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Homecoming.

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23.02.19 12:04
18 Ab 18 Jahren
Homosexualität
In Arbeit

"Weißt du noch, als wir Kinder waren und davon gesprochen haben, dass wir zusammen von hier weglaufen und nie wieder zurückkommen werden?" 

Sie zog an ihrer Zigarette und erfüllte nur wenige Sekunden später den spärlich beleuchteten Raum mit Rauch. Sie saßen bestimmt schon seit Stunden in dieser Dunkelheit und sahen sich merkwürdige Serien auf Netflix an, die keiner von ihnen sonderlich beachtete, geschweige denn gut fand. Die Stimmen waren schon vor einiger Zeit stumm geschalten worden.

"Ja, ich erinnere mich", gab er als Antwort zurück, den Kopf auf die Sitzfläche der Couch zurückgelegt und an die Decke starrend. 

„Ich habe das Gefühl, dass ich hier wirklich niemals rauskommen werde.“

Sie rutschte auf dem Boden etwas nach vorne, um die bis auf den Filter aufgerauchte Kippe im Aschenbecher auszudrücken. Die alte Fleecedecke rutschte dabei von ihrer Brust und landete auf den nackten Beinen. Ein Arm wurde nach der offenen Vodkaflasche ausgestreckt, kurz darauf hörte er, wie sie mit ein paar wenigen Zügen die Flasche leer trank. 

„Wieso sollte man auch von hier wegwollen? Hier ist doch alles perfekt. Die reinste Idylle.“ 

Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, woran das jedoch lag, konnte er nicht sagen. Vielleicht wollte er die Stille, die sie umgab, nicht durchbrechen. 

„Deinen Humor hab ich schon immer geliebt, Kleiner. Du bist der Einzige, der noch genauso ist wie früher. Der sich nicht verändert hat, nur weil sich die Welt um ihn herum gedreht hat.“

Sie lehnte sich wieder gegen die Couch und blickte auf den flimmernden Monitor vor ihnen. Offenbar zog sie das, was dort zu sehen war, in den Bann, denn für ein paar wenige Minuten kehrte wieder eine angenehme Stille ein, die er dazu nutzte, um seine Gedanken des Tages zu ordnen.

„Es ist schon verrückt, was manche Menschen für ein wenig Geld freiwillig durchmachen.“

Er wusste nicht, ob sie darauf eine Antwort erwartete, weswegen er es vorzog, nicht weiter darauf einzugehen. Stattdessen richtete er sich ebenfalls wieder auf und streckte die langen Beine ächzend von sich. 

„Du klingst wie ein Mann um die neunzig, und nicht wie einer, der gerade erst neunzehn geworden ist, Denny“, witzelte sie neben ihm und boxte ihm dabei in die Rippen. 
„Wenn wir nicht die ganze Nacht hier auf dem Boden verbringen würden, würde ich auch nicht so klingen. Davon abgesehen fühle ich mich aber wie ein Greis.“ 
„So hart kann dein Job gar nicht sein.“
„Steh du mal acht Stunden lang auf den Beinen und servier‘ den Gästen ihre Bestellungen“, murrte er und zog sich die Decke bis ans Kinn. „Und dann darf man nicht mal zurückmeckern, wenn man selbst angemeckert wird.“
„Ach, als ob meine Arbeit mit den kleinen Quälgeistern einfacher ist. Jeden Tag wird man vollgeheult oder vollgerotzt und ich darf mich auch nicht beklagen, obwohl meine Klamotten versaut wurden, weil ich sonst die Elterngemeinschaft auf dem Hals habe und meinen Job los bin.“

Die kleine Flamme des Feuerzeugs verlieh ihrem Gesicht einen leicht rötlichen Ton, als sie sich wieder eine Zigarette zwischen die Lippen schob und diese anzündete. Das Licht flackerte kurz, bevor es verschwand. 

„Ich verstehe sowieso nicht, wie du jeden Tag mit Kindern arbeiten kannst“, meinte er kopfschüttelnd und griff neben sich hinter der Couch vorbei, um eine Flasche Eistee hervorzuholen. Leise wurde diese von ihm geöffnet und er nahm einen Schluck, als sie wieder zu sprechen begann.
„Man kann eine Menge von ihnen lernen“, erklang es leise, nachdem sie den Rauch wieder in den Raum geblasen hatte. „Sie sind die unschuldigsten Dinger auf diesem Planeten und es ist einfach faszinierend, sie in ihrem Tun zu beobachten.“ 
„Warum wolltest du noch mal keine eigenen Kinder?“ 

Er kannte die Antwort und ja, diese schmerzte sie beide. Dennoch wusste er, dass sie es mit Humor nehmen würde, denn so waren sie nun mal. Das war ihre Art, sich gegenseitig zu zeigen, wie wichtig sie sich waren. Dass ein Altersunterschied von beinahe zehn Jahren zwischen ihnen lag, war beiden egal.  

„Du bist widerlich.“
„Und du rauchst und trinkst zu viel, Taryn“, erwiderte er, als er mühselig aufstand und sich streckte. „Wenn das die Eltern der kleinen Racker wüssten.“
„Was ich in meiner Freizeit mache, kann jedem egal sein. Davon abgesehen sage ich nur einen Namen – Blevins.“  

Eine Mischung aus Husten und Lachen entkam seinen Lippen, als er sich den Mund mit dem Handrücken abwischte und amüsiert zu ihr hinab sah. Sie beiden kannten diesen Namen nur zu gut. 

Reece Blevins war niemand anderes als der Englisch- und Sportprofessor an der Ketchikan High School, der dafür bekannt war, an Wochenenden gerne mal über die Strenge zu schlagen.

Sie beide durften ihn in ihrer Schulzeit genießen und sie beide waren mehr als nur froh gewesen, als sie ihn nicht mehr jeden Tag sehen mussten. Doch in einer Kleinstadt wie Ketchikan, in der etwa achttausend Seelen lebten, passierte es nun mal, dass man sich gelegentlich über den Weg lief. So hatte Denny ihn schon öfters im Coffee Shop bedient und auch seine beste Freundin lief ihm, häufiger als ihr lieb war, in Bars und Clubs in die Arme. 

„Ach, Blevins ist doch nicht der Rede wert“, meinte er belustigt, als er in die Hocke ging, um die leeren herumliegenden Flaschen aufzusammeln.
„Ey, der Typ kam vor drei Tagen bei Brady’s auf mich zu und hat mich wieder voll angebaggert. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass er nicht mehr weiß, dass er die halbe Stadt unterrichtet hat.“
„Das ist etwas übertrieben, aber der Jüngste ist er auch nicht mehr.“
„Ist der nicht eigentlich verheiratet?“
„Keine Ahnung“, entgegnete er, als er in voller Größe stehen blieb. „Also, eine Frau hat er, aber war da nicht mal Gerede darüber, dass sie die Scheidung wollte?“ 

Sie zuckte nur mit den Schultern, als er ohne ein weiteres Wort über dieses Thema zu verlieren, den Raum verließ. Kurz erklang ein Rascheln und Knacken, was sie vermuten ließ, dass er die Flaschen auch entsorgte. Seufzend erhob sie sich von ihrer bequemen Sitzhaltung und fing ebenfalls an, den Boden aufzuräumen, der, durch die letzten Stunden, eher einer Müllhalde gleichkam. 

„Hast du irgendwo einen Besen oder Staubsauger rumstehen“, fragte er beim Betreten des Wohnzimmers, woraufhin sie nur wieder ihre Zigarette aus dem Mund nahm und abwinkend erwiderte: „Lass gut sein. Du musst morgen Früh arbeiten. Ich mach das schon.“
„Wie du meinst. Sehen wir uns morgen?“

Er griff nach seiner Jacke, die er achtlos über ein Regal geworfen hatte, als er am späten Nachmittag angekommen war und zog sich diese über. Dabei beobachtete er, wie sie den Bildschirm ausschaltete und die Fernbedienung achtlos zurück auf die Couch schleuderte.

„Wenn es sich einrichten lässt, komme ich im Laden vorbei und lass mich von dir bedienen.“
„Sollte möglich sein, vorausgesetzt, Porter lässt mich nicht wieder die Brötchen machen“, murrte er in ihre Richtung, als sie ihm den Rücken zudrehte. 
„Dann sag ihm, dass ihr einen ganz wichtigen Kunden bekommt und du ihn bedienen musst.“ 

Sie grinste ihn an und entblößte damit eine Zahnlücke, die sie schon seit ihren Kinderjahren hatte. So recht konnte er noch immer nicht verstehen, wieso sie seit fünf Jahren immer noch alleine war. Natürlich verstand er, dass sie Zeit brauchte, um über den Verlust hinwegzukommen, doch er fühlte, dass dies schon längst geschehen war.

„Gute Nacht, Taryn.“

Der kühle Nachtwind Alaskas strömte in das kleine Wohnzimmer, als er die Eingangstür öffnete und einen Schritt nach draußen tat. Obwohl der Frühling bereits Einzug gehalten hatte, waren die Temperatur noch nicht einmal annähernd über einundvierzig Grad Fahrenheit geklettert. An sich war das nichts Ungewöhnliches, doch er hatte diese Kälte langsam, aber sicher satt. 

„Vielen Dank für den Abend und pass auf dem Nachhauseweg auf.“

Er wurde in eine feste Umarmung gezogen, die nach kaltem Rauch, Alkohol und Erdbeeren roch und ehe er wieder entlassen wurde, spürte er ihre Lippen auf seiner Wange. 

„Ja, Mom“, witzelte er ein letztes Mal, bevor sich die Tür hinter ihm schloss und er sogleich um die Ecke des Holzhauses bog. 

***

„Einen wunderschönen guten Morgen, Denny.“
„Auch wenn es schon längst Mittagszeit ist, so wünsche ich Ihnen das ebenfalls, Mr Aoike.“

Ohne auf die Bestellung des älteren Japaners zu warten, wandte sich Denny ab und stellte zwei Becher unter den Kaffeeautomaten. Ein paar Tasten wurden gedrückt und wieder erfüllte der frische Kaffeegeruch den Laden. 

„Heute scheint hier viel los zu sein.“
„Das liegt am Angelwettbewerb, der wieder stattfindet“, erklärte er dem Kunden, als er die aufgefüllten Becher beschriftete und mit Deckel versetzte. „Es sind auch wieder Zuschauer und Teilnehmer aus Anchorage, Juneau und Fairbanks angereist. Hab sogar gehört, dass ein paar aus Barrow hier sind.“
„Barrow, das ist eine Hausnummer“, erwiderte der Kunde erstaunt und wärmte sich die Hände an heißen Bechern. 
„Hier sind auch noch Ihre zwei Blaubeermuffins, sowie das Thunfischbrötchen.“ 

Er legte die Speisen auf der Theke ab und nahm den Zwanzig-Dollar-Schein entgegen, der ihm zugestreckt wurde. Kurz tippte er auf dem Display herum, damit die Kasse sich öffnete, doch als er das Wechselgeld auszählen wollte, hörte er den Japaner wieder sprechen.

„Das Restgeld kannst du behalten, Denny.“
„Arigatō gozaimasu, Aoike-san. Ich hoffe, es schmeckt Ihnen und Ihrem Kollegen.“ 
”Bestimmt, Denny, bestimmt.“

Jeden Tag lief das Ende ihres Gespräches auf diese Weise ab und jeden Tag sagten sie dieselben Worte. Es war schon beinahe ein Ritual geworden für sie. Seit seinem ersten Arbeitstag in dem kleinen Coffee Shop, verging kein Tag, an dem der Japaner nicht vorbei kam. 

„Denny!“

Eine Stimme, die sich nach wenigen Sekunden als Willow herausstellte, drang an sein Ohr und wedelte mit einem Putzlappen vor seinem Gesicht herum.

„Schläfst du am helllichten Tage?“
„Nein, wie kommst du darauf“, fragte der Angesprochene nach und schloss die Kasse, die immer noch offen stand, mit einer kurzen Bewegung seiner Hüfte. Als er sich zum Gehen umwandte, hielt seine Kollegin ihn zurück.
„Weil du Aoike gerade sehr komisch nachgesehen hast.“
„Ich war in Gedanken.“
„So, so.“ 

Sie hob eine Augenbraue an und lächelte schief, als sich Denny, augenrollend, von ihr losmachte und nach hinten ins Lager verschwand. Da er keine Schritte hörte, ließ er die Tür ins Schloss fallen und seufzte laut auf.

Willows Gedankengänge waren manchmal wirklich nicht nachzuvollziehen. Warum sollte er Aoike-san nachsehen? Welche Gründe könnte er haben und woran könnte sie gedacht haben? Dachte sie etwa, er würde den Japaner attraktiv finden? 

Er fröstelte, als er den Karton mit den Kaffeepackungen von einem Regal nahm und am Boden abstellte. Wie lange war er schon hier drinnen? Ob Willow ihn vorne an der Theke schon vermisste? Kurz sah er auf und betrachtete zufrieden sein Werk. Eigentlich hatte er nur neue Packungen holen wollen, doch dann hatte er kurzerhand beschlossen, die Kühlkammer umzuräumen und neu zu sortieren. Porter würde dies definitiv nicht gefallen, doch das kümmerte ihn gerade wenig.

„Wo warst du denn so lange“, murrte seine Kollegin, als er, offenbar nach langer Zeit, wieder in den Verkaufsraum kam, die Arme mit Kaffeepackungen schwer beladen.
„Ich habe neuen Kaffee geholt.“
„Und dafür benötigst du wirklich eine ganze Stunde?“

Sein Blick wanderte zur Wanduhr, die ihm im Vintage Look tatsächlich sagte, dass er vor exakt sechsundfünfzig Minuten verschwunden war. Wie die Zeit doch verstreicht, dachte er bei sich und räumte die Packungen in eines der dafür vorgesehenen Regale.

„Du solltest besser aufpassen, Denny“, raunte Willow in sein Ohr, als er sich wieder neben sie gestellt hatte und nach dem Putzlappen griff. „Porter war vorhin hier und wollte dich sprechen.“
„Weswegen?“

Nicht, dass es ihm sonderlich interessieren würde, doch Porter Franks war kein Mann, mit dem man gerne diskutierte, wenn man wusste, dass man haushoch verlieren würde. Seit vierzehn Jahren war er der Besitzer des einzigen Coffee Shops in Ketchikan und er tat alles dafür, um dies auch zu bleiben, doch Vater Franks sah offensichtlich nicht genug Potenzial in seinem Sohnemann, weswegen er vor wenigen Wochen eine Meldung aushängen ließ, die besagte, dass ein neuer Nachfolger gesucht wurde.   

„Offenbar etwas wegen dem, was vor zwei Wochen vorgefallen ist. Er hätte die Polizei eingeschaltet, aber alles andere würde er gerne mit dir besprechen. Davon abgesehen habe ich das Gefühl, dass er es auf dich abgesehen haben könnte. Immerhin mag sein alter Herr dich ziemlich gerne, was ich so mitbekommen habe.“
„Ich habe kein Interesse daran“, nuschelte Denny in seinen nichtvorhandenen Bart und blickte just in diesem Moment zur Tür, als diese aufschwang und Taryn den Laden betrat. „Taryn.“
„Einen Espresso Macchiato zum Mitnehmen, mein junger Herr“, wurde er von seiner Freundin begrüßt, als diese sich gekonnt auf einen der Barhocker niederließ. 
„Hallo, Taryn.“
„Willow, du auch noch hier, ja?“ 

Ein Seufzend entfloh Dennys Mund, als er dem angespannten Gespräch lauschte, das zwischen den beiden Damen aufkam. Es war nicht zu übersehen, oder zu überhören, dass sich die beiden bis aufs Blut nicht ausstehen konnten und dies lag nicht zuletzt an ihrer gemeinsamen Schulzeit, in der Willow jeden Kerl, den Taryn gut fand, abgeschleppt hatte.

„Wie läuft’s eigentlich zwischen dir und Blake“, wollte Taryn, gespielt interessiert, wissen, doch Willow kannte sie zu schlecht, um dieses Verhalten tatsächlich durchblicken zu können. 
„Blake ist wundervoll. Letztens hat er mich zum gemeinsamen Abendessen eingeladen und da hat er mich doch tatsächlich einen Antrag gemacht“, schwärmte Willow, woraufhin Taryn sich zu Denny drehte und fragend die Augenbraue anhob, doch dieser zuckte nur unwissend mit den Schultern.

Willow hatte ihm nichts von ihrer Verlobung erzählt und es ging ihm eigentlich auch nichts an. Natürlich tat ihm Taryn in diesem Moment leid, da sie schon immer eine Schwäche für Blake hatte, doch während er die Spülmaschine öffnete und damit begann, das nasse Geschirr abzutrocknen, kam es ihm nicht so vor, als wäre Taryn besonders traurig über diese Nachricht zu sein. Sie schien sich sogar für Willow zu freuen.

„Ist der Nachwuchs auch schon in Planung“, kam es von Taryn, als Willow ihr die Bestellung vor die Nase stellte. 
„Eigentlich noch nicht. Ich war ja schon überrascht darüber, dass er mir einen Heiratsantrag machte.“
„Sei doch froh“, kam die Erwiderung seitens Taryn, als sie langsam ihren Kaffee umrührte. „Hinter Blake war jede her und er hat sich dennoch für dich entschieden.“
„Da gebe ich dir recht.“

Obwohl das Gespräch nach den letzten Worten Willows sein Ende fand, blieb Taryn bis zu seinem Schichtende im Coffee Shop sitzen, orderte zwischenzeitlich wieder einen Kaffee nach und plauderte dann und wann mit ihm. Dass er ihr dankbar darüber war, konnte man ihm deutlich ansehen, als er den Laden durch die Hintertür verließ und sich kurz darauf neben Taryn an das Geländer des Holzpodests stellte. 

„Es kam mir vor, als wären die Minuten der letzten Stunde doppelt so langsam vergangen.“
„Du hättest auch gehen können“, murmelte Denny, als er den Kopf auf die Arme legte und auf den Ketchikan Creek hinab sah. Das Wasser schlug sanfte Wellen, als einer der in Alaska üblichen Fischfangkutter sich einen Weg durch die Stadt bahnte.
„Ich leiste dir gerne Gesellschaft, Kleiner, das weißt du doch.“

Er spürte einen Schlag auf seiner Schulter und rieb sich diese, was Taryn zum Grinsen brachte. Sie wandte sich um und zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche. Die Frage, ob sie jemals aufhören würde, war unnötig, das wusste Denny, dennoch stellte er sie wieder. Aus Gewohnheit.

„Vielleicht. Irgendwann. Ich weiß es nicht.“ Sie blies den Rauch in die kühle Nachmittagsluft und seufzte. „Wenn ich jemanden finde.“

***

Seine nackten Füße fühlten sich taub an, dennoch spazierte er langsam durch den grauen Sand. Die Schuhe mitsamt den Socken hielt er in einer Hand, während er mit der anderen gelegentlich Steine oder kleine Hölzer hochnahm und ins Wasser warf. Immer größer werdende Kreise zogen sich durch das Blau, als er in die Hocke ging und sein Gesicht musterte, das sich im Tongass Narrows spiegelte.

Die braunen Haare kräuselten sich auf der Stirn und hinter den Ohren, aufgrund des Schweißes, den er noch von vorhin auf seiner Haut spüren konnte. Seine Lippen waren spröde und rissig, sowie auch seine Hände, die er im Schoß zu Fäusten geballt hatte. Die Knöchel traten weiß hervor, während die Haut noch weiter aufriss, woraufhin er letztlich feine rote Linien erkennen konnte.

Das Bellen eines Hundes, unweit von ihm entfernt, ließ ihn aufsehen. Er suchte seine Umgebung ab, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches erkennen, weswegen er sich erhob und auf den Rückweg machte. Mit den Schuhen wieder in der einen Hand, zog er mit der anderen sein Telefon aus der Hosentasche und entsperrte es. Keine neuen Nachrichten, keine neuen Mails, keine neuen Benachrichtigungen. Lediglich die Uhr zeigte ihm an, dass er offenbar bereits seit fast zwei Stunden am Strand war. Zwei Stunden, in denen er besseres hätte machen können. 

Er seufzte resigniert und strich sich mit der Hand durch die Haare, als er das Gerät wieder eingesteckt hatte. Eigentlich hatte er keine Lust zu seiner kleinen Wohnung zurückzukehren, doch was sonst könnte er machen? Taryn wollte er nicht schon wieder belästigen, zumal sie bestimmt auch anderes im Sinn hatte, als ihre Abende ständig mit ihm zu verbringen. War heute nicht auch der Tanzabend in Bradys Lokal? Er nahm sich vor, auf dem Nachhauseweg an der Anschlagetafel nachzusehen, doch zuvor würde er wohl noch den Friedhof besuchen. Dieser lag etwas außerhalb der Stadt, doch da zuhause niemand auf ihn wartete, hatte er Zeit. Zudem musste er sich eingestehen, dass er schon viel zu lange nicht mehr bei ihnen war.

Der Weg zum Friedhof verlief ereignislos. Hie und da traf er ein paar bekannte Gesichter, doch nur mit zweien unterhielt er sich auch für zwei, drei Minuten. Eine der zwei Personen war Mrs Sears. Diese kannte ihn schon seit seiner Geburt vor neunzehn Jahren. Sie war auch die Hebamme gewesen, die seiner Mutter geholfen hatte, ihn zuhause unter Schmerzen zur Welt zu bringen. Seit dem Tod ihres Mannes vor zwölf Jahren kümmerte sie sich liebevoll um dessen Grab am Friedhof, weswegen man sie jeden Morgen und jeden Abend zur selben Zeit durch die Stadt humpeln sah. Er wünschte, er könnte mehr für sie tun, ihr irgendwie helfen, doch egal, was er auch versuchte, sie nahm keine Hilfe an, weswegen er sich dazu entschieden hatte, jedes Mal, wenn er sie traf, ein paar Worte mit ihr zu wechseln und sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Als er an den Gräbern ankam, seufzte er verzweifelt auf und schlug sich die Hand vors Gesicht. Wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen? Der Überwucherung nach müssten es Jahre gewesen sein, doch das war natürlich Unsinn. Aus seinem Vorsatz, jeden Monat vorbei zu sehen, musste er wohl schon vor langer Zeit abgekommen sein. Er kniete sich in die feuchte Wiese und begann, mit langsamen Handgriffen, das Gestein von dem Gestrüpp zu befreien, das sich rundherum emporgerankt hatte. Als dies bei beiden Gräbern gemacht war, goss er noch die bereits braungewordenen Gewächse und Blumen und hoffte, dass diese überleben würden, bis er neue besorgen konnte. 

Auf dem Rückweg war ähnlich viel los, wie zuvor. Es kamen ihm nur ein paar Menschen entgegen, doch da er nun wirklich nach Hause wollte, winkte er jeden Gesprächsbeginn freundlich ab. Er hatte gut eine Stunde auf dem Friedhof verbracht, zudem war er nass und kalt bis auf die Knochen. Es würde ihn nicht verwundern, wenn er in den nächsten paar Tagen krank werden würde.

Der Schlüssel klimperte, als Denny ihn ins Loch steckte und einmal umdrehte. Der Flur erstreckte sich dunkel vor ihm, als er eintrat und sich die Schuhe von den Füßen streifte. Die Socken klebten an seinen Sohlen und rutschten über den Fußboden, doch ehe er den Weg ins Badezimmer antrat, begab er sich ins Wohnzimmer und steuerte die kleine Küchennische an. Dort befüllte er den Wasserkocher und schaltete diesen ein. Auch seine Lieblingstasse stellte er bereit und legte einen Teebeutel hinein. Er würde nach der Dusche einen Tee trinken wollen, ohne lange darauf warten zu müssen.

Als er aus der dampfenden Dusche trat und sich ein Badetuch um die Hüften wickelte, hörte er leise, wie sein Telefon, das noch immer in seiner Hosentasche war, zu klingeln begann. Nur widerwillig angelte er das Gerät aus der Jeans, doch als er Taryns Namen las, legte sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen. Er tippte auf das Annahmesymbol und kaum, als er das kalte Ding an seinem Ohr spürte, vernahm er auch schon ihre rauchige Stimme.

„Denny, hast du Lust später noch mit zu Brady’s zu kommen? Heute ist Tanzabend und da werden bestimmt ein paar schnuckelige Typen dabei sein.“

Die Augenbrauen zusammenziehend strich er sich über den flachen Bauch. Genau das hatte er, vorhin auf dem Rückweg vom Friedhof, vergessen nachzusehen. 

„Wann willst du dort sein?“
„So gegen neun. Klappt das bei dir?“ Sie hustete leicht.
„Wie spät haben wir’s jetzt?“ 
„Kurz vor halb“, kam prompt die Antwort von Taryns Leitung. „Vor zehn wird da aber vermutlich eh nichts los sein, also kannst du dir auch noch Zeit lassen.“
„Hm, ich war gerade unter der Dusche und eine Tasse Tee wartet auch noch auf mich. Sagen wir … so gegen fünfzehn nach?“ 
„Geht klar. Du findest mich an der Bar.“

Das Gespräch wurde beendet, weshalb Denny sein Telefon auf das Regal oberhalb der Waschmaschine legte und begann, den Wäschekorb auszuräumen. Schwarz zu schwarz, der Rest landete wieder dort, wo er auch eben noch war. Nach wenigen weiteren Handgriffen lief die Maschine und Denny verließ mitsamt seinem Telefon wieder das Badezimmer.

Das Abendprogramm der Fernsehwelt war wie immer überflutet von nur schwer erträglichen Comedysendungen mit schlechtem Witz, stümperhaften Politikdiskussionen und uninteressanten Dokus über Öl- oder Goldgrabungen. Dennoch entschied er sich dafür, eben eine dieser Comedyshows zu sehen, ehe er sich dazu aufraffte, sich noch einmal anzuziehen. Er trank den letzten Schluck seines Tees, schaltete den Fernseher wieder aus und trug die Tasse zurück in die Küchenecke. Danach verschwand er in das Schlafzimmer, wo er den Schrank öffnete und wahllos nach Hosen und Hemd griff. Nur wenige Minuten später ließ er die Wohnungstür schon wieder hinter sich ins Schloss fallen.

***

Als er an Bradys Bar ankam, dröhnte bereits ohrenbetäubender Lärm an seine Ohren. Auch roch die gesamte Straße nach kaltem Rauch und Alkohol. Ihm ekelte es, noch bevor er auch nur einen Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte. Doch Taryn zuliebe, trat er nach wenigen Sekunden, in denen er überlegte, wieder umzukehren, ein. Jetzt, wo er schon einmal hier war, konnte es auch nicht schaden, sich nach langer Zeit wieder dem Partyleben hinzugeben.

Taryn befand sich, wie versprochen, vorne an der Bar. Von hinten wirkte sie alles andere als auffällig, doch auch von vorne machte ihr Auftreten nicht viel her, was Denny tatsächlich verwunderte. Er rutschte neben sie auf einen der Barhocker und bestellte sich ein Bier.

„Wieso so unauffällig heute“, fragte er an seine beste Freundin gewandt, die nachdenklich in ihren Mojito starrte.
„Ich dachte, ich versuche es mal mit der Unschuldsmasche.“
„Und deine nachdenkliche Miene?“ Er nahm einen Schluck aus der Flasche und verzog leicht die Lippen. Was hatte er hier nur für ein schreckliches Bier bekommen?
„Ich hatte vorhin eine Diskussion mit meiner Mutter.“ 
„Ging es wieder darum, dass du auf ewig alleine bleiben wirst und ihr keine Enkelkinder bescherst?“
„Ja.“
„Daraufhin bist du sauer geworden, hast ihr an den Kopf geworfen, dass es dein Leben ist und du keine Kinder haben willst, trotz deines Berufs und sie dich endlich damit in Ruhe lassen soll. Ihre Antwort darauf war dann wohl, dass du doch keine Ahnung hast und Kinder zum Leben dazugehören, aber sie kann es verstehen, dass bisher kein Kerl lange bei dir geblieben ist, da du einfach unausstehlich bist. Du hast nichts darauf gesagt, sondern bist wutentbrannt und verletzt nach draußen und hierher.“ 
„Man könnte glatt meinen, du wärst dabei gewesen“, erwiderte Taryn grinsend und drehte sich leicht zu ihm.
„Sagen wir einfach, ich kenne dich und deine Mutter schon lange genug.“ Er hob sein Bier und prostete ihr zu, was sie ihm gleichtat.

Es kehrte Stille zwischen sie ein, doch um sie herum, so kam es ihm vor, wurde es von Minute zu Minute lauter. Immer mehr Menschen bahnten sich ihren Weg auf die sonst kaum genutzte Tanzfläche und wackelten mit allem, was sie zu bieten hatten. Bei einigen Mädchen, die sowohl er als auch Taryn bestens kannten, konnten sie sich beide ein Lachen nicht verkneifen. Sie gehörten zu dieser Sorte des weiblichen Geschlechts, bei denen man getrost sagen konnte, dass der Herr sie übersehen hatte, als er gerade das Hirn verteilte. 

Einem dieser tanzenden Mädchen – ihr Name war Megan – hatte Denny auch mal Nachhilfe in Trigonometrie und Spanisch gegeben. Gegen Bezahlung. Er konnte sich danach tatsächlich die Reparatur seines Wagens leisten. Ihr Vater hatte auf drei Dollar pro Stunde bestanden, auch wenn Denny es damals noch freiwillig getan hätte, aufgrund seiner Gefühle für sie, doch als ihm klar wurde, dass sie nur mit ihm gespielt hatte, war er froh gewesen über das Geld.

„Denny.“

Taryn boxte ihm etwas zu fest gegen den Oberarm, was ihn dazu brachte, sich diesen kurz vor Schmerz aufstöhnend zu reiben. 

„Was ist denn?“
„Siehst du den Kerl da drüben?“

Sein Blick folgte ihrem Finger, der in eine der hintersten Ecken des Lokals zeigte. Dort stand eine Gruppe von Männern, allesamt eine Bierflasche in der Hand haltend. Sie schienen sich amüsiert zu unterhalten.

„Welchen?“
„Na, den Blonden da. Mit der Mütze.“ 
„Ich sehe keinen Blonden mit einer Mütze, Taryn“, erwiderte er, als er versuchte, genauer hinzusehen.
„Er hat einen grauen Cardigan an und die Mütze hat ein nordisches Muster.“
„Meinst du den, der gerade hersieht?“
„Ja, genau den.“
„Was ist mit ihm“, hakte er nach, bevor er noch einen Schluck von seinem Bier nahm, das mittlerweile bis zur Hälfte geleert war. 
„Na, er sieht die ganze Zeit zu dir her.“
„Mach dich nicht lächerlich.“
„Denny“, raunte sie in sein Ohr, als er ihre Nase an seiner Wange spürte. „Der Typ zieht dich mit seinen Augen aus, Mann!“
„Und selbst wenn“, kam es murmelnd von ihm, als er sich wieder der Bar zudrehte und die Flasche abstellte. „Er könnte auch dich anglotzen.“
„Er kommt.“

Tatsächlich stand keine zwei Minuten später besagter Mann neben ihm und orderte noch ein Bier bei Brady, der heute höchstselbst anwesend war und seine Kunden bediente. Einige Sekunden lang geschah nichts, bis Denny plötzlich angesprochen wurde.

„Hallo.“
„Hi.“

Ein leises Grunzen neben ihm ließ Denny daran denken, dass er nicht alleine hier war und wie ungeschickt er sich in Sachen Flirten immer anstellte. Doch der Kerl schien offenbar interessiert zu sein.

„Seid ihr zusammen hier?“
„Ja, aber wir sind nicht zusammen. Also, ein Paar. Wir sind nur beste Freunde“, plapperte Taryn munter drauf los und beugte sich zu ihnen. „Sag mal, kenn ich dich nicht irgendwo her?“

Das Lächeln, das gerade noch auf den Lippen des Fremden lag, erlosch für ein paar Sekunden, doch Denny konnte ihm ansehen, wie er sich darum bemühte, die Contenance zu bewahren.  

„Sollten wir uns denn irgendwo her kennen?“
„Weiß nicht. Vielleicht von Konzerten?“

Es gelang ihm nicht, den Sinn dieses Gesprächs herauszufinden, doch das war ihm so oder so nicht wichtig. Viel wichtiger erschien Denny die Tatsache, dass dieser Kerl ein Gespräch mit ihm anfangen wollte. Es war nicht so, dass er nicht mit Fremden sprechen konnte, doch er war schon immer bekannt dafür gewesen, eher zurückhaltend zu sein und nie auf sich aufmerksam zu machen.

„Wieso denkst du das“, wollte der Fremde wissen, nach wie vor mit dem aufgesetzten Lächeln.
„Du erinnerst mich an einen der Jungs von The Hollywood Massacre. Kennst du die?“
„Der Name kommt mir bekannt vor. Was für eine Art von Musik machen sie?“
„Geht in Richtung Rap-Metal.“ 
„Das ist nicht so meine Richtung“, gestand er und zog sich die Pudelmütze zurecht.

Etwas in Denny sagte ihm, dass der Fremde nicht ganz die Wahrheit sagte, doch das Recht, nachzuhaken, besaß er nicht, weswegen er es einfach dabei beließ. Wieso um alles in der Welt sollte Taryn auch immer alles wissen müssen? Der Typ setzte sich auf den Barhocker und drehte sich so, dass er nur noch ihn ansah.

„Deine Freundin ist gesprächiger als du es bist.“
„Das höre ich oft.“
„Wieso unternimmst du dann nichts dagegen“, fragte sein Gegenüber, als er den ersten Schluck des neuen Biers nahm.
„Ich interessiere mich nicht wirklich für normale Gespräche.“
„So? Was für eine Art von Gespräch interessiert dich denn?“

Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in Dennys Magen breit, als er realisierte, was er da gerade von sich gegeben hatte. Wieso hatte er das bloß gesagt? Was für Gespräche interessierten ihn denn? Gott, was war er nur für ein Pfosten.

„A-also, so … so meinte ich das gar nicht“, stammelte er und hob abwehrend die Hände, als er Taryns Stimme hinter sich vernahm.
„Er wollte damit nur sagen, dass er lieber tiefgründigere Gespräche führt.“
„Das hatte ich auch so verstanden“, antwortete der andere grinsend. „Tiefgründige Konversationen sind immer angenehm, solange man sich anständig ausdrückt und nicht zu streiten beginnt, wie kleine Kinder.“
„Und selbst kleine Kinder können manchmal erwachsener sein“, murrte Taryn wieder in das Gespräch rein, doch Dennys Gegenüber war nach wie vor freundlich, obwohl man ihm ansehen konnte, dass Taryn ihn in diesem Moment störte.
„Das ist wahr.“

Das leise Vibrieren eines Telefons unterbrach das Gespräch der drei. Während der Fremde kurz auf das Display guckte, tauschten Denny und Taryn Blicke aus. Obwohl Denny nicht gerne im Mittelpunkt stand, ärgerte es ihn, dass seine Freundin ständig versuchte, das Gespräch an sich zu reißen. Und genau das gab er ihr auch zu verstehen. 

„Ich muss mich leider verabschieden. Eigentlich hatte ich vor länger zu bleiben, doch mir ist etwas Wichtiges dazwischen gekommen“, entschuldigte sich der Fremde und legte ein paar Geldscheine auf den Tresen. „Das sollte für diese Runde genügen. Bestellt euch ruhig noch was auf meine Kosten.“

Er zwinkerte Denny zu, als er eine Hand nach ihm ausstreckte und einen Papierfetzen in seinen Schoß fallen ließ. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, verließ er das Lokal, wobei Denny ihm fasziniert nachsah. Taryn entging das natürlich nicht, weswegen sie leise kicherte und damit seine Aufmerksamkeit auf sich zog. 

„Der Typ ist toll.“
„Und du bist wahnsinnig nervig“, erwiderte Denny und ließ den Zettel in seine Jackentasche verschwinden. Er hatte keine Lust darauf, dass Taryn diesen entdeckte und ihn damit aufzog. 
„Er scheint dich sympathisch zu finden.“

Er antwortete nicht darauf, stattdessen sah er auf seine Hände, die er auf dem Tresen ineinander gelegt hatte. Diese ganze Situation kam ihm schrecklich surreal vor, doch er fühlte sich gut. Das war das erste Mal seit Jahren, dass ein Mann sich mal wieder für ihn interessiert hatte, auch wenn das Gespräch alles andere als gut verlaufen war. Er würde ihm definitiv schreiben. Blieb nur die Frage zu klären – Wann?

Eine Woche war seit dem Tanzabend im Brady’s vergangen, doch Denny hatte noch immer keine Nachricht an die Nummer geschickt, die ihm von diesem Unbekannten zugesteckt wurde. Die Tatsache, dass er die Zahlenfolge bereits mehrmals eingegeben, eine kurze Nachricht getippt und alles wieder gelöscht hatte, machte es auch nicht besser. Er wusste, dass er nur kurz auf das kleine Sendesymbol klicken musste, doch er schaffte es nicht, über seinen Schatten zu springen. Das war einfach nicht seine Art.

So lag der kleine Papierfetzen weiterhin achtlos auf dem Couchtisch und wurde von einer Ecke in die andere geschoben, bis Taryn ihn eines Abends entdeckte und Denny darauf ansprach.

„Hast du die Nummer noch immer nicht eingespeichert“, fragte sie nach, als sie ihre Beine auf den Tisch legte und eine Packung Zigaretten daneben landete.
„Ich hab ihm noch nicht mal geschrieben“, gestand Denny aus der Küchennische, was seine beste Freundin verzweifelt seufzen ließ.
„Dass du dein eigenes Glück nicht erkennst, wenn es vor dir steht, ist schon sehr beachtlich, Kleiner. Der Typ will was von dir.“
„Aber ich will nichts von ihm.“
„Und jetzt lügst du“, konterte Taryn und sah dabei in seine Richtung, als er zwei Dosen Cola aus dem Kühlschrank nahm. „Ich hab doch gesehen, wie du ihn abgechecked hast.“ 
„Ich hab ihn nicht abgechecked, ich habe ihn gemustert und beobachtet. Und das weist nicht darauf hin, dass ich ihn gut finde.“ 
„Aha“, kam es triumphierend von der Älteren, als diese die Faust in die Höhe streckte. „Ich wusste es!“

In den Nasenrücken kneifend seufzte Denny kurz auf, griff dann nach den zwei Dosen und begab sich wieder zur Couch. Er ließ sich neben Taryn fallen und drückte ihr eines der Getränke in die Hand, danach zog er die Beine an und öffnete das Metallteil.

„Ich werde dennoch das Gefühl nicht los, dass irgendwas an dem Typen seltsam ist“, kam es nachdenklich von Taryn, als sie ebenfalls ihre Dose öffnete und sofort einen Schluck der prickelnden Flüssigkeit nahm.
„Für dich hat doch jeder Kerl Dreck am Stecken, der dir auch nur ansatzweise bekannt vorkommt. Erinnere dich an diesen Richard Gere-Verschnitt in Fairbanks.“
„Das kannst du mir nicht verdenken, Den. Der Typ sah auch aus wie Richard.“
„Kein bisschen“, nuschelte der Jüngere gegen seinen Dosenrand und sah auf den Boden vor ihm. 

Taryn sah öfters prominente Gesichter in der einfachen Bevölkerung, was ihn manchmal wirklich verzweifeln ließ. Mal war es Snoop Dog in San Francisco, dann wieder Álvaro Soler irgendwo in Argentinien oder eben Richard Gere in Alaska. Und nie wies irgendjemand Ähnlichkeiten auf, doch Taryn war immer im Recht.

„Lassen wir dieses Thema. Ich hab heute Abend ein Date.“
„Ach, was du nicht sagst.“

Die nicht vorhandene Euphorie in Dennys Stimme war kaum zu überhören, doch seine beste Freundin ließ sich davon nicht beirren. Sie wusste immerhin, dass er sich - tief in seinem Inneren - für sie freute. Immerhin kam es nicht jeden Tag vor, dass jemand, mit dem Taryn in die Kiste hüpfte, hinterher mehr wollte. 

„Ich weiß, ich nerve dich damit, aber ich bin so aufgeregt.“ 

Dass sie dabei das kleine Wörtchen ‚so‘ in die Länge zog, unterstrich nur die Tatsache, wie hibbelig sie tatsächlich war. Ein Lächeln schlich sich auf Dennys Lippen, als er sich zu ihr umwandte.

„So hab ich dich echt schon lange nicht mehr erlebt, Taryn. Aber ich freu mich für dich, wirklich!“ 

Es entsprach der Wahrheit, jedoch nur zur Hälfte. Die andere Hälfte der Wahrheit saß heulend in einer Ecke und wog sich jammernd vor und zurück. Doch natürlich ignorierte er das Verlangen in ihm, selbst wieder eine Verabredung haben zu wollen und seine beste Freundin deswegen zu beneiden. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, - und zugegeben, das war er viel zu selten - dann war es dumm von ihm, diesem Unbekannten nicht zu schreiben.

„Ich weiß, dass es fies ist, mich so zu freuen, während du … naja, du weißt schon“, kam es von Taryn, die sich nach vorne beugte und sein Handy aktivierte. „Ach, ist ja noch früh.“
„Du kannst ruhig ehrlich sein, immerhin weiß ich, dass ich ebenfalls Dates haben könnte.“
„Wenn du es selbst weißt, wieso tust du nichts dagegen? Du hast hier eine Telefonnummer liegen, die dir von einem gutaussehendem Kerl zugesteckt wurde, Denny“, entgegnete sie und nahm das Telefon in die Hand. „Schreib ihm endlich eine Nachricht!“
„Du weißt, dass ich das nicht tun werde.“
„Weil du ein Feigling bist.“
„Wenn du das sagst, muss da wohl auch etwas dran sein, oder nicht“, nuschelte er, als er sich erhob, die Coladose auf den Couchtisch stellte und den Raum verließ.

Er liebte Taryn. Sie war seit ihren Kindertagen wie eine große, nervige Schwester für ihn. Doch es störte ihn, dass sie sich in seine persönlichen Angelegenheiten einmischte. Ja, natürlich wusste er, dass es feige von ihm war, diesem Typ nicht zu schreiben, doch er war eben kein Mensch, der auf sich aufmerksam machte. Das hatte er nie gelernt.

Die Spülung der Toilette ertönte, als er die Hand vom Knauf wegnahm und sich den Reißverschluss der Jeans wieder zuzog. Mit dem letzten Rest des Seifenbehälters wusch er sich die Hände und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Dieses Gesprächsthema ermüdete ihn, denn es war nicht das erste Mal, dass sie sich über sein lahmes Liebesleben unterhielten. Der Blick in den Spiegel ließ wieder die altbekannten Zweifel in ihm aufkeimen, die er seit Jahren vergeblich versuchte, zu ignorieren. Er hatte selbst keine Ahnung, woher diese kamen, schob sie weitestgehend auf die Pubertät. 

Das Badezimmer verlassend, zog er sich den Pullover über den Kopf und schmiss diesen auf ein Regal, als er das Wohnzimmer wieder betrat. Dort sah er aus den Augenwinkeln, wie Taryn sein Telefon rasch zur Seite legte. 

„Was hast du gerade getan?“
„Nichts“, kam es unschuldig von ihr, als Denny schnellen Schrittes auf den Couchtisch zu ging und das Gerät an sich nahm.
„Wem hast du geschrieben?“
„Niemandem.“
„Taryn“, entfuhr es ihm panisch, als er WhatsApp öffnete und etwas sah, das er eigentlich nicht sehen wollte. - Eine Nachricht an den Unbekannten. „Wie konntest du nur?“
„Irgendwann wirst du mir noch dafür dankbar sein, glaub mir, Kleiner. Und jetzt geh vor der Glotze weg. Ich muss gucken, ob sich Abuela Ana María und Delfina schon wieder wegen Patricio in den Haaren haben.“

***

Der kleine Vintage Wecker auf dem Nachtkästchen zeigte an, dass es bereits kurz vor ein Uhr morgens war, als er, leicht taumelnd, aus dem Badezimmer zurückkam und wieder ins Bett fiel. Gähnend zog er die Decke nach oben an sein Kinn und drehte sich zur Seite, den Kopf halb auf dem Kissen und halb auf der Matratze. Die Beine angezogen lag er da in der Dunkelheit des Raumes, als ein leises Vibrieren die Stille durchbrach und ihn zum Murren brachte. 

Wer auch immer das war, so dachte er sich, konnte auch bis morgen warten. Doch kaum war er beim siebzehnten Tick angekommen, vibrierte es erneut.  Grummelnd zog er sich die Decke weiter über den Kopf, doch das nervige Geräusch verstummte nicht, weswegen er blind hinter sich griff und sich beinahe den Arm verrenkte. Er tastete nach dem Übeltäter und hielt es sich wenige Sekunden später vors Gesicht. 

Mit verschwommenem Blick und zusammengekniffenen Augen versuchte er etwas auf dem grellen Bildschirm zu erkennen. Es dauerte nicht lange, bis er realisierte, dass der Unbekannte aus Bradys Bar ihn anrief. Mit einem Ruck saß er kerzengerade im Bett und starrte auf das surrende Gerät. Was sollte er jetzt tun? 

Er wandte seinen Kopf nach links. Wenige Minuten nach eins. Wieso war man um diese Uhrzeit noch wach und wieso wollte man dann noch telefonieren? Los, Denny, rief er sich selbst gedanklich zur Besinnung, du schaffst das!

„Hallo“, nuschelte er dem metallenen Ding entgegen, als er das Annahmesymbol berührt hatte. Sein Herz schlug unter jedem Zentimeter seiner Haut, so kam es ihm vor.
„Du hast bestimmt bereits geschlafen, nicht wahr?“ 

Die Stimme war rau, fast ein wenig brüchig und klang so, als wäre der Besitzer bereits die ganze Nacht wach. Doch einen euphorischen Unterton konnte Denny dennoch raushören. 

„Was, wenn es so wäre?“

Wenige Sekunden lang konnte er nur ein Knistern im Hintergrund hören und die Frage, wo sein Gesprächspartner sich denn zu dieser Uhrzeit befand, schlich ihm in die Gedanken. 

„Dann entschuldige ich mich dafür.“
„Bist du noch unterwegs“, fragte Denny, mutig wie er verschlafen war, nach und zupfte dabei an einem losen Faden des Bettbezugs herum.
„Ja. Das ist auch der Grund, wieso ich mich um diese unchristliche Zeit melde. Verzeih mir, ich war zuvor verhindert.“
„Kein Problem. Mir tut auch die Nachricht leid“, gestand Denny leise, da er keinen blassen Schimmer hatte, was Taryn eigentlich geschrieben hatte. 
„Wieso denn? Ich fand sie ziemlich niedlich.“

Niedlich? Wieso das denn? Hastig entfernte Denny das Telefon vom Ohr, tippte das Lautsprechersymbol an und legte das Gespräch runter, sodass er auf das kleine WhatsApp-Icon klicken konnte. Die Nachricht war ganz oben zu finden. Ein leichtes Kribbeln machte sich auf seiner Nase breit und er musste dem Drang wiederstehen, dort hinzufassen und sich wieder wund zu kratzen.

„Ich glaube, ich bring sie um“, flüsterte er leise, als er die wenigen Worte erneut las, die Taryn vor einigen Stunden verfasst hatte. 
„Wen bringst du um?“
„Wa-? Oh, tut mir leid.“

Wieso passierte so etwas immer mir, schrie sein inneres Ich, während er den Kopf in eine Hand sinken ließ. Wieso tat Taryn ihm so etwas an? So eine Nachricht. An einen Unbekannten.

„Hör mal“, setzte Denny wieder zum Gespräch an, doch er wurde jäh von der Person auf der anderen Leitung unterbrochen. 
„Verzeih mir bitte, aber ich muss die Unterhaltung leider wieder frühzeitig beenden. Mein Mana-äh-Freund will nach Hause und da er sturzbetrunken ist, muss ich ihn fahren.“
„Natürlich, kein Problem.“ Ein enttäuschter Unterton lag in seiner Stimme, den er selbst auch nicht leugnen konnte. Schon wieder ein viel zu früher Abbruch.
„Ich würde dich gerne wiedersehen. Hättest du Interesse an einem Treffen in den nächsten Tagen“, kam rasch die Frage des Anrufers, als dieser offenbar irgendetwas einpackte. Das Rauschen eines Reißverschlusses war zuhören.
„Klar, äh, gerne. Wann und wo möchtest du dich treffen?“
„Ich weiß nicht. Gibt es in deiner Stadt ein ruhiges Café oder derartiges? Etwas, wo man in Ruhe miteinander sprechen kann und wo sich nicht zu viele Menschen herumtreiben.“
„Kennst du das Frozen Moon?“ fragte Denny nach, als er die Beine langsam aus dem Bett schwang und ans Fenster trat. „Liegt an der Main Street an der Ecke, gleich neben dem Kino.“
„Ich denke nicht, aber ich werde es bestimmt finden, wenn es auf der Hauptstraße liegt“, erwiderte der Unbekannte lachend. „Freitag um eins?“
„Ja, klingt gut. Ich werde dann wohl ein rotes Hemd tragen.“
„Das ist schön. Dann sieht man sich dort am Freitag.“

Denny hatte keine Möglichkeit mehr, sich zu verabschieden, denn kaum hatte er den Mund offen, erklang auch schon das altbekannte Tuten am Ende der anderen Leitung. Er hielt das kleine Ding in der Hand und sah weiter aus dem Fenster. Auf der Straße außerhalb tat sich nichts. Keine Menschenseele war zu sehen, aber das war hier, in der Brown Deer Road, auch nichts Besonderes. Die Bewohner hier lebten am Waldrand und waren auch froh darüber. Zugegeben, der Verkehrslärm nachts war nicht so laut, wie in Fairbanks, doch auch in Ketchikan waren Trucks auf der Main Street unterwegs.

Ein Gähnen entkam ihm, als er sich wieder seinem Bett zuwandte und langsam darauf zu tapste. Das Telefon warf er vorsichtig auf das Nachtkästchen zurück, danach mummelte er sich wieder in seine Decke ein und sank binnen weniger Minuten in einen wohligen Schlaf. 

***

Dass er mitten in der Nacht ein merkwürdiges Telefongespräch geführt hatte, kam Denny erst wieder in den Sinn, als Taryn ihm von ihrem Date erzählte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er gedacht, das wäre nur ein verrückter Traum gewesen, doch ein Blick auf seine Anrufliste zeigte ihm, dass es doch real gewesen war.

„Ich kann nicht glauben, dass du das wirklich vergessen hast, Denny!“ Taryn sah ihn empört an, als sie die Hand nach der Vodkaflasche ausstreckte. „Leidest du an Demenz? Mit neunzehn?“
„Erstens, nein, ich leide nicht an Demenz. Zweitens, wäre Alzheimer die eigentlich korrekte Form. Drittens, es ist auch möglich, mit neunzehn Jahren bereits an Alzheimer-Demenz zu leiden und viertens, …“ Er holte tief Luft und hob abwehrend die Hände. „Was kann ich denn dafür?“

Natürlich erwiderte seine beste Freundin nichts darauf und das war ihm sogar ganz recht. Er hatte keine Lust, weiter darüber zu diskutieren, auch wenn Taryn ihm eventuell Tipps geben könnte für seine Verabredung. Ja, es war eine Verabredung. Ein anderer Begriff dafür kam ihm nicht in den Sinn, so sehr er auch darüber nachdachte. Ein Treffen mit einem völlig Unbekannten. Nicht, dass er Angst hatte, - er konnte sich wehren, würde ihm jemand zu nahe kommen wollen - doch Respekt davor hatte er schon, immerhin geschah so etwas nicht jeden Tag.

„Und du hast tatsächlich vor, dich mit ihm zu treffen“, hakte Taryn nach einigen Minuten weiter nach.

Sie saßen mittlerweile beide wieder auf der Couch und hatten die Füße auf den Kaffeetisch gelegt. Im Fernsehen waren die Fünfzehnuhrnachrichten zu sehen und draußen auf den Straßen war nichts los. Lediglich vernahm man ab und an Stimmen, die sich gegenseitig etwas zuriefen oder genervte Trucker, die nicht weiter kamen.

„Ich hab ihm zugesagt. Denkst du, dass das ein Fehler war?“
„Weiß nicht“, antwortete Taryn, bevor sie einen Schluck aus der Flasche nahm. „Ich an deiner Stelle würde schon hingehen, aber ich bin schließlich auch für meine waghalsigen Taten bekannt.“
„Würdest du mitkommen?“

Sie verschluckte sich beinahe, als er diese Frage stellte. Mit großen Augen sah sie ihn an und schüttelte gleich darauf heftig den Kopf. Er seufzte und legte den Kopf zurück an die Lehne.

„Nimms mir nicht übel, Kleiner, aber das ist deine Suppe, die du alleine auslöffeln musst. Außerdem scheint es mir so, als wäre ich dem Kerl letztens auf den Sack gegangen.“
„Aber gegangen bist du trotzdem nicht“, erwiderte Denny, als im Fernsehen, wie jeden Tag, ein Bericht über den Präsidenten gezeigt wurde.
„Ich wollte rausfinden, ob er tatsächlich nur an dir interessiert ist oder … Du weißt schon.“
„Nicht jeder Kerl steht auf Frauen, Taryn. Ich bin das beste Beispiel dafür.“
„Ja, die heißen Typen sind immer schwul.“

Es klang schon beinahe traurig, doch er wusste, dass seine beste Freundin das nicht so meinte. Zumal sie niemals etwas mit ihm anfangen würde. Dafür war alleine der Altersunterschied viel zu groß. Sie waren wie Geschwister, seit sie sich kannten. Unzertrennlich, wie viele damals schon immer gesagt hatten. Die Rockerbraut und der Bücherwurm. 

„Ich habe echt Panik, Taryn. Was, wenn er nur ins Bett will? Oder schlimmer?“
„Was wäre denn schlimmer, als wenn er nur ne schnelle Nummer schieben will“, fragte sie irritiert nach und hob eine Augenbraue an. „Davon abgesehen glaube ich das nicht. Sonst hätte er schon längst eine Bemerkung in diese Richtung gemacht.“
„Schlimmer wäre es, wenn er tatsächlich …“
„Wenn er tatsächlich etwas von dir wollen würde? Ist das dein scheiß ernst, Denny?“

Sie war lauter geworden und er wusste, was dies bedeutete. Taryn war sauer. Bis zu einem gewissen Punkt konnte er das nachvollziehen, doch sie müsste ihn doch schon besser kennen und wissen, dass er immer so reagierte.

„Was soll ich denn machen? Das ist nun mal meine Art.“
„Freu dich doch darüber, dass dich endlich mal jemand toll findet“, konterte Taryn, als sie den Bildschirm vor ihnen abschaltete. „Klar, ihr kennt euch noch nicht wirklich, aber was nicht ist, kann ja noch werden.“
„Ich kenne noch nicht mal seinen Namen.“
„Das steht dir nicht. Du bist ein junger, attraktiver Kerl, der auch etwas im Köpfchen hat, Denny. Wenn dieser Typ abspringt, dann verpasst er eindeutig etwas!“ 
„Ich hoffe, du hast recht“, nuschelte er und schloss die Augen. Taryns Aufmunterungsversuche waren nett gemeint, das wusste er, doch die Angst blieb immer noch bestehen.
„Mach dich nicht verrückt deswegen. Gebrochene Herzen gehören zum Leben und Erwachsenwerden dazu. Sieh mich an!“ Sie zeigte auf sich selbst und grinste dabei selbstbewusst. „Mir wird das Herz in einer Reihe gebrochen und ich lebe trotzdem noch. Nach einiger Zeit ist man darüber auch hinweg.“
„Du hast aber auch mehr Erfahrung darin, als ich.“
„Du solltest froh darüber sein, nicht so einen Verschleiß zu haben, Denny“, meinte sie leise und wandte ihren Blick ab, der daraufhin aus dem Fenster gerichtet war. „Glaub mir, manchmal ist das nicht schön.“

***

Die Tage bis Freitag vergingen wie im Flug, so erschien es Denny. Kaum war er aus dem Bett gekrochen, kroch er wieder zurück unter die Decke. Auch die Arbeit ging ihm leichter von der Hand, als an anderen Tagen oder Zeiten. Er konnte nicht sagen, ob dies tatsächlich nur daran lag, dass er auf dieses Treffen quasi hin fieberte, obwohl er nach wie vor nervös und panisch war.

Taryn kam Mittwochvormittag in den kleinen Coffee Shop und orderte zwei entkoffeinierte Karamell-Latte Macchiato, was Denny tatsächlich dazu verleitete, nachzufragen, was denn los sei. Ihre Antwort, die sie ihm mit einem fetten Grinsen im Gesicht gab, ließ ihn am selben Abend noch nachdenklich werden. Wenn sie das schaffte, wieso dann nicht auch er? Wieso war er immer noch so schüchtern, wie damals in der achten Klasse? Er hatte kein Wort über die Lippen gebracht, als er Laura Tian zum Schulball einladen wollte. Hinterher hatte er erfahren, dass sie tatsächlich gewollt war, mit ihm dorthin zu gehen, da sie ihn süß fand. Er wäre am liebsten im Boden versunken.

Der Donnerstag verlief ereignislos, dennoch vergingen die Stunden während der Arbeit schnell. Zu schnell für seinen Geschmack, denn das bedeutete, er hatte nur noch wenige Stunden, bis zu seinem Treffen mit dem Unbekannten aus der Bar. Ein paar Mal hatte Denny darüber nachgedacht, dem Fremden eine Nachricht zu schicken. Einfach nur, um nachzufragen, wie es ihm ging, doch er ließ es bleiben. Er wollte das Treffen abwarten und sehen, wie und vor allem was sich entwickelte. Aber allzu große Hoffnungen machte er sich nicht.

Donnerstagabend kam und ging, so schnell wie er kam. Er erwachte am nächsten Morgen vollkommen gerädert und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Der Albtraum, den er in der Nacht geträumt hatte, hatte es in sich gehabt. Er war kein Mensch, der übermäßig viel Blut sehen konnte, doch genau das kam in seinem Traum vor. Blut von denjenigen, die er liebte. Taryn, seine Mutter und sein Großvater. Sie alle wurden in seinem Traum von einem verrückten Kannibalen bei lebendigem Leibe verzehrt.

Nur mit Anstrengung schaffte es Denny die aufkommenden Bilder zu verdrängen und nicht auf die Toilette zu stürzen. Horrorfilme waren in näherer Zukunft eindeutig tabu für ihn, Taryn musste das, wohl oder übel, verkraften. 

Er schlurfte ins Wohnzimmer und von dort in die kleine Küchennische. Dort holte er sich seine Lieblingstasse aus dem Schrank, kochte sich heißes Wasser und ließ sich nur wenige Minuten später mit einer dampfenden Tasse Tee auf die Couch fallen. Die Uhr an der Wand zeigte an, dass es erst kurz vor neun war. Ihm blieb also genug Zeit, um sich mental auf das Treffen vorzubereiten. 

Da er nicht wirklich Lust hatte, sich den Müll der heutigen Medienwelt zu geben, legte er die Füße hoch und schloss die Augen. Er würde schon nicht einschlafen und selbst wenn dies geschehen würde, so würde Taryn sich um Punkt zwölf Uhr bei ihm melden. 

Wie es ihr wohl ging? Sie war völlig hin und weg von diesem Kerl, mit dem sie sich seit einigen Tagen nun schon traf. Sein Name war Emery, wenn Denny das richtig im Kopf hatte. Groß gewachsen, blonde Haare, eher der nordische Typ Mann, ihren Erzählungen nach. Und er war kein Amerikaner, sondern Europäer.

Europa, dachte er bei sich, als er sich zur Rückenlehnte hin drehte und die Beine anzog. Wie es dort wohl so war? Wie lebten die Menschen dort? Waren sie gut gebildet? Wie waren die Wetterverhältnisse? Waren diese auch so schlimm, wie hier in den USA? 

Der Winter in Alaska wurde zunehmend immer schlimmer, eine richtige Katastrophe. Doch auch die Ostküste war stark davon betroffen. Minus dreißig Grad. Keine Temperaturen, die er nicht aushalten würde, doch für den Osten der Vereinigten Staaten war das schon ein Rekord. 

Ein Rekord war auch das, was er gestern bei der Arbeit geschafft hatte. Er hatte ein Trinkgeld von über fünfzig Dollar zustande gebracht, worauf er stolz war. Wenn er so darüber nachdachte, war er auch der Einzige im Laden, der tatsächlich regelmäßig Trinkgeld bekam, doch das verwunderte ihn nicht sonderlich. Jeder hatte seine Stammkunden, er jedoch mehr, als die anderen Bedienungen. Mr Sanders, ein Büroangestellter mittleren Alters, war Willows einziger Stammkunde. Der Grund dafür war, dass Sanders sie offenbar attraktiv fand, doch das würde er seiner Kollegin niemals sagen. Sie würde durchdrehen und der Laden einen wichtigen Kunden verlieren. 

Jetzt hatte er Lust auf einen Karamell-Macchiato. Auch hatte er den typischen Kaffeegeruch in der Nase, von dem er auf der Arbeit ständig umgeben war. Wenn er jetzt … doch nur … aufstehen …

***


Als er seine Augen träge öffnete und gegen das grelle Licht blinzelte, begann neben ihm etwas zu vibrieren. Er hatte keine Ahnung, was es war. Zu benommen war Denny, um irgendetwas zu realisieren. Auch tat ihm sein Nacken weh und - Heiliger, war ihm kalt! Er streckte die Beine langsam von sich und drehte sich auf dem Rücken. Mit einer Hand strich er sich über das Gesicht, wobei er herzhaft gähnte. 

Da irgendetwas in seiner unmittelbaren Nähe nicht aufhören wollte zu vibrieren, versuchte er, sich aufzusetzen, was ihm nach wenigen Sekunden auch gelang. Er kniff die Augen zusammen, als er nach dem störenden metallenem Ding auf dem Tisch griff und betrachtete verschlafen das Display.

Taryn rief an. Erneut gähnend suchte er die Wand vor ihm nach der Uhr ab, die bereits halb eins zeigte. Er zuckte mit den Schultern und ließ sich nach hinten an die Lehne fallen. Erst nach dem ungemütlichen Aufprall realisierte er, dass es - schon - halb eins war.

Fluchend sprang er auf und lief ins Badezimmer, nicht darauf achtend, dass er dabei beinahe eine Vase mit Blumen umschmiss, die auf der Kommode neben dem Türrahmen stand. Hastig zog er sich die Klamotten vom Körper und sprang unter die kalte Dusche. Für ein warmes Wasser hatte er keine Zeit. In Rekordgeschwindigkeit spülte er sich die Haare aus, seifte seinen Körper ein und trocknete sich wieder ab, als er klitschnass aus der Nasszelle trat. 

Nackt wie er war sprintete er in sein Schlafzimmer, riss die Schranktüren auf und griff nach den erstbesten Klamotten, die er sah. Als er bereits in die Jeans geschlüpft war und gerade im Begriff war, sich ein Shirt mit einem Star-Wars-Logo überzuziehen, fiel ihm ein, dass er ja gesagt hatte, er würde in einem roten Hemd erscheinen. Er grummelte unverständlich vor sich hin, als er das passende Kleidungsstück suchte und es dennoch über dem Shirt anzog. Dann blieb das Hemd eben offen, dachte er sich und verließ den Raum wieder. Er tastete seine Hosentaschen ab, holte sein Telefon aus dem Wohnzimmer und schnappte sich seine Jacke. Mit roten Chucks an den Füßen öffnete er die Wohnungstür und ließ sie hinter sich wieder ins Schloss fallen.

Wie hatte es ihm nur passieren können, einzuschlafen? Er war doch sonst immer ein routinierter Mensch, wieso also gerade heute? Er raufte sich innerlich die Haare, als er schnellen Schrittes die Straße entlang ging, um noch rechtzeitig zu kommen. Er wohnte ein ganzes Stück entfernt vom Frozen Moon, weswegen er zeitweise sogar gelaufen war. Hoffentlich, so sagte seine Stimme im Kopf, sieht man dir das nicht an.

Die Ladentür öffnete sich klingelnd, als er eintrat und sich umsah. Er hatte keine Ahnung, was der Unbekannte trug, doch so auf den ersten Blick konnte Denny ihn nicht ausfindig machen, weswegen er es vorzog, sich an einen Tisch am Fenster zu setzen. So hatte er nicht nur den Raum, sondern auch die Passanten auf dem Gehweg im Sichtfeld.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es noch exakt zwei Minuten und siebzehn Sekunden waren, bis es Punkt eins war. So schnell war er noch nie hier gewesen. Trotz Verschlafens und unter die Dusche springen. Ein Seufzen entfloh ihm, als die Ladentür erneut einen Kunden ankündigte. Da Denny seinen Blick dem Fenster zugewandt hatte, erkannte er nur eine verschwommene Spiegelung des Mannes, der langsam auf ihn zukam.

„Hallo.“

Er erwiderte nichts, als seine Verabredung sich setzte und ihn charmant anlächelte. Er sah gut aus, das konnte und wollte Denny nicht abstreiten. Die blonden Haare lagen wirr auf dem Kopf, das Gesicht mit den jungenhaften Gesichtszügen strahlte förmlich. Doch was Denny an seinem Gegenüber in den Bann zog, waren die stahlgrauen Augen, die interessiert auf und abwanderten und ihn zu mustern schienen. Ein Glitzern lag in ihnen, als ihre Blicke sich trafen.

„Wir sind noch gar nicht dazu gekommen, uns einander vorzustellen“, kam es amüsiert vom Fremden, der die Hände, leicht geschlossen, auf den Tisch legte. 
„Das … das ist wahr“, erwiderte Denny leise und sah verlegen auf seine eigene Hände, die in seinem Schoß ruhten.
„Dann will ich mal nicht so sein. Mein Name ist Ellis.“

Ellis. Ein schöner Name, dachte sich Denny, als er seinen Blick hob und ihn kurz beobachtete. Er sah nicht nervös aus, ganz im Gegensatz zu ihm selbst. Aber nun hieß es wohl ‚Jetzt oder Nie‘.

„Denny.“

Autorennotiz

Diese Geschichte wurde auch auf Fanfiktion.de und Wattpad.com unter meinen dortigen Accounts (aFluffyPhantomsSushi) hochgeladen.

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Autor

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Kapitel: 2
Sätze: 649
Wörter: 9.821
Zeichen: 56.527

Kurzbeschreibung

Dennys junges Leben ist geprägt von Schicksalsschlägen, dennoch versucht er, so gut es ihm möglich ist, damit klarzukommen. Als Bedienung in einem Coffee Shop verdient er seinen Lebensunterhalt in der vom Fischfang lebenden Kleinstadt Ketchikan, irgendwo in Alaska. Bis zu dem Tag, an dem er den charismatischen Ellis in Brady's kennenlernt, dachte er im Traum nicht daran, jemals aus Alaska wegzukommen. Doch sowohl Dennys als auch Ellis' Leben bieten nicht die optimalsten Bedingungen für eine Beziehung. Oder etwa doch?

Kategorisierung

Diese Story wird neben Drama auch in den Genres Liebe, Freundschaft gelistet.

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