Die letzten Aufgaben des Tages waren immer die Schwersten, fand der Held. Die Sonne war bereits untergegangen, als er sich endlich von seinen königlichen Pflichten lossagen konnte und sich auf ein wenig abendliche Ruhe in die Bibliothek zurückzog.
Seine Knochen schmerzten, als er sich in den Sessel sinken ließ. Ein erleichtertes Seufzen entkam ihm, als er sich zurücklehnte. Die Kerzenlichter verschwammen leicht vor seinen Augen, er blinzelte mehrmals.
Ein Diener neigte neben ihm den Kopf und bot ihm auf einem silbernen Tablett Getränke an, die er mit einer schwachen Handbewegung ablehnte. Der Mann nickte ergeben und entfernte sich einige Schritte.
Der alte König schloss die Augen und strich sich übers Gesicht. Schon seit Tagen, seit Wochen fühlte er sich so unendlich müde, so erschöpft. Und zugleich fürchtete er sich davor, sich schlafen zu legen. So schwer es ihm fiel, es zuzugeben, er hatte Angst. Der Held von Albion, der Lord Lucien niedergestreckt und dafür alles geopfert hatte, hatte Angst.
Selbst die kleinsten Bewegungen schmerzten inzwischen, selbst das schlichte Heben eines Armes.
Er legte die Hände auf den Armlehnen des Sessels ab und betrachtete ruhig die flackernden Kerzen. Das warme, gelbe Licht warf tanzende Schatten an die Wände.
Und wie der so da saß, die Lider schwer vor Müdigkeit, die Last des Tages abgelegt, schien ihm, dass jene Schatten altbekannte Gestalten annahmen. Geister längst vergangener Zeiten spielten vor seinen Augen ihre Tollheiten, Gesichter nahmen Formen an, wurden klarer und erinnerten ihn an Zeiten, die ihm heute so unendlich fern schienen. Von irgendwo glaubte er, Musik zu hören, zu leise, als dass er sie hätte erkennen können.
Einer der Schatten schien sich von der Wand zu lösen, nahm deutlichere Umrisse an und kam langsam auf ihn zu.
Der Tod seiner Schwester war schon so lange her, dass es ihm oft schien, als sei es ein Ereignis aus einem anderen Leben. Und doch erkannte er Roses Lächeln ohne einen Moment des Zweifels.
Sie hatte jenen sanften Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn als Kind stets bedacht hatte, In jenen kalten Nächten, in denen sie ihn fest in ihre einzige, löchrige Decke gewickelt hatte, obgleich sie selbst gefroren hatte. An jenen Tagen, an dem sie das wenige Essen, das sie hatten auftreiben können ihm überlassen hatte und selbst hungrig geblieben war.
Sie kam näher, langsam, Schritt für Schritt, und je näher sie kam, desto schmerzlicher stach ihm ihr Lächeln ins Herz.
Unsinn, sagte er sich selbst, deine Sinne spielen dir Streiche, alter Narr.
Doch er konnte er den Blick nicht von dem Hirngespinst abwenden, das so echt scheinend vor ihm stand.
Rose ging neben seinem Sessel in die Hocke und nahm seine Hand. Ihre Finger schlossen sich warm und sanft um seine alte, kalte Hand, die schon so lange nicht mehr die Kraft hatte, ein Schwert zu führen. Die Schatten tanzten noch immer über die Wände.
Als er sie so sah, ihre Hand auf seiner glaubte, bildete er sich bereits ein, ihre Stimme zu hören, mit jenem beruhigenden Unterton, mit dem sie stets gesprochen hatte: „Keine Angst, kleiner Spatz.“
Er blinzelte und wollte die Hand nach ihr ausstrecken, doch die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut. Jede Bewegung schien so viel mehr Kraft zu kosten, als er noch innehatte.
„Rose“, flüsterte er. Die Musik wurde klarer, wenn auch nicht lauter.
Der Diener hinter ihm hob leicht den Kopf, dachte er doch zunächst, der alte König hätte ihn angesprochen. Doch der Held sah ihn weder an, noch schien er irgendwie Notiz von ihm zu nehmen, so dass der Diener bloß aufmerksam, aber stumm an seinem Platz blieb. Der König war schließlich schon alt. Man konnte ihm das ein oder andere Selbstgespräch wohl verzeihen.
Der Held hatte nur noch Augen für das Trugbild – das Trugbild? - seiner Schwester. Uralte Schuldgefühle erwachten in ihm, von denen er dachte, er hätte sie längst vergessen.
„Verzeih mir“, bat er mit brüchiger Stimme, während er schnell die Tränen weg blinzelte, die in seinen Augen brannten.
Im nächsten Moment schalt er sich selbst einen Narren. Wie konnte er sich erdreisten, um Vergebung zu bitten? Rose war nur eine von so vielen, die seinetwegen ihr Leben lassen mussten. Alte Schmerzen brannten in seiner Brust, als er an all jene dachte, die er durch Luciens Hand verloren hatte. Wie konnte er auf Vergebung hoffen, wo er doch so viel Tod verursacht hatte?
Eine Träne rann ihm über das Gesicht und versickerte in seinem Bart. Er holte tief Luft, seine Brust war ihm eng.
Rose jedoch ließ seine Hand nicht los, strich ihm sanft durch die Haare, wie sie es immer getan hatte um ihn zu trösten. „Nicht weinen, kleiner Spatz“, ermunterte sie ihn lächelnd, „Es gibt nichts, was dir vergeben werden müsste.“
Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und drehte es so, dass er sie ansehen musste. Weitere Schatten lösten sich von den Wänden und nahmen Formen an.
Theresa sah ihn mit ihren blinden Augen an, wie sie es immer getan hatte. Debby stand knapp hinter ihr, in den Armen das Kind, das niemals hatte erwachsen werden dürfen. Sie lächelte ihn an. Und es brach ihm beinah das Herz.
Theresa stellte sich neben Rose und lächelte ebenfalls. „Es ist an der Zeit, einen neuen Pfad zu beschreiten, Held. Bist du bereit dazu?“
Er hob nur matt den Kopf – er war müde, er war so unendlich müde – und flüsterte: „Ein neuer Pfad... ein neuer Pfad? Wohin... wird er mich führen?“
Der Diener runzelte nervös die Stirn. Es behagte ihm nicht, mitanzusehen, wie der König solche kontextlosen Worte murmelte, als spräche er mit jemandem. Vorsichtig wagte er einen leisen Vorstoß: „Majestät? Fühlt Ihr Euch nicht wohl?“ Der König reagierte nicht, murmelte weiter vor sich hin. Der Diener trat unruhig von einem Bein aufs andere, dann stellte er das Tablett mit den Getränken weg und verließ eilig den Raum, um Jasper oder Walter Beck zu holen.
Der Held nahm keines der Worte mehr wahr und auch nicht, dass der Diener unaufgefordert seinen Posten verließ. Er sah Theresa an, die nur wissend lächelte. Rose antwortete an ihrer Stelle auf seine Frage: „Nach Hause, kleiner Spatz. Nach Hause, zu guter Letzt.“
„Nach Hause“, wiederholte der Held leise. Die Worte hallten in ihm wieder. So lange hatte er sich danach gesehnt... so lange schon, wie er sich einzureden versucht hatte, dass Schloss Bowerstone sein Zuhause war. Es war verlockend. So verlockend. Die Musik wurde lauter und kam ihm mit jeder Note bekannter vor.
Doch nur so lange bis seine Gedanken zu jenen wanderten, die selbst diesen fremden Ort für ihn zu einem Zuhause gemacht hatten. Als er an Logan dachte, jenen schlanken jungen Mann, den man viel zu selten lächeln sah und der sich den Altersbeschwerden seines Vaters stets so geduldig angenommen hatte, schloss er die Augen.
Der Gedanke an den kleinen Kaiden war noch schlimmer. Sein jüngerer Sohn war erst neun. Ein Kind, genauso alt wie er selbst gewesen war, als er Rose verloren hatte und ihm selbst so unheimlich ähnlich. Und doch hatte der Held das Gefühl, seinen eigenen Sohn nicht gut genug zu kennen, noch nicht genug Zeit mit ihm verbracht zu haben. Wie gerne würde er ihn aufwachsen sehen, würde sehen, zu was für einem Mann er heranwachsen würde.
Und doch... vielleicht war es genug gewesen.
„Du lässt sie nicht im Stich“, sagte Theresa, als könne sie seine Sorgen erahnen. „Sie werden dich vermissen und dich stets im Gedächtnis behalten. Und dereinst, wenn ihre Zeit gekommen ist, wirst du sie wiedersehen. Es gibt keine endgültigen Abschiede.“ Theresa hatte immer in Rätseln gesprochen, doch hatte sie ihm nie einen Grund gegeben, ihr nicht zu vertrauen.
Er lachte leise, obwohl selbst das beinah zu anstrengend war. Immer noch rannen ihm Tränen übers Gesicht. „Meine Jungs...“, sagte er, „... sie sind das Beste, das mir im Leben passiert ist. Ohne sie wäre ich... nichts.“
Seine Gedanken waren so träge. Zu denken war, als versuche er, sich an Vergessenes zu erinnern.
„Und das werden sie bleiben, Held“, versicherte die Seherin ihm sanft, wie man ein Kind trösten würde.
Rose nahm wieder seine Hand. „Hab keine Angst, kleiner Spatz“, wiederholte sie. „Leg deine Last ab. Du bist bereit dafür. Vertrau mir noch ein letztes Mal. Dann gehen wir heim.“
Er sah sie aus trüben Augen an. Dann nickte er schwach. Er war so müde... ob es wohl schaden würde, kurz die Augen zuzumachen...?
Jasper und Walter eilten herein, gefolgt von dem Diener, der sie gerufen hatte. Beide schritten eilig zu dem Sessel, in dem ihr König saß, der Kopf auf die Brust gesunken und die Arme schlaff auf den Lehen liegend.
Jasper kniete sich neben seinen Herrn. „Sire?“, fragte er eindringlich, „Sire, könnt Ihr mich hören?“
Der Blick des alten Königs schien in weite Fernen gerichtet, seine Lippen bewegten sich, während er unverständliche Worte murmelte. Walter betrachtete seinen alten Gefährten und wandte sich an den Diener. „Geht, holt die Prinzen. Und einen Arzt. Schnell!“
Dann gesellte er sich zu Jasper und versuchte, den König wieder zu sich zu bringen.
Er fühlte ein eigentümliches Gefühl an seiner freien Hand. Eine weiche, feuchte Nase, die ihn anstupste, warmes Fell, das sich an seine Haut schmiegte. Der Atem des Hundes strich über seine Finger.
Er hätte beinah geschluchzt, als er seinem Freund nach so langer Zeit wieder durchs Fell streicheln konnte. „Mein Freund“, flüsterte er, während ihm die Augen zufielen, „mein alter Freund. Wirst auch du mich begleiten, auf diesem neuen Pfad? Wir beide gemeinsam... wie früher?“
Das leise Japsen des Hundes sprach Bände und als er dessen schweren Kopf in seinem Schoß fühlte, war ihm, als wolle sein Hund sagen: „Du und ich, wie früher. Ruhe dich aus. Ich werde Wache halten. Wie ich es immer getan habe.“
Ihm fielen die Augen zu, während er immer noch mit einer Hand Roses' hielt, die andere hatte er auf den Kopf des Hundes gelegt. Wärme durchdrang ihn und er fühlte sich leicht, wie kurz vor dem Einschafen. Die Musik war nun allgegenwärtig und endlich erkannte er sie – es waren die leisen Töne der Spieluhr, mit der seine Geschichte dereinst begonnen hatte.
In den Schlaf abgleitend, waren die letzten Worte, die er hörte, Theresas: „Sorge dich nicht. Alles wird sein, wie es sein soll. Du bist bereit.“
„Ja... ja“, flüsterte er unbewusst. „Ich bin bereit. Gehen wir... nach Hause.“
Walter sah Jasper an, der seinen Blick erwiderte. Sie beide ahnten, dass sie nichts tun konnten – der König war alt.
Als die Türe erneut aufgestoßen wurde und der Kronprinz in den Raum stürmte, machten sie beide respektvoll Platz. Hinter dem Prinzen war auch der königliche Leibarzt herein getreten, der Walter einen schnellen Blick zuwarf. Als dieser stumm den Kopf schüttelte, nickte er verstehend, ließ sich aber dennoch neben dem König in die Knie sinken und tastete nach dessen Arm.
Als er ein leises Geräusch hörte, drehte sich Walter zur Tür. Dort stand der junge Prinz, mit großen Augen, in seinem Pyjama und sah seinen Vater ängstlich an. An seiner Seite, wie immer, stand sein treuer Hund, der ihm tröstend über die Hand leckte.
Auch Jasper hatte den Jungen entdeckt und ging zu ihm, nahm ihn bei der Hand und führte ihn in den Raum.
Kaiden schien sich zu fürchten, dennoch ging er zu dem Sessel und stellte sich neben seinen Bruder.
Logan hatte die andere Hand seines Vaters genommen und sprach auf ihn ein. Der König reagierte nicht mehr. Er sah seine Söhne aus bilnden Augen, aber lächelnd an, dann schloss er die Augen und ein tiefer Seufzer entglitt ihm, ehe sein Kopf sich seitlich neigte und ihm auf die Schulter fiel. Auf seinem Gesicht lag ein so friedlicher Ausdruck, man hätte meinen können, er sei nur eingeschlafen.
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