Sam Meyer ein.

„Würde ich meinen Sohn nicht lieben, wäre ich nicht enttäuscht von ihm. Würde ich ihn nicht lieben, wäre mir gleichgültig, was aus ihm wird. Aber er macht uns Probleme und ich werde sie nicht ignorieren, weil ich ihm helfen möchte, ein angemessenes Leben zu führen“, sagte Caleb Bukowski schließlich, „Sind Sie jetzt zufrieden? Der Herr wird mir vergeben.“

„Was denn?“, fragte Gene Waters, „Sie haben sich nichts zu schulden kommen lassen.“

„Erzählen Sie uns was von Ihrem Sohn Pavel“, bat Gene Waters versöhnlich.

„Er ist unser Ältester“, begann Caleb Bukowski, „Er ist gerade 17 geworden, aber ich glaube, dass er vollkommen außer Kontrolle ist. Ich weiß, dass Geschichten herumgehen und ich glaube, dass sie stimmen.“

„Was für Geschichten?“, fragte Fenian.

„Pavel ist ein anständiger Kerl“, meldete sich Greg Winters, „Ich finde es beschämend, wie er von seinem eigenen Vater diskreditiert wird. Er hat mir meine Gertrud zweimal zurück nach Hause geholt. Er redet nicht dumm und er hat einen Draht zu meiner Tochter, den ich verloren habe. Gertrud ist ein schwieriges Kind. Ihre Mutter kann ihr nicht beistehen bei ihren Probleme und ich verstehe diese Probleme nicht. Pavel aber versteht sie, also reden Sie anständig von Ihrem Jungen. Es ist eine Schande, dass ein Fremder Ihren Sohn vor seinem Vater in Schutz nehmen muss, denken Sie mal darüber nach, Bukowski!“

„Er ist ein Dieb“, behauptete der Angesprochene, „Er ist ein Dieb und ein Rumtreiber. Dass er sich mit Ihrer Tochter versteht, passt zu ihm.“

„Und was reden Sie über meine Tochter? Das würde mich jetzt allerdings interessieren!“

„Jeder weiß, was Ihre Tochter so treibt“, sagte Bukowski.

„Ach ja? Wissen Sie das also? Wissen Sie auch, dass man Dinge, die man so hört, immer auch in dem Zusammenhang verstehen muss, in dem sie stehen? Ich glaube, Ihnen und all den religiösen Heuchlern dort draußen ist das Gefühl dafür abhanden gekommen, dass Handlungen Ursachen und Gründe haben können.“

„Und die Gründe für das Verhalten Ihrer Tochter ist das Versagen ihrer Eltern. Glauben Sie nicht, dass ich einem 16-jährigen Mädchen irgendetwas vorwerfe. Sie ist nicht verantwortlich für das, was sie glaubt, tun zu müssen.“

„Sie unterstellen mir also Verantwortungslosigkeit?“, fragte Greg Winters.

„Was soll ich Ihnen sonst unterstellen, oder glauben Sie etwas, dass Sie nichts dafür können?“

„Dafür, dass meine Frau krank ist, kann ich nichts!“, befand Winters und fügte hinzu, „Aber dafür, dass Ihre Frau schwermütig ist, dafür können Sie etwas. Und dafür, dass Ihr Sohn Sie für einen Heuchler hält, dafür können Sie auch etwas.“

„So? Er nennt mich einen Heuchler? Wer ihm das wohl eingeredet hat?“

„Pavel ist durchaus in der Lage selbst zu denken, glauben Sie mir. Bei Ihnen bin ich mir da aber nicht so sicher, um ehrlich zu sein.“

„Hey, worum geht es hier eigentlich?“, mischte sich Fenian ein.

„Das hören Sie doch“, sagte Sam Meyer, „Beide haben missratene Kinder und einer findet dass das nicht schlimm ist und einer schämt sich für sie beide dafür. Ich finde das amüsant.“

„Kennen Sie Pavel denn?“, fragte Gene Waters, „Oder Getrud.“

„Pavel nicht“, gab Meyer zu, „Aber Getrud hat einen guten Draht zu Menschen, wenn ich es mal so ausdrücken soll.“

„Du meine Güte!“, rief Fenian.

„Werden Sie bloß nicht religiös, Mister Mac. Im Angesicht der Sünde heißt es, standhaft bleiben!“

„Die Sie denn standhaft geblieben?“, fragte Fenian.

„Das kann man wohl sagen…“

„Sie widern mich an!“, konstatierte Fenian, „Das Mädchen ist 16!“

„Ach sagen Sie bloß, Sie sind bis zur Volljährigkeit enthaltsam geblieben? Sind Sie überhaupt schon volljährig? Oder sind Sie etwa immer noch enthaltsam?“, fragte Sam Meyer und lachte.

„Sie müssen Ihre Tochter in den Griff bekommen, Greg!“, sagte Caleb Bukowski und meinte es versöhnlich.

„Ich kann ihr nichts verbieten, wenn sie sich zwischen Hunger und Hungerlohn entscheiden muss“, sagte Winters.

„Aber so wird sie ihr ganzes Leben lang in diesem Sumpf stecken. Niemand wir sie heiraten, niemand wird ihr jemals helfen“, sagte Bukowski.

„Weil sie alle so denken wie Sie und das ist das Problem!“, behauptete Winters.

„Nein“, erwiderte Gene Waters, „Das Problem ist, dass sie sich nicht helfen lassen will.“

„Jetzt kommen Sie wieder damit, Gene. Ihre Art der Hilfe ist Demütigung, verstehen Sie das nicht?“

„Es ist eine Demütigung für eine Frau, wenn ich ihr anbiete, sie zu heiraten?“, fragte Waters.

„Nein, aber es ist eine, wenn jemand wie Sie es nur deshalb tut, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen“, sagte Bukowski.

„Augenblick“, unterbrach Fenian, „Sie haben Getrud einen Heiratsantrag gemacht? Das ist sehr nobel, finde ich.“

Greg Winters schnaufte: „Erst hat er Winifred einen Antrag gemacht, aber die ist bereits verlobt und will ihr Leben nicht für so einen wegschmeißen.“

„So einen?“, rief Waters zum ersten Mal erzürnt.

„Einen, der nur heiratet, um ein gefallenes Mädchen bei sich aufzunehmen. Das ist eine Beleidigung und keine Schmeichelei und ich habe meine Mädchen nicht dazu erzogen, alles hinzunehmen, was man ihnen vorsetzt.“

„Nein, Sie haben sie zu gar nichts erzogen“, mischte sich Caleb Bukowski ein.

Winters wandte sich wieder an Fenian: „Dann hat er Gertrud einen Antrag gemacht und ihr versprochen, sie müsste diese schmutzigen Dinge nie wieder machen. Das hat das Mädchen so in Rage gebracht, dass es von zu Hause fortgelaufen ist.“

„Hm“, machte Fenian, denn er war nicht sicher, was er davon halten sollte.

„Greg, Sie müssen sich nicht so aufregen. Schwarze Schafe hat jede Familie. Sie müssen Gertrud so akzeptieren, wie ich Pavel akzeptiere: Zeigen Sie ihr, was Sie von ihr erwarten, belohnen Sie sie für angemessenes Verhalten und bestrafen Sie unangemessenes“, sagte Bukowski.

„Meine Tochter ist kein Dressurpferd“, rief Winters, „Sie ist ein Mensch mit Rechten.“

„Und Pflichten“, erinnerte Bukowski.

Fenian war aufgefallen, dass sie inzwischen so miteinander redeten, als hätten sie noch eine Chance jemals wieder das Sonnenlicht zu sehen, als würden sie ihre Familien wiedersehen können und von da an alles besser machen. Er war ein tröstlicher Gedanke, dass man sogar eine solch akute Bedrohung wie das lebendig Begraben-sein zu Gunsten einer illusionären Hoffnung verdrängen konnte.

„Glauben Sie Pavel könnte Gertrud aus ihrem Elend retten?“, fragte Gene Waters.

„Ich hoffe es zumindest.“

„Sie hoffen vergebens, Greg“, sagte Bukowski, „Pavel wird ihrer Tochter nichts bieten können, nicht einmal ein Dach über dem Kopf.“

„Ich halte Verständnis nicht für nichts“, sagte Winters.

„Verständnis kann man nicht essen, es hält einen nicht warm und trocken“, warf Sam Meyer ein.

„Sie sind ein Romantiker, Greg, das ist Ihr Problem“, sagte Bukowski.

„Und Sie sind ein Holzklotz, das ist das Problem Ihrer Frau.“

„Meine Töchter verkaufen sich zumindest nicht an schmierige Typen wie unseren Mister Meyer hier. Auch unter schwierigen Umständen kann man anständig leben, Greg. Den Trick beherrschen Sie nicht und Ihre Kinder haben niemanden, von dem sie es lernen könnten.“

„Ihre Töchter?“, fragte Winters, „Kompensieren die also das Versagen Ihres Sohnes? Für Sie ist wohl wirklich alles eine Rechenaufgabe.“

„Ja, ich kann rechnen“, sagte Bukowski, „Maria ist tüchtig und es würde mich nicht wundern, wenn sie irgendwann ein Stipendium bekommt und an der Ostküste studiert. Heutzutage können junge Frauen sowas ohne Weiteres machen, wenn sie geistig fit genug sind. Andere müssen heiraten und wieder andere gehen auf den Strich. Das ist was unsere Nation so erfolgreich macht: Wer begabt ist, bekommt seine Chance und kann schließlich zum Wohle aller seine Fähigkeiten einsetzen.“

„Sie sind ja mächtig stolz. Sicher, dass sie nicht übertreiben?“, wand Gene Waters ein, „Mir kommt ihre Maria ein wenig überambitioniert vor. Am Ende opfert sie ihrer Karriere ihre Natur und ihre Moral. Darauf sollten Sie sie hinweisen.“

„Was ist das denn für eine Anspielung?“, fragte Bukowski.

„Sind Sie denn schon mal an der Ostküste oder an einer Universität gewesen? Wissen Sie denn, was dort vor sich geht? Um ehrlich zu sein, gefällt mir Ihre Selma besser als Maria. Sie engagiert sich für die richtigen Dinge, die für ein Mädchen angemessen sind.“

„Was Sie für ein Mädchen angemessen halten, hat die Mädchen schon vor hundert Jahren gelangweilt“, sagte Greg Winters, „Was mich an dieser Diskussion stört, ist dass niemand nach den Interessen der Mädchen fragt, sondern immer nur darüber geredet wird, was Sie für angemessen halten. Ich bin nun mal Vater von zwei eigenwilligen Töchtern und ich weiß, dass ich sie nicht mit Gewalt zu etwas zwingen möchte, das ihrem Naturell nicht entspricht, denn ich liebe meine Töchter. Das ist etwas, woran man Cal mal erinnern sollte: Liebe ohne Bedingungen.“

„Ich finde nicht, dass es Ausdruck einer Persönlichkeit ist, wenn ein Kinder sich prostituiert“, meinte Fenian nachdenklich, „Gleichwohl sehe ich ein, dass es Ausdruck einer Verzweiflung sein kann. Am Ende ist jede Lohnarbeit nichts weiter als Prostitution.“

„Sie wollen also Arbeit verbieten?“, fragte Caleb Bukowski.

„Sie wollen immerhin bestimmte Arbeit verbieten. Und zwar mit nichts weiter als dem Argument, dass sie unmoralisch ist. Wer definiert das? Sie, die Sie diese Arbeit weder ausüben, noch in Anspruch nehmen? Wie kommen Sie also dazu? Was macht Sie zu einem Experten? Ich frage mich das schon lange“, sagte Fenian, „Wie kommt ein katholischer Priester dazu, Familien zu erklären, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben? Er weiß doch weder etwas über Familien noch über Kinder.“

„Es gibt Dinge, die muss man einfach als Fakt annehmen“, sagte Gene Waters, „Gesetze sind nun mal nicht verhandelbar.“

„Nun, da bin ich anderer Ansicht“, sagte Fenian, „Alles ist verhandelbar. Die ganze Welt ist ein riesiger Marktplatz. Rechte, Ansprüche, Versprechen und Arbeitsleistung wird gekauft und verkauft. Es sind Waren. Warum also nicht auch Gesetze? Wer am meisten zahlt, kann sie nach seinem Willen umschreiben. Wieso nicht? Seien Sie ehrlich, jede Moral ist käuflich.“

„Nicht die Gesetze, die er Herr uns offenbart hat“, meinte Waters.

„Sie finden also, wir sollten diese Nation nach den Lehren der Heiligen Schrift ausrichten?“, fragte Fenian.

„Sie wäre zumindest ein Maßstab.“

„Sie ist tausende Jahre alt“, erwiderte Fenian, „Wie können Sie glauben, was darin steht hätte heute noch Relevanz?“

„Haben Sie nicht eben noch die Unzuverlässigkeit und Veränderlichkeit von Werten und Gesetzen kritisiert?“

„Nicht im geringsten“, sagte Fenian, „Ich habe sie nur behauptet, nicht bewertet.“

„Die Heilige Schrift ist von einer ewigen und universellen Wahrheit. Die Wahrheit kann man nicht verkaufen, wie sie es so schön ausgedrückt haben.“

„Ein frommer Wunsch. Sie glauben wirklich dran, oder?“

„Wenn wir nicht glauben, was gibt es dann noch für uns zu tun?“

„Wir könnten versuchen, Wissen zu erwerben“, sagte Fenian, „Glauben gibt Antworten ehe die Fragen gestellt wurden und verhindert so, dass Fragen gestellt werden. Deshalb sind Sie hier, Mister Waters. Sie haben nicht hinterfragt, was Sie glauben.“

„Haben Sie es denn hinterfragt?“, fragte Waters.

„Hätte ich es nicht getan, wäre ich nicht hier.“

„Wir halten fest“, warf Sam Meyer ein, „Ob man Fragen stellt oder nicht, ist egal, denn wir sind alle verdammt.“

„Warum sind Sie nicht Priester geworden?“, fragte Greg Winters, „Sie haben es doch vorgehabt, nicht wahr?“

„Ja“, sagte Waters, „Und ich spiele immer noch mit dem Gedanken. Das heißt… Ich spielte.“

„Wieso?“

„Weil ich so am ehesten etwas hätte zurückgeben können“, sagte Waters, „Ich hätte vielen Menschen helfen können, aber so lange ich mir das Studium nicht leisten kann… Sie wissen schon.“

„Seine Familie kann nämlich auch nicht mit Geld umgehen“, sagte Greg Winters zu Fenian und mit einem Augenblinzeln in Richtung Caleb Bukowski.

„Wer kann das schon?“, fragte Fenian, „Geld ist so ein schmutziges Zeug. Man hat nie genug und wenn man genug hat, hat man in Wirklichkeit zu viel.“

„Haben Sie das in einem Ihrer Handbücher gelesen?“, fragte Sam Meyer.

„Gesunder Menschenverstand, das ist alles, was man braucht“, sagte Fenian, „Wenn einem der allerdings abhanden gekommen ist, weil man zu viel mit dem Gewehr rumgeballert hat, hält man die grünen Scheinchen wahrscheinlich wirklich für wertvoll.“

„Sie reden alle Dinge schlecht, die Sie nicht haben, um sich selbst froh zu machen“, sagte Meyer, „Was Sie nicht tun, ist der Realität ins Gesicht sehen.“

„Es reicht mir, wenn ich Ihnen ins Gesicht sehen muss, um zu wissen, dass diese Realität verändert gehört!“, erwiderte Fenian.

„Rhetorik. Ihre ganze Bewegung besteht nur aus Rhetorik und Zerstörung. Konstruktive Arbeit ist Ihnen vollkommen fremd!“, sagte Sam Meyer.

Fenian beließ es dabei, er hatte keine Lust sich fortwährend provozieren zu lassen. Wozu? Wozu sollte er sich das jetzt noch antun. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie es sich wohl anfühlte zu sterben.

Es ist wie Einschlafen, mutmaßte er. Man merkt es gar nicht und dann ist man weg. Und es wird niemals ein Grab mit meinem Namen darauf geben. Man wird mich vermissen und sich fragen, wo ich abgeblieben sei und vielleicht werden sie in Chicago von dieser Geschichte hier hören, aber sie werden nicht glauben, dass er etwas damit zu tun gehabt haben könnte. Nicht er. Fenian McKenna war kein Mörder, er war ein guter Mensch, der das beste für alle wollte. Sie dachten viel zu gut von ihm, das fiel ihm jetzt auf. Sie hatten ihn viel zu oft gelobt, obwohl er es nicht verdient hatte. Gwen hatte ihn geliebt – vielleicht – obwohl er ungebildet und arm war und ihr nichts bieten konnte. Ihr Vater konnte ihn nicht ausstehen, aber er hatte ihn nie offen beleidigt oder seiner Tochter verboten, sich mit ihm zu treffen.

Wie gut es ihm gegangen war zu Hause, bemerkte er erst jetzt. Wieso war er damals so unglücklich gewesen? Ein schlechtes Gewissen? Generelle Schwermut, die vor allem diejenigen befällt, die von Langeweile und Sorglosigkeit geplagt waren?

Fenian fragte sich, was denn eigentlich Glück und Zufriedenheit war. Er stellte fest, dass es zumeist das war, was man nicht hatte, das, was man verloren hatte, das, was unerreichbar war. Jetzt, wo er zurückdachte, konnte er seine eigene Trägheit nicht mehr nachvollziehen. Er ekelte sich gerade zu vor seiner eigenen Vergangenheit, die gedankenlos und leichtsinnig gewesen war.

An den Tod zu denken, macht uns zu Menschen, unser Leben zu leben, macht uns zu Kreaturen, schlussfolgerte Fenian. Hatte man nicht ständig den Tod vor Augen, so fällte man leichtfertige, unüberlegte Entscheidungen. Hier unten erschienen sie ihm nichtig und dumm. Sein ganzes Leben war bedeutungslos gewesen und alles was von seinem Dasein in Erinnerung bleiben würde, war, dass er zusätzlich zu sich selbst fünf weitere unschuldige Männer mit in den Tod gerissen hatte und sie würden ihn dafür ganz sicher nicht als Helden feiern. Er würde in die Geschichte eingehen als Monster, als Schurke, als jemand, der seiner eigenen Sache einen Bärendienst erwiesen hatte.

Wie war er nur auf die Idee gekommen, dass es schon nicht so schlimm war, eine geringe Zahl von Männern dem Tod preiszugeben, um das Leben von vielen zu gefährden. Denn dass die Gewerkschaft gewinnen würde, schien mehr als aussichtslos. Fenian wusste, dass Organisationen wie die Union immer verloren. Erreichten sie ihre Ziele, wurde sie unnötig und löste sich auf, erreichte sie ihre Ziele nicht, wandten sich die Mitglieder von ihr ab und verloren sich in Hoffnungslosigkeit oder destruktiver Militanz.

Vielleicht war es genau das, was mit Fenian passiert war: Er hatte das Scheitern der Gewerkschaft geahnt und bei einer Verzweiflungstat mitgemacht, die zu keinem Zeitpunkt irgendetwas bewirken konnte, außer die Gesellschaft in Harlan County noch mehr zu spalten und noch mehr Hass zu sähen. Ein schneller Tod, dachte er bei sich, ist besser, als dahinzusiechen und allen Beteiligten eine falsche Hoffnung zu belassen.

Und jetzt war er hier mit fünf Männern, die ihn hassten, weil er sich zu spät besonnen hatte. Fünf Männer, die einander kannten, aber ihn nicht, teilten sich wenig außer der Abneigung gegen ihn. Fenian erkannte, dass er sehr lange Zeit einem überheblichen Irrtum aufgesessen war: Er kämpfte zwar für die Arbeiter der Kohlegruben, nahm sich aber selbst nie als einer von ihnen wahr, sondern sie als eine Gruppe gleichförmiger, gleichagierender Wesen ohne einen Funken Geist in ihren Augen. Wie überheblich er auf sie herabgeblickt hatte, erkannte er erst jetzt, da er diese fünf Männer kennen gelernt hatte, die zwar zur gleichen Klasse gehörten, aber doch völlig unterschiedlich waren in ihren Ansichten, Beweggründen und Motivationen. Sie konnten sich ja noch nicht einmal gegenseitig leiden, wie hatte Fenian da annehmen können, zu einer homogenen Masse zu sprechen, als er vor den Streikposten gesprochen hatte.

Ich hatte geglaubt, was diese Leute brauchen, ist ein Anführer, der sie hinter sich vereint, dachte Fenian, aber das war falsch. Jeder Anführer sorgte dafür, dass sie Menschen, die er zu vertreten glaubt ein Stück ihrer Individualität aufgeben mussten. Nicht die Anführer gingen Kompromisse ein, sondern die, für die sie eigentlich reden und streiten wollten. Denn am Ende kämpfte jeder für sich und wer sich vertreten ließ, der gab seine Persönlichkeit mit seiner Selbstverantwortung ab.

Und er hatte diese fünf Männer sterben lassen wollen, weil er geglaubt hatte, Menschen mit anderen Ansichten, die sich weigerten, ihm zu folgen, durften ohne weiteres geopfert werden, weil sie ihm nicht nützlich waren. Denn wer immer über andere Menschen als sich selbst redete, redetet über Nützlichkeit in irgendeiner Art und Weise. Entweder man hatte einen Vorteil durch eine Beziehung oder man konnte sie ohne Weiteres fallen lassen. Und wenn es nur um die Bestätigung des eigenen Egos ging… Fenian begann eine tiefe Selbstabneigung zu entwickeln, die einherging mit einer plötzlichen, generellen Menschenfeindlichkeit.

Das Problem war, dass er begann Sam Meyers Standpunkte zu verstehen, wenn gleich er sie eher als Provokation vorbrachte, denn als ernstgemeinte Diskussionsbeiträge. Fenian war irritiert, wie vielen seiner Ideen er folgen konnte, bevor sie in Hass und Herabwürdigung mündeten. Der Mann, den er am meisten hassen sollte, kam seiner Persönlichkeit am nächsten.

Er fragte sich, was Meyer wohl über ihn dachte und ob er genauso schockiert über die Erkenntnis ihrer charakterlichen Ähnlichkeit war.

Er zieht die falschen Schlüsse, versuchte Fenian sich zu beruhigen, er hat die richtigen Ausgangspositionen und biegt dann irgendwo falsch ab, weil er ein Heuchler ist, weil er nichts ernst nimmt und weil es ihm egal ist, ob Menschen sterben…

Fenian knirschte mit den Zähnen. Was für ein schrecklicher Fehler ist Gewalt! Was für eine Dummheit, mit ihr Probleme lösen zu wollen!

Wahrscheinlich, dachte Fenian, gibt es überhaupt nur deshalb überhaupt immer neue Probleme, weil irgendjemand Gewalt gegen jemand anderen ausgeübt hat. Irgendjemand wird immer unterdrückt. Irgendjemand verliert immer. Die Frage war: Wie ging man mit den Verlieren um? Wie ging man mit den Feinden um? Tötete man sie? Versuchte man sie zu überzeugen? Inkludierte man sie? Setzte man sich ihrer Kritik aus?

Wie sicher war man sich eigentlich mit seiner Position, wenn man Kritik nicht aushielt, sondern underdrücken wollte? Hatten diese fünf Männer nicht allesamt nachvollziehbare Gründe für ihre Ablehnung des Streiks?

Caleb Bukowski war zu alt, um sich in einen Arbeitskampf zu stürzen, der ihn die Existenz kosten konnte. Er hatte Familie und offensichtlich kam er über die Runden. Wer war Fenian, ihm einzureden, dass er mehr haben könnte und verlangen sollte? Wer war Fenian, dass er ihn töten wollte? Was hatte er damit Bukowskis Familie angetan? Er hatte Kinder. Die hatte er der Armut preisgegeben zusammen mit ihrer schwermütigen Mutter – was immer das hieß…

Harry Turner war jung, hatte das Leben noch vor sich und Pläne. Er hatte Hoffnung und glaubte nicht an die hoffnungslosen Thesen, die Fenian und seine Leute verbreiteten. Seine Welt sah anders, besser aus. Wer war Fenian, ihm seine Ambitionen ausreden zu wollen? Wer war Fenian, dass er ihn töten wollte? Sicherlich glaubte Fenian, dass Harry Turner dumm war, dass alle seine Träume zerschmettert würden, aber am Ende was das nicht seine Angelegenheit. Fenian konnte niemanden zu seinem Glück zwingen, denn Zwang war niemals Glück.

Gene Waters war gutherzig, hatte nur die besten Absichten und konnte für keine seiner Entscheidungen als Egoist oder Spalter beschuldigt werden. Er war mehr Praktiker als Fenian, er half mit seiner Arbeit und seinem Teilen mehr Menschen als Fenian mit seinen Reden. Und hatte Waters nicht auch Suppenküchen der Kirche unterstützt? Und waren es am Ende nicht lächerliche Eitelkeiten, die dafür gesorgt hatten, dass Gewerkschaft und Kirche nicht zusammenarbeiteten? War das nicht eine verpasste Chance gewesen, die zu Lastend er Armen gegangen war? Sollten sie sich nicht schämen? Wer aber war Fenian, Gene Waters Engagement niederzumachen? Wer war Fenian, dass er ihn töten wollte? Natürlich konnte Fenian Waters‘ salbungsvolle Sprache nicht leiden, aber das war nur eine Meinung, keine Wahrheit, nichts worauf man eine Kampagne ausbauen konnte, oder wovon man sich leiten lassen sollte. Vielleicht war Fenian auch einfach nur neidisch auf so viel selbstsichere Aufrichtigkeit und ehrliche Güte…

Greg Winters war vom Schicksal gebeutelt, ihm fehlten die Alternativen, er war genau der Mensch, für den Fenian hier her gekommen war und jetzt stellte er fest, wie er voller Mitleid auf ihn herabblickte, statt ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Wer war Fenian, dass er ihm vorschreiben konnte, was er tun musste, um aus seiner Misere herauszukommen? Wer war Fenian, dass er ihn töten wollte? Wenn man all umbrachte, hatte man am Ende auch alle Probleme gelöst, aber war das nicht genau das, wogegen er kämpfte? Niemand sollte mehr sterben müssen, nur weil er ein Problem hatte, weil er nicht hineinpasste, weil er eine andere Ansicht vertrat?

Und Sam Meyer? Ein Ekel, ohne Zweifel, aber rechtfertigte die persönliche Abneigung und die Angst davor, ihm ähnlich zu sein, einen Mord? Wer war Fenian, dass er solche Dinge entschied? Meyer war derjenige, der mit der Flinte herumlief und Leute bedrohte, der die Gegend unsicher machte, der den Tod nach Harlan gebracht hatte. Und jetzt hatte Fenian sein Werk vollendet.

Er dachte an seine Tante und seinen Onkel. Was würden sie fühlen, wenn sie erfuhren, was er getan hatte? Zum ersten Mal würden sie Enttäuscht von ihm sein und es schmerze Fenian mehr als alles andere. Sie hatten immer an ihn geglaubt, hatten ihn immer unterstützt, waren stolz auf ihn, hatten ihn gelobt, wann immer er sich für irgendetwas engagiert hatte. Und jetzt? Jetzt würden sie sich fragen, was sie falsch gemacht hatten.

Fenian stellte sich eine Szene am Küchentisch vor. Tante Gertrud weinte über einen Zeitungsbericht und Onkel Norbert schlug die Hände vors Gesicht.

„Der gute Junge!“, schluchzte die Tante, „Tot. Ein Mörder! Der gute Junge…“

„Wie konnte es nur so weit kommen?“, fragte der Onkel, „Haben wir ihn dazu ermutigt? Haben wir ihn dazu getrieben? Haben wir irgendwelche Anzeichen nicht erkannt? Sie werden uns befragen und wahrscheinlich sind wir mit schuld.“

Norbert glaubte immer, für alles verantwortlich zu sein. Er versuchte immer Zusammenhänge zu knüpfen und komplexe Sachverhalte auch komplex zu erklären. Er war ein aufrechter Mann, der sich nicht zufrieden gab mit einfachen Lösungen, die er für Verdummungstaktikern der Regierung hielt. Er wollte alles zurückverfolgen zu ihren Ursachen. Er wollte vom Hurrikan auf den Schmetterlingsflügelschlag zurückschließen und vom Verbrechen auf die Verderbtheit der Gesellschaft, aus der der Kriminelle stammte.

Schuld war für Onkel Norbert etwas kollektives ebenso wie Erfolg oder Stolz und wenn Fenian einen Mord beging, dann würde er diese Sünde als seine eigene beichten.

Fenian stellte sich vor, wie seine Tante, seine Cousins und Cousinen und vielleicht ein paar ehemalige Freunde an seinem Grab stehen würden. Es würde ein leeres Grab sein und kein Priester würde sich bereit erklären, ein Gebet zu sprechen. Vielleicht würden sie Blumen auf das leere Grab stellen und sich vorstellen, wie es sich anfühlte, lebendig begraben zu sein.

„Von allen vier Elementen war er am wenigsten ein Erd-Typ“, würde Cousine Mildred sagen, die sich für solch einen Kram interessierte. „Du, mein Lieber“, hatte sie einmal zu ihm gesagt, „bist ein Luftikus. Mit dem Kopf immer so weit in den Wolken, dass du deine Füße nicht mehr sehen kannst.“

Und dann hatte Fenian zu ihr im Spaß gesagt: „Wenn ich mal sterbe, sollt ihr meine Asche im Wind verstreuen.“

Nichts davon würde passieren und ein wenig traurig fand Fenian das nun doch. Lebendig begraben. Es war schlimmer, wenn man darüber nachdachte, als wenn man es tatsächlich erlebte.

Gwen würde nicht an das leere Grab kommen, denn sie fand so etwas sicher unpraktisch. Sie mochte keinen gefälschten Schmuck, also mochte sie auch keine gefälschten Gedenkstätten. Ihren Vater hörte Fenian am Frühstückstisch sagen: „Gut, dass es so gekommen ist. Stell dir vor, dieser Terrorist hätte dich in irgendetwas hineingezogen!“

Aber das hätte Fenian nie getan. Er brachte keine geliebten Menschen in Gefahr. Nur ihm unbekannte…

So ist der Krieg, dachte er. Krieg ist, wenn man nicht mehr realisiert, dass man Menschen töten, sondern nur noch, dass man Material zerstört und potenzielle Gefahren eliminiert. Man lief irgendetwas oder irgendjemandem hinterher oder vor jemandem davon und wenn man ganz vorne war, wurde man mit der größten Wahrscheinlichkeit abgeknallt.

Fenians Gedanken sprangen hin und her. Von seiner Familie zu seiner Freundin, zu seiner eigenen unzulänglichen Persönlichkeit. Woran hatte er geglaubt, nachdem er der Kirche abgeschworen hatte? Dass er den Arbeitern – seinen Gläubigen – helfen konnte? Aber nur denen, die regelmäßig ihre Beiträge bezahlten? Funktionierte das so? Gerettet wurde nur derjenige, der sich frühzeitig der richtigen Seite anbiederte und dann Glück hatte, wenn diese gewann?

Es gab keine Neutralität, das hatten sie ihm eingeschärft und er hatte es anderen eingeschärft: Wer nicht unser Freund ist, der ist unser Feind. Wer nicht streikt, der ist ein Verräter. Wer nicht zahlt, hat keinen Anspruch auf Unterstützung. Worin unterschied er sich eigentlich noch von einem Kapitalisten? Stimmte es vielleicht, dass, wann immer eine Organisation zu groß und Bürokratisch wurde und hierarchische Strukturen ausbildete, sie korrupt und gierig wurde, dass sie schwerfällig und kompromissbereit wurde und am Ende selbst ausbeutete und zerschlagen werden musste, um die Menschen zu befreien?

Es gab keine Neutralität, weil keine der Seiten es zuließ, dass man ein friedliches Leben führte, ohne sich zu bekennen. Es gab kein Heraushalten aus diesem Konflikt und am Ende würden Häuser und Fabriken brennen – fragte sich nur wer sie anzündete und wer die Opfer sein würden…

Wer würde die Schuld dafür tragen?

Eine Einigung stand nicht zur Debatte. Einigung bedeutete Schwäche und Verrat. Sie bedeutete Bestätigung der bestehenden Verhältnisse. Sie wäre eine Niederlage für beide Seiten.

Im Krieg gab es keine Gewinner, nur brennende Dörfer und Fenian stellte sich vor, wie Harlan in Flammen aufging. Vielleicht mussten diese Dinge passieren, damit die übriggebliebenen Menschen sich zusammenrauften. Die große Errungenschaften der Menschheitsgeschichte setzten sich immer nach großen Katastrophen durch. Wenn sie Zivilisation auf den Spiel stand und die Verluste groß waren, wurden die Reste verteilt, um etwas neues aufzubauen. Man schwor auf den Pazifismus, auf die Vernunft, auf den Humanismus, bis man wieder dekadent und vergesslich wurde und alle Errungenschaften wieder vernichtet wurden.

Davon konnte man in Geschichtsbüchern und Romanen lesen, in denen die Historie rekonstruiert und dekonstruiert wurde. Was würde über ihn wohl geschrieben werden – in einer Randnotiz in einem Lehrbuch für den zivilen Ungehorsam, wie man es nicht machen durfte, vielleicht?

Fenian überlegte sich, dass er ungern eine historische Figur wäre. Lieber hätte er es, wenn man ihn in einem Roman auftreten lassen würde. Er fand es ehrlicher, Geschichten zu erzählen, als sie zu berichten und in ein Korsett aus Zahlen zu quetschen, die so tun sollten, als handele es sich um eine Wissenschaft, sich an die Vergangenheit zu erinnern.

Denn das war es nicht, was Menschen bewegte. Menschen lernten nicht durch Zahlen, Urkunden und alte Vertragsdokumente, was in der Welt geschehen war, bevor sie geboren wurden. Sie lernten durch Erzählung, durch Erinnerung, dadurch, dass sie einander fragten, Eindrücke sammelten und immer neue Urteile darüber fällten. Fenian wollte nicht abgestempelt werden als Terrorist. Er war mehr als das, er gehörte in mehr als diese eine Schublade. Er war Automechaniker. Er war Reisender. Er war Gewerkschaftler. Er war Redner. Er war der Sohn seines Vaters und der Neffe seines Onkels und seiner Tante. Er war Freund und Liebhaber von Gwen. Er war freundlich, ein bisschen melancholisch manchmal. Er bemühte sich um Aufrichtigkeit. Wenn es drauf ankam, dachte er zu wenig und handelte zu schnell. Wenn es nichts zu tun gab, dachte er zu viel und träumte sich hinfort. Er war ein Mensch, kein Held und kein Schurke und ganz gewiss wollte er nicht, dass die Nachwelt seinen Namen nur mit Schrecken aussprach. Lieber sollten sie ihn vergessen. Lieber wollte er nicht gelebt haben.

Vielleicht war Neutralität die eigentlich revolutionäre Haltung? Die Neutralen waren immer in der Minderheit. Sie Neutralen waren Friedlich, aber sie sahen zu, wie andere starben. Trugen sie nicht auch Schuld?

Wer erzählte dereinst die Geschichte der Neutralen? Würde es Bücher über sie geben? Romane oder Randnotizen? Oder waren immer nur diejenigen Menschen interessant, die ganz offensichtlich Fehler, Widersprüchlichkeiten und Brüche in ihren Biographien hatten? Lasen und erinnerten die Menschen nur die Geschichten der Psychopathen, weil sie an Sensationen interessiert waren, weil sie sich ekeln oder abstumpfen wollten? Wurde die Welt deshalb immer brutaler und die Mächtigen immer enthemmter?

Wenn Fenian sich das so überlegte, kam er zu dem Schluss, dass anscheinend immer mehr Menschen darum wetteiferten, in die Geschichte einzugehen. Und in die Geschichte gingen nur Tyrannen und Schlächter ein. Die Menschheit, dachte Fenian, hat einen großen Betriebsfehler, der sich immer weiter vererbt, weil Stärke mit Zerstörungskraft eingeht.

Tyrannen und Schlächter – Helden genannt, wenn sie siegten – gestalteten die Welt. Tyrannen und Schlächter – Terroristen genannt, wenn sie besiegt wurden – stürzten die Welt ins Chaos. Aber war in Wirklichkeit nicht alles Zerstörung und Deutung? Geschichte – eine Wissenschaft… Dass Fenian nicht lachte! Jeder, das sich anmaßte, zu wissen, was gut und was schlecht war, urteilte, ohne gesetzliche Grundlage, also willkürlich – das war ebenfalls ein Verbrechen.

Es war nicht schlimm eine Meinung zu haben, es war nicht schlimm, auf einer Seite zu stehen und sich trotzdem von Gewalt und Hass zu distanzieren. Man musste nicht neutral sein, um das Recht zu haben, von der Geschichte in Ruhe gelassen zu werden. Man lebte hier und heute und nicht in hundert Jahren in einem Schulbuch. Und wenn man es in einen Roman schaffen wollte, dann musste man auch ein Abenteuer erleben, dann durfte man nicht nur herumsitzen und nachdenken oder herumstehen und reden oder unter Autos herumkriechen und –schrauben.

Es war schon in Ordnung, dass er hier war. Es war schon in Ordnung, was er getan hatte. Es war ein Fehler, aber jeder machte Fehler – und ihm war er selbst aufgefallen und er hatte sich ihm gestellt.

Wie leicht es sich anfühlte, wenn man mit sich ins Reine kam… Fenian hielt die Augen geschlossen und dachte an eine Welt ohne Geschichte, ohne Leute, die mit Gewehren und Mistgabeln anderen erklären wollten, wer wen in seiner herrschenden Position ersetzen sollte. Hatte jemals jemand etwas über einen Krieg, einen Streik oder einen Klassenkampf bei den Bewohnern der Urwälder Afrikas oder Südostasiens gehört? Nein. Denn niemand hielt diese Geschichten für relevant genug, um sie in einem Geschichtsbuch festzuhalten. Sie wurde vielleicht nicht einmal mehr mündlich weitergegeben oder waren zu Legenden verkommen. Das war es, was mit Geschichte passieren sollte: Zur Legende und zum Märchen sollte sie verkommen und schließlich vergessen werden. Wenn man sich nicht erinnerte, war es egal, ob es schon mal passiert war. Wiederholen würde es sich ohnehin, nur bräuchte man keine Angst mehr zu haben. Unwissenheit war ein Segen. Wissen stellte keinen Vorteil dar.

Außerdem: Wenn es keine Gesetze gab, gab es auch keine Urteile, gab es keinen Terror. Ohne Gesetze, ohne künstliche Moral wäre er nichts weiter als ein junger Mann, der gelebt hatte und gestorben sein würde. Niemand würde ihn hassen, weil niemand sich Gedanken über ihn machen würde. Und vielleicht gab es deshalb auch keine Kriege, keine Streiks und keine Klassenkämpfe dort wo es keine Gesetze gab, denn wenn es keine Gesetze gab, gab es auch keinen Privatbesitz. Und wenn es keinen Privatbesitz gab, gab es auch keine Armut und keine Ungerechtigkeit.

Und wenn es keine Ungerechtigkeit gab, gab es auch keine Schuld.

„Schläft er schon wieder?“, fragte eine Stimme durch den Nebel, der Fenians Gedanken darstellte. Er war tatsächlich weggetreten gewesen und erinnerte sich an ein wohliges Gefühl der Leichtigkeit, das mit der Wahrnehmung der harschen Stimme wie weggeblasen war.

Er war zurück in der Schwärze, der stickigen Luft und der Gewissheit des über ihm lauernden Tod.

„Lassen Sie ihn doch. Wenn er schlafen kann, hat er es doch gut.“

„Und er redet nicht, das ist auch ein Vorteil.“

Fenian beschloss, zu schweigen, die Augen geschlossen zu halten und zu versuchen, zurück in den Nebel zu gelangen, wo er sich sicher gefühlt hatte und irgendwie glücklich gewesen war.

Wenn man allein in seinem Kopf ist, dachte Fenian, kann man alles glauben, was man will, ohne dass einer einem widerspricht. Vielleicht funktionierte so Religion oder Egomanie. In jedem Fall funktionierten kurzzeitiges Glück und Zufriedenheit so. Er wusste nicht, ob er mit seinen Vorstellungen Recht gehabt hatte, ob sie jemanden überzeugen konnten, ob sie ihn selbst überhaupt überzeugten, aber wen kümmerte das? Er sprach sie ja nicht aus, er versuchte, niemanden zu überzeugen. Hier unten hasste ihn ohnehin jeder. In seiner Situation kam es auch nicht mehr darauf an, Recht zu haben, sondern nicht durchzudrehen. Da leistete die Logik keine Gute Arbeit, Glauben dagegen funktionierte.

Was die anderen wohl glaubten? Wie sie sich wohl ablenkten? Ob sie sich auch in ihren Kopf zurückziehen konnten? Was sie wohl dachten? Fenian wusste, dass einer seiner größten Fehler war, dass es ihm schwer fiel, andere Menschen als eigenständig und ihm ebenbürtig denkende Wesen wahrzunehmen. Er war überheblich und er musste sich zwingen, sich selbst nicht als größer, intelligenter und wichtiger wahrzunehmen, als er war – und vor allem als andere. Er neigte dazu, andere kleinzudenken und sie insgeheim zu entmenschlichen. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als sich auf seinem Niveau auszutauschen. Meistens wurde er enttäuscht. Die, an die er nicht heranreichen konnte, machten ihm Angst und die, auf die er herabsah, erinnerten ihn an Kinder, die man bei allem anleiten musste und das war ihm zuwider und strengte ihn an.

Und wenn man so ein Mensch war, wie Fenian sich selbst entlarvte, dann war alles, was man sagte Lippenbekenntnisse. Und Heuchelei war gefährlich, sie verführte Menschen und sorgte dafür, dass sie Dinge taten, die man selbst nicht wagte, damit sie die Schuld dafür tragen mussten. Demokratie, dachte Fenian, ist eine Ausrede, eine faule Entschuldigung für die, die entscheiden. Wenn es gut läuft, heimsen sie die Lorbeeren ein und wenn es schlecht läuft, sagten sie, das Volk wollte es so und man selbst sei nur ein Instrument des Systems gewesen. Konnte man Leute im Nachhinein zur Rechenschaft ziehen, wenn sie sich darauf berufen konnten, im Auftrag der Bevölkerung gemordet und gefoltert zu haben?

Und Leute wie Sam Meyer, die skrupellos mit dem Leben der Menschen spielten, die behaupteten, Worte und Zynismus könnten nicht töten und die Redefreiheit stünde über dem Recht, nicht belogen oder beleidigt zu werden, brachten ihre Saat auf dem gleichen Feld aus wie Fenian. Sie redeten und behaupteten später, wenn man sie mit den Folgen ihrer Politik konfrontierte, es ja nicht so gemeint zu haben und die Leute seien schon selbst schuld, wenn sie seine Aussagen so oder anders interpretiert hatten. Freiheit bedeutete eben auch die Freiheit, missverstanden zu werden und bestraft werden konnte man nur für eine tatsächliche Aktion und getan hatte Sam Meyer nie etwas. Lediglich verteidigt und Befehle befolgt hatte er.

Fenian aber war es leid gewesen, zu reden und andere die Drecksarbeit machen zu lassen. Wenn was er sagte, Menschen dazu brachte Verbrechen zu begehen, dann war es nur gerecht, wenn er auch als Verbrecher verurteilt wurde. Das hatte er von seinem Onkel. Es war die Tragik der ehrlichen Leute.

Wenigstens hatte er noch ein Gewissen. Sam Meyer hatte nur eine große Klappe und Ausreden. Fenian hasste ihn, weil Meyer rücksichtlos seine Agenda vertrat und man gegen so einen als aufrechter Mann nur verlieren konnte. Deshalb würde Meyer immer mehr Erfolg haben als Fenian. Die Leute fühlten sich zu Skandalen eben mehr hingezogen als zu Zweiflern und auf diese Weise würde sich nie etwas ändern. Immer liefen sie den Charismatikern hinterher, nie denen, die sich Sorgen um ihre Wirkung machten.

Wieso arbeitete er sich so sehr an diesem Idioten ab, fragte sich Fenian. Niemand mit gesundem Menschenverstand nimmt ihn ernst und die Arbeiter hassen ihn und seinesgleichen. Sie werden ihn nicht plötzlich als Helden feiern, weil sie mich verdammen werden. Sie werden froh sein, erinnerte sich Fenian, dass ich einen von ihnen mit in die Hölle gezerrt habe.

Er fragte sich, wie lange sie schon hier unten waren. Er hatte das Zeitgefühl völlig verloren, weil er nicht einschätzen konnte, wie lange er geschlafen hatte. Vielleicht war es jetzt schon mitten in der Nacht, vielleicht war es Nachmittag oder früher morgen. Sein Magen meldete sich. Fenian wusste nicht, ob es Hunger war oder angstvolle Übelkeit. Eine Schwäche in den Gliedern stellte sich ein. Bald würde sich sein Blick trüben, ahnte er, aber das war nicht schlimm. Hier unten gab es ohnehin nichts zu sehen. Eine angenehme Entwicklung war, dass er feststellte, wie die Panik von einer gewissen Gleichgültigkeit abgelöst wurde. Ja, er hatte Angst, aber es war ihm egal. Sein Geist löste sich von seinem Körper.

„Wollen wir vielleicht etwas singen?“, fragte Gene Waters. Es war unverkennbar seine sanfte Stimme.

„Ich singe keine Kirchenlieder“, sagte Sam Meyer.

„Schlagen Sie etwas vor?“, erwiderte Winters.

Same Meyer wand sich ein wenig, konnte der Forderung aber nicht entgehen und begann schließlich mit einer erstaunlich lächerlich dünnen Sing-Sang Stimme eine lächerlich einfache Melodie zu singen:

„I am thinking tonight of the Southland,

Of the home of my childhood days,

Where I roamed through the woods and the meadows

By the mill and the brook that plays“

Es klang wie ein Kinderlied und Fenian konnte nicht anders als prusten. Das war das einzige Lied, das Meyer einfiel? Plötzlich erkannte er die Einfältigkeit, die diesem gemeinen Menschen zu eigen war und die er mit Menschenverachtung zu übertünchen versuchte.

„Haben Sie einen Einwand, Mister McKenna?“, fragte Meyer

„Nein, nein, singen Sie nur weiter!“, sagte Fenian. Er unterdrückte sein Lachen.

„Haben Sie ein Problem mit der Hymne meines Heimatlandes?“

„Oh nein, keineswegs“, sagte Fenian, „Ich kann es nur nicht ernst nehmen, wenn es so eine Hymne hat.“

„Singen Sie uns doch was vor!“, giftete Meyer, „Auf Ihrer Insel soll es doch so viele patriotische Lieder geben. Genutzt hat es Ihnen nur nichts! A Nation Once Again… Los, singen Sie schon!“

„Danke, ich verzichte“, sagte Fenian und krümmte sich vor Lachen. So einfach konnte man einen Nationalgardisten aus der Fassung bringen? Wenn er das gewusst hätte…

„Der Vertreter eines lächerlichen Volks, das es seit hunderten von Jahren nicht auf die Reihe kriegt, sich gegen eine Besatzungsmacht zu wehren, lacht über eine freie Nation. Ihnen ist Ihre eigenen Peinlichkeit nicht klar, McKenna!“

„Ich finde, Sie sollten nicht so respektlos sein!“, sagte Gene Waters.

„Ich soll respektlos sein?“, rief Fenian immer noch von einem Lachen geschüttelt, „Er kann doch nicht akzeptieren, dass ich Amerikaner bin wie er und dass es viele Amerikaner gibt, die nicht sind wie er. Er trägt Scheuklappen und wünscht sich ein Märchenland, in dem alle Menschen fröhlich über grüne Wiesen hüpfen – übrigens ein sehr irisches Kitschbild. Dabei steht dieses Land am Rande des Zusammenbruchs.“

„Was an Leuten wie Ihnen liegt!“, rief Meyer dazwischen.

„Vielleicht ist der Zusammenbruch das Beste, was uns passieren kann. Falls es Sie interessiert, ich stamme aus Illinois und habe noch nie einen Fuß auf irischen Boden gesetzt. Wo kommen Sie eigentlich her, Mister Meyer?“

„Arkansas und ich kann Ihnen versichern, dass diese Krise uns niemals ereilt hätte, wenn wir den Bürgerkrieg gewonnen hätten!“

„Augenblick mal!“, mischte sich Caleb Bukowski ein, aber Sam Meyer winkte ab: „Lassen Sie’s gut sein, Papist!“

„Sie wollen, dass ich was singe?“, fragte Fenian immer noch belustigt. Er wusste, dass er eine bessere Stimme hatte als Sam Meyer und er hatte offensichtlich mehr musikalische Bildung. Aber vielleicht stimmte es, dass man als Ire naturgemäß auf die Lieder anderer Länder spöttisch herabblickte.

„Ja, singen Sie etwas!“, ermutigte Harry Turner ihn.

Und Fenian begann zu singen:

„Would you have freedom from Wage slavery,

Then join in the grand Industrial band;

Would you from mis'ry and hunger be free,

Then come, do your share, like a man.“

„Sie sollten das nicht singen“, sagte Greg Winters.

„Wieso nicht?“, fragte Fenian, „Was ist falsch daran?“

„Ja, wieso soll er das nicht singen?“, fragte zu Fenians Überraschung Sam Meyer, „Es passt doch zu ihm. Den Bastard haben sie aufgehängt und sollten wir jemals hier herauskommen, werden sie unseren Mac hier ebenfalls aufknüpfen.“

Fenian schluckte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er brauchte also gar nicht auf eine Rettung zu hoffen. Irgendwie war das auch eine Erleichterung.

„Sie haben Joe Hill verurteilt, ohne dass Beweise gegen ihn vorlagen“, erinnerte Fenian, „Außerdem wurde er erschossen und nicht gehängt.“

„Einerlei“, fand Meyer, „Ein Bastard, der es nicht anders verdient hat.“

„Haben Sie etwa Angst vor seinen Lieder?“, fragte Fenian.

„Ich habe Angst davor, was Lügen anrichten“, gab Meyer zu.

„Und Ihr Liedchen ist keine Lüge? Unberührte Wälder? Wiesen? Bäche? Ich wusste gar nicht, dass Arkansas so eine Idylle ist.“

„Es war eine, bevor Leute, wie Sie kamen und uns erzählen wollten, was richtig und was falsch ist. Meine Kindheit war nicht leicht, ich konnte es mir nicht leisten, faul oder gierig zu sein, aber ich wusste, dass man lieber auf die Leute hören sollte, die mehr Ahnung hatten als man selbst. Und das ist, was dieses Land zu Grunde gerichtet hat: Sie haben jedem dahergelaufenen Nigger eine Stimme gegeben und jetzt wissen sie nicht mehr, wie sie aus dem Strudel herauskommen, in den sie sich selbst manövriert haben. Sehen Sie, Sie können die Verantwortung nicht dem Pöbel überlassen. Sie brauchen jemanden, der Ahnung hat, der sich nicht vor Entscheidungen drückt und der etwas davon hat, dass er die richtigen Entscheidungen trifft. Wenn Sie einen armen Schlucker ohne Schulbildung entscheiden lassen, dann kommen Sie keinen Schritt vor an.“

„Sie misstrauen also unserer Regierung, Mister Meyer?“, fragte Harry Turner interessiert.

„Jedem von diesen Halsabschneidern.“

„Nein, das ist es nicht“, sagte Fenian, „Er misstraut nicht der Regierung, er misstraut der Demokratie. Er will nicht, dass Menschen, die Hilfe brauchen, geholfen wird.“

„Oh, Sie würden ein funktionierendes System gerne umdrehen, sodass es nicht mehr funktioniert. Die Arbeiter arbeiten für die Unternehmer. Sie führen deren Anweisungen aus, weil sie selbst keine Ahnung haben, wie sie ein Unternehmen führen müssen. Sie können sich nicht einfach auf die faule Haut legen und verlangen, dass die Unternehmer ab sofort für Sie arbeiten und sie kassieren Sozialleistungen, oder was immer Sie sich vorstellen! Sie können nicht den Nigger die Plantage führen lassen. Sie können den Arbeiter nicht die Fabrik leiten lassen, es würde nicht funktionieren.“

„Sie meinen also, die Arbeiter hätten keine Ahnung von ihrer Arbeit?“, fragte Fenian, „Glauben Sie Mister Bukowski hat keine Ahnung? Also ich glaube, er hat mehr Ahnung als alle Bosse dort oben zusammen. Und weil er hier unten vor Ort ist, kann er mit Sicherheit sinnvollere Entscheidungen treffen, als irgendjemand sonst.“

„Und ruiniert damit die Gesellschaft!“, meinte Meyer.

„Ich habe nicht den Eindruck, dass Mister Bukowski nicht mit Geld umgehen kann“, sagte Fenian.

„Wollen Sie ihn also zum neuen Chef ernennen? Ich fürchte nur, dass er, wenn er den Betrieb erhalten will, keine anderen Entscheidungen treffen kann wie die Männer, die heute in der Verantwortung stehen. Sehen Sie, sie können fruchtbares Land an die Wilden verteilen, wenn diese aber nichts von Landwirtschaft verstehen, werden sie verhungern und wenn sie was davon verstehen, etablieren sie das gleiche System, das wir heute schon haben. Es gibt keine Alternative.“

„Seltsam, dass die Wilden, wie Sie sie nennen, hier Jahrtausende lang gelebt haben, ohne dass sie einander ausgebeutet haben“, sagte Fenian.

Sam Meyer lachte müde: „Sie hängen ein paar romantischen Märchen nach, Mister Mac.“

„Und Sie sind ein Faschist!“, sagte Fenian.

„Ich bin Realist. Ohne Ausbeutung gibt es keinen Fortschritt. Und ohne Fortschritt geht es auch den Ausgebeuteten nicht besser. Und wenn wir die ehemals Ausgebeuteten zum Ausbeuter machen, gibt es bald weder Fortschritt noch Besserung. Dann sind wir alle gleich und alle verdammt. Die Reichen, Erfolgreichen und Mutigen tragen die Welt auf ihren Schultern und sie werden nicht bereit sein, sie länger zu tragen, wenn wir ihnen alles wegnehmen, was sie dazu veranlasst, sich weiter anzustrengen. Sie müssen die Möglichkeit haben, zu profitieren, denn sonst ist jegliche Mühe umsonst.“

Fenian verzog das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln: „Die Reichen tragen die Welt auf ihren Schultern? Ist das Ihr Ernst? Ohne die Arbeit und die Anstrengung abertausender Lohnsklaven ginge in diesem Land rein gar nichts! Leute wie Gene Winters hier tragen die Welt auf ihren Schultern und wenn man ihnen Essen, Wohnung und Gesundheitsversorgung versagt, werden sie irgendwann zusammenbrechen oder hinschmeißen! Was glauben Sie passiert, wenn alle Lohnempfänger die Arbeit niederlegen? Sie können das Land lahmlegen. Ein paar beleidigte Industrielle, die ihre Firmen vorsätzlich gegen die Wand fahren oder liquidieren, machen mir da weniger Angst. Aber ich sag Ihnen noch was: Ich verstehe Ihr Argument. Wer zu dumm ist, sich selbst zu versorgen, ist auf Führung angewiesen. Halten wir die Nigger dumm, dann dürfen sie nicht wählen! So denken Sie doch! Halten wir die Landarbeiter dumm, dann werden sie es nicht wagen, nach eigenem Land zu verlangen! Halten wir die Industriearbeiter dumm, dann werden sie nicht wagen, ihre Fabriken zu übernehmen! Sie halten die Menschen in Angst vor sich selbst, damit sie zögerlich und vorsichtig sind und nicht in Frage stellen, was mit ihnen gemacht wird. Aber das wird nicht mehr ewig gut gehen. Die Menschen werden nach besserer Bildung verlangen, weil sie sehen, dass sie nur mit Wissen weiter und aus ihrem Elend herauskommen und wenn Sie ihnen diese Bildung nicht gewähren, dann werden sie sie sich selbst aneignen und dann werden sie sich gegen Sie wenden, Mister Meyer. Und dann reicht Ihnen eine verrostete Flinte und ein hoher Zaun nicht aus, um sich zu verteidigen! Und wenn Sie dann jammern, dass das alles ungesetzlich ist und niemand Ihr Eigentum achtet, dann wird man Sie auslachen, denn es wird andere Gesetze geben, die das würdevolle Leben höher ansehen als das Privateigentum und dann werden Sie arbeiten, weil sie Teil einer Schicksalsgemeinschaft sind und nicht, weil sie fürchten, zurückzubleiben. Dann wird das Leben kein Wettrennen mehr sein, sondern eine zielgerichtete Forschungsreise zum Wohle aller.“

„Wenn es keine Gewinner mehr gibt, wird niemand mehr angespornt sein, irgendetwas zu tun“, sagte Meyer schulterzuckend.

Fenian ließ dem Gardisten das letzte Wort und sonnte sich in den Gefühl, dass jetzt alle hier wussten, dass er der bessere Sänger war.

„Also ich muss schon sagen, das ich glaube, dass ein Unternehmer von einem besonderen Menschenschlag sein muss. Nicht jeder kann einen Betrieb organisieren und am Laufen halten. Sowas muss man gelernt haben“, meinte Harry Turner.

„Und Sie glauben nicht, dass zum Beispiel Sie das lernen können?“, fragte Fenian.

„Doch natürlich kann ich es lernen. Ich will es ja lernen. Ich glaube nur nicht, dass ich heute schon dazu in der Lage wäre. Man muss klein anfangen.“

„Die Erben dieser Gesellschaft fangen nicht klein an“, wand Fenian ein.

„Aber die wachsen hinein in die Verantwortung, wie… wie ein Kronprinz.“

Fenian verdrehte die Augen, aber der Vergleich passte. Er fragte sich nur, wieso niemand ihn in Frage stellte. Die USA hatten sich von einem König unabhängig erklärt. Das war der Gründungsmythos dieser Nation. Wieso redete jetzt ein junger Mann wie Harry Turner von Kronprinzen, die ihre Position rechtmäßig ererbten und die Verantwortung für viele hundert Untertanen… Arbeiter übernahmen?

„Wenn Sie in einer irischstämmigen Familie aufwachsen“, sagte Fenian, „wirkt ein solcher Vergleich ein wenig seltsam. Ich meine, sind wir nicht alle Republikaner, wer wir Erbfolgen und Dynastien ablehnen? Sollte nicht jeder die gleichen Chancen und Möglichkeiten haben? Wollen wir wirklich, dass es ein paar Privilegierte gibt, die uns herum schubsen, einfach weil sie in diese Familie hineingeboren wurden und wir in jene? Finden Sie das gerecht?“

„Ich finde, Neid ist keine sinnvolle Grundlage für eine Gesellschaft, die aufeinander angewiesen ist“, sagte Gene Waters, „Es ist doch nichts dabei, wenn manche einen besseren Start haben, es ist ja nicht so, als wären alle anderen deshalb chancenlos. Es ist nicht die Schuld des Reichen, dass er reich ist.“

„Aber es ist seine Schuld, dass andere arm sind“, meinte Fenian.

„Kommen Sie, hören Sie auf damit, das ist billig!“, sagte Sam Meyer immer noch genervt, was Fenian immer noch freute.

„Wieso?“, fragte er, „Armut definiert sich doch in der Relation zum Reichtum.“

„Und Reichtum zur Armut“, sagte Meyer, „Überschätzen Sie mal den Luxus der Unternehmer nicht. Die meisten sind bis über beide Ohren verschuldet. Im Grunde ist unser guter Gene hier um Zehntausende von Dollars reicher als sein Boss.“

„Sie meinen, von Null Dollar kann man besser leben als von Minus 90.000?“, fragte Fenian, „Da kennen Sie aber die Banken schlecht. Wenn Sie denen hundert Dollar schulden, pfänden sie Ihnen Ihr letztes Hemd vom Leib. Wenn Sie denen hunderttausend Dollar schulden, geben sie Ihnen noch mal hunderttausend, weil sie Angst haben, dass Sie nicht mehr zahlen können. Sehen Sie, wenn Mister Winters Schulden hat, dann schläft er nicht mehr. Wenn sein Boss Schulden hat, schläft die Bank nicht mehr.“

„Phrasen, Mister Mac.“

„Wahrheiten. Sie kommen aus Arkansas, nicht wahr? Von wo genau?“

„Meine Familie besitzt eine Farm und sie arbeitet hart. Niemand von ihnen hat sich je beschwert und niemand war je auf die Almosen eines anderen angewiesen“, sagte Meyer nicht ohne Stolz.

„Und das Land gehört ihnen selbst? Und die Ernten sind in Ordnung? Was werden sie tun, wenn eine Dürre einsetzt? Was werden sie tun, wenn sie neue Gerätschaften anschaffen müssen? Was werden sie tun, wenn die Landarbeiter streiken? Was werden sie tun, wenn die Preise fallen? Was werden sie tun, wenn die Zinsen steigen? Wie sicher sind Sie sich der Sicherheit Ihrer Familie?“

Sam Meyer antwortete nicht. Fenian ahnte, dass die Aussage, dass Meyers Familie sei auf niemanden angewiesen, eine Lüge gewesen war. Er stellte sie sich vor wie in diesem lächerlichen Kinderlied von einer Hymne. Tüchtig, ja. Rotwangig, stolz, auf fruchtbarem Land in mildem Klima, die Farben der Natur satt und leuchtend. Ein zufriedener Blick, Anerkennung für die eigene Leistung. Die Ernte beinahe reif, die Zukunft rosig. Werte, die bewahrt werden, schützen vor den Stürmen ungewisser Entwicklungen. Und dann sind da die anderen, das andere Arkansas, die Landlosen, die Landarbeiter, denen es heute nicht besser ging als vor hundert Jahren, als noch nicht „Landarbeiter“ hießen sondern Sklaven. Wie frei waren sie, wenn sie immer noch für diejenigen arbeiteten, für die schon ihrer Eltern- und Großeltern gearbeitet hatten, die in den gleichen Hütten gelebt hatten und das gleiche Essen bekamen, nur dass sie es damals nicht bezahlen mussten? Wie frei waren sie, wenn sie immer noch verprügelt, verjagt und ausgegrenzt wurden, wenn man ihnen Rechte vorenthielt? Welche Farben konnten sie sehen? Was interessierte sie der Ertrag der Ernte? Nichts davon gehörte ihnen und ihren Lohn erhielten sie, egal ob sie viel oder wenig arbeiteten. Sie hatten keine Chance, jemals aufzusteigen. Niemand, der mit nichts geboren wurde, hatte eine Chance in diesen Zeiten. Das war Gene Waters Denkfehler.

„Hören Sie auf damit!“, meldete sich plötzlich Greg Winters, „Was geht Sie meine Finanzsituation an? Und was nutzt Ihnen diese Analyse?“

Fenian entschuldigte sich und sagte zu Sam Meyer: „Ich frage mich wirklich, wie für Sie ein idealer oder zumindest ein akzeptabler Mensch aussieht. Sie wissen zu allem und jedem gleich eine Bewertung, wissen sofort, was jeder falsch macht und woran sein Scheitern liegt. Sie sind so schnell mit Schuldzuweisungen bei der Hand, dass ich glaube, sie blicken auf alles herab, das nicht genau ihnen selbst entspricht.“

„Ihre Schuldzuweisungen sind nicht weniger pauschal und voreilig, aber ich will Ihnen antworten Mister Mac in der Hoffnung, dass Sie was lernen.“

„Nur zu“, sagte Fenian, „Vielleicht können wir alle noch was lernen.“

„Freiheit, Mister Mac, darum geht es. Sie wollen die Menschen knechtschaften mit unnötiger Bürokratie. Sie legen denen Steine in den Weg, die die Gesellschaft voranbringen und hemmen damit insgesamt den Fortschritt. Und von Stagnation oder sogar Rezession profitiert am Ende niemand, auch Ihre Arbeiter nicht. Sehen Sie, es ist nicht sehr schwer, wenn man die Augen nicht vor ein paar simplen Tatsachen schließt und hier sollte auch unser Laienprediger gut aufpassen: Wir können die Wirklichkeit nicht verbiegen. Ein A ist ein A. Existenz existiert und wir sind in der Lage diese Existenz wahrzunehmen und zu verstehen. Verständnis ist Bewusstsein, es wächst mit unserer Erfahrung und wird genauer. Verstehen Sie, was ich sagen will? Die Welt ist berechenbar. Wir und alles, was existiert ist dem Kausalprinzip unterworfen, das heißt: Jede Handlung hat eine Wirkung und jede Wirkung hat eine Ursache.“

„So argumentieren auch alberne Gottesbeweise“, winkte Fenian ab, „Das ist Wortklauberei. Existenz existiert… Das einzige, bei dem Sie sich sicher sein können, ist, dass Sie etwas wahrnehmen, das Sie für existent halten. Existieren Träume? Existieren Ideen? Existieren Gedanken oder Gefühle? Existiert ein Geräusch, wenn niemand die Schallwellen misst? Sie haben eine Ahnung, aber nie Gewissheit. Bewusstsein, bedeutet, sich dieser Fehlbarkeit gewahr zu sein. Bewusstsein ist kritisches Denken und kritisches Denken ist Identität, denn Identität, ist das, was uns voneinander unterscheidet. Unsere Schlussfolgerungen, unsere Erfahrungen und unsere Definitionen. Für Sie ist ein A vielleicht ein A. Für einen Analphabeten ist es bedeutungslos, bis er Lesen und Schreiben lernt und wenn wir einen Code definieren, ist ein A vielleicht ein B oder ein C. Wir sind es, die Bedeutungen definieren, wir finden sie nicht. Sie sind nicht gottgegeben. Sie können mir Eigenschaften zuweisen, die ich zurückweisen würde, trotzdem glauben Sie weiterhin an ihre Version meines Charakters. Aber wer kann schon die echte Wahrheit ausdrücken? Die Realität ist komplexer als das, was sie wahrnehmen, Mister Meyer, die beinhaltet zum Beispiel auch meine Wahrnehmung, die sich Ihnen womöglich nicht erschließt. Wer aber kann sagen, welche unserer beiden Vorstellungen richtige und welche falsch ist? Sie können die Zukunft nicht berechnen, Mister Meyer. Sie ist zu chaotisch.“

„Wenn ich einen Motor baue, so weiß ich, wie er funktioniert und warum und ich kann ich nochmal bauen und er wird auf die gleiche Weise funktionieren und ich kann ihn in Serie herstellen lassen und er wird immer gleich funktionieren“, sagte Meyer, „Sie müssen lernen und erfahren, dann können Sie selbst schöpfen. Die Welt existiert unabhängig vom Inneren Ihres Kopfes. Wünschen wird nichts geschehen lassen.“

„Kommt darauf an, was sie geschehen lassen wollen. Ein Wunsch kann in Ihnen Wohlbefinden auslösen.“

„Ein Wunsch kann keinen Motor bauen.“

„Ein Motor verschafft mir kein Wohlbefinden!“, sagte Fenian.

„Wirklich nicht?“

„Nein!“, beteuerte er.

„Sehen Sie, ich glaube, Sie liegen falsch, wenn Sie glauben, unsere Sinneseindrücke würden uns betrügen oder wir würden uns selbst betrügen. Unsere Augen sind Werkzeuge. Sie liefern uns Informationen, aus denen wir automatisch notwendige Schlussfolgerungen ziehen. Sie sind notwendig, weil sie dem Kausalprinzip unterworfen sind. Wir sehen, dass Kohle brennte, wir schlussfolgern, dass wir mit unsere Häuser mit Kohleöfen heizen können. Es ist nicht so, dass Kohle nur Dienstags und Donnerstags brennt oder wenn sie gerade Lust dazu hat. Wir sehen es, wir lernen es, wir können uns darauf verlassen.“

„Und doch können unsere Schlussfolgerungen falsch sein“, sagte Fenian.

„Dann müssen wir sie korrigieren, sobald wir das feststellen“, meinte Meyer, „Der ideale Mensch erkennt seine Fehler und merzt sie aus, statt der Umgebung Fehlerhaftigkeit zu unterstellen und die Umstände ändern zu wollen.“

„Sie sagen also, der Betrieb und die Art und Weise, wie er geführt wird, beruht auf…“

„Dem Kausalprinzip. Er hätte sich nicht anders entwickeln können und deshalb ist seine Entwicklung richtig und gut. Leben Sie in der Wirklichkeit, Mister Mac, nicht in einer Illusion!“

„Trotzdem können Sie träume und Gedanken nicht kalkulieren, auch keine Gefühle. So viel hängt voneinander ab. Denken Sie nur mal daran, wie unterschiedlich Ihre Gemütslage und Leistungsfähigkeit sind, wenn sie einen Nacht lang gut oder schlecht geschlafen haben. Ein wiederkehrender, unkontrollierbarer Alptraum kann Ängste und somit Ihre Persönlichkeit prägen.“

„Sie reden von krankhaften Anomalien“, sagte Sam Meyer.

„Aber jeder von uns ist anormal. Niemand entspricht dem Durchschnitt“, warf Gene Waters ein, „Ein Mensch findet zu Glauben, der nächste nicht. Ein Mensch ist Christ, der nächste Jude. Entscheidend für unsere Identität ist doch auch, wohinein wir geboren werden, welchen Weg wir gehen und welche Erfahrungen wir machen. Und ein Arbeiterkind macht nun mal andere Erfahrungen als ein Unternehmerkind. Ist das Ihre Art der Vorherbestimmung, Mister Meyer? Wenn ja, halte ich sie für sehr abstrus. Sind Sie schicksalsgläubig?“

Fenian antwortete für Meyer: „Nach allem, was er sagt, scheint er zu glauben, dass man mit Mathematik das Schicksal bestimmen, es mit Handeln aber nicht ändern kann.“

„Ich glaube lediglich, dass es Fakten gibt“, sagte Meyer, „Und wir sind in der Lage, diese Fakten zu erkennen. Wahrheiten werden entdeckt, Mister Mac, nicht definiert. Und man entdeckt sie, indem man beobachtet und abstrahiert.“

„Ohne Definitionen kommen Sie nicht weiter. Sie können ja mit niemandem kommunizieren, wenn Sie keine Definitionen zu Grunde legen“, warf Fenian ein.

„Sie definieren, nachdem sie erkannt haben, nicht umgekehrt“, sagte Meyer.

„Aber Sie können Wahrheiten nicht zu 100% erfassen und darlegen. Fakten haben unterschiedliche Wirkung auf unterschiedliche Personen, die werden unterschiedliche bewertet und gewichtet und interpretiert. Beobachtung und Experiment geben nur Hinweise, sind aber keine endgültigen Beweise. Abstraktionen können falsch oder ungenau sein. Ihr Mensch wäre eine Maschine, Mister Meyer, niemand wir mit diesen Voraussetzungen geboren.“

„Natürlich ist der Mensch fehlbar“, gestand Sam Meyer ein, „Aber er kann Gewissheit erlangen, weil es Gewissheit gibt.“

„Ich glaube, Ihre Prämisse ist falsch“, sagte Caleb Bukowski, „Es ist nicht alles berechenbar.“

„Lassen Sie ihn doch mal!“, sagte Harry Turner, „Mich interessiert, was er daraus schließt.“

„Ich glaube anders herum wird ein Schuh draus“, meldete sich Greg Winters, „Der Mensch ist fehlbar und deshalb sind alle vermeintlichen Gewissheiten nur Hypothesen.“

„Sie geben zu schnell auf“, sagte Meyer, „Wenn Sie nicht glauben, dass sie echte Wahrheiten begreifen könne, wieso tun Sie dann überhaupt irgendwas? Woher wissen Sie, dass es gut ist, was Sie tun?“

„Wenn es nach Ihrer Hypothese geht“, sagte Fenian giftig, „sind auch menschliche Handlungen dem Kausalprinzip unterworfen und berechenbar. Sie können sich also gar nicht anderes entscheiden als so, wie Ihre Prägung es verlangt.“

„Aber Sie sind sehr wohl in der Lage, zu entscheiden, oder nicht?“, fragte Fenian, „Leben Sie in der Praxis, nicht in der Theorie!“

„Sie glauben vielleicht nur, sich entscheiden zu können“, meinte Fenian.

„Sie glauben also, es gäbe so etwas wie ethisches Handeln nicht?“

„Ich gehe von völlig anderen Voraussetzung wie sie aus“, sagte Fenian, „Aber ich stimme Ihnen zu. Es gibt kein ethisches Handeln, das gut ist für jeden. Sie können nur verteilen, was Sie anderen genommen haben. Jeder empfindet jedoch etwas anderes als gerecht.“

„Sie wollen immer nur verteilen, Mister Mac. Sie müssen ermöglichen, das ist Ihr Denkfehler. Der ideale Mensch handelt ethisch, indem er eigenständig entscheidet, das zu tun, was ihm selbst zu Gute kommt.“

„Was ist also Ihrer Meinung nach gut?“, fragte Gene Waters.

„Das liegt doch auf der Hand, oder nicht? Es gibt nur Schwarz oder weiß. Leben oder Tod. Gut oder schlecht. Das Leben ist gut, der Tod ist schlecht. Darauf lässt sich alles zurückführen.“

„Oh, das ist aber an den Haaren herbeigezogen!“, befand Greg Winters.

„Ja“, sagte Fenian, „Nur weil etwas ist, heißt das ja nicht, dass es gut so ist.“

„Ich weiß, Sie sind alle gegen mich hier, aber das ändern nichts an der Richtigkeit. Wie viele von Ihnen wollen gerne sterben? Wie viele würden alles tun, um am Leben zu bleiben?“

„Wieso wollen Sie alles immer bewerten?“, fragte Caleb Bukowski.

Nur Gene Waters schwieg. Er hatte offensichtlich Probleme, einen echten Kritikpunkt an Meyers These zu finden. Schließlich sagte er: „Das Leben ist heilig. Es gilt, es zu schützen. Das ist ein ethischer Grundsatz, dem ich mich anschließe.“

„Sie nennen es heilig. Ich nenne es natürlich. Das Streben nach Leben ist natürlich und menschlich. Demnach ist der Mensch per se gut. Das wundert Sie was, Mister Mac? Ich halte Sie für gut. Sie alle“, sagte Sam Meyer.

„Und das, obwohl ich mich in Lebensgefahr gebracht habe?“, fragte Fenian.

„Ich halte Sie theoretisch für gut, praktisch sind Sie ein Schweinehund“, präzisierte Meyer.

„Leben Sie in der Praxis, nicht in der Theorie!“, erinnerte Fenian.

„Seien Sie nicht so giftig, Mister McKenna“, bat Gene Waters, „Ich finde, er hat Recht. Das Leben erhalten zu wollen, ist natürlich und gut.“

„Sagt der Mann mit der Flinte“, kommentierte Greg Winters.

„Diese Flinte schützt mehr Leben als es bedroht“, sagte Meyer.

„Das stelle ich in Frage“, sagte Fenian, „Verurteilen Sie also Selbstmörder? Oder das Töten unheilbar Kranker, die Sie vorhin noch sich selbst und dem Tode überlassen wollten?“

„Was verloren ist, ist verloren. Weinen Sie dem nicht nach, wenn Sie nicht betroffen sind.“

„Wieso müssen Sie sich in die Privatangelegenheiten der Leute mischen?“, fragte Fenian, „Was geht es Sie an, ob sich jemand umbringen will? Wie kommen Sie dazu, das als schlecht zu bewerten?“

„Finden Sie es denn gut?“, fragte Gene Waters.

„Ich finde es gar nicht“, sagte Fenian, „Es geht niemanden etwas an. Was Mister Meyer hier betreibt, ist Bevormundung Für jemanden, der sich auf die Freiheit beruft, ist das entlarvend!“

„Sie werden niemals frei sein, wenn sie nicht überleben“, sagte Sam Meyer und warf einen traurigen Blick durch den dunklen Stollen, indem sie sich befanden, „Sie müssen Ihren Verstand zu einem Werkzeug ausbilden, denn Unwissenheit und Irrtum sind gefährlich und nutzlos.“

„Und schon wieder definieren Sie nichts. Was ist Irrtum?“

„Das, was uns schadet, Mister Mac. Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind!“

„Muss Wissen denn immer etwas nutzen? Kann an sich nicht daran erfreuen, auch wenn es…“

„Wozu? Handeln Sie effektiv, dann haben Sie mehr von Ihrem Leben“, fiel ihm Meyer ins Wort.

„Sie weisen Menschen unterschiedliche Nützlichkeit und damit einen unterschiedlichen Wert zu“, rief Fenian, „Damit stellen Sie die Menschenwürde in Frage. In Ihren Augen ist Leben unwert, wenn es sich nicht selbst erhalten kann. Was ist das? Gesellschaftsdarwinismus? Sie halten Hilfe für Ressourcenverschwendung, ich halte sie selbst für eine Ressource.“

„Aber was ist denn ein Wert?“, wollte Sam Meyer wissen, „Sie definieren genauso unsauber, wie sie es mir unterstellen.“

„Werte haben verschiedene Bedeutung, weil verschiedene Menschen verschiedene Werte vertreten“, sagte Fenian, „Sie pervertieren den Individualismus, indem Sie jedem sagen, was gut für ihn ist.“

„Ein Wert ist etwas, für dessen Erlangen man handelt“, sagte Meyer.

„Das ist banal!“, behauptete Fenian, „Ein Streik ist auch eine Handlung und Würde ist ein Wert. Verweigerung und Streben haben verschiedene Ziele. Nichts davon ist berechenbar oder eindeutig zu bewerten.“

„Sie sägen an dem Ast, auf dem Sie sitzen, Mister Mac, Sie merken es nur nicht. Woher soll das Geld kommen, das sie verlangen, wenn Sie die Wirtschaft lahmlegen, wie Sie es fordern?“

„Da hat er einen Punkt“, fand Harry Turner.

„Dinge zu akzeptieren macht aus uns das Gegenteil von einem mündigen Bürger“, sagte Fenian, „Um etwas zu verändern, müssen Sie unbequem sein und zeigen, dass auch sie Macht haben und die einzige Macht, die wir haben, ist unsere Arbeitskraft. Ich glaube einfach nicht, das Egoismus eine Tugend ist.“

„So wie ich Sie einschätze, glauben Sie an gar nichts“, erwiderte Sam Meyer, „Und das unterscheidet uns vor allen Dingen. Sie glauben nichts. Sie glauben nur, zu wissen.“

„Und Sie? Sie wissen besser, oder was?“, fragte Fenian.

„Ich denke einen Schritt weiter als Sie. Egoismus ist dann eine Tugend, wenn er uns zu Handlungen antreibt, die uns Helfen Werte zu erlangen.“

„Ist das nicht eine Kreisargumentation?“, fragte Gene Waters, „Ein Wert ist etwas, wofür man handelt, eine Tugend ist eine solche Handlung, also ist jeder Wert akzeptabel und jede Handlung eine Tugend, nur dass niemand nach dem Motiv fragt, oder die Handlung an sich hinterfragt. Ich meine, nach dieser Logik kann alles eine tugendhafte Handlung sein, wenn es Ihnen persönlich nützt: Ein Mord, Betrug, Unterdrückung.“

„Sklaverei“, fügte Fenian hinzu.

Sam Meyer schenkte ihm ein mildes Lächeln: „Sie haben nicht das Recht, zu töten.“

„Schon wieder so eine Einschränkung in Ihrer Philosophie?“, fragte Fenian.

„Wieso interessiert es Sie überhaupt, was meine Philosophie ist?“

„Es vertreibt die Zeit“, sagte Fenian, „Und ich versuche es wirklich zu verstehen, wissen Sie. Es interessiert mich, wie diese Leute denken, die derartige Zustände verursachen.“

„Dann müssen Sie versuchen, sich selbst zu verstehen“, sagte Meyer.

„Sie machen es sich sehr leicht mit der Schuld.“

„Und Sie machen es sich sehr leicht mit der Tugend.“

„So? Was glauben Sie denn, halte ich für eine Tugend?“, fragte Fenian.

„Sie halten Zerstörung und Tod für Tugenden“, meinte Sam Meyer, „Sie machen es sich passend, wie Sie es brauchen, Sie haben keine Grundsätze. Bei Ihnen kann alles einfach alles bedeuten und wenn etwas nicht funktioniert, drehen und wenden Sie es so, bis jemand anderes schuld ist.“

„Und Ihre Grundsätze?“

„Vernunft, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein, Fokussierung, Effektivität, Integrität, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Stolz, Produktivität“, sagte Sam Mayer.

„Phrasen!“, rief Fenian sofort, „Sie zählen nur schön klingende Schlagworte auf.“

„Es ärgert Sie, weil Sie die gleichen aufgezählt hätten, nicht wahr?“

„Ich hätte Unabhängigkeit gesagt“, sagte Fenian, „Jeder Mensch sollte selbst entscheiden können, welchen Werten er folgt.“

„Na, dann frage ich mich, wieso Sie so ein großes Problem mit meiner Auswahl haben.“

„Weil Sie nicht von Ihrer persönlichen Überzeugung sprechen, sondern von der, die Sie jedem Menschen überstülpen wollen. Es geht um den idealen Menschen, nicht um Sie!“

„Ich halte mich für recht nahe dran“, sagte Sam Meyer.

„Und sind Sie deshalb besser als jemand, dessen Grundwerte anders lauten? Familie, Gemeinschaft, Frieden, Selbstverwirklichung zum Beispiel. Oder wenn wir Mister Turner nehmen: Ein luxuriöses Leben, Erfolg. Für Mister Winters ist es vielleicht Gesundheit und für Mister Bukowski Bescheidenheit. Dinge, für die wir gerne in den Spiegel blicken. Ihr Egoismus ist gegen ein Kollektiv im Nachteil.“

„Mister McKenna, stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. Das sage ich Ihnen jetzt zum zweiten Mal. Sich einem Kollektiv anzuschließen kann für das Individuum einen Vorteil darstellen, aber dann ist seine Handlung immer noch egoistisch motiviert.“

„Trotzdem sind Sie nicht bereit Kompromisse einzugehen“, wand Fenian ein.

„Sie denn?“

„Wenn wir das verraten würden, wären wir doch gleich im Nachteil. Die Gewerkschaft fordert, der Betrieb muss reagieren“, sagte Fenian.

„Es ist also alles nur Taktik, keine echte Überzeugung und es sind keine echten Forderungen“, stellte Sam Meyer fest.

„Ich glaube, Sie bevorzugen eher die brachialeren Methoden.“

„Sie natürlich nicht…“

Fenian ging nicht mehr darauf ein und erwiderte stattdessen: „Ihre Besessenheit, alles zu beurteilen und einzuordnen, kann sich ebenfalls nachteilig auswirken. Wenn Sie zum Beispiel jemanden verletzten oder aufhetzen oder Sie geraten selbst ins Abseits. Mir scheint außerdem, Sie propagieren hier einen uneingeschränkten Wettbewerb jeder gegen jeden.“

„Was finden Sie schlecht daran? Wettbewerb erzeugt Druck. Unter Druck entstehen Innovationen.“

„Und viel Müll. Es ist Kraftverschwendung und außerdem eine Illusion. Jedes Unternehmen strebt doch danach, dem Wettbewerb zu entgehen. Und so geht es auch Menschen. Niemand will sie ständig mit jedem bekriegen. Lieber konzentriert man sich auf das, was man kann, um besser zu werden.“

„Aber welchen Ansporn sollte man dazu haben?“, fragte Sam Meyer, „Sie können Leute nicht nach Bedürftigkeit bezahlen. Leistung muss der Maßstab sein.“

„Und Angst ist der Motor“, sagte Fenian.

„So ist das Leben“, meinte Meyer nur lapidar.

„Wir können es gestalten“, erwiderte Fenian, „Ihre Form der Strebsamkeit befördert, den Aufstieg von Eliten, die andere Unterdrücken. Waren Sie nicht mal für Freiheit?“

„Freiheit bedeutet nicht Gleichbehandlung. Es bedeutet Chancengleichheit.“

„Die ist doch aber unrealistisch in einem System, indem eine Elite die Macht und das Eigentum für sich behält. Sie könnten außerdem auf die Idee kommen, dass es für sie am vorteilhaftesten ist, wenn sie ihren Untergebenen Wissen vorenthalten. Die Macht dazu haben Sie. Ihr System ist totalitär, aber Sie waschen sich Ihre Hände in Unschuld, weil sie glauben, alles sei automatisch so passiert, weil es berechenbar und unabänderlich ist.“

„Ich halte Sie für zynisch, Mister Meyer“, fand Gene Waters

„So, finden Sie? Haben Sie nicht vorhin gemeint, ich würde Gewalt gutheißen? Das Gegenteil ist der Fall. Sie ist ein Laster und ich sage das aus vollster Überzeugung. Fragen Sie mal unseren Mac, wie er das sieht? Er findet bestimmt, dass man das situationsabhängig machen muss.“

„Sie winden sich um die Frage, wer angreift und wer verteidigt“, sagte Greg Winters dumpf, „Was ist schon Gewalt? Jemanden verhungern lassen oder ein Brot stehlen?“

„Mein Problem ist“, sagte Fenian, „dass Sie angeblich für die Freiheit sind, den Leuten aber ständig verschreiben, was sie denken, tun oder wonach sie streben sollen. Sie wollen abstrahieren, nehmen aber Ihre eigene Prämisse nicht ernst und schränken die logischen Schüsse aus Ihren Forderungen ein.“

„Was finden Sie unlogisch an der Forderung, dass jeder gemäß seiner Leistung profitieren soll? Jeder bekommt, was er verdient. Wir sind Nutznießer unseres eigenen Handelns. Wenn das nicht Freiheit ist, weiß ich es nicht.“

„Menschen bleiben auf der Strecke“, meinte Gene Waters, „Ferner können Sie bestimmte Gefühle nicht rational kontrollieren. Selbstlose Liebe, Mitleid oder Sympathie, Menschen, die Hilfe brauchen, versagen Sie diese, weil sie davon keinen Nutzen haben. Aber das ist völlig unrealistisch. So ist der Mensch nicht.“

„Und was ist mit kranken Menschen, die geheilt werden könnten, sich aber keinen Arzt leisten können?“, warf Greg Winters ein.

„Und was ist mit Menschen, die Skrupel haben“, fiel Fenian ein, „Sie werden übervorteilt werden von denen, die bereit sind, zu unterdrücken, zu versklaven, zu vertreiben und zu zerstören. Das Gute setzt sich nicht durch, wenn der Schnellste und Rabiateste siegt.“

„Skrupel sind Fehler“, befand Meyer.

„Und der Mensch ist fehlbar“, erinnerte Fenian.

„Und aus Fehlern kann man lernen.“

„Das ist mir zu dünn“, meinte Fenian.

„Wieso?“, wollte Harry Turner wissen, „Wenn alle fehlbar sind, ist die Chancengleichheit doch wieder hergestellt. Jeder hat die gleichen Chancen es zu verbocken.“

„Nur fragt sich, ob das Verbocken wirklich ein Verbocken war. Erfolg kann sich erst langfristig zeigen. Mister Meyer ist aber auf kurzfristigen Profit aus“, sagte Fenian.

„Wer sagt das? Das implizieren Sie. Leben Sie im Jetzt, das habe ich gesagt, aber irgendwann ist die Zukunft das Jetzt und dann lacht derjenige, der auf langfristigen Erfolg gesetzt hat.“

„Wenn er dann noch da ist und nicht aufgefressen wurde.“

„Sie immer mit Ihren Metaphern, Mister Mac“, Meyer lachte müde.

„Halten Sie eigentlich unterlassene Hilfeleistung für Gewalt?“, wollte Fenian wissen.

Sam Meyer drückte sich vor der Antwort und druckste ein wenig herum. Dann sagte er: „Es ist dumm, denn wer hilft, dem wird geholfen. Hilfe kann eine rationale Tat sein. Sie kann also eine Tugend sein.“

„Und ein Laster? Wenn es keine Hoffnung auf eine Erwiderung der Gefälligkeit gibt?“, fragte Greg Winters.

„Nun…“

„Das sind dann wohl die hässlichen Seiten Ihrer Philosophie“, befand Caleb Bukowskis.

„Alles hat hässliche Seiten. Das Leben ist kein Wunschkonzert“, sagte Sam Meyer, „Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, Sie müssen sich mit diesem Fakt arrangieren.“

„Mister Waters hat Recht, Sie verkennen den Einfluss von Emotionen“, sagte Fenian, „Kein Verstand der Welt ist in der Lage, Gefühle zu ignorieren.“

„Gefühle dürfen den Verstand nicht behindern. Sie können uns allerdings helfen, zu bewerten und uns motivieren.“

„Sie nutzen Ihren Verstand und Ihre Gefühle als Werkzeug“, schloss Gene Waters, „Was ist denn dann noch übrig, das Sie erhalten und schützen wollen? Ein Körper ist schließlich auch nur ein Hilfsmittel. Aber zu welchem Zweck?“

„Leben“, sagte Meyer.

„Wie wertvoll ist ein Leben, das nur aus Werkzeugen zum Selbsterhalt besteht? Sind wir nicht mehr als die Summe unserer Teile?“

„Sie fragen nach dem Sinn des Lebens, Mister Waters? Da ist keiner außer dem Leben selbst. Oder wollen Sie etwa sterben?“

„Ich finde, bei einem Punkt, hat er nicht Unrecht“, gestand Fenian, „Es ist sinnvoll, sich über Ursachen und Wirkungen von Emotionen klar zu werden. Irrationale Handlungen sind meistens schädlich.“

„Hören Sie auf Ihn, der Herr spricht aus Erfahrung“, sagte Meyer.

„Das ist aber auch eine Binsenweisheit“, sagte Caleb Bukowski.

„Dafür ist seine These, dass das Leben das einzige Lebensziel sein soll, umso kruder“, sagte Fenian.

„Das habe ich nicht gesagt. Leben ist nicht das Ziel, es ist…“

„Ein Werkzeug“, vervollständigte Fenian, „Nein. Sie meinen, dass man bereits zufrieden soll, wenn man im Elend leben darf, weil der Tod schlimmer ist. Man soll alles hinnehm, weil man schließlich auf tot sein könnte und das wäre schlimmer. Sie sagen also: Egal, was ist, es ist nicht das Schlimmste, was möglich ist. Nicht Leben sollte das Ziel sein, sondern Glück. So steht es auch in der Verfassung!“

„Da steht, jeder hat das Recht auf das Streben nach Glück, nicht das Recht auf Glück“, präzisierte Harry Turner.

„Exakt!“, bestätigte Sam Meyer, „Die dürfen Streben, aber sie haben keinen Anspruch.“

„Na, so ein Pech!“, sagte Fenian.

„Wenn Sie nicht gut genug sind…“

„Ach, reden Sie keinen Mist! Wer bekommt denn in diesem Land einen gerechten Lohn? Die meisten verdienen mehr, als sie bekommen und einige verdienen weniger, bekommen aber exorbitante Gehälter. Finden Sie das gerecht? Wer entscheidet, wer was verdient und bekommt? Es gibt in Ihrem System keine Kontrollinstanz, es gibt nur einen Markt.“

„Sie haben ein Problem mit dem Konzept eines Marktes. Sie wollen nicht kaufen, sondern stehlen. Das habe ich schon begriffen“, sagte Meyer.

„Ich will den Bestohlenen Ihr Eigentum zurückgeben“, sagte Fenian.

Sam Meyer schaute ihn mitleidig an: „Ich glaube sowieso nicht, dass Ihre Definition von Glück mit der anderer korreliert. Zum Glück sind die Interessen verschieden, das macht den Konkurrenzkampf erträglicher.“

„Sie meinen die Zwietracht und den Neid.“

„Ich meine, was ich sage. Eine Möglichkeit muss ausrechen. Geschenke können nicht verteilt werden, wenn andere sie erwirtschaften müssen. Neid entsteht dann, wenn einer mehr bekommt als er nach seiner Leistung verdient. Wir sollten keine Faulheit subventionieren.“

Fenian grinste: „Ich kenne ein paar Leute, die mehr bekommen, als sie verdienen und einige, bei denen es umgekehrt ist. Meinen Sie nicht, dass unter solchen Umständen, ein Streik angebracht ist?“

„Sie haben mich eben gefragt, wer entscheidet, was gerecht ist. Ich kann Ihnen eins sagen: Sie sind es nicht!“, sagte Meyer, „Niemand hat das Recht dazu.“

„Wenn man sich niemandem unterwirft“, philosophierte Fenian, „dann trägt niemand die Verantwortung für die Verelendung der Arbeiterschaft.“

„Ich habe Ihnen eben erklärt, wer die Verantwortung trägt!“, beharrte Sam Meyer.

„Demnach bin ich nicht schuld an unserer Misere hier“, sagte Fenian, „Denn: Es gibt überhaupt keine Schuld. Nur Eigenverantwortung und Schicksal.“

„Tun Sie nicht so, als wäre das ein Triumph für Sie!“, mahnte Caleb Bukowski.

„Wie soll ich es denn sonst auffassen?“

„Als eine Tat wider die Natur!“, meinte Gene Waters.

„Wider die Natur? Ich sag Ihnen, was wider die Natur ist“, erklärte Fenian, „Egoismus. Zusammenarbeit aus eigennützigen Motiven.“

„Was ist so schlecht daran?“, fragte Harry Turner, „Die Effekte sind doch die gleichen, ob man nun eigennützig oder gemeinnützig handelt. Wissen und Handel verbreiten sich so oder so.“

„Das Teilen von Wissen kann auch einen Nachteil bedeuten“, sagte Fenian, „und das Verschweigen kann einen Vorteil bedeuten. Wie entscheiden Sie nun, was sinnvoll ist? Gehen Sie nur nach der Nützlichkeit für Sie persönlich? Dann geht jede Zusammenarbeit zum Zweck des Eigennutzes mit Betrug einher, denn bedenken Sie: Bei jedem Handel muss ein Gewinn erzielt werden und jeder Gewinn, bedeutet irgendwo einen Verlust.“

„Sie sind ein chronischer Schwarzmaler und Demagoge!“, befand Sam Meyer, „Handel ist doch kein Betrug, er ist die Möglichkeit Bedürfnisse leicht zu befriedigen.“

„Die Bedürfnisse, andere zu übervorteilen“, sagte Fenian, aber Meyer winkte ab.

„Es ist aber doch so, dass Ihnen der potenzielle Nutzen für einen Einzelnen wichtiger ist als das Allgemeinwohl, oder nicht?“, fragte Gene Waters.

„Die Gemeinschaft ist nur eine Gruppe aus Individuen“, sagte der Gardist.

„Und wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“, sagte Fenian.

„Sie wollen nicht verstehen, dass es eine Eigendynamik gibt, wieso verschwende ich meine Energie, es Ihnen erklären zu wollen?“

„Sie haben nichts anderes zu tun“, erinnerte Greg Winters, „Es ist völlig egal, was Sie tun, nichts davon ist nützlich.“

„Ihre Eigendynamik ist absonderlich“, sagte Fenian, „Sie wollen nichts vorschreiben, aber dafür gibt es jede Menge Verhaltensmaßregeln.“

„Sie müssen die Individualrechte schützen, sonst könnte ja jeder einfach so das Eigentum anderer Leute in die Luft jagen“, sagte Meyer, „Sie haben ein Recht auf Leben, auf Freiheit, auf Selbstverteidigung und auf Eigentum.“

„Sie legitimieren damit Betrug und Bevormundung der Gesellschaft durch Einzelne. Überleben und Möglichkeiten sollen ausreichen, nicht Sicherheit oder Wohlergehen. Dabei ist der Aufstieg nur wenigen möglich, der Rest wird einfach betrogen. Ich frage Sie, wie frei ist man wirklich in einem System ohne Sicherheit und in dem man sich im Zweifel ausbeuten lassen muss, weil man keine anderen Rechte hat als das zu existieren? Eigentum ist Diebstahl an der Gemeinschaft. Mit welchem Recht beanspruchen Sie Boden und Bodenschätze? Und: Ist Ihr Recht auf das Streben nach Glück nicht eher eine Pflicht zur Leistung?“

„Natürlich sind wir alle verpflichtet, etwas zu leisten. Diese Nation kommt keinen Schritt vorwärts aus der Krise, wenn sich die einzelnen nicht anstrengen.“

„Das sehe ich auch so“, sagte Harry Turner, „Niemand hat Anspruch auf irgendwelche Dinge ohne Leistung. Man müsste jemand etwas wegnehmen, um es einem Faulpelz zu geben.“

„Sehr richtig“, sagte Sam Meyer, „Sie haben kein Recht auf Geschenke, nur ein Recht darauf, nicht bestohlen oder angegriffen zu werden. Das nennt sich Chancengleichheit. Was Sie wollen, Mister Mac, ist die Bestrafung der Tüchtigen und die Belohnung der Faulen.“

„Keiner von diesen Männern dort oben ist faul!“, rief Fenian.

„Keiner von diesen Männern tut etwas, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.“

„Es gibt ja auch nichts zu tun“, sagte Greg Winters, „Niemand kauft Kohle. Niemand braucht sie. Also verkaufen sie sie unter Kostendeckelung.“

„Entweder tun sie das, oder sie setzen hunderte Familien auf die Straße“, sagte Sam Meyer.

„Dort, wo sie ohne hin sind“, sagte Winters, „Es macht keinen Unterschied mehr, ob man arbeitet oder nicht.“

„Eigentum ist aber genau so eine negative Einmischung wie eine absichtliche Behinderung oder ein Raub. Die Chancen sind nicht gleich. Und wenn jeder ein Recht auf Leben hat, wieso hat er dann kein Recht auf Hilfe?“, fragte Fenian.

„Sie wiederholen sich“, sagte Meyer, „Ich weiß, dass Sie einen Staat wollen, der gewaltsam umverteilt. Ich will einen Staat, der Gewalt verhindert, indem er nur die fundamentalen Rechte gewährleistet.“

„Der Staat ist doch keine Einrichtung wie eine Firma oder eine Kirche!“, fand Fenian, „Der Staat, das sind wir alle.“

„L’etat c’est moi. Die Diktatur des Pöbels. Was könnte unterdrückerischer sein?“

„Die Diktatur des Geldes zum Beispiel“, sagte Fenian, „Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft und wir müssen Verantwortung füreinander übernehmen, damit auch uns geholfen wird, wenn wir mal schwach sind. Zusammen sind wir immer stark. Solidarität fördert das Leben aller.“

„Aber ist das erstrebenswert?“

„Was reden Sie denn da?“, rief Gene Waters, „Wir dürfen niemanden im Stich lassen!“

„Sagt wer?“

Waters antwortete nicht, sondern blickte nur angeekelt in die Runde.

„Und Selbstverteidigung definieren Sie als das, was Sie und Ihresgleichen dort oben mit Männer, Frauen und Kindern anstellen?“, fragte Greg Winters.

„Ich bin hier als Vertreter der Staatsgewalt. Es geht nicht um Selbstjustiz.“

„Aber Sie arbeiten doch nur für eine Seite!“, sagte Fenian.

„Es werden ja auch nur die Rechte einer Seite verletzt“, fand Sam Meyer.

„Eigentlich sollte ein Rechtssystem die Bürger vor staatlicher Willkür schützen“, sagte Fenian, „Der Mensch hat jedoch kein Recht, die Gesellschaft zu übertölpeln, andere zu knechten und lediglich den eigenen Vorteil zu verteidigen.“

„Wieso nicht?“, fragte Meyer.

„Waren Sie vorhin nicht noch für Chancengleichheit?“

„Und das tun Sie, indem Sie es einigen Leuten vorsätzlich schwerer machen, als sie es haben müssten? Da hemmen Sie ja das System“, sagte Meyer.

„Die Vorteile der einen hemmen die Chancen der anderen“, sagte Fenian, „Und wenn Sie fragen sollten: Nein, der Staat selbst kann niemanden unterdrücken, den es ist ja nichts anderes als wir selbst, also handelt er auch in unserem Sinne.“

„In meinem nicht“, sagte Meyer, „Ich würde also von der Masse unterdrückt werden.“

„Sie können sich ja in einem Interessensverband oder einem Wohlfahrtsverband organisieren“, schlug Fenian süffisant vor.

„Wissen Sie, Mister Mac, mit Ihnen gemütlich in einem Café sitzen und eine Zigarre rauchen, das fände ich sehr unterhaltsam. Leider haben Sie uns alle in den Tod gebombt und ich kann nicht anders, als Sie mit jeder Faser meines Körpers zu verabscheuen.“

„Und wissen Sie, was mich an Ihnen nervt“, sagte Fenian, „Sie nehmen sich selbst nicht ernst, wollen aber von anderen ernst genommen werden. Wenn Sie einer entrüstet angreift, lachen Sie nur und tun so, als würden Sie Ihre menschenverachtenden Thesen gar nicht ernst meinen. In Wirklichkeit aber arbeiten Sie daran, die Mentalität und die Ansichten der Menschen subtil zu lenken.“

„Sie natürlich nicht, Mister Mac“, sagte Meyer, „Wir sind uns sehr ähnlich, das habe ich schon mal gesagt, deshalb würde ich eine Zigarre mit Ihnen sehr genießen. Ich komme sehr gut aus mit anderen Ansichten, auch wenn ich Sie nicht ernst nehme.“

„Weil Sie nichts ernst nehmen“, sagte Fenian, „Im Gegensatz zu Ihnen, geben wir jedenfalls zu, dass wir etwas bewegen und verändern wollen und dafür einen Mentalitätswechsel brauchen.“

„Einen Wechsel hin zu einem unnatürlichen, unfreien Unterdrückungssystem.“

„Einen Wechsel hin zu einem System, das jedem Menschen ein würdevolles Leben in Sicherheit garantiert.“

„Indem Sie das Land lahmlegen?“

„Ach, das hatten wir doch schon!“, sagte Fenian, „Was Sie wollen ist ein Kapitalismus, der völlig frei von Moral und Menschlichkeit ist, dabei ist Ihre Definition von Moral zu eng und zudem völlig verkrüppelt. Etwas, wie das, was Sie sich vorstellen, hat es nie gegeben, weil es nicht funktioniert. Es endet in Sklaverei oder Chaos, in Elend und Ausrottung. Offensichtlich hat sich auf natürliche Weise etwas anderes entwickelt. Offensichtlich ist etwas anderes parktischer. Sie können den Menschen nicht einreden, dass Sie zufrieden sein sollen, irgendwie leben zu dürfen. Sie können Menschen, die sich betrogen fühlen, nicht verbieten, gegen den Betrüger vorzugehen. Es ist ihnen egal, ob sie gerecht oder ungerecht handeln. Wenn sie unzufrieden sind, wird es einen Aufstand geben. Und die Menschen sind unzufrieden, wenn sie im Dreck vegetieren. Sie wissen, was in England während der Industrialisierung geschehen ist und wie es dort ausgesehen hat vor hundert Jahren?“

„Das Leben der Menschen hat sich entscheidend verbessert“, behauptete Sam Meyer.

„Ungleichheit und soziale Unruhen!“, präzisierte Fenian.

„Undank und Unrecht“, sagte Meyer.

„Eigendynamik“, Fenian griente böse, „Um in einem solchen System erfolgreich zu sein, muss man auf Kosten anderer leben. Ihr idealer Mensch in Ihrem idealen Staat ist also ein Schmarotzer.“

„Sie verkehren die Tatsachen.“

„Sie vertuschen die Tatsachen. Ich sag Ihnen, was keine Tatsache ist“, sagte Fenian, „Dass Fleiß eine Tugend ist, kann objektiv nich bewiesen werden. Es ist Ihre Meinung und Sie können niemanden zwingen, sich Ihre Meinung anzueignen. Sie schließen von Ihren Ansichten auf allgemeine Wahrheiten und einen Sinn, aber den gibt es nicht. Mister Meyer, Sie sind ein Gläubiger, kein Rationalist. Und Sie sind ein Menschenfeind. Sie glauben Altruismus schadet, dabei bedenken Sie nicht, dass Sie mit einer solchen Moral vielleicht irgendwann selbst im Stich gelassen werden. Aber das macht Ihnen nichts aus. Sie versichern sich, statt sich zu engagieren. Aber was tun die, die sich eine Versicherung nicht leisten können? Mit Geld können Sie sich ausklinken aus der Solidargemeinschaft und das finden Sie in Ordnung. Ihrer Meinung nach hat derjenige, der nicht einmal der, der schuldlos in Not gerät ein Recht auf Hilfe. Und da nennen Sie Chancengleichheit?“

„Ich sage nicht, dass es angenehm ist“, sagte Meyer, „Aber es ist das einzig gerechte System, das es gibt und geben kann.“

„Es ist das Gesetz des Dschungels!“, meinte Gene Waters, „Wir sind aber auf der Erde, um sie zu gestalten, nicht, um uns ihrer Willkür zu Ergeben.“

„Und niemand will in einem solchen System leben“, ergänzte Fenian, „Sie Arbeiter bilden Gewerkschaften, die Unternehmer bilden Kartelle. Es scheint niemand Interesse an Ihrer Chancengleichheit zu haben oder an Ihrem Wettbewerb. Er findet real nicht statt. Die Starken müssen nicht beschützt werden, Mister Meyer, sondern die Schwachen, die Erfolglosen, die Betrogenen und die Opfer. Der Effekt, dass der Profit der Reichen zu den Armen hinunter rinnt, und sie somit ebenfalls von ihrer Ausbeutung profitieren, setzt nicht ein. Vergessen Sie es! Es funktioniert nicht! Es ist kontraproduktiv. Die Ungerechtigkeit nimmt zu.“

„Da steht Ihre These gegen meine“, sagte Meyer, „Ihr gesprengter Tunnel gegen meine weiße Weste.“

„Da muss ich ihm Recht geben“, sagte Gene Waters, „Mir gefällt nicht, was er sagt, aber er redet immerhin nur, Sie hingegen, Mister McKenna…“

Fenian wollte nicht warten, bis Waters den Satz beendete und fiel ihm ins Wort: „Ja, ja. Ich weiß. Die Redner erkennt nie jemand als Brandstifter. Sie sind nie schuld. Sie wälzen die Schuld ab auf diejenigen, denen sie das Feuerzeug und die Hand gedrückt haben“

„Und Ihr idealer Mensch, Mister Mac, wie sieht der aus? Ist es der Faulpelz mit dem Feuerzeug oder was?“

„Es gibt keinen idealen Menschen, Mister Meyer, es gibt nur Menschen. Passen Sie sich an die Realität an, das haben Sie mir doch angeraten. Die Realität zeigt, dass Menschen, wenn sie unzufrieden sind, es nicht hinnehmen, dass sie im Stich gelassen und ungerecht behandelt werden. Sie haben Recht, Mister Meyer, jeder will überleben. Aber sehen Sie sich doch mal auf den Straßen um. Ist da noch Leben? Sie, ja Sie persönlich, verbreiten Angst unter den Anwohnern, Sie vertreiben Leute aus Ihren Häusern und sogar von Ihren Arbeitsplätzen, wenn sie es wagen in die Gewerkschaft einzutreten. Sie würden die Menschen verhungern lassen, weil Sie Suppenküchen für eine zu starke Belastung der Reichen erachten. Sie setzen Menschen Gefahren aus, weil Sie es für zu kostspielig halten, die Arbeitsplätze unter Tage sicherer zu gestalten. Sie betrachten Arbeitskraft als Ressource und Menschen als Werkzeuge. Fällt einer aus, gibt es genug andere, die sich schinden lassen. Wenn die Not groß genug ist, glauben Sie, kriegt man die Arbeit zu einem günstigen Preis und das nennen sie gerecht und chancengleich. Ich habe mir Ihren Sermon jetzt eine ganze Zeit lang angehört und ich kann nicht anders als angewidert sein. Vielleicht habe ich fünf Menschen und mich selbst auf dem Gewissen. Wie viele haben Sie bedroht und verletzt, vertrieben, ihrer Existenzgrundlage beraubt. Auf wie viele Leute haben Sie mit ihrer Flinte geschossen und wie vielen Leuten haben Sie Angst gemacht. Wie viele Frauen und Kinder haben Sie damit eingeschüchtert und wie vielen Menschen haben Sie suggeriert, sie hätten kein Recht für sich selbst und Ihre Bedürfnisse aufzustehen und zu sprechen? Es gibt keinen idealen Menschen, Mister Meyer, wir alle brechen irgendwann zusammen. Sei es wegen des Drucks, der Angst, des Arbeitspensums, des Hungers oder weil wir alt und krank werden. Das Leben eines Menschen ist kein Perpetuum Mobile und das Leben der Menschheit ist es auch nicht. Noch nicht einmal die verdammte Wirtschaft dieses Landes funktioniert ohne Zusammenbrüche.“

„Ihre ganze Argumentation besteht daraus, dass Sie nein sagen und das Gegenteil behaupten“, sagte Sam Meyer.

„Wenigstens geben Sie zu, dass Sie selbst nichts anderes tun, als behaupten“, erwiderte Fenian, „Aber Ihrer ganze Argumentation besteht doch darin zu sagen: Wenn wir nichts regeln, läuft es schon irgendwie, also dürfen wir nichts regeln.“

„Never change a winning system“, sagte Meyer.

„Sie wollen uns vor dumm verkaufen!“, rief Fenian, „Das System ist am Ende! Es ist gegen die Wand gefahren und was Sie tun wollen, ist, Vollgas geben! Es ergibt sich kein Sollen aus dem Sein, verstehen Sie das nicht? Nur weil etwas so ist, heißt das nicht, dass es auch gut und richtig und sinnvoll und nützlich ist. Die Natur ist grausam, Mister Meyer, und sie hat keine Interessen. Sie braucht uns nicht. Wenn sie uns vernichten, oder wenn wir uns selbst vernichten, dann existiert sie weiter, nur wir sind krepiert. Ferner ist es natürlich Unfug zu behaupten, in der Natur gäbe es keine, von Ihnen so genannte, Irrationalität. Zusammenarbeit und Solidarität ist ein ebenso wahres Naturprinzip wie das Überleben des Stärksten. Und auch für den Menschen ist das Zusammenfinden in Gruppen eine Überlebensstrategie. Gewerkschaften, Mister Meyer, sind eine natürliche Entwicklung.“

„Sie sagen es doch selbst. Der Natur ist es egal, ob und wie wir uns gegenseitig ausrotten...“, meinte Meyer, „Die Gewerkschaftsbewegung ist nur der erste Schritt auf dem Weg in die Verdammnis. Sie wissen, mit was dieser Weg gepflastert ist?“

„Ihren guten Absichten, ein rechtloses System würde wie durch Zauberei Gerechtigkeit und Wohlstand entstehen lassen“, sagte Fenian.

„Würde der Menschen einem Ideal nacheifern, hätten wir sicher eine prosperierende Wirtschaft. Leider glauben die meisten, das, was Sie ihnen erzählen: Dass es keine Ideale gibt und niemand sie je erreichen kann, weswegen Sie es nutzlos finden, ihnen nachzueifern. Das ist die Definition von Faulheit und macht am Ende diese Gesellschaft kaputt.“

„Der Glaube an Ideale macht die Menschen kaputt“, entgegnete Fenian, „Zumal natürlich nicht jeder dem gleichen Ideal folgt und Sie wissen, dass Ihr System nur das Streben nach Ihrem Ideal belohnt. Finden Sie das gerecht? Was ist zum Beispiel Ihr Ideal, Mister Turner?“

Harry Turner war es ein wenig unangenehm, in dieses Streitgespräch involviert zu werden. Er wusste nicht viel zu sagen und konnte sich nicht recht entscheiden, wem er Recht geben sollte. Sein Gefühl sagte Ihm, Sam Meyer berührte den ein oder anderen wunden Punkt, aber Fenian bewegte sich näher an der Realität, denn natürlich hatte er Recht, wenn er die Zustände auf den Straßen von Harlan beschrieb und auch die Gewerkschaftsbewegung ließ sich sicher nicht aufhalten mit dem Argument, dass all das Elend akzeptiert werden müsse.

Er sagte schließlich: „Ich denke, der ideale Mensch ist fleißig und strebsam. Dann hat er auch ein Anrecht auf ein angemessenes auskommen. Es kann nicht sein, dass Leute von ihrer Arbeit nicht leben können, es kann aber auch nicht sein, dass Leute ohne zu arbeiten genauso gut leben wie Leute, die arbeiten.“

„Und wer schuldlos nicht arbeitet?“, fragte Fenian, „Weil er ausgesperrt wird, weil er Mitglied der Gewerkschaft ist, weil er überhaupt keine Anstellung bekommt oder weil er krank oder verkrüppelt ist?“

„Ich weiß es nicht“, gab Turner zu, „Ich will nicht herzlos erscheinen, aber ich will auch nicht, dass ich für fremde Leute aufkommen muss. Ich hab doch selber nicht viel.“

„Und was ist mit Ihnen, Mister Bukowski?“, fragte Fenian, „Wie sieht ihr Ideal aus?“

„Der Junge hat Recht, wenn er sagt, dass Fleiß eine Tugend ist“, sagte Bukowski, „Ich denke, wer fleißig ist, darf nicht verarmen. Aber ich glaube nicht, dass wir eine solche Gesellschaft haben. Niemand ist dazu verdammt arm zu sein. Mein Ideal ist daher neben Tüchtigkeit auch Sparsamkeit.“

„Mister Waters?“, fragte Fenian.

„Ich denke, der ideale Mensch, ist bereit, sich für andere aufzuopfern. Selbstlosigkeit ist ebenso wie Fleiß eine Tugend. Wer arbeiten kann, hat die Pflicht, es zu tun und er hat die Pflicht, sich um andere zu kümmern“, sagte Gene Waters.

„Ihr Ideal ist also ein Sklave“, sagte Fenian und Sam Meyer nickte unmerklich.

„Mein Ideal ist Schuldlosigkeit“, sagte Waters, „Wenn ich etwas nehme, muss ich dafür etwas geben.“

„Aber Sie müssen nicht mehr geben, als sie eingenommen haben“, fand Fenian.

„Messen Sie doch nicht alles in Geld“, sagte Waters, „Ich gebe Arbeitskraft und bekomme Geld. Ich gebe Geld und bekomme Waren oder Dienstleistungen. Ich gebe diese an Bedürftige und bekomme Dankbarkeit und Freundschaft.“

„Das können Sie nicht essen“, sagte Meyer, „Davon haben Sie nichts, außer dass Ihnen abhängige Menschen am Rockzipfel hängen, die nie auf die eigenen Beine kommen werden.“

„Und doch ist es notwendig, wenn wir keine unterernährten Kinder in unseren Straßen betteln sehen wollen“, sagte Waters, „Ich gehe nicht mit Ihnen konform, was den Egoismus angeht. Egoismus nutzt niemandem. Er ist dumm und menschenverachtend. Sie laufen durch die Straßen und sehen das Elend nicht. Aber nicht, weil da objektiv keines ist, sondern will Sie es sich abtrainiert haben. Es gefällt Ihnen, dass Sie eine einfache Antwort zu diesen Fragen gefunden haben: So ist der Lauf der Dinge, niemand hat die Pflicht, einzugreifen! Sie zucken mit den Achseln und bedecken die Armen in Ihren Gedanken mit Schimpfworten, ohne ihre konkrete Situation zu kennen. Sie pauschalieren ganze Gruppen und werten sie und ihre Bedürftigkeit ab. Das gefällt Ihnen, denn offensichtlich sind Sie mit einem Bild von Menschen erster, zweiter und dritter Klasse aufgewachsen und in Arkansas pflegt man das, wie ich gehört habe, immer noch. Es wundert mich, dass gerade Sie nichts gelernt haben.“

„Woraus gelernt?“, fragte Meyer.

„Aus dem Bürgerkrieg natürlich. Die Wunde schmerzt Sie immer noch, nicht wahr? Sie halten Ihre Niederlage immer noch für ungerecht“, meinte Waters.

„Ungerecht...“, sinnierte Meyer, „Ich würde es nicht so nennen. Der ganze Krieg war unklug und er hat zu einem Ergebnis geführt, das die Unnatürlichkeit in diesem Land nur noch mehr befördert. Was bringt es, vermeintliche Rechte immer mehr auszuweiten? Sehen Sie, was uns als Recht verkauft wird, ist eigentlich eine Pflicht. Glauben Sie ein Nigger kann im gleichen Maße rational entscheiden und wirtschaften wie jemand der in der vielleicht fünften oder sechsten Generation einen Betrieb geführt hat? Ihm fehlt die Bildung und ihm fehlt die Voraussetzung, sich diese anzueignen. Er hat kein Vermögen, er ist nicht kreditwürdig, ihm fehlen alle nötigen Fähigkeiten, um zu studieren. Trotzdem gewährt man ihnen alle möglichen Rechte, obwohl sie den Pflichten, die daran hängen, nicht gewachsen sind. Halten Sie das für klug? Und es geht ja noch weiter. Frauen. Wen lassen wir als nächstes wählen? Kinder? Affen? Rinder? Haben wir vielleicht bald einen Ochsen als Präsidenten? Nun, er könnte es nicht schlechter machen als die derzeitige Regierung, aber denken Sie doch mal nach, wohin uns dieser Gleichheitswahn geführt hat und führen wird!“

Fenian hörte zu und konnte in seinem Geist Gwen auf die Barrikaden klettern sehen. Hatte dieser Nationalgardist Frauen gerade mit Affen und Rindern verglichen? Wenn er ehrlich war, amüsierte es ihn sogar ein wenig, weil es so absurd war. Er sagte: „Ich würd eher einen Ochsen wählen, als Sie, Mister Meyer. Ein Ochsen kann immerhin einen Karren ziehen. Sie können nur die Peitsche schwingen.“

„Das wundert mich nicht“, sagte Meyer, „Ihr Menschenbild zeugt ja bereits davon, dass sie von einem Menschen nicht mehr erwarten als von einem Tier.“

„Es war Ihr Vergleich, nicht meiner“, sagte Fenian, „Aber Mister Winters hat uns noch nicht seinen idealen Menschen vorgestellt. Was denken Sie, Mister Winters?“

Greg Winters räusperte sich und brummte dann langsam, so als müsste er während des Redens noch überlegen, ob er das überhaupt aussprechen sollte: „Der ideale Mensch liegt sechs Fuß tief unter der Erde und weder hat er Probleme, noch verursacht er welche.“

„Er widerspricht Ihnen schon bei Ihrer ersten Prämisse, Mister Meyer“, sagte Fenian, „Das Leben als bedingungslos erstrebenswert. Sehen Sie, dass Ihr Modell praktische Schwächen hat und dieses System hier ebenso, wenn es Leute zu solchen Aussagen treibt.“

„Sie instrumentalisieren Ihn“, meinte Sam Meyer.

„Lassen Sie ihn ruhig“, meinte Winters, „Lassen Sie ihn. Ich bin ja nicht allein mit meiner Ansicht, Was glauben Sie, wie viele Leute sich allein in Harlan dieses Jahr das Leben genommen haben? Ich allein kenne drei. Drei Männer. Familienväter wie ich. Das trifft einen irgendwie härter als die Erkenntnis, dass diese Männer einfach zu schwach für die Realität gewesen sein müssen. Ändern wir den Menschen oder ändern wie die Realität? Cal, ich glaube, du würdest dich nicht ändern wollen oder deine Frau? Harry, würdest du wollen, dass deine Freundin sich in einen kalten, selbstverliebten Fisch verwandelt? Willst du, dass so jemand die Mutter deiner Kinder wird? Ich sage Ihnen, was ich verändern wollen würde: Ich möchte mir keine Sorgen um die Arztrechnungen meiner Frau machen. Ich will, dass sie gut behandelt wird, damit sie sich nicht damit abfinden muss, einen sinnlosen Tod zu sterben. Ich will, dass meine Kinder überleben, dass sie ihr Leben nicht wegwerfen müssen, sondern glücklich werden. Und Sie, Cal, wollen doch sicher auch lieber eine Frau, die glücklich sein kann und nicht ständig unter ihren Sorgen zusammenbricht. Sie würden Ihren Sohn gerne lieben, so wie er ist. Also tun Sie's, verdammt noch mal! Sie können die Realität ändern, ohne dafür ein Bedürfnis oder sich selbst aufzugeben. Wir müssen keine Maschinen werden, um mithalten zu können. Wir sollten uns nicht vom System kontrollieren lassen, sondern wir sollten das System kontrollieren.“

 

„Das sind Sprüche“, sagte Meyer, „Durchhalteparolen. Meistens hört man sie von Verlierern. Ich kenne Sie alle. Staat ist Verrat – Hoch das Syndikat! Gegen Ausbeutung und Spaltung – Kollektive Selbstverwaltung… Wie wollen Sie das anstellen? Und dann diese Pseudo-Sinnsprüche: Nicht aus dem Volk aufsteigen, sondern mit ihm… Das bringt doch alles nichts. Das ist Gerede. Ihrer Revolution gleicht einem Debattierclub und Sie schläfern die Leute ein damit, bis sie nur noch davon träumen, ihr Leben lang in der Hängematte liegen zu können. Bei vollem Lohnausgleich natürlich…“

„Haben Sie eine bessere Methode, die nicht direkt in einen Bürgerkrieg führt?“, mischte sich Fenian ein.

„Als hätten Sie so etwas, wie ein Gewissen.“

„Glauben Sie, ich falle auf dümmliche Sprüche herein?“, fragte Greg Winters, „Halten Sie mich für einen Roten? Dann muss ich Sie enttäuschen. Ich kann Sie und Ihresgleichen auch ohne Ideologie verabscheuen. Und Sie, Mister McKenna, sollten sich nicht so viel einbilden. Sie nehmen sich zu wichtig, das ist Ihr Problem. Wenn Sie nicht so enden wollen, wie der da, dann besinnen Sie sich auf Ihre eigenen Angelegenheiten und nicht versuchen Sie nicht, sich in die anderer Leute einzumischen. Denn Sie sind keineswegs so selbstlos, wie Sie tun. Wahrscheinlich merken Sie das gar nicht. Und bevor Sie jetzt wieder anfangen, mir etwas vorzuheucheln, Mister Waters: Nein, ich habe noch genug Selbstachtung, um mich nicht bei Ihrem Verein anzubiedern. Hören Sie auf, anderen Leuten erklären zu wollen, was sie Ihrer Meinung nach brauchen oder tun müssen!“

„Äh… ich glaube nicht, dass wir noch eine Wahl haben, wie wir enden wollen“, sagte Sam Meyer, „Dieses kleine Streitgespräch hat uns vielleicht die Zeit vertrieben, aber es hat uns nicht gerettet. Weder Ihr Gott, Mister Waters, noch Ihr Klassenbewusstsein, Mister McKenna haben uns gerettet.“

„Ihre Lehre von der Freiheit und der Vernunft aber ebenfalls nicht“, sagte Fenian, „Am weitesten ist noch Mister Turner mit seiner Spitzhacke gekommen.“

„Er hätte beinahe den ganzen Tunnel zum Einsturz gebracht“, erinnerte sich Caleb Bukowski.

„Dann hätten wir es jetzt schon hinter uns“, sagte Meyer.

„Eine Schande, dass wir immer noch mit solchen Hacken unter der Erde malochen müssen“, fand Harry Turner, der sich im schwächer werdenden Licht sein Arbeitsgerät betrachtete, „Wenn Mister McKenna mit einer Sache Recht hat, dann damit, dass die Arbeit hier verdammt gefährlich ist und verdammt hart. Wenn es wenigstens motorisierte Hacken gäbe… Es würde uns die Arbeit erleichtern.“

„Motorisierte Hacken?“, fragte Fenian, der sich so etwas nicht vorstellen konnte.

„Oder Fräsen, oder Schaufeln“, ergänze Turner, „Darin sollte investiert werden.“

„Damit du deinen Job verlierst, Kleiner?“, fragte Greg Winters.

„Innovation ist die Grundlage für Wohlstand und wer, wenn nicht Unternehmen forschen in diese Richtung?“, fragte Sam Meyer, „Er hat schon Recht. Um effektiver produzieren zu können, werden Veränderungen nötig sein.“

„Effektiver zu produzieren bedeutet billiger zu produzieren“, erinnerte Fenian, „Und billiger zu produzieren, bedeutetet weniger Leute beschäftigen zu müssen und weniger Leute zu beschäftigen bedeutet, mehr Arbeitslose, die sich Ihre Brennkohle im Winter nicht werden leisten können. Wer Innovationen nur für den eigenen Vorteil etabliert, der schließt die Gesellschaft vom Fortschritt aus. Maschinen ersetzen Arbeiter, aber deren Einkommensverluste ersetzt niemand und am Ende profitieren nur die ohnehin reichen von Innovation und Fortschritt.“

„Sie verdrehen mal wieder völlig die Wahrheit“, fand Sam Meyer, „Sie verdammen den Schaffenden dafür, dass er etwas erschafft und sie preisen den Plünderer, der den Schaffenden hemmt oder zerstört, was uns allen zu Gute kommen könnte.“

„Sie nennen sie „Schaffende“, ich nenne sie „Ausbeuter““, sagte Fenian, „Sie nennen sie „Plünderer“, ich nenne sie „Rückeroberer“.“

„Sie beschönigen Ihre Definitionen. Das ist unlauter“, sagte Meyer.

„Sie gehen mir auf die Nerven!“, rief Harry Turner plötzlich dazwischen, „Alle beide!“

„Danke, Junge. Du sprichst uns allen aus dem Herzen, glaube ich“, sagte Greg Winters.

Sowohl Sam Meyer als auch Fenian warfen ihm einen finsteren Blick zu. Sie wollten es ausfechten. Deshalb sagte Fenian so schnell, dass sich seine Stimme fast überschlug: „In Ihrer Theorie hängt alles nur vom Geld ab. Sie beten es an wie einen Gott. Sie unterwerfen sich dem Markt und wer in Ihrer Welt selbstbewusst und ehrlich ist, der kommt damit nur über die Runden, wenn er entsprechendes Kapital besitzt. Ein armer, selbstbewusster und ehrlicher Mann, verelendet, weil Leute wie Sie Selbstbewusstsein und Ehrlichkeit in Wirklichkeit nicht schätzen. Denn sie nutzen nichts. Es nutzt nur Geld. Schau mich an, ich bin ehrlich und frei, ich bin geboren um unterzugehen!“

„Und Sie werfen mit nichtssagenden Vergleichen um sich. Worte werden nichts verändern, Mister Mac.“

„Wissen Sie, was mir an Ihnen so unheimlich auf die Nerven geht? Ihnen ist einfach alles egal. Es ist Ihnen egal, ob andere Ihnen Recht geben, denn Sie blicken ohnehin nur auf sie herab, weil Sie wissen, dass sie gegen Sie nie etwas ausrichten werden können, denn Sie haben die Flinte. Sie geben Sie keine Mühe, andere zu überzeugen, weil Sie das gar nicht müssen, denn die Leute, die Geld haben und entscheiden können, sind bereits Ihrer Meinung. Sie halten nicht viel von Demokratie, weil da auch die Ungebildeten wählen dürfen – vorausgesetzt sie haben die richtige Hautfarbe. Sie halten nicht viel von Gewerkschaften, weil die den Armen eine Stimme geben und Armut halten Sie für ein Fortschrittshemmnis. Am liebsten würden Sie alle diese Leute beseitigen. Ich nehme an, Sie sind ein Freund der Eugenik, Mister Meyer? Ich nehme an, Sie halten den Tod für ein willkommene Maßnahme der Natur, Schwäche auszumerzen, und Sie wollen sich der Natur nicht in den Weg stellen, indem Sie Medizin bereitstellen, um vermeintlich hoffnungslosen Fällen zu helfen? Ich nehme auch an, Sie würden Ihre Mutter einfach so verhungern lassen, wenn sie alt und krank und gebrechlich und allein auf ihrer vermaledeiten Farm ist? Das ist Ihnen alles egal, denn Ihnen wurde die Seele ausgesaugt. Sie sind kein Mensch mehr und das finden Sie gut, denn ein Mensch ist fehlerhaft. Sie aber wachsen darüber hinaus, über die Menschen und die Gesellschaft, auf die sie herabblicken. Kritik berührt Sie nicht. Die reicht nicht an Sie heran. Sie verlangen Hingabe und Aufopferung von anderen und klassieren das als freiwillige Selbsthilfe. Sie selbst aber treiben andere zur Arbeit. Finden Sie das nicht bigott? Finden Sie es nicht heuchlerisch, von Freiheit zu reden und sich die Sklaverei zurückzuwünschen? Finden Sie es nicht doppelmoralisch, von Vernunft und Verstand zu sprechen, dann aber nichts weiter zu tun, als vor Sarkasmus triefende Kommentare abzugeben? Sie wollen sich für Fakten interessieren? Machen Sie die Augen auf, dann sehen Sie, wohin uns Ihre Denkweise geführt hat! Alles ist gut, wenn sich niemand beschwert? Ist das einer Ihrer Fakten? Sie sonnen sich in Ihrer vermeintlichen Unschuld. Oh, Sie haben sich gehörig den Schädel verbrannt! Ihre Thesen sind Thesen oder bestenfalls Metaphern. Sie haben keine nicht zu widerlegenden Argumente, aber das ist Ihnen egal, denn Sie haben ja per definitionem Recht.“

Fenian atmete aus und sog erneut von der warmen, modrigen Luft ein. Er beruhigte sich nicht. Wer ließ sich nicht von so einem Idioten vorführen, der vielleicht ruhig und besonnen daherreden konnte, der ihn nicht explizit, aber doch impliziert, fortwährend beleidigte, in Wirklichkeit aber nichts zu sagen hatte, das nicht im Kern offenbarte, das er kaltblütig und realitätsblind war. Fenian war nicht so. Es regte ihn auf, dass Meyer Parallelen zwischen ihnen beiden ausgemacht haben wollte und dass Greg Winters das bestätigte. Es regte ihn auf und das allein machte den Unterschied.

„Sie sagen, Eigennutz sei der Motor der Welt“, redete Fenian weiter, „und das Ende der Eigennützigkeit sei das Ende der Zivilisation. Ein Argument dafür bringen Sie nicht. Sie reden in Schlagworten, nicht ich. Die Zivilisation erwächst aus der Gesellschaft und eine Gesellschaft gibt es nur, wenn es eine Solidarität zwischen den Individuen gibt. Eigennutz bedeutet Isolation, die sich vielleicht Ihre Freunde in den Chefetagen leisten können. Die Menschen in den Arbeitersiedlungen aber nicht. Das Ende der Solidarität ist der Anfang der Barbarei, Mister Meyer und Sie sind hier, weil es schon begonnen hat. Dummerweise kämpft die Nationalgarde auf der falschen Seite und wird den Kampf zur Eskalation bringen. Sie werden den Aufstand vielleicht niederschlagen, aber damit lösen Sie nicht den Konflikt. Sie faseln etwas von Moral, aber auch das ist nur eine These. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft halten Sie für verbrecherisch, dabei führen Sie hier selbst einen staatlichen Auftrag durch, indem Sie irgendeine scheinbar gottgegebene Ordnung wiederherzustellen versuchen. Wie wollen Sie Revolutionen aufhalten, wenn der Staat keine Gewalt ausüben darf? Der Staat mag unnatürlich sein. Aber die Revolution ist es nicht. Ihre Vorstellung von Freiheit ist es ebenfalls nicht, aber sie ist instabil. Der Mensch steht ihr im Weg und das ist gut so!“

„Nun ist es aber gut, Mister Mac“, sagte Sam Meyer und Fenian musste an sich halten ihm keine reinzuhauen. Die ruhige, fast schon amüsierte Stimme des Gardisten brachte ihn nur noch mehr zur Weißglut.

„Es ist nichts gut!“, Fenian standen die Tränen in den Augen, aber das konnte niemand sehen, denn die Lampen waren dabei, den Geist aufzugeben.“

„Die Versorgung der Menschen ist so schlecht, weil alle sich auf staatliche Organisation verlassen“, behauptete Meyer.

Fenian verdrehte die Augen: „Staatliche Organisation würde Vermögen umverteilen. Da das nicht passiert, gibt es auch keine Versorgung. Sie können nicht verdammen, dass etwas nicht funktioniert, wenn es gar nicht da ist! Ich für meinen Teil hätte kein Problem damit, die Versorgung einiger weniger, die ohnehin gut versorgt sind, zu beschneiden, um viele, die schlecht versorgt sind, besser zu versorgen!“

„Das können Sie nicht mal bezahlen, wenn Sie alle Unternehmer enteignen. Und selbst wenn Sie es tun, wie soll es dann mittel- und langfristig weitergehen?“, fragte Meyer, „Selbstlosigkeit ist die Ursache für das Elend in all Ihren geliebten sozialistischen Ländern.“

„Achso?“, rief Fenian, „Nicht etwa die Misswirtschaft, die dazu geführt hat, dass es zu einer sozialistischen Revolution gekommen ist? Auch nicht der Verfall der gesamten Weltwirtschaft, den wir gerade erleben? Was reden Sie nur? Was wir gerade erleben, ist der Verfall des Kapitalismus und die Ursache dafür ist der Eigennutzen, dem alle so ergeben sind.“

„Und Sie wollen alles umsonst. Es gibt keine Welt ohne Geld. Schaffen Sie das Geld ab und die Leute treiben Tauschhandel oder zahlen mit Zigaretten. Die können den Handel nicht verbieten. Alles ist käuflich. Alles ist eine Ware. Auch Ideen, Erfolg, Liebe… Wir sind nicht mehr als unser Körper, unser Geist und unsere Leistungen.“

„Das Selbst ist mehr als die Summe seiner Teile“, sagte Fenian, „So wie die Gesellschaft mehr ist als eine Gruppe von Egoisten. Und Erfolg ist mehr als der Profit, den ein Psychopath einheimst, indem er andere Menschen körperlich und emotional ausbeutet. Sie mögen es vielleicht für unredlich halten, ein schlechtes Gewissen oder Schuld zu empfinden, wenn man egoistisch empfindet und handelt. Lieber reden Sie denen ein schlechtes Gewissen ein, die sich gegen diese Ausbeutung wehren.“

„Spötter wie Sie sind die wahren Ausbeuter“, behauptete Meyer lapidar, „Sie nutzen den Erfolg eines Menschen, um die Misserfolge anderer auszumerzen. Das halte ich für unredlich.“

„Sie nennen mich einen Spötter? Ausgerechnet Sie?“, rief Fenian, aber er wurde von Greg Winters unterbrochen, der es nicht mehr aushielt.

Er sagte: „Sie haben beide ein limitiertes Menschenbild. Mister McKenna glaubt, alle Unternehmer sind unfähig und unfair. Mister Meyer glaubt das gleiche von den Arbeitern.“

„Die Tragik ist, dass die fähigen Unternehmer so einen schlechten Ruf haben. Sie gewährleisten den Fortschritt, aber die Unfähigen kontrollieren die Moral, weshalb ich das, was heute als solche bezeichnet wird als vollkommener Schwachsinn bezeichnen muss.“

„Ein limitiertes Weltbild geht damit einher“, fuhr Winters fort, „Es gibt sowohl unter den Arbeitern als auch unter den Unternehmern Fähige und Unfähige, Faire und Unfaire, Moralische und Unmoralische.“

„Nur dass die unfähigen Unternehmer schnell weg vom Fenster sind, während die unfähigen Arbeiter dort oben durch die Straßen streifen und zerstören, was sie nicht schon haben herunter kommen lassen“, sagte Meyer.

Fenian platzte fast vor Wut, aber Greg Winters war an der Reihe und er sagte: „Erfolg basiert nicht nur auf persönlichen Fähigkeiten, sondern auch auf den Umständen und dem Einsatz von Mitarbeitern und Kollegen. Es kann nicht sein, dass ein Unternehmer allein als erfolgreich dasteht, wenn seine Arbeiter für ihn den Betrieb am Laufen halten, Mister Meyer. Geht das in Ihren Kopf nicht hinein? Es geht immer nur um Zusammenarbeit und nicht um ein Gegeneinander, wie Sie es hier beide herbeireden.“

Fenian atmete die Luft, die er für eine Antwort eingeatmet hatte, wieder aus.

„Aber wir arbeiten doch zusammen“, meinte Sam Meyer, „Es führt nur nirgendwo hin. Wir sitzen fest. Wir hier. Die da draußen. Sie überlassen den Klugen die Wahl des Weges, aber die Dummen wählen das Ziel. So scheitert die Zivilisation.“

„Sie wollen also einen starken Anführer?“, fragte Fenian, „Sehen Sie sich in Europa um. Gehen Sie dort hin, wenn sie ein Problem mit der Freiheit haben, so wie unsere Verfassung sie versteht!“

„Natürlich misstrauen Sie Eliten grundsätzlich, Mister Mac“, stellte Meyer fest, „Etwas anderes habe ich von Ihnen auch nicht erwartet, so ganz dumm sind Sie ja nicht. Sie misstrauen nur den Richtigen und rennen den Falschen hinterher.“

„Das Leben hat kein Ziel, Mister Meyer“, sagte Fenian so ruhig wie möglich, „Der Weg ist alles, was existiert und die Wahl der Richtung muss der ganzen Gesellschaft überlassen werden. Wer ist schon klug? Diejenigen, die das selbst von sich behaupten?“

„Diejenigen, die qualifiziert sind, eine Entscheidung zu treffen“, sagte Meyer.

Es war jetzt stockdunkel und Fenian überlegte ganz kurz, dass er ihm nur an den Hals herumdrehen müsste, um für den Rest seines kurzen Lebens Ruhe zu haben, aber er hielt sich zurück.

„Sehen Sie, Sie sind nicht qualifiziert. Niemand hier ist es. Mister Bukowski vielleicht. Er ist der Vorarbeiter. Aber sonst… Eine Aktion scheitert immer dann, wenn einer in der Befehlskette zaudert. Erledigen Sie Ihre Arbeit selbst und reichen Sie sie nicht weiter.“

„Falsche Entscheidungen können viel fatalere Folgen haben als keine Entscheidung“, erwiderte Fenian und um seinen Punkt zu illustrieren fügte er hinzu: „Sagt der Mann, der eine Bombe in einer Kohlemine hochgehen ließ. Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung, eine Entscheidung, es geschehen zu lassen. So wie Sie es immer befürworten. Der Natur ihren Lauf lassen. Was Erfolg wirklich verhindert, sind Fehler, Mister Meyer. Banale und menschliche Fehler! Sie reden von Freiheit und befürworten den Zwang zu leben und den Zwang zu sterben. Daraus leiten Sie Ihre Moral ab. Aber es gibt keine Moral und kein unveränderliches Schicksal. Auch sind Entscheidungen nie vollkommen richtig oder vollkommen falsch. Konsequenzen sind nicht immer zu berechnen. Das Senken der Löhne rettet vielleicht das Unternehmen, aber das Aufstand der Arbeiter zerstört den Betrieb. Wer trägt nun die Schuld? Welche Entscheidung ist qualifiziert und welche Seite ist gut?“

„Gut, Mister Mac? Sie reden von Güte? Keine Seite ist gut. Aber eine Seite wird gewinnen und ist stehe immer gerne auf der Seite der Sieger. Das ist meine Moral. Sieh, dass du auf der Seite der Sieger stehst! Geld machte den Menschen nicht gut. Erfolg macht ihn nicht glücklich. Beides ist eine Bürde und wer reich und erfolgreich sein will, der muss sie mit Würde tragen.“

„Mir kommen die Tränen“, sagte Fenian, „Geld, Mister Meyer, ist ein Götze und es wird verehrt wie ein goldenes Kalb. Man verwendet es als Gratmesser für den Wert und die Tüchtigkeit einer Person und wertet damit andere Eigenschaften wie Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit, Bescheidenheit und Selbstlosigkeit ab. Geld ist ein Druckmittel und ein Lockstoff. Gier ist soziales Gift wie Neid und Eifersucht. Armut hingegen ist eine echte Bürde, nicht Reichtum, wenn – wie Sie es verlangen – keine Verantwortung und keine Pflichten daran geknüpft sind!“

„Halten Sie endlich die Klappe!“, beschwerte sich Harry Turner, „Das ist ja nicht zum Aushalten! Sie sind beide so schrecklich verbohrt!“

„Gönnen Sie uns eine Pause“, stimmte Gene Waters zu, „Wir sind alle müde, hungrig und durstig. Ich glaube, wir alle können ein wenig Ruhe gebrauchen. Ich schätze es ist längst Nacht da draußen.“

„Ich bin nicht müde“, behauptete Fenian, aber es war eine Lüge und er spürte, dass sich niemand mehr für seinen Vortrag interessierte.

Also setzte er sich so bequem wie möglich auf den steinigen Boden und starrte in die Schwärze, die ihn umgab. Er hörte die anderen schwer atmen. Er hörte sich selbst atmen. Und sein Herz schlug. Das war es, dachte er, meine letzten Worte vielleicht und ich bin allen damit auf die Nerven gegangen. Es machte ihn traurig und ärgerte ihn weniger, als er es sich vorgestellt hatte. Was nutzte es denn auch noch?

Nach einer Weile döste er ein und er dachte erneut an Gwen. Ihr Vater würde erfreut sein. Er stellte ihn sich wieder beim Frühstück mit der Zeitung vor, die von diesem Vorfall in Harlan berichtete und die Namen der identifizierten Leichen aufführte. Er hatte immer eine Zeitung bei sich. Fenian konnte ihn sich gar nicht ohne Zeitung vorstellen. Er liest zu viel Zeitung, fand Gwen und sie sagte es scherzhaft, wenn er ihre Rauchgewohnheiten kritisierte.

Nie wieder Scherze, dachte Fenian und seufzte. Das Leben war ernst geworden. Konnte man es dann überhaupt noch „Leben“ nennen?

„Hören Sie auf zu flennen!“, sagte jemand, aber er meinte nicht Fenian, denn er weinte nicht.

Es war die Stimme von Caleb Bukowski gewesen und er hatte offensichtlich Harry Turner gemeint, der schniefte und meinte: „Es ist nur, weil es so unfair ist.“

„Was?“

„Dass ausgerechnet wir sterben müssen. Wir haben doch alles richtig gemacht, uns immer an alle Regeln gehalten. Mister Jenkowic sagte mir einmal, dass er mich für einen Feigling hält, weil ich nicht streike. Dabei bin ich es, der für seine Entscheidung zum Tode verurteilt ist.“

„Es ist nicht recht, sich einen anderen an seiner Stelle zu wünschen, wenn man in einer ausweglosen Situation ist“, sagte Gene Waters.

„Es ist nicht recht lebendig begraben zu werden, obwohl man nichts getan hat!“

„Es tut mir leid“, flüsterte Fenian noch einmal, aber das machte es natürlich nur noch schlimmer.

Harry Turner begann wieder zu weinen: „Catharinas Vater ist solidarisch mit der Gewerkschaft, weil er die Läden der Kohlegesellschaften aus dem County weg haben will, die für ihn eine Konkurrenz sind. Ihm gefiel es nie, dass ich kein Mitglied bin. Immerzu musste ich mich rechtfertigen, musste Catharina mit Geschenken überzeugen, bei mir zu bleiben. Ständig sah man mich abschätzig an, wenn ich durch die Straßen ging. Ich wurde bedroht. Evarts Straßen sind ein Spießroutenlauf für mich. Alle wussten es, aber ich hab mich nicht unterkriegen lassen, wissen Sie. Ich dachte, meine Entscheidung ist richtig, aus mir kann was werden, ich bin fleißig und folgsam. Ich bin jung und kann aufsteigen. Ich dachte, es gäbe eine Gerechtigkeit. Nichts gibt es. Nur Gewalt. Man ist immer bloß Opfer. Sie diskutieren hier für nichts und um nichts. Wer hört Ihnen zu? Wem bedeutet es etwas? Wen wollen Sie überzeugen? Mich? Lassen Sie mich in Ruhe!“

„Ich bin sicher, Ihre Catharina wird Sie sehr betrauern und Ihr Vater wird einsehen, was für ein passabler Kerl Sie gewesen sind“, sagte Bukowski, aber das war natürlich nur ein schwacher Trost.

Fenian ertrug es nicht. Er presste sich die Hände auf die Ohren, sodass es Turners Weinen nicht mehr hören musste. Er hörte nichts mehr, nur das Rauschen der Blutzirkulation in seinen Händen vielleicht. So saß er da wie erstarrt, unbequem, verkrampft. Er wollte so sterben, gleich hier und jetzt. Dann wäre es vorbei.

Es dauerte eine Weile. Vielleicht Stunden, vielleicht einen ganzen Tag. Fenian glaubte, zu Stein verhärtet zu sein, als jemand ihn am Ärmel zog.

„Wachen Sie auf, Mister McKenna!“

Die Hand, die nach ihm gegriffen hatte, schüttelte ihn und er kehrte zurück aus der Leere in die Hölle.

„Wachen Sie auf! Hören Sie das nicht?“

„Nein“, sagte Fenian, „Was?“

„Auf der anderen Seite graben Sie nach uns!“

„Sind Sie sicher?“, fragte Fenian. Er wusste immer noch nicht, mit wem er sprach. Der dünnen Stimme nach zu urteilen war es Gene Waters.

„Ja, sie rufen nach uns!“

„Rufen Sie zurück!“, sagte Fenian, plötzlich wieder Lebensgeister in sie spürend.

„Bukowski hat schon geantwortet.“

„Und?“

„Sie holen uns raus!“

„Sind Sie sicher?“, fragte Fenian. Er spürte, wie ein wenig Kohlestaub von der Decke auf ihn herab rieselte.

„Schnappen Sie sich eine Hacke und helfen Sie!“, rief Bukowski ihnen zu, „Wir graben ihnen entgegen!“

Es war gefährlich und es war unvernünftig in absoluter Dunkelheit mit Spitzhacken auf eine Wand von Geröll einzuhauen, aber es war noch unvernünftiger, nichts zu tun. Sie wechselten sich ab. Immer zwei arbeiteten, die anderen lauschten. Und auch Fenian konnte die Geräusche auf der anderen Seite hören.

Er konnte an nichts anderes denken als „Sie holen und raus! Sie holen uns raus! Wir sind ihnen nicht egal!“

Leben, Licht, Luft, Liebe… alle Guten Dinge begannen mit L.

Und dann – nach Stunden oder Tagen oder Ewigkeiten – brach ein schwacher, gelblicher Schimmer durch die staubige Schwärze. Ein Loch. Noch so ein brillantes Wort mit L.

„Hier! Wir haben euch was zu Essen und zu Trinken mitgebracht!“

Zwei kohleschwarze Gesichter blickten hinein in den Hohlraum, in dem die sechs Männer festgesessen hatten. Sie wischten sich den Schweiß von der Stirn und bleckten die weißen Zähne zu einem Grinsen. Keiner der sechs konnte sich dem entziehen. Pakete mit Sandwiches und Wasser wurden herübergereicht und sie aßen und tranken gierig.

Es dauerte noch mehrere Stunden, ehe das Loch in der Geröllwand groß genug war, sodass die sechs hindurch klettern konnten, aber am Ende stiegen sie hinaus aus ihrem Gefängnis, verschwitzt, erschöpft, verdreckt und etwas wacklig auf den Beinen. Arbeiter standen Spalier im Stollen und klatschten Applaus, während sie dem Licht am Ende des Tunnels entgegengingen. Sie fühlten sich wie Helden, obwohl sie nichts geleistet hatten, wie Sieger oder Bezwinger einer wilden Bestie.

Fenian sah sich um, aber erkannte kein bekanntes Gesicht. Er war zu geblendet und zu aufgeregt und zu glücklich, einen leichten Windhauch um die Nase zu spüren. Wenn er sich in den letzten Stunden unsicher gewesen war, was Freiheit war, dann wusste er es jetzt ganz genau. Gleich war er draußen. Die Menschen lächelten ihn an, weil sie nicht wussten, dass er es gewesen war. Sie munterten ihn auf. Er würde seine Freunde wieder sehen und sie würden lachen und vielleicht eine Revolution anzetteln.

Er konnte überhaupt nichts sehen. Es war zu hell und die Augen schmerzten ihn, aber das war egal. Es war egal. Die Welt brach nicht über ihm zusammen. Er würde Gwen wieder sehen und ihren Vater. Sie würden sich streiten, aber er würde das alles nicht mehr so ernst nehmen. Eher sportlich. Und er wusste, dass er ein Gewinner war, weil er das hier überstanden hatte.

Und noch etwas anderes erleichterte sein Herz: Er hatte niemanden umgebracht. Niemand war wegen ihm gestorben. Er war nicht schuldig. Es war nichts geschehen. Keine Frau hatte ihren Mann und kein Kind seinen Vater verloren. Alles konnte weitergehen wie bisher, dachte er, als sich eine schwere, kräftige Hand auf seine Schulter legte. Freundschaftlich glaubte Fenian zuerst, doch dann griff sie nach seinem Nacken und sie war grob, rau und, wie er zu spüren glaubte, schmutzig – nicht nur vom Kohlestaub.

„Betrachten Sie sich als verhaftet, Mister McKenna“, sagte Sam Meyer.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

suedeheads Profilbild suedehead

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Kapitel: 22
Sätze: 3.116
Wörter: 41.417
Zeichen: 248.724

Kurzbeschreibung

Kentucky, USA, Anfang der 30er Jahre. Weltwirtschaftskrise. Die Harlan County Coal Operators' Association verkauft ihre Kohle unter Kostendeckung. Arbeiter, die sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und das Drücken der Löhne gewerkschaftliche organisieren werden entlassen und vertrieben. Bald herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände im Harlan County. Bei einem Bombenanschlag auf eine Kohlemine werden sechs Männer verschüttet. Haben sie sich zuvor noch bis aufs Blut bekämpft, müssen sie jetzt zusammenarbeiten, wenn sie ihre Chance auf Rettung erhalten wollen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Drama auch in den Genres Katastrophe, Historik und Angst gelistet.

Ähnliche Storys