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Der erste und der letzte Schritt

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08.06.17 15:44
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Der erste und der letzte Schritt


Als sein Freund neben ihm erschien, zuckte Rudolf zusammen. 

„Ich habe dir meine Antwort gegeben“, sagte er kläglich und versuchte, Abstand zwischen sich und seinen alten Freund zu bringen. Zu dieser späten Stunde waren die Straßen Wiens wie leergefegt – bis auf die Huren und Trunkenbolde natürlich, die die dunklen Gassen beherrschten und bevölkerten. Rudolf hatte schon zu viel Zeit zwischen ihnen verbracht, um ihre Anwesenheit nicht zu bemerken.

Sein Freund schritt neben ihm her, schweigend zunächst, trotz Rudolfs harscher Worte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

„Ich bin hier, weil du mich brauchst. Ich habe es dir doch versprochen“, erwiderte sein Freund nach einigen ruhigen Minuten, so unschuldig, dass Rudolf sich danach sehnte, ihm zu glauben. Wie gern hätte er geglaubt, dass sein Freund nur gekommen war, um ihm zu helfen.

„Ich werde es nicht tun. Du brauchst nicht zu versuchen, mich zu überzeugen.“ Rudolf beschleunigte seinen Schritt, als glaubte er, er könne seinen Freund dadurch abhängen. Doch er blieb neben ihm, begleitete ihn weiterhin durch die dunklen Straßen.

„Wie viel hast du heute getrunken?“, fragte sein Freund mit einem Blick auf die halbvolle Schnapsflasche in Rudolfs Hand.

Rudolf senkte den Blick. „Nicht genug“, murmelte er. Nicht genug, um den Schmerz zu betäuben, der in seinem Inneren wütete.

Sein Freund sah ihn nicht an. Er war einfach da, was Rudolf beunruhigte. „Warum bist du gekommen?“, fragte er und blieb stehen. Irgendwo bellte ein Hund, doch ansonsten unterbrach nichts die Stille.

Sein Freund sah ihn an, dann entfernte er sich einige Schritte, setzte sich auf eine Bank und deutete auf den Platz neben sich. Nicht fordernd, nicht befehlend. Einfach nur einladend.
Rudolf zögerte, dann setzte er sich ergeben neben seinen Freund und verschränkte die Hände ineinander.

„Ich bin gekommen, weil du nach mir gerufen hast. Hier bin ich nun.“

Rudolf wich seinem Blick aus. „Und was erwartest du nun von mir?“, fragte er, obgleich er Angst vor der Antwort hatte.

„Ich erwarte nichts. Ich bin einfach nur da.“

Es war zu einfach. Es war viel zu einfach.

„Nun – du kannst gehen. Ich habe dir nichts zu sagen“, versuchte er erneut, seinen Freund zum Gehen zu bewegen. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte.

Sein Freund sah ihn gutmütig an und ließ dann seinen Blick schweifen. Rudolf wurde mit jeder Sekunde nervöser.

Als klar wurde, dass sein Freund nicht gehen würde, wollte Rudolf sich erheben und seinerseits gehen. Er tat es nicht. Er blieb sitzen, neben seinem Freund. Seinem einzigen Freund.

„Warst du heute bei Mary? Oder Mizzi? Oder einer anderen?“, fragte sein Freund nach einiger Zeit. Rudolf sah ihn an und schüttelte den Kopf.

„Bei keiner. Mir steht heute nicht der Sinn nach Gesellschaft.“ Er konnte sich nicht erklären, warum er überhaupt eine Antwort gab.

„Und dennoch hast du mich gerufen“, erwiderte sein Freund. 

Rudolf protestierte: „Das habe ich nicht.“ Doch er wusste, dass es eine Lüge war.

Sein Freud sah ihn so sanft an, dass Rudolf kalt wurde. „Du brauchst mir nichts vorzumachen. Ich verurteile dich nicht für deine Taten. Ich bin für dich da.“

Rudolfs Hand zitterte. Er nahm einen Schluck aus seiner Flasche und strich sich übers Gesicht. Tränen brannten in seinen Augen, doch er erlaubte sich nicht zu weinen.

„Und dennoch versuchst du mich dazu zu drängen, das Manifest zu unterschreiben“, sagte er und presste die Lippen zusammen. 

Sein Freund runzelte die Stirn. „Dich drängen? Mitnichten, Rudolf. Ich versuche, dir zu helfen. Du zerstörst dich selbst, indem du deine Wünsche und Träume unterdrückst. Soll dein Vater dein Schafrichter werden?“

Rudolf verzog die Kiefer und atmete tief durch. „Lass meinen Vater aus dem Spiel“, befahl er mit der Stimme eines Kronprinzen und der Macht eines Sklaven. 

„Du bist nicht wie er, Rudolf. Du bist nicht so schwach wie er.“

Rudolf konnte nicht anders als lachen. Er würde wohl nie erfahren, wie sein Freund es stets anstellte, die richtigen Worte zu finden.

„Es geht nicht darum, wie stark oder schwach mein Vater ist“, gestand er, mit brennenden Augen. „Es geht darum, wie viel Macht er hat. Und in dieser Hinsicht ist er mir weit überlegen.“

Sein Freund sah ihn nur an. Dann richtete er seinen Blick wieder auf ihre Umgebung. Er betrachtete eine Gasse zu ihrer Linken und lenkte Rudolfs Aufmerksamkeit auf eine Bettlerin, die in den Schatten kauerte, in den Armen ein in Lumpen gehülltes Kind. Er selbst hatte sie gar nicht bemerkt. Mitleid regte sich in ihm, als er die Frau betrachtete.

„Sieh hin, Rudolf“, wies ihn sein Freund an. „Das ist die Macht deines Vaters. Macht über die Machtlosen zu haben, ist weder beeindruckend, noch schwer. Aber du...“

Er sah Rudolf wieder in die Augen. „... du bist nicht machtlos. Du bist ihm in allen Belangen überlegen. Das musst du nur erkennen.“

Rudolf schluckte und wischte sich über die Augen. Es war so schwer, nicht zu weinen. „Was sollte ich also deiner Meinung nach tun?“, fragte er bitter, „Das Manifest unterzeichnen und Hochverrat an meinem eigenen Vater begehen? Er ist immer noch mein Kaiser.“

„Und was hat dieser Kaiser je für dich getan?“, argumentierte sein Freund so kalt, dass Rudolf zusammenzuckte.

Doch er fand keine Antwort.

Er senkte den Kopf und sein Freund drängte ihn nicht. Ließ ihn nachdenken. 

Ließ ihn denken.

Was mehr war, als sein Vater ihm gestattete.

„Er versteht die Welt nicht mehr. Er ist ein Relikt früherer Epochen. Veraltet. Nicht in der Lage, den Veränderungen der Welt zu folgen“, entfuhr es ihm, ehe er sich bremsen konnte. Sogleich bereute er seine Worte. 

Zumindest dachte er das. Doch als er seinen Freund ansah und ihm in die Augen sah, wusste er es besser.

Er bereute sie nicht. Er bereute sie kein bisschen.

Er hatte sie genauso gemeint.

„Er ist Europas Untergang.“

Nach diesen Worten, die ehrlicher waren, als vieles, das Rudolf in letzter Zeit gesagt hatte, verfiel er in Schweigen, beinah erschrocken über sich selbst. Wann war es soweit gekommen, dass er mit solcher Bitterkeit von seinem eigenen Vater dachte?

Vor langer Zeit, dachte er bei sich, als ich erkannt habe, dass er kein Held ist, nur weil wer mein Vater ist.

Sein Freund schwieg und wartete einfach ab. Rudolf sah ihn flehend an und fragte: „Ich sollte es tun, nicht wahr? Ich sollte das Manifest unterzeichnen. Es wäre das Richtige.“

Sein Freund neigte leicht den Kopf, halb nickend, halb den Kopf schüttelnd. „Du weißt längst, was das Richtige ist, Rudolf. Was hält dich dennoch davon ab, deinem Herzen zu folgen?“

Rudolf senkte den Blick. „Er könnte Mary etwas tun“, flüsterte er. „Er hat ihr bereits gedroht... und ich bin soweit, ihm alles zuzutrauen. Kann ich verantworten, dass sie unter meiner Entscheidung zu leiden hat?“

„Kannst du verantworten, dass ganz Europa unter deinem Vater zu leiden hat?“

Nein. Nein, genau das konnte er eben nicht. Er konnte nicht länger zusehen, wie sein Vater Europa zugrunde richtete. Wie die veralteten Vorstellungen der Mächtigen den Schwachen das Leben kosteten. 

„Was soll ich also deiner Meinung nach tun?“, fragte Rudolf. Doch sein Freund zuckte nur mit den Schultern. „Das weißt du bereits“, sagte er.

Ja, das wusste er. Alles, was es brauchte, war eine Unterschrift, nur eine Aneinanderreihung von Buchstaben auf einem Dokument. Die Bausteine der Zukunft. Die Welt von morgen wurde nicht mehr aus Holz und Stein und Metall gebaut – nur noch aus Worten. 

Aus Versprechen.

Versprechen, die zu geben er imstande war. Er war der Kronprinz einer der mächtigsten Dynastien der Welt. Wenn nicht er für die Zukunft eintrat, wer würde es dann tun?

Und doch...

Und doch.


Sein Freund saß schweigend da, wartete, dass Rudolf eine Entscheidung traf. Rudolf suchte seinen Blick wie ein Ertrinkender das Rettungsseil. 

„Er könnte Mary etwas antun“, sagte er.

„Das könnte er“, stimmte sein Freund ruhig zu.

„Er könnte all meine Anstrengungen negieren.“

„Das könnte er.“

„Er könnte den gesamten Hofstaat gegen mich aufhetzen.“

„Das könnte er.“

„... er könnte mich vernichten.“

„Das tut er bereits.“ Sein Freund sah ihm in die Augen und ergriff Rudolfs Hand. 

Und Rudolf traf eine Entscheidung.

Kurze Zeit darauf saß er an einem von Kerzen erleuchteten Tisch im Hinterzimmer eines bekannten Etablissements. Um ihn her standen einige Männer, die ihn angespannt beobachteten. Es war stickig und Rudolf standen Schweißtropfen auf der Stirn. Doch der durch Öfen und gedrängte Körper verursachten Hitze zum Trotz zitterte er. In der Hand hielt er eine Feder. Tinte schimmerte dunkel wie Blut an ihrer Spitze. 

Rudolf hob die Feder zu dem Dokument, das vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch lag. 

Eine Unterschrift.

Ein Versprechen.


Er zögerte. 

Doch als er erneut die kalte Hand seines Freundes an seiner spürte, senkte er die Feder auf das Papier.

Und sein Freund lächelte. 

Autorennotiz

Der folgende OS lag lange auf meiner Festplatte herum. Nach leichter Überarbeitung habe ich beschlossen, ihn hier zu posten. Der Text wurde nicht von einem Betaleser korrigiert, sollten sich also noch Fehler finden, werde ich diese nachträglich ausbessern.

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Sätze: 155
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Zeichen: 8.734

Kurzbeschreibung

Kronprinz Rudolf steht vor der womöglich wichtigsten Entscheidung seines Lebens. Doch Angst und Zweifel halten ihn zurück und nur die Bestätigung eines Freundes kann helfen.

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit Tragödie und Schmerz und Trost getaggt.

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