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Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 973 | |
Wörter: | 14.585 | |
Zeichen: | 87.217 |
– Großstadtklang –
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Mein eigenes Berlin
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„Berlin ist eine Stadt, verdammt dazu, ewig zu werden, niemals zu sein.“
Karl Scheffler
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Same Procedure as every Day
Berlin, Charlottenburg.
Der Herbst war mild dieses Jahr. Als die ersten Blätter begannen, sich auf den schmalen Alleen zwischen Altbauten, Cafés und Immobilienbüros zu verfärben, erinnerten die Temperaturen kaum an das Ende des Sommers. Der Verkehr war so früh am Morgen noch nicht dicht, nur die matten Lichter der Leuchtreklamen erfüllten die sonst laut klingenden Alleen mit buntem Leben. Die Straßenlaternen schalteten sich gerade aus, als Chris sein rotes Rennrad im Hof des Restaurants ankettete.
Er war der erste im Laden, schloss die Türen zur Küche und zum Wintergarten auf, schmiss die Spülmaschine an und ließ den ersten Kaffee zischend und fauchend durch die Siebträger laufen. Gerade als er den letzten Tisch abgestuhlt hatte, klimperten die ersten Gläser hinter der großen Theke und aus der Küche drangen die Stimmen der Hilfsköche.
Als sein gestellter Handywecker auf 9:29 Uhr klingelte, öffnete er die verglaste Haupttür zum Restaurant. Der alte Häuserkomplex, der den Innenhof umfing, war noch ruhig. Vor der heruntergekommenen Fahrradwerkstatt gegenüber vom Restaurant kehrte der zu kurz geratene Besitzer und Stammkunde gerade unter der von Lindenblättern bedeckten Laube aus und stieß dabei einen der Terrakottakrüge um, die irgendeine Anwohnerin völlig willkürlich um Hof verteilt hatte. Das Krachen tönte von den hohen Backsteinwänden wider und fuhr ihm direkt in den Schädel. Stechender Schmerz erinnerte ihn daran, dass der letzte Feierabend später geworden war, als eigentlich geplant. Nicht, dass er nicht selbst schuld daran gewesen war – aber weniger als 3 Stunden Schlaf waren selbst für ihn hart an der Grenze zu dämlich. Still fragte er sich, wieviel Promille er wohl noch intus hatte, als er erleichtert bemerkte, dass der Innenhof bis auf den fluchenden Werkstattbesitzer noch verwaist war.
Dienstagsmorgens ließen sich im Kiezeck nur selten mehr als drei oder vier Pärchen und möglicherweise ein wagemutiges Doppel an Großmüttern bei ihnen zum Frühstück blicken. Er konnte und wollte nicht verstehen, wie sich eine Bar mit Hang zur Wochenendgastro imagemäßig mit einem gediegenen Frühstück vereinbaren konnte. Allerdings waren die Frühschichten leicht verdientes Geld. Und dank des geringen Andrangs meist so ruhig, dass er auch mit dröhnenden Kopfschmerzen die Zeit bis zum Nachmittag leicht rumbekommen würde.
Zurück im Restaurant begrüßte ihn das verschmitzte Lächeln von Sophie, die hinter dem Tresen verschwand, um die Getränkelieferung in der Kühlung zu verstauen. „Du siehst furchtbar aus. Ganz, ganz furchtbar!“, trällerte sie mit leicht rauchigen, französischen Akzent, als sie wieder auftauchte und ihm eine Wasserflasche über den Pass reichte. Ihr Lächeln wuchs in die Breite. „Hier. Hast du nötig!“
„Schon verstanden …“ Er erwiderte das Lächeln. „Hab ich dich geweckt heute Nacht?“
Sophie hob die Brauen und tippte mit dem Finger gegen ihre Schläfe: „Heute Nacht? Du bist um halb Sechs nach Hause gekommen! Für Normalsterbliche ist das schon morgens! Ganz früh morgens …“
„Sorry.“ Er zuckte die Schultern und zupfte an dem Etikett der Flasche herum. „Es hört auf. Ich …“
Sophie lachte auf und knuffte ihm spielerisch gegen die Brust. „Das ist eh ‘ne Lüge! Schon gut … ich werd‘ die paar Stunden Schönheitsschlaf weniger schon überleben. Kannst ja nichts dafür, dass du ein balourd vor dem Herrn bist!“
Er hob beide Brauen und legte den Kopf schief: „Sehr gnädig von dir … und was heißt das schon wieder? Ballu?“
„Trampel.“
„Danke, Chérie.“
„Also?“ Sophie wackelte aufreizend mit den Brauen. „Willst du auch mal an die Arbeit, Chris, oder einfach weiter hier stehen wie ein nasser Sack und vor meiner Theke vegetieren …?“
„Der berühmte Charme der Franzosen …“
Chris verstand den dezenten Wink seiner besten und vermutlich einzig wirklichen Freundin, ohne es ihr wirklich krumm zu nehmen. Sie verbrachten seit Monaten beinahe jeden Tag von früh bis spät zusammen. Sie teilten nicht nur die meisten Schichten im Kiezeck miteinander, sondern auch eine viel zu kleine Wohnung, die nicht mehr als zwei sporadische Zimmer, ein Duschbad und eine versiffte, kaum genutzte Küchenzeile besaß. Sie liebten einander, auf eine geschwisterliche Art und Weise. Und diese Liebe funktionierte nicht ohne Kabbeleien und Diskussionen …
Chris zwinkerte ihr zu und griff sich sein Tablett, um damit den großen Gastraum zu durchqueren. Davor lag der beheizte Wintergarten, das Zentrum des Restaurants. Zahlreiche Staffeleien sammelten sich an den verglasten Wänden und den ruhigen Ecken. Auf ihnen waren die zweifelhaft stylischen Werke von urbanen Malern und angesagten Newcomern aus der Künstlerszene von ganz Berlin ausgestellt. Zwischen Ölleinwänden und Zimmerpalmen befanden sich runde Mosaiktische, die von fast antik wirkenden Flechtstühlen umzingelt waren.
Chris unterdrückte das leicht genervte Gefühl, das ihn überkam, als er die zwei neubesetzten Tische bemerkte. Gekonnt legte er sein professionell standardisiertes Lächeln auf und griff sich die Frühstückskarten, um herüber zu den beiden jungen Mädels zu gehen, die gerade ihre Mäntel ablegten, um sich an einen der Tische zu setzen.
„Guten Morgen“, murmelte er unterdrückt und erwiderte das klebrigsüße Lächeln der Gäste. Die beiden tauschten einen schnellen Blick, der ziemlich eindeutig war, ehe sie ihm die Karten abnahmen, um beinahe synchron einen Chai-Latte zu bestellen. Chris fuhr sich durch das blonde Haar, ehe er die Bestellung notierte und dabei aufmerksam von den jungen Frauen beobachtet wurde. Beide wirkten wie das typische Bild etwas abgewrackter Kunststudenten; die eine mit ihrer weißen Hornbrille und delligen Latzhosen, die andere mit ihrem Oversizepullover inklusive kitschigem Katzenmotiv, das ihre gesamte Brust bedeckte.
„Danke“, kommentierte der Kellner die Bestellung und ignorierte damit die erwartenden Blicke der Studentinnen.
Der andere belegte Tisch befand sich in einer der ruhigeren Ecken und war – wenig überraschend –von einem Pärchen besetzt. Chris griff schon automatisiert nach den beiden Karten, die er sich zusammen mit dem Tablett unter den Arm geklemmt hatte, ehe er unweigerlich innehielt. Er blickte auf, um den unvermeidlichen Augenkontakt zu seinen Gästen herzustellen. Diese beachteten ihn aber anders als die beiden jungen Frauen gar nicht. Chris blieb auf der Stelle stehen und vergaß für einen Moment, was er überhaupt hier mitten im Restaurant tat.
Chris schätzte beide auf Ende zwanzig. Ein Mann, dem schon von weitem anzusehen war, dass der nicht mehr ganz neue Trend um Fitness und Healthy-Lifestyle nicht an ihm vorbeigegangen war. Er trug ein marineblaues Hemd mit hochgeschlagenen Manschetten, die seine definierten Unterarme entblößten. Er hob gerade die Hand, um seiner Begleitung eine dunkle Strähne aus der Stirn zu streichen. Die Frau lächelte. Sie lächelte so sehr, dass ihre Augen funkelten. Und obwohl das Lächeln nicht Chris galt, fühlte er ein unterschwelliges Kribbeln in seinen Fingerspitzen. Er wollte sie anfassen. Unweigerlich. Die Frau wirkte zierlich neben ihrem Freund, beinahe drahtig. Doch ihre Ausstrahlung war warm, elegant und unglaublich einnehmend. Ihr braunes Haar war zu einem Knoten zurückgenommen, aus dem einige Strähnen locker hinter ihre Ohren gekämmt waren. Sie war nicht nur schön, sie war … wow.
Chris räusperte sich. Insgeheim fragte er sich, was dieses offenbar gut situierte Paar hier in diesem Hinterhofrestaurant verloren hatte. Etwas irritiert trat er an den Tisch und räusperte sich ein weiteres Mal, was endlich die Aufmerksamkeit seiner Gäste auf ihn lenkte.
„Guten Morgen“, presste er weitaus schwerfälliger als eben noch heraus und erinnerte sich beiläufig daran, dass er ihnen wohl besser die Karten reichen sollte, statt sie nur abwartend anzugaffen.
Der Mann nahm ihm die Karte mit einem rauchigen „Danke“ ab, schlug die mattroten Seiten durch und wandte sich ohne etwas gelesen zu haben an Chris. Der war etwas – etwas sehr – geflasht von diesen hellen blauen Augen, die ihn gelassen fixierten. Der Kerl besaß ein Gesicht, das man so schnell nicht vergessen konnte. Hohe Wangenknochen, markante Züge, die von einem Dreitagebart definiert wurden. Und diese stechenden Augen, die Chris seine Müdigkeit schlagartig vergessen ließen.
„Wir würden vorab gerne schon zwei Sekt nehmen …“, bestellte er. „Und eine Flasche Wasser.“
Chris nickte die Bestellung ab, kritzelte etwas völlig Wirres auf seinen Block und hob wieder den Blick. „Gibt es etwas zu feiern?“
Ein wenig Smalltalk war bei den meisten Gästen gern gesehen, das brachte oft Sympathiepunkte und damit einhergehend mehr Trinkgeld. Kleine, unverfängliche Gespräche aufzubauen gehörte zu seinem Job wie das Kehren des Innenhofs nach Feierabend. Und er war froh, dass er sich wieder weit genug gefangen hatte, um so etwas wie Professionalität am Arbeitsplatz an den Tag legen zu können.
„Allerdings“, lächelte die Frau und fing damit seinen Blick. Ihre dunklen Augen strahlten. „Ich feiere mein Debüt am Theater …“
Chris hob die Brauen: „Meinen Glückwunsch! Du bist Schauspielerin?“
Das passte zu ihrer Erscheinung wie die Faust aufs Auge. Model – das hätte Chris‘ Meinung nach auch wunderbar gepasst. Aber ihre Ausstrahlung war mehr als die eines gewöhnlichen Fashionmodels. Ihre Mimik, ihre Gestik. Die Art, wie sie ihre Finger bewegte, als sie „so in der Art“, entgegnete und leichthin mit der Schulter zuckte. Sie erzählte etwas nur durch diese unwillkürlichen Bewegungen, eine Geschichte, die einen Bann erzeugte. Sie war unglaublich interessant.
Chris fragte sich stumm, ob er vielleicht nicht doch noch einen gewaltigen Restpegel Alkohol im Blut hatte, als er sich schon wieder dabei erwischte, ins Starren zu geraten. Er hätte zu gern gewusst, in welchem Stück sie debütierte. Doch sie unterband seine aufkommende Frage, als sie die Karte zuschlug und ihm reichte. „Ein Cappuccino mit weniger Milch, bitte. Und ich denke, wir nehmen das Frühstück für zwei …“
Ihre Begleitung nickte und schlug ebenfalls die Karte zu: „Klingt gut. Danke.“
„Gern“, murmelte Chris und nahm die Karten entgegen. „Dankeschön. Ich bin gleich zurück.“
Etwas steif ging er zurück in den inneren Gastraum und war froh, dass er seinen Kellnerblock besaß, als er sich an die Kasse stellte. Er hätte ohne seine Notizen wohl jede einzelne Bestellung bei den Gästen hinterfragen müssen, so verpeilt wie er gerade war.
An der Bar schob Sophie gerade die leeren Wasserkisten über den Tresen und verräumte sie auf die andere Seite des Gastraums, wo das Treppenhaus runter ins Lager führte. Währenddessen spuckte der Bondrucker hinter der Bar die Bestellungen in getippter Reinschrift aus und Chris machte sich daran, die Getränke herzurichten.
Gerade, als er die fertigen Chai-Latte auf den Getränkepass stellte, hörte er Sophies atemlose Stimme in seinem Rücken. „Alles klar?“
Er zuckte zusammen. Die heiße Milch aus der hohen Tasse schwappte leicht über und Sophie lachte auf. „Hab ich dich erschreckt? Was ist los mit dir?“
„Du hast mich nicht erschreckt!“, fluchte er zurück. „Verdammt!“
Genervt strich er mit einem Lappen die Untertasse sauber und begegnete Sophies skeptischem Blick. Seine Freundin hatte die dunklen Brauen bis fast unter ihren Haaransatz gehoben und grinste unterdrückt, als sie die nächsten Bons mit der Bestellung des Pärchens entgegennahm. Sie bückte sich an die Kühlung und holte eine Wasserflasche daraus hervor, ohne ihn dabei aus den lauernden Augen zu lassen.
„Ja … okay.“ Chris fuhr sich durch die Haare und legte den Kopf schief. Kurz biss er sich auf die Lippen, schaute nach draußen in den Wintergarten – nur um sicherzugehen, dass gerade niemand hereinkam – und verschränkte die Arme. „Da draußen sitzt ein Pärchen … ein Kerl und eine Frau … und sie sind richtig heiß. Ich meine, nicht heiß, eher … sie sehen aus, als würden sie gerade von einem Shooting für die Sports Illustrated aus Miami oder so kommen. Dieser Typ hat Augen …“
Sophies Grinsen wuchs in die Breite und bekam dabei einen ihr so eigenen, spitzbübischen Zug. Es war ihr natürlich bekannt, dass Chris sowohl Frauen als auch Männer an sich heranließ. Und das nicht zu wenig. Er kam viel herum. Sophie versuchte manches Mal, ihn etwas zu mäßigen und von zu vielen Partys am Wochenende abzuhalten. Doch meistens hatte sie nur einen sarkastischen Kommentar für seine Ausschweifungen übrig, wenn sich mal wieder eine Frau morgens aus ihrer WG schlich und dabei Lärm für Drei verursachte. Oder sie presste, neugierig wie sie war, sonntagmorgens alles Wissenswerte über die Clubbesuche der letzten Nächte aus ihm heraus. Chris hatte keine Geheimnisse vor Sophie. Warum auch? Sein Lebensstil war ihm nicht peinlich, seine Affären ohnehin nichts Ernstes. Somit lohnte es sich gar nicht, aus irgendwelchen Geplänkeln ein Mysterium zu machen und es zu einer großen Sache aufzubauschen.
„Ich verstehe … deswegen hast du also diesen grenzdebilen Blick aufgesetzt …“ Sophie zwinkerte ihm zu. „Wie heißen sie?“
„Keine Ahnung.“ Chris nahm die Wasserflasche, zwei Gläser und die beiden Sekt von ihr entgegen, um die auf sein Tablett zu platzieren. „Das ist ein Paar.“
Sophie reichte ihm den Cappuccino: „Und?“
Er schaute sie nur zweifelnd an und hob das Tablett auf seine Hand, um wieder hinaus zu gehen. Und? War es dämlich anzunehmen, dass Sophie mit Schweigen strafte, nur weil er selbst gerade nicht klarkam? Vielleicht sollte er mal runterkommen …
Chris ging zuerst zu den beiden Studentinnen, um ihnen die Chai-Latte zu servieren. Er nahm ein vegetarisches Frühstück und ein großes Rührei auf, ehe er sich zu dem jungen Paar begab. Erneut waren sie völlig ineinander versunken und nahmen ihn über ihr leise geführtes Gespräch hinweg überhaupt nicht wahr. Dieses Mal verzichtete er allerdings auf ein Räuspern und platzierte vorsichtig die Getränke vor ihnen. Ohne dabei wirklich den Blick auf seine Arbeit zu lenken. Stattdessen suchte er das Augenmerk der Frau, die endlich seine Anwesenheit zu bemerken schien. Sie lächelte ihn unverwandt an, als er das prickelnde Wasser in ihr Glas einschenkte. Und er lächelte zurück.
„Ist es hier morgens immer so ruhig?“, fragte sie dann, als er die Flasche weiter zu ihrer Begleitung führte.
„Meistens ja“, entgegnete Chris. „Wir bekommen abends wesentlich mehr Gäste. Gehen dann eher Richtung Bar … wie kamt ihr auf uns?“
„Eher spontan“, schaltete sich der Mann in das Gespräch ein und fixierte ihn. „Ein Kollege hat mir das Kiezeck empfohlen … dass ihr mehr eine gute Bar seid, hat er nicht erwähnt.“
„Ich mag die Ruhe … mir gefällt es hier.“ Die Frau griff nach den Zuckersticks auf ihrer Untertasse und schob sie dezent zur Seite. Dann deutete sie auf einige Staffeleien, die direkt in der Ecke bei ihnen standen. „Auch wenn ich noch nicht wirklich hinter die Kunst hier gestiegen bin.“
Chris stellte die Flasche ab und feixte. „Die Leinwände stehen schon seit mindestens sechs Wochen hier und glaub mir, ich bin auch noch nicht dahinter gestiegen. Eigentlich stellen die Künstler hier aus und verkaufen. Allerdings will sich da aktuell wohl niemand für erbarmen …“
Der Mann schnaubte ein leises Lachen, ein dunkler, rauer Laut. Chris musste kurz innehalten und genehmigte sich noch einen flüchtigen Blick auf die beiden, ehe er sich halb zum Gehen umwandte. Dabei nahm er kommentarlos die Zuckersticks an sich und schaute abwesend auf den Sekt, dessen Kohlesäureperlen im Glas träge nach oben stiegen: „Meinen Glückwunsch noch einmal!“
Ehe er es unterbinden konnte, zwinkerte er der Fremden zu. Und verfluchte sich im nächsten Moment selbst dafür. Denn gleich darauf taxierten ihn zwei blaue Augen in einer Mischung aus Mahnung und Überheblichkeit. Als wollte er ganz nonverbal sagen: gib es gleich auf, du hast ohnehin keine Chance bei ihr.
Ohne ein weiteres Wort verschwand er aus dem Gastraum, tippte schlecht gelaunt die Bestellung der vermeintlichen Kunststudentinnen in die Kasse und begab sich dann an den Küchenpass, wo das Frühstück für das Paar wartete. Sophie kam gerade die Treppen vom Lagerkeller hoch, als er sich mit den drei Tellern an der Bar vorbeischlängelte, um noch Besteck und zwei leere Teller aufzunehmen.
„Im Stress?“, trällerte sie provozierend fröhlich. „Immer schön lächeln, mein Hübscher!“
Chris äffte sie unterdrückt nach und begab sich mit den Speisen in den Wintergarten. Die Küche war bei der Anzahl an Gästen hilflos überbesetzt. Somit war genug Zeit, aus den Sonst eher sporadisch angerichteten Frühstücksplatten ein kleines Kunstwerk zu zaubern. Der erste Teller, den er auf den Tisch vor dem Paar platzierte, war mit einer reichen Auswahl an regionalen Wurstwaren und verschiedenen Kanten von kräftigen und sämigen Käsesorten garniert. Auf der folgenden Platte befanden sich Salate, ein Rührei mit Gemüse, kleine Schälchen mit Konfitüre und herzhaften Aufstrichen. Auf dem letzten schließlich dampfende Brötchen und verführerisch aussehende Croissants.
Chris‘ Magen fing beim genauen Anblick der Platten unweigerlich an, unangenehm laut zu knurren. Für einen Augenblick hoffte er, das Geräusch sei niemandem aufgefallen, doch das schmale Lächeln der beiden sprach Bände.
„Normalerweise schaffe ich es noch vor der Frühschicht, etwas zu essen …“, murmelte er entschuldigend und platzierte dabei das Besteck und die leeren Teller vor dem Paar. Still fragte er sich, wann er sich das letzte Mal so dämlich vor Gästen aufgeführt hatte. Flirten jedenfalls sah anders aus.
Natürlich war es kein Geheimnis, dass es Kellner – Gastronomen allgemein – nicht sonderlich schwer hatten, neue Leute kennenzulernen und damit auch schneller dabei waren, wenn es um Flirts ging. Chris allerdings zog es vor, Arbeit und Privat zu trennen. Niemand auf der Arbeit ging es etwas an, was er privat trieb, niemand, den er privat kannte, ging es etwas an, wo er arbeitete. Das ersparte Stress und dämliche Fragen.
Die beiden allerdings stellten dieses ungeschriebene Gesetzt gerade ziemlich in Frage. Wenn sie allein hier aufgetaucht wären …
„Sieht auch wirklich lecker aus“, kommentierte die Frau nur und strich sich einige dunkle Strähnen aus dem Gesicht, um an dem frisch zubereiteten Rührei zu riechen.
„Lasst es euch schmecken.“
Ein amüsiertes Funkeln trat in ihre braunen Augen und Chris hob überrascht die Brauen, als sie ihm mit einem leisen „Danke“ zuzwinkerte. Dieses Mal blieb das kleine Zeichen unbemerkt von ihrem Freund, doch Chris irritierte es umso mehr. Flirtete sie tatsächlich mit ihm, obwohl sie nicht allein hier war und ihr Lebensgefährte direkt neben ihr saß?
Zurück im Innenraum erwartete ihn erneut das freche Grinsen von Sophie. Sie wackelte mit den Brauen: „Und?“
„Ist dir langweilig?“ Chris lachte unterschwellig. „Nichts Und … die beiden feiern hier zusammen, dass sie am Theater angenommen wurde oder so ähnlich. Das ist alles.“
„Hast du sie nicht nach ihren Namen gefragt?“ Sophie wirkte ehrlich überrascht. „So kenne ich dich gar nicht! Normalerweise hättest du dir schon längst die Nummer von ihr klargemacht.“
„Sie ist mit ihrem Freund hier“, erinnerte er seine Kollegin und Mitbewohnerin dezent.
„Dann eben seine Nummer …“ Chris wusste, dass Sophie ihn mit ihrer naiven Art absichtlich provozierte und nur so tat, als sei sie schwer von Begriff. „Und was spricht gegen beide? Seit wann bist du so verklemmt?“
„Ich glaube, die geben ein eher monogames Pärchen ab.“
„Das kannst du nicht wissen, weil du sie nicht gefragt hast. Du kennst ja nicht mal die Namen der beiden!“ Sophie grinste, lehnte sich über den Tresen und stupste ihn mit erhobenen Zeigefinger gegen die Nase. „Ich war gerade vorn, um den beiden Mädels ihr Frühstück zu bringen, was dir vor lauter Schmachterei bestimmt überhaupt nicht aufgefallen ist. Jedenfalls habe ich einen Blick riskiert und ich sag dir eins: die Kleine hat sich da nicht eben zurückgehalten. Wie sie dich angegrinst hat war nicht von schlechten Eltern. Mal was anderes im Vergleich zu den ganzen heruntergekommenen Studentinnen, die du sonst immer abschleppst. Und ihr Typ muss sich wirklich auch nicht verstecken.“
Chris verdrehte die Augen und fuhr sich erneut durch das Haar. Er war sich beinahe sicher, dass seine ohnehin wilde Lockenmähne mittlerweile einem heillosen Chaos glich. Dabei war noch nicht einmal halb 12 und er würde noch etliche Stunden durch das Restaurant rennen dürfen, bevor der Feierabend winkte. „Dir ist wirklich langweilig, hab ich Recht?“
Sophie nickte ganz ohne Verlegenheit: „Gib ihnen deine Nummer und schau, was passiert.“
„Ich hab aber keinen Bock, mich hier zum Idioten zu machen…“ Sein Augenmerk ging ganz automatisch zu den Glaswänden, die den Wintergarten offenlegten. Von hier aus war das Paar nicht zu sehen, doch er konnte sich gut vorstellen, dass die beiden erneut tief in ein verschworenes Gespräch mit eindeutigen Blicken versunken war.
Sophies Idee war mehr als bescheuert. Er würde sich natürlich eine knallharte Abfuhr einfahren, wenn er tatsächlich so dreist wäre, der Frau vor den Augen ihres Freunds seine Nummer zuzustecken. Die beiden wirkten zwar locker, aber doch eher … konservativ, was ihre Sexualität betraf. Der Kerl war hetero, durch und durch, und wohl kaum an irgendwelchen Abenteuern interessiert, die obendrein seine hübsche Freundin miteinbezogen.
Chris hatte schon mehrmals etwas mit zwei oder drei Personen gehabt, wusste, dass die Abwechslung durchaus seinen Reiz besaß und verdammt heiß werden konnte. Allerdings funktionierte so etwas nur, wenn keine Eifersucht und dafür sehr viel Unverfänglichkeit mitspielte. Man traf sich, man ging. Man redete nicht über früher oder später, nur über wollen und nicht wollen.
„Dann stell dich eben geschickt an …“
Sophie hatte noch nicht aufgegeben. Mit einem kessen Grinsen stieß sie ihn an und murrte: „Geh raus und frag sie, ob ihnen alles schmeckt und ob sie vielleicht noch Appetit auf etwas anderes hätten.“ Wieder wackelte die Französin mit den Brauen.
Chris zeigte ihr nur den Vogel und hoffte, dass sie das nicht wirklich ernst meinte. Er wusste selbst nicht genau, weshalb er ihrer Aufforderung halb nachkam und tatsächlich wieder den Weg nach draußen suchte. Einerseits war ihm klar, dass er das Paar bei ihrem Essen stören könnte. Andererseits war irgendwo auch sein Jagdinstinkt geweckt.
Er könnte die Sache selbstverständlich nicht hier klären, auf keinen Fall. Aber vielleicht konnte er das Paar dazu bewegen, sich privat mit ihm zu treffen. Um sich besser kennenzulernen, etwas zumindest. Dann würden sie nicht gleich denken, dass er ein perverser Narzisst war. Und er könnte die Grenzen bei dem Typen abstecken, der, gerade als Chris den Wintergarten betrat, aufschaute und ihn tatsächlich anlächelte.
Er fand sich wie von fremden Händen gesteuert an ihrem Tisch wieder: „Ich hoffe, euch schmeckt alles. Fehlt noch etwas?“
Wie nebenbei registrierte er, dass er hier tatsächlich fürs Arbeiten bezahlt wurde und räumte die leeren Sektgläser ab. „Danke“, kommentierte der junge Mann und seine Freundin führte erheitert fort: „Es ist wirklich alles perfekt … wir haben gerade schon festgestellt, dass wir unbedingt abends noch einmal herkommen wollen.“
„Wenn ihr auf pappsüße Cocktails steht, gern.“ Chris balancierte sein Tablett mit den leeren Gläsern darauf aus. „Ich könnte euch aber auch einige wirklich gute Bars in der Stadt zeigen. Ihr kommt nicht so rüber, als wärt ihr schon lange in Berlin, wenn ihr euch hierher zum Frühstückt verlauft und dabei ganz offensichtlich keine Hipster seid.“ Er deutete vielsagend mit dem Kopf zu den beiden Studentinnen in seinem Rücken.
„Wir wohnen tatsächlich erst seit drei Monaten hier“, entgegnete die junge Frau und lachte über seine Worte. „Aber bisher hat mich das Training in der Compagnie so sehr in Anspruch genommen, dass wir kaum Zeit für irgendwelche Restaurants oder Bars hatten.“
„Training in der Compagnie?“ Chris legte den Kopf schief. „Heißt das bei Schauspielern so? Ich dachte, das nennt man Schule …“
„Ah, du hast mich durchschaut!“ Erneut trat dieses Glitzern in ihre Augen und sie schüttelte den Kopf, ohne ihn aus dem Blickfeld zu lassen. „Ich bin eigentlich Tänzerin am Theater ... an der Deutschen Oper, um genau zu sein.“
Obwohl er schon geglaubt hatte, dass Schauspielern zu ihr passte, so war er von diesen Worten nicht überrascht. Ihre zierliche Statur passte wunderbar in das Bild einer eleganten, disziplinierten Tänzerin. Er hielt nicht viel von Kunst, Theater und Ausdruck in Tanz allgemein. Er ging gern in Clubs, genoss das Tanzen dort. Aber trainierte klassische Choreographien vor einem Orchester? Klang eher abgedroschen und spröde. Was wiederrum überhaupt nicht zu ihrer Erscheinung passen wollte.
„Dir ist klar, dass man dir an der Nasenspitze ablesen kannst, was du davon hältst?“ Ihre Worte waren mit einem Schmunzeln gesprochen, doch Chris war sich nicht sicher, wie sie seine Miene aufgenommen hatte. Also lächelte er, halb entschuldigend, halb herausfordernd.
Er hoffte, sie würde ihm seine nächsten Worte nicht krumm nehmen: „Du wirkst nicht annähernd so konservativ, wie ich mir eine Tänzerin an der Oper vorstellen würde.“
Chris fing einen warnenden Blick aus blauen Augen auf, wurde sich bewusst, dass ihr Gespräch in eine Richtung abdriftete, die kaum noch Spielraum für unverfänglichen Smalltalk ließ. Aber Sophie hatte recht. Wenn er nichts wagte, könnte er auch nicht gewinnen. Und wirklich: die beiden waren nicht nur reizvoll, sondern wirklich interessant. Er wollte wenigstens einen Versuch wagen, bevor er sich hier völlig unsinnig um Kopf und Kragen redete.
„Ich nehme das mal als Kompliment“, entgegnete die dunkelhaarige Tänzerin und nahm einen Schluck Wasser aus ihrem Glas. Als es zur Neige ging, griff Chris ganz automatisch nach der Wasserflasche, um ihr nachzuschenken. Dieser Service gehörte hier eigentlich nicht zum Standard … allerdings war er mehr als bereit, eine Ausnahme zu machen.
Wie er das sprudelnde Getränk in ihre Gläser gluckern ließ, setzte er noch einmal mit einem warmen Lächeln an: „Ich würde mich wirklich freuen, wenn ich euch einige Bars in Berlin zeigen könnte …“
„Normalerweise trinke ich nicht“, entgegnete der Mann nun etwas schneidender als zuvor. In seinem Ausdruck lag ein wenig Provokation, doch noch immer keine Ablehnung. Chris wüsste nicht, wie er selbst reagieren würde, wenn jemand so offensichtlich mit seiner Freundin flirten würde. Er fand aber, dass der Typ noch erstaunlich gelassen reagierte.
„Ich kenne auch gute Restaurants.“ Chris stellte die Flasche ab und vermied es, noch einmal die Tänzerin anzuschauen. Stattdessen bemühte er sich, dem abwägenden Blick des Mannes standzuhalten, der sich ein höfliches Lächeln abrang. „Überlegt es euch. Das biete ich bestimmt nicht jedem an.“
Nach diesen Worten entschied er, dass es besser wäre, das Feld zu räumen, um möglichen Spekulationen und peinlicher Stille aus dem Weg zu gehen. Wenn sie mit ihren Gedanken – ob nun positiv oder negativ – allein wären, spielte das auf jeden Fall in seine Karten. Er wartete keine Reaktion ab. Stattdessen durchquerte er den Gastraum, fand den Weg ganz automatisch an die Bar und fragte sich still, was er sich überhaupt erhoffte. Sophie hatte ihn lediglich provozieren, vielleicht auch ein wenig in seine Schranken weisen wollen. Auf der anderen Seite: was hatte er zu verlieren? Wenn es bei einem Treffen im Berliner Nachtleben mit den beiden blieb – sollte es überhaupt dazu kommen – so wäre dies bestimmt keine verschwendete Zeit. Führte das nicht zu mehr, so sprang wenigstens ein interessanter und reizvoller Abend dabei heraus … die Kleine war schlagfertig und keineswegs verklemmt. Und ihr hübscher Freund wirkte so anziehend, überlegen und gleichzeitig zurückhaltend anziehend, dass es geradezu in seinen Fingerspitzen kribbelte, mehr über ihn zu erfahren.
Zehn Minuten stand er am Pass, warte auf Sophie, die irgendwo in den Tiefen des Lagers verschollen war, und räumte nebenbei den Tisch der Studentinnen ab. Den Blick in die Ecke mit den Staffeleien vermied er dabei. Fast anderthalb Stunden vergingen. Bis zum Mittag verirrten sich kaum noch Gäste zu ihnen.
Als seine Ablösung im Restaurant erschien, wandte sich der Kellner zur Kasse und druckte ohne dazu aufgefordert worden zu sein die Rechnung des Paars. Dann griff er sich einen Stift und beeilte sich, unter die Rechnungssumme seinen Namen und seine Nummer zu schreiben. Er wusste nicht, ob es wirklich daran lag, dass er noch gut Restpegel im Kreislauf besaß, oder ob er einfach zu lange keinen Spaß mehr gehabt hatte. Das war eigentlich nicht sein Niveau und eigentlich auch lächerlich Klischee. Aber wie hieß es so schön: No risk, no fun.
„Ob sie das Gekrakel überhaupt entziffern können?“, säuselte es ganz leise an seinem Ohr. Chris zuckte erschrocken zusammen und rammte gleich darauf seinen Ellenbogen nach hinten, was Sophie nur zum Kichern brachte: „Hol sie dir, Tiger!“ Seine Mitbewohnerin hatte die Nase gekraust und die Stimme rauchig verstellt, was mit ihrem unüberhörbaren Akzent einfach nur albern wirkte. Er schob sie achtlos zur Seite, fing sich noch einen freundschaftlichen Knuff in die Seite ein, bevor er wieder nach draußen ging.
Und erstarrte.
Der Ecktisch war verwaist. Bis auf die Gläser und die leeren Teller war niemand mehr dort.
„Fuck!“
Die beiden würden doch nicht einfach getürmt sein, ohne die Rechnung bezahlt zu haben!?
Konsterniert ging er herüber und ärgerte sich stumm über seine verdammten Pläne … es stimmte doch: Privat und Arbeit vertrug sich nicht gut. Überhaupt nicht gut.
Doch im nächsten Moment wurde er erneut überrascht. Unter der leeren Cappuccinotasse klemmten zwei blaue Scheine, welche nicht nur die Rechnung deckten, sondern auch ein stolzes Trinkgeld abgaben. Erstaunt nahm er das Geld entgegen und bemerkte dann erst die Serviette, die unter den Zwanzigern lag. Mit schwarzer Tinte stand darauf: ‚Wir hoffen, du kannst dafür sorgen, dass wir uns niemals wieder in so einen Hipster-Schuppen verirren, wo dem Kellner nichts Besseres einfällt, als uns ein Ohr abzukauen. Milena und Nik.‘
Chris lachte auf. Natürlich war ihm klar, dass die Worte nicht negativ gemeint sein konnten. Spätestens bei der Handynummer, welche unter die Namen geschrieben war, war dies offensichtlich. Anscheinend waren sie seinem Angebot doch nicht abgeneigt. Und er würde sie wiedersehen.
Berlin, Berlin
Berlin, Neukölln.
Chris ließ sich anderthalb Tage Zeit, an die Nummer zu schreiben, die mit schwarzer Tinte auf die Serviette geschrieben war. Dabei wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nicht wusste, ob sie nun Nik oder Milena gehörte. Im Endeffekt machte es keinen Unterschied. Nur vom Gefühl her wäre es wohl weitaus unkomplizierter, mit der lockeren Tänzerin zu schreiben. Ganz vermochte er diesen Nik nicht einzuschätzen. War er wirklich so abgebrüht, wie er sich gab?
‚Bars, Restaurants, Kino? Auf was steht ihr? Chris – der Kellner mit unterschätzten Kommunikationskompetenzen.‘
Er ahnte, was als Antwort – sollte denn überhaupt eine kommen – auf seinem Handydisplay aufleuchten würde. Eine Tänzerin war wohl kaum kulinarisch interessiert, solange es sich nicht um Salat oder Fenchelgemüse handelte. Und Nik hatte schon angedeutet, dass er keinen Alkohol trank. Also Kino.
Chris hasste es, mit Verabredungen ins Kino zu gehen. Man schwieg sich an und folgte dem Film. Wenn es gut lief, waren währenddessen einige beiläufige Berührungen und anschließend noch ein wenig Smalltalk vor der Heimfahrt drin. Filme waren ätzend für jedwede Art der Kommunikation und die Beleuchtung im Vorführungssaal war geradezu einschläfernd.
‚Wir dachten schon, du nimmst es uns krumm, dass wir gegangen sind‘, las er fast zwei Stunden später. ‚Kino klingt gut! Wir haben es bisher noch nicht ein Mal ins Sony Center geschafft…‘
Chris rollte die Augen. Super. Einschlaf-Berieselung in XXL.
‚Doch, ein wenig schon‘, tippte er in sein Handy und erinnerte sich an den dezenten Fast-Herzinfarkt beim Gedanken daran, die Rechnung der beiden im Kiezeck übernehmen zu müssen, nachdem sie einfach verschwunden waren. Eigentlich war mit dem satten Trinkgeld alles wieder im Lot, aber das müsste er ja niemandem auf die Nase binden. ‚Habt ihr morgen Abend Zeit?‘
Er war erstaunt, wie leicht es war, dieses Treffen anzugehen. War das nicht fast zu unkompliziert? Er lehnte sich zurück an die Küchenzeile in seiner WG und griff sich die Kaffeetasse in seinem Rücken. Während er einige Nachrichten in anderen Chats beantwortete, wartete er dennoch beinahe ungeduldig auf eine Antwort.
‚Ich kann erst nach der Tanzprobe gegen 8, wenn das für dich okay geht.‘
Chris lächelte, als er die neue Nachricht las. Damit hätte sich auch geklärt, mit wem er hier schrieb. Auch, wenn er eigentlich längst geahnt hatte, dass es Milena war, warf dies nun eine neue Frage auf: ‚Was meint Nik dazu?‘
Chris hauchte ein knappes Lachen als er las: ‚Er ist nicht annähernd so zurückhaltend, wie er zuerst rüberkommt. Versprochen. Wir sind froh, wenn wir mal jemanden in Berlin kennenlernen, der nicht gleichzeitig mit uns zusammenarbeitet, glaub mir.‘
Stimmt. Die beiden waren ja erst kürzlich in die Hauptstadt gezogen. Er selbst war Urberliner durch und durch, hatte seine Kindheit, Jugend und seine Ausbildungszeit hier verbracht, kaum etwas anderes in der Welt oder auch nur Deutschland gesehen als das dicke B. Von Bekannten, Freunden und flüchtigen Begegnungen hatte er aber bereits mehr als einmal erfahren, wie schwer es für Zugezogene sein konnte, in der Metropole Fuß zu fassen. Ganz egal, wie viele Zehntausende Menschen sich hier im Schmelztiegel der Hauptstadt zusammenfanden, man konnte sich bisweilen fühlen wie ein Eremit. Allein in einem Ameisenhügel. Er kannte dieses Gefühl nicht. Denn er hasste es, wirklich allein zu sein und war es somit nach Möglichkeit auch nie. Wenn er wie gerade mal zwei Tage am Stück frei hatte, dann war er selten zu Hause.
Dass es in Berlin aber auch ganz anders sein konnte, konnte er sich ebenso gut vorstellen. Üblicherweise ging man hier aneinander vorbei, auf den Plätzen, in der U-Bahn, auf dem Weg zur Arbeit. Man war ein Gesicht von vielen. Egal, ob unter den Linden oder im Kiez von Neukölln. Man war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass man sich sogar am Puls des Lebens in einem Kokon des Desinteresses bewegte. Jeder in Berlin – so groß und unüberblickbar es auch war – war irgendwo gefangen in seiner eigenen Welt. Was man aus diesem Mikrokosmus schuf, wen man hineinließ, das entschied jeder selbst. Aber gerade das machte das Leben hier auch so interessant. Man konnte bekannt werden, wenn man es wirklich wollte, man konnte anonym bleiben, wenn man nur als stiller Beobachter auf den Rängen zu sitzen gedachte. Man konnte machen, worauf man Bock hatte. Jeden Tag aufs Neue.
Wenn Milena und Nik tatsächlich Lust auf etwas Neues hatten, so war er gewiss nicht derjenige, der ihnen im Weg stand. Zu gern wäre er bereit dazu, sich anders als sonst etwas für sie zurückzunehmen. Etwas. Sophie hatte ihm etwas von Fingerspitzengefühl gepredigt. Vielleicht sollte er heute Abend am besten langsam machen und sehen, wohin sich diese Sache entwickelte. Irgendeine Chance auf eine konkrete Andeutung würde sich schon ergeben.
‚Was arbeitet Nik denn überhaupt?‘, schoss es ihm plötzlich in den Kopf und er tippte die Gedanken ungefiltert in den Chat. Es fiel ihm nach wie vor schwer, sich ein Bild zu dem Mann an Milenas Seite zu machen. Banker, Jurist, Fitnessmodel, Sozialversicherungsvertreter, hauptberuflich Sohn reicher Eltern? Könnte alles hinkommen – und dann wieder nicht.
‚Das kann er dir morgen Abend am besten selbst erzählen. Ich glaube, du wirst überrascht sein.‘
Das Gefühl hatte Chris zugegebenermaßen auch.
‚Dann sehen wir uns morgen um 8 am Sony Center.‘
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Donnerstagabend, der Feierabendverkehr dicht und der Stadtstaub hing schwer in der Luft. Der Abend war bedeckt und zeigte sich grau wie Plattenbaubeton. Wenigstens die Temperaturen waren für Berlin Mitte Oktober noch gewohnt urban. Der Asphalt warf eine angenehm milde, schwere Wärme zurück, die ihm rauchig in die Nase stieg, als er auf seinem Singlespeed über den Potsdammer Platz fuhr. Schon von weitem erkannte er das gedimmte Licht, das hundertfach aus den Fenstern des Sony Centers brach. Der Koloss aus Stahl und Glas war selbst im dichten Gedränge an Fassaden, Autos, Baukränen und Menschenmassen deutlich auszumachen. Man konnte unmöglich daran vorbeifahren, ohne für einige Momente staunend aufzublicken.
Als er in den komplexen Innenhof der Gebäudekette einbog, stieg er ab und schob sein Rad mit der Rechten, während er einen schnellen Blick auf seine Uhr warf. Er war spät dran.
Im modern gestalteten Hof drängten sich Ladenzeilen und Gastronomievarianten bei schummrigen Abendlicht dicht an dicht. Wo sonst piekfeine Filmpremieren gefeiert wurden, erschien nun alles laut und durcheinander. Die meisten Leute, die hierherkamen, waren Touristen, die aufgeregt Bilder von der aufwendigen Hofkuppel knipsten. Ein Baldachin aus Stahl und Himmelschwarz malte ein Gefüge, das dem abgewrackten Abbild einer futuristischen Blume glich.
Chris fand in der bunten Masse an Touristen, Besuchern und Kinogängern zwei Gestalten, die wie die Ruhe im Sturm wirkten. Sie hielten sich abseits des Menschenstroms, schienen beinahe unbeeindruckt von dem architektonischen Koloss, in dessen Zentrum sie sich befanden. Einander zugewandt waren sie in ein Gespräch vertieft, das alles um sie herum auszuschließen schien. Chris erkannte sie sofort, auch wenn sie im milchigen Licht der Anlage völlig anders wirkten. Unwirklicher. Milena trug ihr Haar offen; dunkel fiel es ihr über ein lässiges graues Stickoberteil, das in einen hohen Rock gestopft war. Weiße Sneaker rundeten ihre lässige Erscheinung ab, die Chris erst irritierte. Wohin war die elegante Tänzerin verschwunden? Sie fand sich in ihren Bewegungen, als sie mit einem Lächeln, das allein Nik galt, ihr Haar zurückstrich – und Chris noch mitten in der Bewegung zu bemerken schien. Sofort wuchs ihr Lächeln und sie winkte ihm knapp zu. Als hätte er sie nicht längst bemerkt.
Chris registrierte allerdings erst jetzt, dass er starrte. Und ansonsten nichts anderes tat. Sofort setzte er sich wieder in Bewegung und näherte sich räuspernd der bepflanzten Stahlinsel, die das Zentrum des Hofs dominierte. Auch Nik hatte sich nun zu ihm gewandt. Das Blau seiner Augen war für Chris selbst aus der stetig schrumpfenden Entfernung auszumachen. Er wirkte mit diesem schiefen Lächeln auf den Lippen wirklich erfreut, ihn zu sehen. Von der misstrauischen Strenge fehlte jede Spur. Er schien sich Milenas legerem Kleidungsstil angepasst zu haben, was Chris sämtliche Vorstellungen zu seiner Person einmal mehr über den Haufen warf. Weißes Shirt, Jeans, Sneaker und eine dunkle Collegejacke hing über seiner Schulter.
„Sorry, dass es später wurde“, hauchte Chris atemlos, auch wenn es ihm nicht wirklich leidtat. Seine Stimme klang etwas höher als gewohnt und er fragte sich, weshalb er sich so angestrengt fühlte, dass er keuchte, als er sei er dreihundert Meter in Weltrekordzeit gesprintet.
„Kein Problem“, entgegnete Milena etwas spitz und humorvoll leicht. „Der Film beginnt erst in einer halben Stunde.“
Als er die beiden endlich ganz erreichte, hob er verwundert inne und hob eine Braue: „Wir haben einen Film ausgemacht?“
„Nein.“ Die Tänzerin zwinkerte ihm zu und fuhr mit leichtem Sarkasmus in der Stimme fort: „Aber schön, dass du hier bist. Hast uns gar nicht mal so lange warten lassen.“
Er ließ den Blick von Nik zu ihr und wieder zurück gleiten. Milenas Freund zuckte nur amüsiert mit den Schultern: „Freut mich, dass du es geschafft hast.“
Chris entließ erheitert den Atem und fühlte sich halb überrumpelt von der Menge an Informationen und Eindrücke, halb leicht und entspannt. Milenas selbstbewusster Redeschwall, ohne jeden Punkt oder Handlungsspielraum; Niks lockere Haltung und das erheiterte Funkeln in seinen Augen. Chris‘ Stimmung schlug im Handumdrehen auf Anschlag zu Freudentaumel. Kopfschüttelnd lehnte er das Rennrad an seine Seite und kramte in der Hosentasche nach Kippen und Feuerzeug: „Ich freue mich auch, euch wiederzusehen … irgendwie. Auch wenn ich mir erst nicht sicher war, ob ich halbherzigen Zechprellern überhaupt etwas zu tun haben wollte.“
Er schickte den Worten ein versöhnliches Lächeln hinterher und ließ das Feuerzeug klicken, um sich die Zigarette anzustecken. Beide reagierten auf den scherzhaften Vorwurf mit spitzbübischen Blicken und Stille. Die Musik aus einer der Bars, die ihren begrenzten Platz hier fanden, war für einige Momente die einzigen Klänge, die sein Ohr erreichten. Selbst das monotone Gesumme der Menschen um sie herum schien zu verblassen. Doch das Schweigen war keinesfalls unangenehm. Eher eine Pause, um diese unwirklichen Eindrücke einzufangen, die sie beide abgaben.
„So aufregend ich es auch finde, in einen Film zu gehen, den ich mir nicht ausgesucht habe“, setzte Chris dann wieder an und aschte seine Zigarette ab. „Habt ihr wirklich nicht eher Bock, ein wenig durch Mitte zu laufen und in ein paar Bars zu versacken?“
Chris nahm noch einen Zug und nahm durchaus das Widerstreben war, das gerade durch Niks Gestalt wanderte. Ebenso die missbilligenden Blicke, die seine Bewegungen beim Rauchen verfolgten. Er war sich sicher, dass die beiden Rauchen als Abturn empfanden. Komischerweise ließ dieses Wissen Chris eher Überlegenheit statt Hemmung fühlen. Noch konnte er die Grenzen abstecken und klarmachen, dass er seinen eigenen Kopf besaß, wenn es um die Verhaltensstandards zwischenmenschlicher Begegnungen ging. Zuspätkommen, rauchen vor Nichtrauchern, spontane Planänderungen, offensichtliches Flirten mit Frauen, die eindeutig vergeben waren? Wenn die beiden sich davon schon abschrecken ließen, hätte die ganze Sache ohnehin keinen Sinn. Da war es besser, er erfuhr es gleich und konnte der Sache direkt ein Ende setzen. So anziehend er sie auch fand, er hatte keine Lust auf irgendeine anstrengende, komplizierte Scheiße. Wohin auch immer diese Begegnung führen würde.
„Ich könnte euch Berlin abseits der Mausefallen für Touristen zeigen“, setzte er dennoch in der schwachen Hoffnung nach, sie würden seinen Vorschlag annehmen. Dabei machte er eine Geste, die halb die Ströme an wuselnden Menschen bei dem völlig übertrieben beschilderten Kino einfasste und hoffentlich darauf schließen ließ, wie viel er von diesem Platz eigentlich hielt. „Ich werd‘ euch auch nicht abfüllen, versprochen.“
Milena und Nik tauschten einen langen Blick, der Chris unwillkürlich ein gespanntes Kribbeln in den Fingerspitzen empfinden ließ.
„An das Versprechen wirst du dich doch eh nicht halten“, wandte Milena dann an ihn und legte abwägend den Kopf zur Seite. „Aber … ich hätte Lust. Nik?“
Der hochgewachsene Mann hob nur ergeben die Schultern: „Damit wäre ich wohl überstimmt.“
„Perfekt.“ Chris ließ seine Kippe fallen und griff an den Lenker seines Singlespeeds. „Dann nichts wie weg von hier.“
Chris ließ weder Milena noch Nik aus den Augen, als sie durch das Drängen der Menge nach draußen wanderten. Hier lichteten sich die Massen, zumindest ein wenig, und es war genug Platz, um sein Rad neben den beiden zu schieben. Sein Blick fiel wie von einem Magnet angezogen auf die Hände des Paars, die sich locker umfangen hielten. Mit verschränkten Fingern. Ganz unschuldig, ganz innig. Eine kleine Geste, die im Moment aber für ihn so viel ausdrückte.
Er müsste taktisch klug vorgehen.
„Wo treibt ihr euch denn sonst rum, wenn ihr das Sony Center schon für eine Hochburg der urbanen Kultur haltet?“, brach er das Schweigen, als sie über den Potsdamer Platz schlenderten und das Gespräch für seinen Geschmack schon etwas zu lange ausgesetzt war. Er versuchte sich an einem interessierten Lächeln, wandte den Blick möglichst auf beide gleichzeitig und stellte fest, dass die Stadtlichter leichte Schatten in die Züge des Paars malten. Sie wirkten gelöst.
Milena lachte auf. „Meistens in Charlottenburg. Mein Training findet dort statt, unsere Wohnung liegt dort … eigentlich sind wir noch nicht wirklich rumgekommen.“
Chris nickte. Das hatte sie schon angedeutet. „Du tanzt in der Deutschen Oper?“
„Das ist der Sitz des Balletts in Berlin … und unsere Trainingsfläche“, bestätigte Milena. „Aber unsere Compagnie tanzt an vielen Theatern.“
Ballett. Als sie an den großen Verkehrsinseln ankamen, welche die Fußgänger sicher über die Hauptstraßen führen sollten, wagte Chris einen schnellen Seitenblick auf die junge Frau. Sie wirkte drahtig, besaß kaum Kurven. Viele würden sagen, sie sei ein Hungerhaken, aber Chris fand das nicht. Sie schien sportlich, agil, gesund. Er war sich sicher, dass sie eine hervorragende Tänzerin war. Nur fiel es ihm schwer, sich ihre Gestalt in einem dieser aufgeplusterten Röckchen vorzustellen. Eine Ballerina. Sie musste diszipliniert sein wie der Teufel.
„Seid ihr deswegen hergezogen? Weil du hier eine Stelle gefunden hast?“ Chris führte die beiden raus aus dem lärmenden Zentrum des großen Platzes und versuchte möglichst, neben den beiden auf dem Bordstein zu gehen, sobald sich die Chance ergab. „Oder war es schon immer ein Traum von euch, in die Hauptstadt zu kommen?“
„Naja“, mischte sich Nik ein, weil Milena auffallend lange brauchte, auf diese Frage einzugehen. „Als Tänzerin ist es schwer, eine feste Anstellung zu finden. Ich hatte Milena immer versprochen, sie in ihrer Karriere zu unterstützen.“
Also war Berlin nur bedingt cool für das Paar.
„Sehr nobel von dir“, merkte Chris an. „Ich … ich habe um ehrlich zu sein keine Ahnung von Ballett. Ich glaube, ich versammle alle gängigen Vorurteile in mir, was das angeht. Ohne es böse zu meinen.“
„Du meinst bieder, verklemmt?“ Nik schüttelte den Kopf. Er lächelte ein wundervoll warmes Lächeln, das Chris aufmerken ließ. Beinahe schob er sein Rad in einen Kinderwagen, was er nur unangenehm berührt mit einem geschnaubten „Sorry“ kommentierte.
„Das habe ich mir am Anfang auch gedacht“, gestand Nik ein. Milena starrte derweil in irgendeine unbestimmte Richtung, ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Ihr schien das Thema unangenehm zu sein. „Aber …“ Nik warf seiner Freundin einen liebevollen Blick zu. „Ich wurde eines Besseren belehrt.“
Chris konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als Milena sichtlich unwohl die Augen verdrehte: „Du hast dich also eines Besseren belehren lassen? Das ist mir neu! Du frägst mich doch nach jedem Auftritt, was genau die Handlung des Stücks war, weil du keine Minute lang aufpasst!“
Nik zuckte mit den Schultern: „Dafür gibt es doch Programmhefte!“
Milena schüttelte den Kopf und wandte sich an Chris. „Ich kann jeden verstehen, der keinen Zugang zu Ballett findet. Es ist speziell, sehr speziell. Aber bei mir ist es anders … es war Liebe auf den ersten Blick.“
Ihre braunen Augen glühten auf bei diesen Worten, als sei sie plötzlich einem Fieber verfallen. Keinem Fieber, das ihr schadete, oder sie schwächte. Vielmehr schien sie so sehr in ihrer Leidenschaft aufzugehen, dass sie sich genüsslich daran verzehrte. Er hielt nicht viel von klassischer Musik oder Ballett – er kannte es ja noch nicht einmal wirklich – aber er würde sie gern einmal tanzen sehen.
Die Fußgängerpromenaden, die den Potsdamer Platz umarmten, waren nicht weniger gut besucht als das Sony Center selbst. Aber die Leute, die hier die Straßen unter Shoppingarkaden und Bürokomplexen füllten, wirkten lebendiger und realer als die einseitigen Gestalten, die sich wie Geisterhüllen im Stahlkomplex kaum ein paar hundert Meter weiter von hier tummelten.
„Kommt ihr von weiter weg?“
„Von Süddeutschland … Nik zumindest.“ Milena strich sich die Haare zurück als sie sprach und legte den Zeigefinger an das Kinn. „Ich glaube, wir haben vor dem Umzug etwa zwei oder zweieinhalb Jahre zusammen in Konstanz gelebt…?“
„Das waren drei …“, korrigierte Nik mit gespielten Tadel. „Ich bin am Bodensee aufgewachsen … kommst du aus Berlin oder bist du auch zugezogen?“
Automatisch schüttelte Chris den Kopf: „Bin hier geboren.“
Nik hob die Brauen: „Das wundert mich irgendwie nicht…“
„Was soll das heißen?!“, fuhr er schneidend auf und legte gespielt streng den Kopf schief. „Bin ich dir zu direkt? Zu kaltschnäuzig?“
Ihm war klar, dass er diese Aussage gerade mit Pauken und Trompeten untermauerte. Tatsächlich legte Nik erst für einen Moment irritiert die Stirn kraus, ehe er lächelte und den Kopf schüttelte: „Um ehrlich zu sein, ist diese Berliner Art mir noch ein wenig … fremd.“
Chris stellte fest, dass er sich durchaus an das Lächeln des Mannes, der eigentlich noch wie ein Fremder für ihn war, gewöhnen konnte. Die kühle, abweisende Haltung schien zu bröckeln. Was ein Widerspruch an sich war, denn mit der hätte er ganz wunderbar in das Berliner Klischee gepasst.
Der Kellner winkte ab: „Daran gewöhnst du … ihr euch bestimmt schnell. Ich glaube, ihr passt gut nach Berlin.“
„Ahja?“ Nik schien da eher skeptisch.
„Ich hätte um ehrlich zu sein nicht erwartet, dass ihr euch tatsächlich mit mir treffen werdet“, erläuterte Chris. „Ich hoffe, das liegt nicht nur daran, dass ich der einzige bin, der euch mal gefragt hat.“
Milena und Nik ließen diesen Punkt mit kaum verhohlener Zweideutigkeit im Blick offen und er schnaubte nur, halb empört, halb amüsiert. Weshalb auch immer sie doch zum Treffen erschienen waren – er hatte sie hier, hatte damit ein Fuß in der Tür. Und was er durch diese Tür sah, gefiel ihm. Sogar außerordentlich gut.
„Na, wenn das so ist …“ Er zwinkerte. „Dann hoffe ich mal, dass ihr diese Entscheidung nicht bereuen werdet.“
Chris führte das junge Paar zielsicher und doch über wohldurchdachte Umwege über den Gendarmenmarkt Richtung Unter den Linden. In den planmäßigen Quadraten in der Gegend ragten die prachtvollen Altbauten in den dunklen, grauen Himmel. Die leuchtenden Schaufenster malten ein silbernes Licht auf die großen Platten der Fußgängerwege. In den Geschäften funkelten teure Colliers und Armbanduhren, aufwendige Spitzenkleider und feine Seidenanzüge waren auf posierende Puppen gespannt, die das perfekte, mondäne Leben der Berliner High-Society imitierten.
„Fühlt ihr euch wohl hier?“
Nik und Milena schauten beeindruckt in die Schaufenster, schienen allerdings nicht wirklich angetan.
„Nur falls ihr euch fragt“, meinte Chris über die Schulter und fing ihre großen Blicke ein. „Ich kann es mir auch nicht leisten, hier zu shoppen. Keine Panik – wir sind gleich weg.“
Die Bars in der Gegend lagen in den Stockwerken über den Ladenzeilen und die meisten standen ihnen in Exklusivität und Klasse in Nichts nach. Einige wenige allerdings setzten auf den legeren Standard von Wohlfühlatmosphäre im Linvingroom-Style zu leiser Musikuntermalung. Diese etwas entspannteren Läden wären ein wunderbarer Beginn für ein wenig Kulturvielfalt in Berlin.
Sobald er sein Rad an eine mit Stickern und Flyern zugekleisterte Laterne geschlossen hatte, führte er Milena und Nik den großangelegten Eingang eines Altbaus hinauf. Die Treppenstufen waren mit einem eidotterfarbenen Teppich ausgelegt, an dessen Säumen Windlaternen die Nacht erhellten.
„Sieht edel aus“, meinte Milena, als die die Bar im ersten Obergeschoss erreichten. Chris würde ihr nicht wiedersprechen. Im Zentrum des durchgehenden Raums befand sich als quadratischer, freistehender Block die üppig ausgestattete Bar des Ladens. Die grellen Lichter des Stadtverkehrs waberten durch die bodenbündigen Fenster und brachten die unzähligen Spirituosen und Gläser auf ihren repräsentablen Plätzen zum Funkeln. Hinter den Tresen schwangen geübte Hände Shaker und Flaschen umher, als gäbe es für sie die Schwerkraft nicht. Auf den Hockern vor der Bar bequemte sich das Publikum des gelösten Treibens. Chris glaubte Geschäftsmänner aber auch Paare und Freundescliquen auszumachen. Ein buntes, legeres Publikum, auf das man hier Wert legte. Man verstand sich als Vermittler zwischen Kultur und Business. Schmelztiegel zwischen Geschäft und Vergnügen.
Chris dirigierte Milena und Nik an eine der Sitzgruppen, die scheinbar willkürlich vor den Fensterfronten drapiert worden waren. Große lederne Sessel in einer Farbe, die dem Cognac an der Bar ähnelte, ein niedriger Tisch mit heruntergebrannter Kerze als einsame Dekoration. Von hier oben konnte man einen unbemerkten, abschätzigen Blick auf die gehetzten Menschen auf den Straßen werfen. Man fühlte sich als Teil des Ganzen, diesem Ganzen aber doch entfremdet.
Chris schmiss sich in einen der Sessel und griff eine der Karten, die auf dem Tisch bereitlagen. „Gefällt es euch?“
Erwartend schaute er die beiden an und hob die Brauen. Milena und Nik standen noch etwas orientierungslos vor der Sitzgruppe und ließen den Blick von der Innenausstattung zu ihm wandern. Wie auf Kommando kam Bewegung in sie und deutlich gesetzter als er ließen sie sich in eine farblich abgestimmte Ledercouch sinken.
„Ich hätte nicht gedacht, dass man dich in so einem … Laden findet.“ Milena nahm ebenfalls eine Karte und schaute über den gekonnt designten, gelben Pappbogen zu ihm herüber. „Bist du oft hier?“
Fast verschwörerisch lehnte Chis sich über den niedrigen Tisch: „Siehst du die Barkeeper? Die tragen keine Fliege – was bedeutet, kein Dresscode! Die Geschäftsmänner am Tresen kommen nur her, weil der Job mit stressigen Finanzmogulen sie nervt und sie hier abschalten können. Das Konzept beruht auf Wohnzimmeratmosphäre ohne irgendwelchen Etikettenschnickschnack. Ich komme tatsächlich gerne her … hier wird man in Ruhe gelassen. Meistens.“
Milena nickte und schaute beinahe ehrfürchtig rüber zu der Bar, die so groß wirkte, dass man unweigerlich das Gefühl bekam, man würde sich ohne Navi darin verlaufen können. Chris ahnte, was in ihr vorgehen musste. Von der Vielfalt an Auswahl und Eindrücken war jeder erstmal ein wenig benebelt.
„Ich habe hier mal gearbeitet“, führte er fort. „Aber das ist schon länger her.“
Milena blinzelte ein paar Mal: „Wirklich?“
Als hätte man auf ihre Frage antworten wollen, kam auch schon die Servicekraft zu ihnen an die Sitzgruppe und strahlte falsch über beide Ohren. Eine Frau, etwa Mitte Vierzig. Viele, dunkle Locken kräuselten sich um ihr schmales Gesicht. „Chris, hallo! Du hier? Wir haben uns schon … ewig nicht gesehen!“
Chris lächelte sie an, auch wenn er sich nicht mehr ganz sicher war, wie die Frau überhaupt hieß. „Ewig. Bei euch noch alles wie gehabt?“
Die Kellnerin breitete die Hände aus. „Siehst du doch!“, meinte sie lakonisch und zuckte die Schultern. Dann wandte sie sich an seine Begleitung. Gespräch beendet. „Guten Abend. Kann ich euch schon etwas zu trinken bringen?“
„Erstmal eine Flasche Wasser“, sprang Chris ein, als er die leichtüberforderten Mienen sah, und legte die Karte beiseite. „Für mich einen Gin Sour.“
Milena hatte die Stirn in Falten gelegt und scannte aufmerksam die Karte: „Haben Sie einen Aperitif da?“
„Kann ich dir gern machen“, kam die prompte Entgegnung und die Bestellung wurde in ein kleines, schwarzes Gerät eingetippt. „War’s das?“
„Ja“, antwortete Nik und legte ebenfalls die Karte zurück auf den Tisch. „Ich bleibe erstmal bei Wasser … Danke.“
Chris ließ das unkommentiert. Er wusste ja, dass Nik kein Fan von Alkohol war, und respektierte dessen Prinzipien. Kaum war die Kellnerin mit einem letzten, aufgesetzten Grinsen ins Chris‘ Richtung verschwunden, lehnte er sich wieder zurück in den breiten Sessel. Für einen sehr langen Moment verlor er sich in einem Blick, der allein Milena und Nik galt. Sie schienen sich langsam für die für sie offenbar ungewohnte Atmosphäre zu gewinnen und entspannten sich merklich. Milena überschlug die Beine und hob eine Braue: „Täusche ich mich, oder war die Wiedersehensfreude gerade sehr ... gespielt?“
Chris war zwischen einem Augenrollen und einem Lächeln hin- und hergerissen. Er hatte gehofft, dass seine alte Arbeitskollegin – und Managerin – nicht hier sein würde. Andererseits war er amüsiert über die schlecht verhohlene Neugier, die Milena aus den Augen sprühte. „Sie hat mich gefeuert damals … aus Gründen.“ Er zuckte die Achseln, entschloss sich aber dagegen, die genauen Gründe zu nennen. Das war bei aller Offenheit kein Thema für eine erste Verabredung. „Eigentlich hatte ich gehofft, sie ist wie so oft gar nicht hier … aber das macht keinen Unterschied. Zwischen uns ist alles okay. Nur ein paar Meinungsverschiedenheiten.“
Nun wanderte die andere Braue auch nach oben. Ein „So …!?“ war aber alles, was nach seinen Worten schwebend im Raum stand. Erst als die Getränke klirrend an den Tisch kamen, die Bedingung unter Milenas abschätzigem Blick die Wassergläser füllte, um anschließend wieder zu verschwinden, hob Chris den Blick: „Auf einen guten Abend!“
Sie hoben die Gläser und stießen auf den gemeinsamen Abend an, während im Hintergrund die Musik auf leise Jazztöne umstieg. Chris nippte an seinem Gin Sour und ließ erneut sein Augenmerk über Niks Gestalt wandern. Der Mann hielt sich nun etwas entspannter an seinem Wasserglas fest und fuhr sich mit der Linken durch das lässig gestylte dunkelblonde Haar, als sich ihre Blicke trafen. Diese klaren Augen verleiteten einen leicht dazu, sich darin zu verlieren. Doch besaßen sie auch etwas Undurchdringliches, Kühles. Ob dies allein an dieser ungewöhnlich hellen Farbe lag? Chris wunderte sich seit dem kurzen Chat mit Milena gestern, dass Nik überhaupt einem Treffen zugestimmt hatte. Entweder er ahnte überhaupt nichts oder – viel wahrscheinlicher – er ahnte sehr wohl, dass Chris‘ Interesse an Milena mitnichten rein platonisch war und beobachtete jede noch so kleine Geste von ihm ganz genau. Vielleicht genoss er ja sogar diese leichte Spannung aus Provokation und Herausforderung, die zwischen ihnen lag und leicht brodelte. Wollte er am Ende nur sehen, wie weit Chris sich vorwagte?
„Also … du bist mit deiner Freundin vom wunderschönen Bodensee ins stinkende Berlin gezogen, damit sie ihren Traum verwirklichen kann.“ Chris legte den Kopf schief, wohlwissend, dass sein Ton zwischen herausfordernder Offenheit und neugierigem Vorpreschen lag. Er fragte sich, wie Nik reagieren würde. Würde die höfliche Fassade endlich bröckeln? „Wo bist du dabei geblieben?“
„Sehr diskret.“ Nik lachte. Und Chris ließ halb erleichtert, halb erstaunt die Luft aus den Lungen weichen. Es fiel ihm noch immer schwer, sein Gegenüber einzuschätzen. Vielleicht war da ja doch keine unterschwellige Spannung, die irgendwelche negative Stimmung zwischen ihnen schuf. „Meinst du das auf den Job bezogen?“
„Klar“, entgegnete Chris. „Job, Freunde, Familie … war bestimmt nicht leicht, das alles hintenan zu stellen. Find ich bewundernswert.“
Auf Milenas Zügen erschien wieder diese leichte Beklommenheit. Sie stocherte mit ihrem Strohhalm in dem Aperitif herum und senkte den Kopf. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem berührten Lächeln, das irgendwie müde wirkte. Chris hatte zuvor schon bemerkt, dass das Thema offenbar zwischen ihnen stand. Trotzdem bereute er nicht, die Frage gestellt zu haben. Schließlich waren sie ja hier, um sich kennenzulernen.
„Also auf eine Stelle habe ich ein wenig warten müssen, aber ab Oktober hat es geklappt.“ Nik nahm noch einen Schluck aus seinem Glas und zuckte die Achseln. „Was Familie und Freunde angeht – die sind ja nicht aus der Welt. Einer meiner Brüder ist vor ein paar Jahren nach Hamburg gegangen, was bedeutet, dass wir jetzt viel näher zusammenwohnen. Ich bereue die Entscheidung auf keinen Fall.“
Diese Aussage ließ Milenas Lächeln wachsen, auch wenn sie noch immer den Blick gesenkt hielt. Sie griff die Hand ihres Freunds und ein scheuer Ausdruck trat in ihre Augen, als Nik zu ihr schaute. Für einen Moment schien Chris völlig aus der Wahrnehmung der beiden zu verschwinden, was ihn nur dazu verleitete, weiter an seinem Drink zu nippen und stumm das zu beobachten, was vor ihm geschah. Was im Grunde nicht viel war. Andere hätten möglicherweise höflich das Augenmerk abgewendet, um dem Paar etwas Privatsphäre zu gönnen. Aber Chris kam gar nicht auf die Idee, schaute weiter über den Rand seines Glases zu den beiden und erstellte die stumme Theorie, dass Nik bestimmt ans Teilen gewöhnt war, wenn er mit Geschwistern aufgewachsen war. Das würde Chris durchaus entgegenkommen.
Als er irritiert bemerkte, dass er am Boden des Tumblers angekommen war, fiel ihm auf, dass ihr Gespräch vielleicht erneut eine Idee zu lange ausgesetzt hatte. Und sein Starren möglicherweise eine Spur zu offensichtlich wurde. „Können wir nun endlich das Geheimnis lüften? Was arbeitest du denn?“, fuhr er etwas zu hastig auf und stellte gespannt das leere Glas weg.
Nik wirkte verwundert und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. „Geheimnis?“
Als er zu bemerkten schien, dass Milena Chris verschwörerisch zuzwinkerte, wanderte sein Blick zu der Tänzerin, die mit Unschuldsmiene ein Lächeln unterdrückte. Er schien noch immer keine Ahnung zu haben, weshalb Milena und Chris plötzlich so verschwörerisch taten. Chris selbst schob sein aufkeimendes, hitziges Interesse auf den zu schnell gekippten Gin Sour. Seine Erwartungen stiegen jedenfalls mit jeder Sekunde, die verstrich. Vielleicht war Nik ja doch ein vermögender Banker und diese Gegend passte ganz wunderbar zu seinem Portemonnaie? Aber ein Banker, der in Konstanz Karriere gemacht hatte? War Konstanz groß? Bot Konstanz überhaupt die Möglichkeit …
Sein Gedankenmonolog wurde unterbrochen, als Nik endlich antwortete. „Ich bin Tierpfleger.“
Nik beäugte sehr genau, wie Chris auf diese Aussage reagierte. Und offenbar gab er ein lustiges Bild ab, denn Nik schüttelte lächelnd den Kopf: „Ich habe im Sealife in Konstanz und auch schon im Zoo von Zürich gearbeitet“, erläuterte er verschmitzt, ganz so als wäre er ein kleiner Junge, der von seinen Medaillen der Bundesjugendspiele prahlen würde. „Jetzt habe ich eine Stelle im zoologischen Garten … auch, wenn das etwas gedauert hat.“
Chris blinzelte ein paar Mal, versuchte krampfhaft, sich Nik im blauen Overall vorzustellen, der Mist aus dem Elefantenhaus schaufelte und dabei bis zu den in Gummistiefel verpackten Waden im Dreck versank. Das passte nicht. Das passte einfach nicht zu dem Mann, der gegenüber von ihm saß als hätte er gleich einen Pressetermin, bei dem es um die Zukunft seiner Spitzensportkarriere ging.
„Das hätte ich nie im Leben erraten“, gestand Chris ein. Aber auch nur, weil ihm nichts Besseres dazu einfiel.
„Das sagen die meisten“, entgegnete Nik achselzuckend. „Ursprünglich wollte ich Tierarzt werden, aber … das mit dem Abitur hat auch auf den zweiten Bildungsweg nicht so geklappt, wie ich es geplant hatte. Jetzt bin ich hier …“
„Und du siehst glücklich aus“, ergänzte Chris, dem das Strahlen auf dem Gesicht von Nik nicht entgangen war.
In dessen blauen Augen blitzte es auf. „Stimmt genau. Der Tiergarten hier hat ein unglaubliches Konzept. Die artgerechte Haltung und die Förderungsmaßnahmen für den Erhalt von Arten sind exemplarisch! Ich habe in drei Wochen mehr gelernt als in meiner gesamten Ausbildung.“
Chris nickte, ohne sich ein genaues Bild von den Dingen machen zu können, die Nik da vorbrachte. Er hatte keinen blassen Schimmer von Tieren, war das letzte Mal als Kind mit der Schulklasse in einem Zoo gewesen – aber zu sehen, wie der Mann ihm gegenüber geradezu aufblühte, ließ diesen Fakt verblassen.
Eine Ballerina und ein Tierpfleger. Wie passte so etwas zusammen?
„Ich habe dir ja gesagt, du wirst überrascht sein.“ Milena holte Chris aus seinen abschweifenden Gedanken zurück. „Ich war auch ziemlich baff, als er mir das erzählt hatte. Aber das ändert sich schlagartig, sobald man ihn bei der Arbeit sieht …“ Wieder dieses verdammt sinnliche, verdammt freche Zwinkern. Chris schluckte. Er glaubte ihr jedes Wort. Sie hätte ihm aber auch gerade erzählen können, dass sie an den Wochenenden regelmäßig Urlaub auf dem Jupiter machten und er hätte es ohne Vorbehalte geglaubt. „Hast du eine Ausbildung in der Gastronomie gemacht? Oder bist du Quereinsteiger?“
Chris räusperte sich: „Naja, viele denken ja, dass man in der Gastro heutzutage keine Ausbildung mehr braucht, um einen Job zu bekommen … was vermutlich auch stimmt. Aber ich habe tatsächlich eine gemacht – sogar in der gehobenen Gastronomie. Nach meinem Abschluss habe ich mich vom ‚Gehobenen‘ allerdings ganz schnell verabschiedet.“
„Du bist vermutlich viel rumgekommen in Berlin“, schlussfolgerte Milena ganz richtig und Chris nickte nur: „Es gibt einfach zu viel Auswahl, als dass man irgendwo richtig Fuß fassen könnte … oder wollte.“
Noch bevor einer der beiden darauf auch nur reagieren konnte, erhob Chris sich mit einem Ruck. „Und das sollten wir auch nicht. Lasst uns weiterziehen …“ Damit war er schon halb aus der Sitzgruppe verschwunden und zückte sein Portemonnaie. „Die erste Runde geht auf mich.“
Das Paar tauschte einen überraschten Blick, als Chris zur Barinsel herüberging, um bei der blonden Kellnerin die Rechnung zu begleichen. Sie verzichtete darauf, sich bis auf einen knappen Gruß bei ihm zu verabschieden. Chris schaute sie noch einmal genau an und lächelte süffisant, als er an ihre turbulente Zeit hier in der Bar zurückdachte. Sie sah ihrer hübschen, ausschweifenden Tochter überhaupt nicht ähnlich. Und wenn es nach ihr ginge, würde er diese Tochter vermutlich niemals wiedersehen. Was einerseits sehr schade, andererseits wohl besser für sie alle wäre.
Als er sich umwandte, standen Milena und Nik schon parat, um die Bar zu verlassen. Ihrer beider Lächeln war freudig – und weitaus wärmer als noch am Kino im Sony Center vor nur etwa anderthalb Stunden.
Chris erwiderte ihr Lächeln und war sich sicher, dass dieser Abend noch lange nicht vorbei war. Und unglaublich werden würde.
Durch die Nacht
Berlin, Mitte
„Wohin bringst du uns jetzt?“, fragte Milena mit schlecht verborgener Neugier, als sie den breiten Treppenaufgang des Gebäudes hinuntergingen. Mittlerweile war es völlig dunkel über Berlin geworden, was die Schaufenster und Stadtlichter nur noch greller erscheinen ließ. „Und danke für die Einladung.“
Chris winkte ab. „Mal sehen.“
Wortlos schloss er sein Fahrrad auf und führte die beiden weiter durch das hellstrahlende Berliner Nachtleben. Parallel zu Unter den Linden bahnten sie sich einen Weg durch die ruhiger werdenden Straßen, die doch nie an pulsierenden Eindrücken verlor. Je näher sie der Spree kamen, desto breiter wurden die Wege und Straßen. Immer weniger Menschen kamen ihnen entgegen. Als sie den Fluss, der Berlin teilte, endlich erreichten, war es beinahe gespenstisch still.
Das goldene Licht der Straßenlaternen wies ihnen den Weg von der Museumsinsel ab über die Uferstrände mit den zahlreichen, begrünten Parkstreifen. Der frische Geruch des Wassers stieg über den leichten Abenddunst auf, der sich wie ein Tuch aus Nebelschwaden über die Steinbänke legte. Vor ihnen wehte die Musik von Restaurants und Kneipen zu ihnen, lockte sie wie das Licht die Motten. Paare und größere Gruppen von jungen Berlinern hatten Decken auf den Wiesen der Parks ausgebreitet, um sich zu entspannten Elektroklängen treiben zu lassen. Die Geräusche wirkten fern und verzerrt. Wie aus einer anderen Sphäre.
An einer der Uferbars hielten sie an, Chris bestellte an der hawaiianisch anmutenden Bambustheke drei Wegbier – eins davon alkoholfrei. Milena und Nik nahmen ihm die Flaschen ab und sie stießen wieder an, ehe sie sie die Fläche der Strandbar verließen.
„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ Chris unterbrach das angenehme Schweigen, das hin und wieder von einer Frage von Milena zu den großen Gebäuden in Ufernähe unterbrochen wurde. „In Konstanz?“
Milena schaute Nik an, als sie Chris‘ Frage beantwortete: „Ich habe in Zürich Politikwissenschaften studiert … und dort meinen damaligen Freund kennengelernt. Wir waren nicht besonders glücklich miteinander und das Studium, naja … als wir an einem Wochenende zusammen mit anderen Kommilitonen in Konstanz feiern waren, bin ich Nik über den Weg gelaufen. Und er …“ Sie hob ihr Bier und griff gleichzeitig nach der Hand von Nik, „…hat mich nicht mehr in Ruhe gelassen.“
Nik seufzte und schaute über den dunklen Strom, in dessen Mitte die Reflektionen der unzähligen Stadtlichter glänzten. „Wenn ich mich nicht täuschte, hat das auf Gegenseitigkeit beruht!“ Das Lachen in seiner Stimme war deutlich zu hören, auch wenn ein kleinwenig Tadel darin klang. „Sie war unmöglich damals … sie wollte von allem das Beste und auf keine Erfahrung im Leben verzichten“, erklärte er weiter und fokussierte Chris dabei. „Ich musste ihr erst einmal den Kopf geraderücken, damit sie erkennt, wofür sie wirklich gemacht ist.“
Milena lehnte sich im Gehen an seinen Arm. „Das stimmt. Ich habe schon getanzt seit ich drei Jahre alt bin. Aber in der Schweiz hätte ich niemals meinen Lebensunterhalt damit verdienen können, wenn ich es überhaupt in eine Compagnie geschafft hätte. Ohne Nik würde ich heute wahrscheinlich in irgendeinem Büro versauern…“
Chris horchte auf: „Man hört dir überhaupt nicht an, dass du aus der Schweiz kommst.“
„Mein Vater stammt aus der italienischen Schweiz, meine Mama aus Deutschland …“, stellte sie richtig. „Ich bin in der Schweiz geboren, aber wir haben daheim Hochdeutsch gesprochen.“
Das hörte man wirklich. Sie hatte keinerlei Akzent in der Stimme. Aber das war nicht das Einzige, das ihn an diesem Abend an der Frau neben ihm überraschte. Sie schien ein leidenschaftlicher Mensch zu sein. Ob sie wohl schon immer gestrahlt hatte? Oder war ihr erst durch Niks Einfluss gelungen, sich wirklich so zu präsentieren, wie sie nun war?
„Es ist schön hier“, bemerkte Nik, als sie kurz vor der nächsten Bar waren, die sich hier wie Perlen an einer Kette aneinanderreihten.
„Wollt ihr euch ans Ufer setzen?“ Chris hielt inne und deutete auf die steinerne Treppe, die deutlich abgetreten hinunter ins Wasser führte. „In der Bar dort kann man sich garantiert Decken leihen…“
Kurze Zeit später kam er mit einer feuerroten Decke und drei neuen Bier zurück, was Milena und Nik nur lachend beäugten: „Die nächste Runde geht aber endlich mal auf uns!“
Sie saßen schon an den ausgespülten Stufen und hatten ihre Jacken übergestreift. Chris reichte ihnen die Decke, die sie über den kühlen Stein legten, und gesellte sich zu ihnen. Da die Stufen allerdings sehr schmal in die Böschung gebaut waren, musste Chris sich auf die Stufe unter ihnen setzen. Und kam Nik dabei nicht unabsichtlich etwas sehr nahe.
Bisher war ihm nicht gelungen, die noch von der Fremdheit untereinander bestimmte Distanz auf ein legereres Maß zu lockern. Sie gingen freundschaftlicher miteinander um, doch von der Nähe, die Chris sich wünschte, waren sie noch weit entfernt.
Stumm ermahnte er sich. Fingerspitzengefühl. Die beiden stammten nicht aus Berlin, waren irgendwie unschuldiger, als er zunächst vermutet hatte. Er wollte es langsam angehen lassen, ihnen die Chance geben, zurückzuweichen. Vermutlich wäre es klug, die Sache einfach laufen zu lassen und zu sehen, wann sich eine passende Gelegenheit ergab.
Schließlich war dieses Kennenlernen so langsam und zögernd auch irgendwie interessant und reizvoll.
„Ich hätte nicht gedacht, dass Berlin so schön sein kann“, bemerkte Milena und schaute über die Spree, während sie mit spitzen Fingern am Etikett ihrer Flasche knubbelte. Auf der anderen Seite des Flusses zeichnete sich das dunkle Panorama einer undurchdringlichen Großstadt ab. Laut, grell, tönend. Unendlich weit weg. Chris schaute zu den beiden auf: „Ja … so schön wie heute ist es nur selten.“
Sie schauten ihn zwar kurz an, ließen aber mit keiner Miene oder Geste einen Rückschluss darauf zu, ob sie verstanden hatten, was er meinte. Er unterband ein lautes Seufzen, indem er mehr Bier trank und die Beine von sich streckte. Betrunken würde ihm vielleicht mehr einfallen. Alkohol steigerte ja bekanntermaßen die Kreativität.
Der Wind im Gesicht tat gut und vertrieb ein wenig den Stadtstaub aus seiner Nase. Es fiel einfach, sich hier treiben zu lassen. Für eine Weile schwiegen sie und Chris könnte wetten, dass die beiden hinter seinem Rücken gerade mit sehr tiefen Blicken ineinander versanken. Chris dagegen kaute frustriert an seiner Lippe herum und stellte fest, dass ihr Treffen zwar durchaus angenehm war, er sich aber dennoch irgendwie mehr davon versprochen hatte. Was – mit hoher Wahrscheinlichkeit – äußerst naiv gewesen war. Milena und Nik waren ein Traum von einem Paar. Nicht, dass Chris viel von dieser Sache an sich verstand. Aber die beiden schienen glücklich, irgendwie angekommen.
Als er sich dann aus seinen Gedanken gelöst wieder umdrehte, um dem Schweigen endlich ein Ende zu bereiten, musste er sich zusammenreißen, um sich nicht am Bier zu verschlucken. Die beiden waren keinesfalls in einem tiefen, unschuldigen Blick versunken. Vielmehr in einem innigen, sehr tiefen Kuss! Chris konnte nicht anders, als mit großen Augen zu verfolgen, wie sich die Lippen von Milena an denen von Nik bewegten, als dieser ihr Gesicht mit seinen Händen umfasste. Die Tänzerin seufzte leise und lehnte sich in die Berührung. Ihre schlanken Finger wanderten in das helle Haar von Nik, an dessen Beinen Chris lehnte. Gefangen zwischen Neugier, aufwallender Lust und Perplexität, richtete Chris sich ein Stück auf und bereute die Entscheidung sofort. Nik unterbrach den Kuss und schaute etwas irritiert zu ihm herunter. Auch Milena wirkte so, als hätte sie ihn gerade völlig vergessen. „Entschuldige“, murmelte sie leise. „Schlechte Pärchenangewohnheit.“
Chris hob nur beide Hände: „Kein Problem!“ Von ihm aus hätten sie damit weitermachen können, bis die Sonne aufging. „Ich freu mich, dass ihr euch in meiner Nähe so … gehen lassen könnt“, fügte er an und schickte ein Zwinkern hinterher. Auf Milenas Wangen erschien ein leichter Rotton. Doch Chris konnte nicht sagen, ob sie seine Flirtversuche tatsächlich erkannte oder einfach nur von seiner Offenheit irritiert war. Jedenfalls erschien sie in diesem Moment nicht halb so selbstsicher, wie er sie eingeschätzt hätte. Auch, wenn er eigentlich auf Frauen stand, die immer spitzzüngig und selbstbewusst zu sich selbst standen, so war dieser kleine Zug von Schüchternheit doch irgendwie … anziehend.
Lächelnd hob er seine leere Flasche: „Wolltest du nicht die nächste Runde zahlen?“
Milena zog erst die Brauen zusammen, lachte dann aber und nahm ihm die Flasche aus der Hand. „Darf’s nochmal dasselbe für den Herrn sein?“, fragte sie in schlechter Nachahmung eines alten Oberkellners und schaute dann zu Nik, der gleich verneinte. Als sie das Ufer hochstieg, um zu der Terrassenbar in Sichtweite zu gehen, warf sie noch einen lächelnden Blick zurück, bei dem Chris beinahe glaubte, er könnte nur ihm gelten.
„Du hast verdammtes Glück mit ihr“, raunte er dann Nik zu und schaute zu ihm auf. „Allerdings muss ich sagen, dass sie es auch ganz und gar nicht übel getroffen hat.“
Kurz schwappte so etwas wie Skepsis in seinen Ausdruck, die allerdings schnell wieder verschwand, als Chris unbeirrt weiterredete: „Ich finde es cool, dass ihr euch gleich auf ein Treffen eingelassen habt. Hat mich, um ehrlich zu sein, schon … überrascht. Normalerweise … und ich weiß, dass klingt jetzt sehr abgedroschen … mache ich sowas nicht und …“
Nik begann, laut und herzlich zu lachen, was Chris nur verwundert die Brauen nach oben ziehen ließ. „Was?!“
„Nichts!“ Nik umfing seine volle Bierflasche mit beiden Händen und lehnte sich ein Stück zu ihm. „Ich habe mich nur gefragt, wie jemand mit deiner Statur so viel trinken kann, ohne sich etwas anmerken zu lassen …“
Chris‘ Mund klappte auf. „Jemand von meiner Statur?! Was soll das denn heißen?“
Gut, wenn er sich mit Niks eher durchtrainierten Körperbau verglich, so war er tatsächlich eher ein halbes Hemd. Aber er war doch lange kein Hänfling, der weniger vertrug als Milena! Ihr war es vielleicht anzumerken, dass sie schon mehr als zwei Bier getrunken hatte, aber … hallo? Er war nüchtern, komplett nüchtern. Und … wow, diese blauen Augen auf einmal so nahe zu sehen, war irgendwie überwältigend. Für einen Moment zumindest. Dann begriff er, wie nahe Niks Gesicht dem seinen tatsächlich war. Er müsste sich nur ein Stückchen herüberlehnen und …
„Nimm es mir nicht übel“, lenkte Nik ein und hob eine abwehrende Hand. „Ich find‘s nur ziemlich unterhaltsam, wie dein Berliner Dialekt langsam herauskommt!“
„Besser als zu schwäbeln“, presste er unterdrückt heraus. Dann grinste er, als Nik, der seine Worte natürlich vernommen hatte, mahnend die Brauen hob und dann doch in sein Lachen einstieg.
Chris begnügte sich damit, dieses Lachen eine Weile zu beobachten, das einige winzige Fältchen an den richtigen Stellen in Niks Gesicht betonte. Dann rieb er sich halb aus Verlegenheit, halb wegen dem stärker aufkommenden Wind die Arme – die vielleicht wirklich etwas mehr Substanz vertragen könnten. „Tabletts mit Gläsern drauf sehen wohl wirklich schwerer aus als sie sind“, gestand er ein. „Ich bin aber, um ehrlich zu sein, auch nicht so der Sportfan … ganz im Gegensatz zu dir, so wie du aussiehst.“
Nik zuckte nur die Achseln: „Es ist ein guter Ausgleich.“
Dann stand er auf und zog an der geliehenen, roten Decke, von der Chris eilig aufsprang, um nicht in die Spree zu fallen. „Hier.“ Nik schüttelte den Stoff aus und reichte ihn Chris. „Du frierst doch schon, seit wir hier sind.“
Chris nahm die Decke entgegen und wickelte sich darin ein: „Ich will nicht wissen, was damit schon alles gemacht wurde.“
„Wir können gern auch weiterziehen“, schlug Nik dann vor, als Milena mit zwei Bier in der Hand zurück an die Treppe kam.
„Weiterziehen?“, hakte sie nach und bemerkte dann offenbar den roten Stoff um Chris‘ Schultern. Sie grinste schelmisch: „Ich hätte dir auch einen Tee holen können.“
Mit einem Augenrollen nahm er das Bier entgegen. „Alkohol tut’s auch.“
Milena setzte sich schon gar nicht mehr: „Du hast uns versprochen, dass wir Berlin kennenlernen. Du machst doch nicht schon schlapp?“
Natürlich nicht! Mit einem großen Schluck aus der Flasche erhob er sich wieder und ging zusammen mit Nik die Treppe hoch. Dankend bemerkte er, dass Milena sein Rad aus dem Ufergras fischte und es offenbar für ihn weiterzuschieben gedachte. So schlenderten sie weiter die Spree entlang, kamen an Parks und beleuchteten Kuttern vorbei, in denen kleine Partys stiegen.
Mit einem amüsierten Blick stellte er fest, dass Milena mittlerweile auch schon ihr viertes Bier von den Spreebars erstanden hatte. „Hast du morgen kein Training?“
„Doch“, bestätigte sie und stieg mit einem kühnen Ausdruck im Gesicht auf den Sattel seines Rads. „Aber das hält mich nicht davon ab, gute Laune zu haben.“ Ein spitzer Blick in Richtung von Nik untermalte nur die leichte Provokation in ihrer Stimme.
„Richtig so“, sagte Chris und hob das Bier, um mit ihr anzustoßen. Mittlerweile fuhr sie das Singlespeed in gefährlich kleinen Schlangenlinien neben ihnen auf den Pflastersteinwegen. Sie war ein gutes Stück zu klein für das Gestell, aber das machte sie mit viel Elan und reichlich albernen Grimassen wieder wett. „Kannst du dir vorstellen, dass man mich als Hänfling bezeichnet, der keinen Alkohol verträgt?!“
Sie machte große Augen und ahmte seinen gespielt ernsten Ton nach. „Nein …! Wer hat das gesagt!?“
„Dein Freund hier“, führte er fort und stieß Nik mit dem Ellenbogen an. „Hat das zu mir gesagt! Mega frech, dafür, dass er sich einfach drückt!“
Milena lachte und schüttelte dabei tadelnd den Kopf: „Manchmal ist er wirklich furchtbar!“
„Das habe ich überhaupt nicht gesagt!“ Nik verteidigte sich mit vor Lachen vibrierender Stimme. „Ich habe nur bemerkt, dass … naja, dein Akzent ist im nüchternen Zustand kaum bemerkbar und vorhin hat es auf einmal klick gemacht und du redest so hart Berlinerisch, dass ich dich kaum verstehe!“
Chris konnte den Worten nicht wirklich folgen. Er trank mehr kühles Bier und schüttelte den Kopf: „Unverschämtheit!“
„Das hat nichts mit Unverschämtheit zu tun! Ich fand es nur merkwürdig, dass jemand, der so … schmal ist wie du so viel Alkohol in so kurzer Zeit verträgt.“ Nik vergrub die Hände in seiner Jacke und schaute auf in die Bäume, die ihren Weg säumten. „Ist ja offensichtlich dann doch nicht so …“
Ihm war natürlich klar, dass sein Berliner Akzent durchaus gut zur Geltung kam, wenn er zu viel Bier trank. Aber das war doch unmöglich jetzt schon der Fall!
„Wollen wir nach Kreuzberg?“, schlug Chris dann zusammenhangslos vor, als sie eine der Brücken ans andere Ufer erreichten. „Das ist ein gutes Stück von hier … aber lohnt sich.“
Die beiden stimmten zu.
Schon auf dem Weg zurück in Richtung Mitte, kehrten sie in zwei Bars ein, die Chris selbst noch nicht kannte. Dort bestellten sie sich mit der Absicht, nur kurz zu verweilen, je nur ein oder zwei Kurze und zogen weiter. Die Straßen waren mal voller, mal leerer. Innerhalb der Gastronomiebetriebe herrschte um die Uhrzeit allerdings durchgehend reges Leben. Milena staunte nicht nur einmal über den gewagten Stil einiger Extremberliner, die Chris erst nicht aufgefallen wären. Nik hingegen hatte Mühe damit, seine Freundin liebevoll zu ermahnen, wenn sie etwas zu laut lästerte oder in der Öffentlichkeit zu anhänglich wurde. Auch Chris wurde manches Mal freiwilliges Opfer ihrer Übergriffe. Sie hielt sich an seiner Schulter, flüsterte ihm leise, verschwörerische Dinge ins Ohr, wenn ein neuer Hipster die Bar betrat, und versicherte ihm mit einer langen Umarmung, dass er ganz bestimmt kein halbes Hemd war. Sondern gut aussah.
Ihre Gespräche wurden fließender, sie lachten gemeinsam und fanden immer wieder Themen, die die Nacht verkürzten. Chris versuchte, offensichtlicher zu werden, versuchte, die lockere Atmosphäre für einige neue Flirts zu nutzen. Was sich allerdings als schwerer als gedacht herausstellte, wenn er Nik dabei nicht vor den Kopf stoßen wollte. Milenas Hemmschwelle mochte durch den Alkohol gesenkt worden sein, die ihres Freundes allerdings nicht. Chris musste sich zur Vorsicht mahnen. Ohne Fingerspitzengefühl wäre er sicherlich innerhalb weniger Sekunden raus aus der Nummer. Kleine, scheinbar unschuldige Berührungen, Blicke, die länger und tiefer währten als noch vor wenigen Stunden – das war alles, was er wagte, sah man von einigen mehr als dämlichen Anmachsprüchen ab, von denen er sich selbst fragen musste, ob er das gerade wirklich ernst meinte. Vielleicht hatte Nik recht und er hatte schon viel zu tief ins Glas geschaut?
Auf eine Reaktion wartete er jedenfalls vergeblich. Schließlich wurde ihm klar, dass er heute Abend wohl kaum noch irgendetwas reißen könnte. Milena hatte viel zu viel getrunken und Nik war hetero par excellence! Da half es auch nicht, dass Chris ihm recht auffällig über den Arm streifte, als sie am Tresen das nächste Getränk bestellten.
Als sie die dritte Bar seit der Spree verließen, hakte Milena sich bei ihm unter, während Nik das Fahrrad schob. Je später es in Kreuzberg wurde, desto mehr wuchs die Kluft zwischen den geisterhaften und den bunten Gestalten, die über die Straßen streiften. Die Lichter wurden diffuser, jedes Geräusch wirkte unvergleichbar laut und die vereinzelten Rufe in der Nacht drangen bis ins Mark.
Chris warf während eines neuen, kaum durchdringlichen Redeschwalls von Milena einen Blick auf Nik. Dieser schaute nun schon das dritte Mal in dieser Stunde auf die Uhr. Es musste schon weit nach Mitternacht sein. „Müsst ihr morgen früh raus?“
Nik lenkte das Augenmerk zu Chris, wirke dabei müde und entschuldigend zugleich. Er seufzte: „In viereinhalb Stunden, um genau zu sein.“
Chris öffnete entgeistert den Mund und war wirklich überrascht, dass Nik nicht schon früher etwas gesagt hatte. „Dann solltest du dringend schlafen gehen! Ich will ja nicht, dass du morgen von irgendwelchen Raubkatzen gefressen wirst, weil du in ihrem Gehege eingeschlafen bist!“
Milena unterdrückte neben ihm mehr schlecht als recht ein kleines Gähnen: „Vielleicht ist das keine schlechte Idee. Ich habe morgen Vormittag auch Training.“ Sie lächelte unsicher. „Du bist uns doch nicht böse? Wir können das gern ein andermal weiterführen …?“
Oh ja, davon ging Chris aus!
„Seid ihr mit dem Auto gekommen?“, fragte er nur, ohne auf ihre Worte einzugehen. Sie brauchten sich für überhaupt nichts zu entschuldigen. Der Abend war – bis auf winzige Abstriche von Nähe und Privatem und privater Nähe – wirklich gut gewesen. Überraschend gut.
Milena nickte.
„Dann bringe ich euch mal besser zurück an den Potsdamer Platz …“
Milena legte den Kopf schief und zog die Stirn kraus: „Das musst du nicht…“
„Ist kein Problem.“ Er zog ihre Gestalt näher an sich. „Muss eh in die Richtung.“
Das stimmte zwar nicht ganz, aber er traute es den beiden mitten in der Nacht nicht wirklich zu, den Weg zurück ans Sony Center allein zu finden.
Sie wurden ruhig, als sie sich wieder Richtung Mitte begaben. Es schien, als hätte irgendjemand ihren Gesprächsfaden gekappt. Doch die Stille war nicht unangenehm, sondern fast schon vertraut und entspannend. Er war mit seinen Gedanken allein.
Die Nacht wurde kühler. Sehr viel kühler. Aber Chris störte sich nicht an dem Umweg, den er für Milena und Nik in Kauf würde nehmen müssen. Jede Minute mehr mit ihnen war dieser Umweg wert.
Als sie in Sichtweite des Potsdamer Platzes kamen, deutete Nik in eine Seitenstraße. „Wir stehen dort hinten.“
Dies war wohl der Satz, der den gemeinsamen Abend beendete. Milena schloss ihn in eine Umarmung, die sich warm anfühlte und vielleicht etwas zu lange dauerte. Sie schien traurig, als sie sich von ihm löste: „Danke für den … abwechslungsreichen Abend. Es war wirklich schön!“
Chris nickte nur und nahm schweigend sein Rad von Nik.
„Willst du wirklich noch fahren?“ Nik schaute ihn fragend und zugleich besorgt an. „Du landest doch nach hundert Metern im Straßengraben …“
„Wenn es dich beruhigt, schieb ich eben.“ Chris schüttelte gespielt empört den Kopf und war sich im Klaren darüber, dass er ewig brauchen würde, bis er an seiner Wohnung ankam. „Macht’s gut!“
Er wollte sie auffordern, sich zu melden. Tat er schließlich aber nicht. Er war zwar gut betrunken, aber ein wenig Stolz besaß er dann doch. Als die beiden sich verabschiedeten und die dunkle Straße bis zu ihrem Auto entlanggingen, schaute er ihnen noch für einige Momente hinterher.
Hatten sie tatsächlich gar nichts bemerkt?
Oder war das nur ein Spiel und das Paar wusste sehr wohl, was Phase war?
Still und trotzig nahm er sich vor, dass er die Sache auf sich beruhen lassen würde, wenn Milena sich nicht mehr melden würde. Vielleicht wollte er wirklich zu viel und die beiden ahnten und trauten sich zu wenig. Ein wenig Naivität konnte er ihnen leider nicht absprechen. Sie waren so anders als der Rest von Berlin.
Auf dem Weg zurück nach Neukölln ging er noch einmal ihre Gespräche und Gesten durch. Milenas Lächeln, ihre Berührungen, die so beiläufig und doch so … intensiv gewirkt hatten. Nik, der langsam von seiner kühlen, zurückhaltenden Art abgeweicht und über den Abend hinweg immer mehr aufgetaut war. Er hatte keine Eifersucht gezeigt, egal wie nahe Milena sich in ihrem heiteren Zustand an Chris gedrängt hatte. Er hatte sich trotz seines Alkoholverzichts auch nie beschwert, oder den Anschein erweckt, sich wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen. Im Gegenteil. Er hatte sich bei jedem noch so bescheuerten Witz und jedem noch so peinlich-betrunkenen Gespräch miteingebunden. Auch, wenn Milena und Nik sich nicht auf seine Flirts eingelassen hatten, so war es doch einer der besten Abende seit langem gewesen.
Als er seine Wohnungstür so leise wie möglich hinter sich schloss, vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Stirnrunzelnd schaute er auf das Display und lächelte.
Das ging schneller als erhofft.
‚Ich werde dich spätestens morgen beim Training verfluchen. Bis hoffentlich bald. Milena.‘
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