Ich erinnere mich, wie sie die Juden aus ihren Häusern gezerrt und zu Hunderten in den Wald getrieben haben. Die ukrainische Hilfspolizei hatte dort zuvor nur allzu bereitwillig Gruben ausgehoben. 25m lang und 4m breit.
Irgendwann höre ich die Schreie nicht mehr, sehe auch die Panik in den Augen derer nicht mehr, die als nächstes an den Rand dieser Löcher gestoßen wurden.Als es Nacht wird, befehlen sie uns, die Arbeit zu beenden. Die Munition sei zu kostbar, um sie zu verschießen, sagen sie.Nun, da
wir, vom Terror befreit, endlich wieder Menschen sein
dürfen, möchte niemand mehr davon hören.
~***~
Wir hielten uns in der Ruine unserer alten Schul versteckt, ehe wir in den Wald flohen. Wir besaßen Gewehre und waren bereit, auf jeden zu schießen – auf die ukrainische Hilfspolizei sowie die Deutschen. Angst hatten wir nicht. Wir wollten nur eines: leben!
In den 30er Jahren besuchte ich in Brody die Jeschiwa. Ich wollte Rabbiner werden. Dann kamen 39 die Russen und 41 die Deutschen. Die einen nahmen uns unsere Kultur, die anderen unser Leben.
Jetzt wohne ich in Washington, bin Buchhalter. Meine Geschichte erzähle ich niemandem, denn was soll das Graben in der Vergangenheit? Schließlich wollen wir leben.
~***~
Ich war vor Jahren in Brody.
In deinem Alter? Bist du verrückt?, hatten mich meine Freunde gefragt.
Willst du allen Ernstes noch einmal dahin, wo sie uns zusammengepfercht hatten, oder vielleicht sogar in den Wald? Ich hab’ wollen zu meinem Elternhaus, die Mutter umarmen und die Geschwister, und dann zu unserer Bäckerei. Der Vater, was der Schmuel Leibovitzsch war, buk die allerbesten Kringel. Ich hab’ wollen ein letztes Mal von ihnen kosten. Und dann zur Schul und vom Lehrer eine Maulschelle bekommen, weil ich ins Buch gekrümelt hab’. Ich möcht’ haben die Tränen meiner Kindheit noch einmal in den Augen.
~***~
Ich sitze in der Uni-Cafeteria. Vor mir liegt das Buch
Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941 – 1944 von Dieter Pohl. Ich beginne gerade zu lesen, als meine Bekannte herankommt.
„Darf ich mich setzen“, fragt sie.
„Klar.“
„Was liest du?“
Ich zeige es ihr. „Neulich habe ich über den Mord an dem Fotografen Alter Kacyzne gelesen. Er wurde von Ukrainern in Tarnopol zu Tode geprügelt. Ich versuche zu verstehen, was in diesen Menschen vorging, als sie zu Mördern wurden.“
„Das muss ich nicht versuchen“, erwidert sie schulterzuckend. „Meine Familie war im Großen Ghetto von Budapest und meine Mutter hat als einzige überlebt.“
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