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Blinder Passagier

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23.03.18 00:02
Fertiggestellt

Blinder Passagier

Ich kann mich kaum an dich erinnern und trotzdem begegnest du mir immer wieder.
In einem Buch, in einem Song, in einem alten Interviewausschnitt. In Dingen, die überhaupt nichts mit dir zu tun haben. In Dingen, die du nie gesehen oder angefasst hast.

Ich schätze das liegt daran, dass du mit mir reist wie ein blinder Passagier, direkt in meinem eigenen Kopf. Irgendwo gibt es dort ganz tief unten noch eine dunkle Kabine die du alleine bewohnst.
Und so legst du dich plötzlich über Dinge die nie Dein waren. Einfach weil du dich im Gang verlaufen hast und die Welt kurzzeitig durch meine glasigen Augen siehst. Und dann kommentierst du es in deiner unvergleichlichen Art und deine Stimme halt in meinem Kopf wieder wie ein guter Ratschlag.

 

Ich erinnere mich an keine Details. Ich weiß nicht mehr, wie sich die Falten in deinem Gesicht legen. Nur dunkel sehe ich vor mir, wie du beim Lachen den Kopf in den Nacken wirfst und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich mir diese Geste an dir einfach ausdenke, weil ich sie schön finde oder ob sie wirklich dein ist.

Wann immer ich versuche mich an etwas zu erinnern, verschwindest du ein Stück mehr im weißem Nebel. Seitdem habe ich damit aufgehört aus Angst dich ganz zu verlieren. Ich habe lieber ein diffuses Gefühl deiner Anwesenheit, als einen ganz und gar verlassenen Fleck an dem du eigentlich sitzen solltest.

 

Und trotzdem: Wann immer du mir wieder begegnest, unverhofft und unerwartet, fühlt sich alles an wie damals. Dann mischt sich die Wiedersehensfreude mit dem Schmerz des Vermissens. Sauersüß wie der Geschmack von Zitronensaft und Honig überflutest du meinen Körper. Und für einen Sekundenbruchteil bist du wieder ganz real. Dann wünschte ich, wir könnten noch einmal eine Nacht lang zusammensitzen, über das Leben philosophieren und so tun, als hätten wir ewig Zeit. Als würde nichts eine Rolle spielen.

 

Es ist nicht so, als wäre früher alles besser gewesen. Früher waren wir nur jünger und uns ziemlich sicher, die Welt würde uns gehören. Und wir waren uns auch ziemlich sicher, dass wir nicht so viel falsch machen können, ja, dass es sogar eigentlich gar keine so wichtige Rolle spielt, was wir tun oder lassen, weil es für uns am Ende einfach gut ausgehen wird.

 

Wir waren verdammte Snobs, oder?

 

Ich kann dich grinsen sehen, während ich das denke.
In meinem Kopf, in dem du in der untersten Kajüte sitzt und ab und zu an Deck kommst um dir einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Früher, als wir beide hier oben am Pool saßen, die Aussicht genossen oder uns im Maschinenraum versteckten um einen Moment Ruhe vor dem Wellengang zu genießen, war das hier ein schönerer Ort.

 

Jetzt ist er ziemlich leergefegt.
Jetzt hält sich hier keiner mehr auf, weil das immerzu stürmische Wetter es unmöglich macht, sich in einen der Liegestühle zu fläzen und die Aussicht zu genießen.

 

Aber ich, ich bin noch hier oben. Ich steuere dieses verdammte Schiff und ich stehe alleine hinter diesem Pult mit all seinen Knöpfen und dem hochmodernen Steuerrad, mitten in meinem Kopf.
Man könnte meinen, dass mein Blick immer gen Horizont gerichtet ist, aber eigentlich gucke ich nur auf das feuchte Deck und warte auf einen der seltenen Momente, in denen du es erklimmst und kurz nach dem rechten siehst.

 

Du bist mein blinder Passagier.

 

 

 

 

Autorennotiz

Der erste Text, der nach mehrjähriger Schreibpause entstanden ist und von jemandem handelt, mit dem ich damals noch die Vision des Bestsellerautors-werden teilte. Ich vermisse dich sehr, F.!
Das ist für uns.

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Liebe, gutes Karme & Dankbarkeit für jeden, der mir ein bisschen Feedback zu dem ersten Schreibstück nach langer, langer, langer Zeit dalässt. Vielleicht verratet ihr mir auch, wer euer blinder Passagier ist?

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Autor

EmmyUrlaubs Profilbild EmmyUrlaub

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Sätze: 27
Wörter: 595
Zeichen: 3.296

Kurzbeschreibung

Ich kann mich kaum an dich erinnern und trotzdem begegnest du mir immer wieder. In Dingen, die überhaupt nichts mit dir zu tun haben. Du bist mein blinder Passagier.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Schmerz & Trost auch in den Genres Drama, Nachdenkliches, Freundschaft, Familie gelistet.

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