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Schmetterling und Nachtfalter

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16.09.17 18:18
18 Ab 18 Jahren
Heterosexualität
Fertiggestellt

5 Charaktere

Corinne Lambert

Das ist ein von mir selbst ausgedachter Charakter. Sie stammt aus Frankfurt a. M., ist Kunstpädagoin, und hat noch eine Schwester.

Lucien Lacroix

Lucien Lacroix ist der Meister von Janette du Charme und Nicolas de Brabant (Nick Knight). Die drei machen während mehrerer Jahrhunderte unterschiedliche Erfahrungen. Lacroix kann nicht nachvollziehen, warum Nick wieder sterblich werden will und macht sich über dessen Schuldgefühle lustig. In der Vergangenheit war Lacroix ein hoher, römischer Offizier namens Lucius.

Natalie Lambert

Natalie Lambert ist Gerichtsmedizinerin und arbeitet für die Metro-Police in Toronto. Eines Tages lag Nicolas de Brabant als Toter bei ihr auf dem Tisch und sie wurde Zeugin, wie er durch Blutzufuhr quasi wieder "lebendig" wurde. Da sie immun gegen Hypnose ist, gehört sie zu den wenigen vertrauten Freunden, die um Nicks Vampirnatur wissen. Sie will ihm helfen, wieder ein Mensch zu werden.

Nicolas de Brabant (Nick Knight)

Nicolas de Brabant war ein Ritter aus dem Mittelalter, der sich in Janette du Charme verliebte. Diese überredet ihn dazu, sich von ihrem Meister Lacroix in einen Vampir verwandeln zu lassen. Später bereute Nicolas diese Entscheidung und klärt nun als Polizist namens Knight in Dauernachtschicht zusammen mit seinem Kollegen Don Schanke Kriminalfälle bei der Metro-Police in Toronto auf.

Michael Fernandes

Das ist ein von mir selbst ausgedachter Charakter. Er hat zusammen mit Corinne an derselben Uni studiert und ist nun wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Teichert. Sein Problem: Er ist leidenschaftlich in Corinne verliebt.

Dunkelheit. Strömender Regen. Ein junger Mann in langem Mantel schließt gerade eine Tür ab und überquert langsam die Straße, um auf den gegenüberliegenden Bürgersteig zu gelangen. Auf einmal hört man, wie ein Wagen heranzukommen scheint. Der junge Mann schaut sich um. Doch nichts ist zu sehen. Immer noch herrscht Dunkelheit. Dennoch ist das Geräusch eines Fahrzeuges zu hören. Es scheint sich schnell zu nähern... plötzlich blitzt kurz vor dem jungen Mann gleißendes Licht auf... und das Auto fährt ihn an und rollt über ihn hinweg ohne anzuhalten...

„NEIN! NEIN! THOMAS!“ 

Schreiend und schweißgebadet fuhr das schwarzhaarige Mädchen vom Bett auf. Es dauerte einige Minuten, bis ihr klar wurde, dass sie schon wieder einmal von dem Unfall geträumt hatte, in dem ihr langjähriger Lebensgefährte zu Tode kam. Immer wieder suchte dieser Alptraum sie heim. Aber wen wunderte es? Schließlich lag es erst vier Monate zurück, dass sie Zeugin dieses schrecklichen Unglücks geworden war. Zwar hatte sie sofort einen Notarzt über ihr Handy gerufen und versucht, ihrem Freund so gut es ging zu helfen, aber umsonst. Thomas starb auf dem Weg zum Krankenhaus in ihren Armen und sie bekam die Bilder dieser Unglücksnacht nicht aus dem Kopf.

 Die Zeit nach Thomas’  Tod war ihr unwirklich erschienen und sie konnte sich zeitweise nicht mehr auf den Beinen halten. Wenn ihr nicht ihre Familie und die ihres Freundes geholfen hätte, so wäre sie wohl immer noch nicht fähig, wieder am Leben teilzunehmen.

 Das Schlimmste war jedoch die Erkenntnis, dass Thomas wohl vorsätzlich von jemandem umgebracht worden war. Aber sie und die zwei Passanten, die zufälligerweise durch diese Straße gehen mussten, hatten in der Dunkelheit und in dem gleißenden Licht weder den Autotyp noch das Kennzeichen erkennen können, geschweige denn gesehen, wie der Fahrer aussah. Es war alles so rasend schnell gegangen in dieser Nacht...  und weil man keine Anhaltspunkte dafür fand, wer Grund gehabt hätte, Thomas zu töten, legte die Polizei den „Fall Marquardt“ schon sehr bald zu den Akten mit der lapidaren Begründung, dass man nichts machen könne... Derjenige, der Thomas ermordet hatte, wurde also nicht einmal für seine Tat zur Verantwortung gezogen... das war so widerlich...

 In Erinnerung daran schüttelte sich die junge Frau innerlich und knipste die Nachttischlampe an. Dann schaute sie sich erstaunt um. Ach richtig, sie war ja gar nicht zu Hause, sondern im Gästezimmer ihrer Cousine Nathalie. Es war überhaupt ein Wunder, dass sie sich aufgerafft hatte, nach Toronto zu fliegen, aber sie dachte, dass ihr ein wenig Abstand gut tun würde. Doch selbst hier suchte der Alptraum sie heim. Wahrscheinlich würde sie Thomas’  Tod nie überwinden...

 ***

Dr. Nathalie Lambert wirkte unruhig, als Nick und Schanke sie in der Pathologie aufsuchten, um die Informationen über die Tote abzuholen, die man vor wenigen Tagen nachmittags im Park auf einer Bank gefunden hatte.

„Die Frau hatte einen Herzinfarkt“, erklärte Nathalie.

„Ist sie etwa daran gestorben?“ fragte Schanke. Die Pathologin nickte, worauf er leutselig meinte: „Wenn sich nur all unsere Fälle so leicht aufklären würden!“

„Dann können die Angehörigen die alte Dame wohl bald beerdigen“, meinte Nick.

„Aber sicher“, erwiderte Nathalie.

„Hab schon lang nichts mehr gegessen“, sagte Schanke und bewegte sich in Richtung Tür. „Ich hole mir einen Donut. Soll ich euch auch etwas mitbringen?“

„Nein danke!“ antwortete Nathalie, während Nick nur wortlos den Kopf schüttelte. Er wartete, bis sein Kollege den Raum verlassen hatte und wandte sich dann wieder der Pathologin zu. „Was ist los, Nat? Du scheinst heute irgendwie nicht bei der Sache zu sein.“

„Ich mache mir Sorgen um Corinne, meine Cousine. Sie ist heute Nachmittag mit der Maschine aus Frankfurt angekommen und wirkte nicht gerade so, als ob man sie allein lassen könnte. Ich wäre jetzt lieber bei ihr als hier.“

„Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas mit deiner Cousine ist? Hat sie vielleicht vor kurzem etwas Schreckliches erlebt?“

Nathalie starrte Nick erschrocken an, dann meinte sie: „Deine Fähigkeiten erstaunen mich immer wieder.“

„Es stimmt also, dass deine Cousine einen Schock erlitten hat?“

„Ja, das kann man so sagen. Ihr Lebensgefährte ist vor vier Monaten von einem Auto überrollt worden und es sieht ganz so aus, als ob das vorsätzlich geschehen wäre“, erzählte Nathalie. „Corinne wollte ihn an diesem Abend vom Geschäft abholen und wartete bereits auf der anderen Straßenseite, als es geschah. Sie hat alles mit angesehen...“

„Das ist wirklich tragisch“, meinte Nick mitfühlend. „Hat man den Mörder erwischt?“

„Nein, der Fall wurde zu den Akten gelegt, da weder Fahrer noch Wagentyp oder Kennzeichen zu erkennen gewesen waren...“

„Das ist ja unglaublich!“

„Das finden wohl alle seine Freunde und Bekannten, denn Thomas Marquardt, so hieß Corinnes Partner, war sehr beliebt und es gibt eigentlich niemanden, der ihm den Tod gewünscht geschweige denn davon profitiert hätte. Wie soll man da denjenigen finden, der den jungen Mann auf dem Gewissen hat?“

„Mir scheint, die Kollegen sind nicht engagiert...“, murmelte Nick. „Vielleicht könnte ich einmal mit Corinne reden? Möglicherweise kann ich in ihren Gedanken sehen, wer es gewesen ist?“

„Bitte, Nick, die Ärmste hat schon genug durchgemacht“, ermahnte ihn Nathalie. „Ihr Vater rief vor einigen Tagen an und meinte, ich solle dieses Thema so weit wie möglich vermeiden. Corinne ist immer noch ein wenig durcheinander...“

„Warum lässt er seine Tochter dann nach Toronto fliegen?“

„Hm... ihren Eltern war es gar nicht recht, dass sie mich besucht. Am liebsten würden sie sie bei sich im Hause in ihrem alten Kinderzimmer einsperren, um sie zu beschützen“, sagte Nathalie. Ein leichtes Lächeln glitt über ihre Züge. „Weißt du, Nick, meine Cousine ist sehr eigenwillig und macht, was sie für richtig hält. Ihren Eltern erklärte sie, sie wolle in Toronto ein wenig Abstand gewinnen, zumal hier eine Fachtagung stattfindet, die sie interessiert. Corinne glaubt, sie könne sich am besten ablenken, wenn sie sich in die Berufstätigkeit stürzt.“

„Na ja, ich wünsche ihr viel Erfolg dabei“, erwiderte der Vampir. In ebendiesem Augenblick kam Schanke zurück, hörte den letzten Satz und fragte: „Wem wünscht du viel Erfolg, Nick?“

„Nathalies Cousine...“

„Du hast eine Cousine?“ wandte sich Schanke erstaunt an die Pathologin. „Davon wusste ich ja gar nichts.“

„Du brauchst auch nicht alles über mich zu wissen“, erwiderte Nathalie.

„Natürlich nicht... ich wollte dir auch keineswegs zu nahe treten“, meinte Schanke in entschuldigendem Ton. „Ich interessiere mich nunmal für meine Kollegen. – Hat deine Cousine etwa irgendwas zu verbergen, muss man sie verstecken oder so?“

Nathalie brach in Lachen aus. Sie konnte dem gutmütigen Detective nicht böse sein.

„Aber nein“, erklärte die Pathologin dann. „Ich bin überzeugt, dass viele Männer Corinne sehr attraktiv finden. Ich denke, sie wäre dein Fall.“

„Oh, ich bin glücklich mit meiner Myra verheiratet“, wehrte Schanke ab. „Verrätst du mir vielleicht auch, was deine Cousine nach Toronto führt?“

„Sie will an einer Fachtagung über den Sinn und Unsinn der optischen Kunst teilnehmen. Ich glaube, sie hält sogar einen kleinen Vortrag.“

„Deine Cousine ist also schön und klug“, meinte Schanke beeindruckt. „Ich muss gestehen, ich bin neugierig auf sie geworden. Meinst du, Nick und ich könnten sie einmal sehen?“

„Bitte!“ rief der Vampir seinen Kollegen zur Ordnung. „Die junge Dame ist doch kein Ausstellungsstück!“

„Lass gut sein, Nick“, meinte Nathalie. Sie hatte sich gerade gefragt, ob es Corinne nicht wirklich gut tun würde, Don Schanke kennenzulernen. Mit Sicherheit fand sie ihn amüsant. Es wurde allmählich Zeit, dass Corinne wieder unter Menschen kam. Sie hatte sich schließlich lange genug in ihrem Schmerz vergraben. Ihre Reise hierher bedeutete doch wohl, dass sie selbst den Wunsch hegte, aus ihrer Isolation herauszukommen...

 

 

Immer noch aufgewühlt von dem Alptraum war Corinne aufgestanden und hatte gerade in der Küche heißes Wasser für einen Tee aufgesetzt. Vielleicht half ihr das ja, wieder einzuschlafen.

Die junge Frau schaute sich in dem Raum um. Er war zwar klein, aber gemütlich eingerichtet mit den hellen Möbeln und der kleinen Eckbank. Corinne ließ sich darauf nieder, stützte ihren Kopf auf die Arme und ließ ihren Gedanken wieder freien Lauf. Sie konnte Thomas nicht vergessen. Er fehlte ihr... sie fühlte sich ohne ihn so leer... Ach, wenn Nat doch keine Nachtschicht hätte... Eine menschliche Stimme zu hören würde ihr jetzt so gut tun...

Corinnes Blick fiel auf das Radio, das auf der Ecke der Sitzbank stand. Kurzentschlossen schaltete sie es ein und hörte, wie eine Frau davon sang, dass sie glücklich mit ihrem Liebsten vereint war und immer mit ihm zusammenbleiben würde. Der Text des Liedes bereitete Corinne Schmerzen und sie begann, einen anderen Sender zu suchen. Wenig später erklang ein ruhiges Klavierstück und sie beließ es bei dieser Frequenz. Mittlerweile pfiff auch der kleine Kessel auf dem Herd, so dass die junge Frau sich erhob, um sich den „Schlaftrunk“, eine Mischung aus verschiedenen Teesorten mit beruhigender Wirkung, aufzugießen. Dann setzte sie sich wieder zurück auf die Eckbank und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Wand. Ihr Blick fiel auf den Nachtfalter, der um die Deckenlampe herumflog und immer wieder verzweifelt versuchte, in ihr Inneres zu gelangen.

„Armes Ding“, dachte Corinne und empfand Mitleid mit dem Insekt. „Du sehnst dich nach dem Licht und suchst seine Nähe, obwohl es dich verbrennen wird.“

In diesem Augenblick begann es heftig im Radio zu rauschen und die Musik, die vor kurzem noch den kleinen Raum erfüllt hatte, war verschwunden. Corinne wandte sich dem Gerät zu und versuchte, den Sender wieder reinzukriegen.

„Hallo“, klang ihr plötzlich eine sonore, tiefe Stimme entgegen. „Hier ist der Nachtfalter. Ich begrüße alle, die jetzt wach sind und mir zuhören...“

Corinne lauschte fasziniert dieser dunklen Männerstimme, die fortfuhr: „Ihr Freunde der Nacht, sicher wisst ihr, was Dunkelheit und Einsamkeit bedeuten? Sie begleiten uns ständig. Aber ist das ein Grund zur Klage? Was meint ihr? Ist der Tod besser als die dunkle Einsamkeit unserer Existenz?“

„Eine interessante Frage“, schoss es Corinne durch den Kopf.

„Wenn ihr mit mir darüber sprechen wollt, so habt ihr heute zum ersten Mal die Gelegenheit, in der Sendung anzurufen“, sagte der Radiosprecher. „Allerdings müsst ihr erst ein kleines Rätsel lösen, um die Telefonnummer zu erfahren. Ich werde es euch gleich mitteilen. Aber zuvor noch ein wenig Musik...“

Corinne nutzte die Gelegenheit, um in das Gästezimmer zu eilen und sich etwas zum Schreiben zu holen. Als sie wieder in die Küche zurückkehrte, erklangen gerade die letzten Töne eines melancholischen Geigenspiels. Kaum hatte sie sich auf die Eckbank gesetzt, hörte sie wieder den ‚Nachtfalter’: „So, liebe Freunde der Nacht, heute kann einer von euch mit mir persönlich in der Sendung sprechen, sofern er das Rätsel löst und die Nummer herausfindet, die er anrufen muss...“

„Nun sag schon!“ murmelte Corinne ungeduldig.

„Am Anfang ist das Nichts – bevor die Zahl des Tiers ihm folgt und die Unendlichkeit zweifach auftritt, um dann wieder im Nichts zu verschwinden“, ertönte es aus dem Radio.

Eilig hatte die junge Frau dieses Rätsel auf ihren Block geschrieben.

„Nun, ihr Freunde der Nacht, kommt dem einen oder anderen von euch schon eine Idee, welche Zahlen sich hinter meinen Worten verbergen könnten?“ fragte der ‚Nachtfalter’. „Ich wiederhole gerne noch einmal das Rätsel: Am Anfang ist das Nichts – bevor die Zahl des Tiers ihm folgt und die Unendlichkeit zweifach auftritt, um dann wieder im Nichts zu verschwinden. - Denkt in Ruhe darüber nach, während ihr den Klängen einiger Nocturnes von Chopin lauscht...“

„Eine merkwürdige Art, die Zuhörer zum Anrufen zu animieren“, dachte Corinne und starrte nachdenklich auf ihr Blatt. „Mal sehen... Am Anfang ist das Nichts? Das kann nur eine Null sein.“

Sie notierte diese Zahl unter ihr Geschriebenes. Dann überlegte sie weiter.

„Bevor die Zahl des Tiers ihm folgt? Aber welches Tier könnte gemeint sein?“

Diese Aussage bereitete ihr einige Minuten Kopfzerbrechen. Dann plötzlich dämmerte es ihr: Das Rätsel war in mythischer Weise formuliert. Was, wenn mit dem Tier das ‚Tier’ gemeint war, von dem in der Apokalypse des Johannes die Rede war? Das könnte doch sein.

Rasch notierte Corinne hinter der 0 die Zahl 666, bevor sie sich der nächsten Aussage zuwandte: „Die Unendlichkeit verdoppelt sich? Nun, die Zahl der Unendlichkeit ist sicherlich die Acht. Und diese tritt zweimal auf?“

Den bereits notierten Zahlen folgte 88 und nach kurzem Überlegen eine 0. So lautete die notierte Nummer: 0 666 88 0.

Wie gebannt blickte Corinne auf diese Zahlen, dann stand sie mit ihrem Block auf und ging ins Wohnzimmer, wo Nathalies Telefon stand. Mit zitternden Händen wählte sie die erratene Nummer und spürte, wie stark ihr Herz klopfte, während sie gespannt darauf wartete, wer das Gespräch entgegennehmen würde. Sie hörte, wie jemand abnahm und gleich darauf eine nunmehr bekannte Stimme sagte: „Ich gratuliere dir! Du hast das Rätsel gelöst. Willkommen in meiner Sendung.“

„Spreche ich wirklich mit dem Nachtfalter?“ fragte die junge Frau ein wenig fassungslos.

„Aber ja!“ erklang es vom anderen Ende der Leitung in amüsiertem Ton. „Und welches holde weibliche Wesen darf ich hier begrüßen?“

„Mein Name ist Corinne.“

„Nun, Corinne, was hast du uns zu sagen? Ist der Tod besser als die dunkle Einsamkeit unserer Existenz?“

„Ich denke, dass diese Frage unmöglich zu beantworten ist!“

„Oh...?“ der Gesprächspartner schien überrascht. „Und warum?“

„Wir wissen nichts über den Tod...“, erklärte Corinne.

„So? Wissen wir nicht?“ kam es mit gedehnter Stimme aus dem anderen Ende der Leitung.

„Nein. Der Tod erscheint uns schrecklich, aber im Grunde genommen weiß niemand, was geschieht, wenn man gestorben ist.“

„Nun, meine Liebe, einige unserer Zuhörer sind da bestimmt anderer Ansicht. Der eine oder andere von ihnen wird dir versichern, dass er genau weiß, was Sterben bedeutet.“

„Mag sein, dass es Situationen im Leben gibt, in denen man sich so fühlt“, räumte Corinne ein. „Aber allein die Tatsache, dass es sich um Zuhörer der Sendung handelt, bedeutet doch schon, dass sie nicht wirklich tot sind.“

Verhaltenes Lachen am anderen Ende der Leitung antwortete ihr.

„Ja, du hast recht“, gab ihr Gesprächspartner dann zu. „Die meisten von ihnen sind  nicht wirklich tot... Ich kenne sogar einen, der... hm... der diese Existenz außerordentlich verabscheut... Ich hoffe, dass mein  Sohn  Nicholas diese Sendung mitverfolgt, denn sein Dasein quält ihn zutiefst. Sicherlich fühlt er sich einsam in seiner ewigen Dunkelheit, da er nicht akzeptieren kann, was er ist.“

„Das tut mir wirklich leid“, erwiderte Corinne. „Aber ich weiß selbst, wie es ist, einsam zu sein, denn ich habe jemanden verloren, den ich sehr liebte. Seitdem habe ich auch das Gefühl, dass sich mein Leben verdunkelt hat... es ist sehr schwer zu akzeptieren, dass der geliebte Mensch für immer verschwunden ist...“

„Und? Verabscheust du deine Existenz, Corinne?“

„Ich... ich weiß noch nicht... Ich bin wirklich durcheinander...“

„Mag sein, dass es jetzt etwas herzlos klingt, aber glaube mir, du wirst diesen Verlust überwinden“, meinte der ‚Nachtfalter’ in sachlichem Ton. Dann hörte sie plötzlich ein Klicken und wenig später wieder ihren Gesprächspartner: „So, Corinne, ich habe unser Gespräch gerade eben aus der Sendung weggeschaltet. Die Zuhörer müssen sich jetzt mit Musik begnügen, denn ich glaube, wenn wir uns weiter unterhielten, wird es allzu persönlich und ich möchte dich schützen. – Du scheinst mir ein kluges Mädchen zu sein. Hast du Lust, dich privat mit mir zu treffen?“

„Nun, ich...“, stotterte Corinne. „Geht das nicht ein bisschen schnell?“

„Was spricht dagegen?“

„Na ja, ich bin gerade erst in Toronto angekommen...“

„Herzlich willkommen!“ unterbrach der ‚Nachtfalter’ sie. „Das ist ein weiterer Grund, sich zu treffen. Es wäre mir ein Vergnügen, dir die Stadt zu zeigen.“

„Ach, ich weiß nicht...“

„Hast du etwa Angst?“

„Nein, natürlich nicht!“ widersprach Corinne heftig. „Aber es ist nun Mal nicht meine Art, mir von fremden Männern die Stadt zeigen zu lassen!“

„Wir müssen uns nicht fremd bleiben“, erwiderte er in ruhigem Ton. „Ich würde dich sehr gerne kennenlernen. Morgen Abend bin ich gegen 21.00 Uhr im ‚Raven’. Du kannst dir überlegen, ob du mich treffen willst. Ich werde jedenfalls bis Mitternacht dort auf dich warten.“

„Aha! Und wie erkenne ich dich?“

„Frag einfach nach Lucien. – Und nun wünsche ich dir noch eine Gute Nacht, Corinne.“

 

 

Corinne legte verwundert den Hörer auf die Gabel zurück und schüttelte den Kopf. Was war das nur für eine merkwürdige Art und Weise, Verabredungen zu treffen? Dieser Lucien hatte Nerven! Er kannte sie doch gar nicht!

Nachdenklich ging sie in die Küche zurück, setzte sich in die Eckbank und nippte an ihrer Tasse, während sie sich das Gespräch mit dem ‚Nachtfalter’ noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Wieder schüttelte sie verwundert den Kopf, konnte jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie sich eingestand, dass sie von dieser tiefen Stimme sehr angetan war. Bestimmt verbarg sich hinter dem Pseudonym ‚Nachtfalter’ ein interessanter Mann. Vielleicht sollte sie sich doch mit ihm treffen...?

Corinnes Blick fiel auf die Uhr. Himmel! Es war bereits zwei Uhr! Und morgen wollte sie doch früh aufstehen, um sich im Tagungsbüro zu melden. Es war wirklich Zeit, sich wieder ins Bett zu legen. Aber ob sie schlafen konnte...?

Nachdem die junge Frau jedoch wieder im Gästezimmer lag, tat der Tee seine Wirkung und sie schlief innerhalb weniger Minuten tief und fest. Allerdings träumte sie von einem dunklen Raum, in dem – kaum erkennbar - in der Mitte lediglich ein Tisch mit einem Mikrophon darauf stand. Dahinter saß ein großer, schwarzgekleideter Mann mit blonder Kurzhaarfrisur, der sie intensiv musterte und dann mit sonorer, tiefer Stimme in das Mikrophon hauchte: „Hallo! Ich bin der Nachtfalter, mein schöner Schmetterling.“  Danach hellte sich der Raum ein wenig auf, so dass eine schummrige Atmosphäre herrschte, die unwirklich wirkte. Wie aus weiter Ferne erklang die Melodie eines Walzers. Corinne konnte nicht anders, als sich zu der leisen Musik zu bewegen. Plötzlich stand der große, blonde Mann vor ihr und fragte: „Wollen wir zusammen tanzen, mein schönes Kind?“  Wie selbstverständlich umfing er sie dabei und drehte sich gleich darauf mit ihr mitten im Raum. Sie hatte bald das Gefühl, den Boden unter ihren Füßen nicht mehr zu spüren.

„Schweben wir etwa, Lucien?“ fragte Corinne ihren Tanzpartner. Dieser lächelte und nickte. Dann näherte er sich mit seinem Mund ihren Lippen...

 Das schrille Klingeln des Weckers riss die junge Frau aus diesem schönen Traumbild. Sie schlug mit ihrer Hand automatisch auf den Ausschaltknopf und setzte sich dann langsam im Bett auf. Wieder brauchte sie eine Weile, bis sie sich erinnerte, dass sie bei Nathalie zu Besuch war. Ein Blick auf die Uhr verriet dem Mädchen, dass diese sicherlich bald von ihrer Nachtschicht nach Hause kommen würde. Seufzend stand Corinne auf, denn sie musste heute Vormittag auch noch weg. Doch vorher wollte sie in Ruhe mit Nathalie frühstücken und ein wenig plaudern. Gestern kamen sie ja kaum dazu, da ihre Cousine bald darauf zur Arbeit musste. Sie selbst hätte allerdings keine Lust, immer nur Nachtschichten zu machen. Na ja, aber Nats Beruf wäre auch wirklich nicht ihr Fall...

 Corinne erhob sich, um Kaffe aufzusetzen und den Tisch zu decken, bevor sie sich duschte. Dabei ließ sie sich ihren Traum noch einmal durch den Kopf gehen. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie ein schönes Nachtgesicht gehabt hatte. Ob Lucien wirklich so eine beeindruckende Erscheinung war wie der Mann in ihrem Traum? Es lag an ihr, dies herauszufinden. Sie musste ja nur heute Abend an dem genannten Treffpunkt erscheinen.

Dieser Lucien schien wirklich ungewöhnlich zu sein. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Mann erlebt zu haben, der ihr die Entscheidung überließ, ob sie ihn kennenlernen wollte oder nicht – und diese Art der Freiheit, die Lucien ihr damit gab, empfand sie als überaus angenehm. Dennoch schien er nicht gleichgültig zu sein, denn immerhin hatte er ihr Gespräch aus der Sendung genommen, bevor es zu persönlich oder schmerzlich für sie werden würde. Das sprach für einen fürsorglichen Charakter, für jemanden, der andere zu schützen verstand... und sie sehnte sich danach, von jemandem beschützt zu werden...

Als Corinne der letzte Gedanke bewusst wurde, erschrak sie. Sie hatte sich bisher noch niemals eingestanden, wie verloren sie sich ohne Thomas fühlte... Thomas! Himmel, dieser Lucien hatte es tatsächlich geschafft, ihren geliebten Partner bis jetzt aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Er musste wirklich ein ungewöhnlicher Mann sein! Dennoch... sie kannte ihn nicht und sicherlich wäre es sehr leichtsinnig von ihr, sich allein mit einem fremden Mann in dieser ihr noch so fremden Stadt zu treffen... allerdings: Bei diesem Raven musste es sich um ein bekanntes Lokal oder so etwas in der Richtung handeln. Was könnte also schon passieren, wenn sie sich an einem öffentlichen Ort mit ihm traf?

 ***

 Als Nathalie nach Hause kam, war sie erstaunt, einen gedeckten Küchentisch und frisch gekochten Kaffee vorzufinden. Sie hatte erwartet, dass Corinne noch schlief. Doch diese kam ihr nun im Morgenmantel und mit frisch gewaschenem Haar entgegen.

„Guten Morgen, Nat“, begrüßte das Mädchen seine Cousine. „Komm, setz dich! Frühstück ist fertig.“

Nathalie kam dieser Aufforderung gern nach, schaute Corinne dabei jedoch besorgt an. Ihr Onkel hatte ihr nämlich berichtet, dass diese seit dem Tod ihres Freundes von schrecklichen Alpträumen geplagt wurde und zu wenig Schlaf fand. Vielleicht war es ihr hier auch so ergangen, obwohl sie gestern sehr müde von der Reise gewesen zu sein schien. Doch Corinne hatte ein wenig Farbe im Gesicht und lächelte sogar. Es schien ihr einigermaßen gut zu gehen. Nathalie beschloss darum, erst einmal abzuwarten. Sie konnte ja nicht ahnen, dass sich ihre jüngere Cousine heute Nacht mit LaCroix unterhalten hatte und ernsthaft erwog, sich mit diesem zu treffen, sonst wäre sie mehr als beunruhigt gewesen.

„Hast du gut geschlafen, Corinne?“

„Ja, sehr gut. Danke, Nat. Und wie war deine Schicht?“

„Es ist nichts Ungewöhnliches vorgefallen“, sagte Nathalie und goss sich Kaffee in die Tasse. „Allerdings hatte ich schon ein schlechtes Gewissen, dass ich dich gestern allein lassen musste, nachdem du gerade erst angekommen warst.“

„Kein Problem. Schließlich konntest du ja nicht ahnen, dass ich vorgestern einfach beschlossen habe, dich zu besuchen.“

„Spontan?“ wunderte sich Nathalie. „Ich dachte, du bist vor allem wegen dieser Fachtagung da?  Ich war lediglich überrascht, erst einen Tag vorher davon zu erfahren, dass du dies mit einem Besuch bei mir verbinden wolltest.“

„Ach, die Fachtagung“, wehrte Corinne ab. „Die Teilnahme daran hätte ich leicht absagen können. Ich wollte einfach nur aus Frankfurt raus.“

„Das klingt wie eine Flucht“, sinnierte ihre Cousine. „Ist die Erinnerung an Thomas der Grund dafür?“

„Ja“, gab Corinne zu und seufzte tief. „Ich habe das Gefühl, wenn ich in Frankfurt geblieben wäre, würde ich niemals genügend Abstand zu seinem Tod gewinnen – und das muss ich doch, um weiterleben zu können, nicht wahr?“

„Und was ist mit der Galerie? Dein Vater erzählte mir, dass Thomas sie dir vermacht hat.“

„Oh, Nat, es ist mir unmöglich, die Galerie zu betreten! Alles darin würde mich zu sehr an ihn erinnern.“

„Aber dein Freund hätte sicher nicht gewollt, dass du dich selbst so fertig machst. Er wünschte sich, dass du die Galerie weiterführst, sonst hätte er sie dir nicht vermacht.“

„Es ist mir unmöglich, sie weiterzuführen! Deshalb habe ich Thomas’ Bruder Philipp gebeten, die Galerie zu verkaufen.“

„Und was sagen seine und deine Eltern dazu?“

„Thomas’ Familie versteht mich und Philipp wird sicher einen guten Preis erzielen...“, begann Corinne zögerlich und schaute dann ihre Cousine mit ernstem Ausdruck an. „Meinen Eltern habe ich es allerdings noch nicht erzählt – und ich bitte dich, ihnen kein Wort davon zu sagen! Papa würde sich nur wieder aufregen!“

„Natürlich verrate ich nichts, wenn du das wünscht“, versprach Nathalie. „Schließlich ist es deine Sache, was du mit der Galerie machst, und ich kann deine Handlungsweise sehr gut verstehen.“

„Danke“, erwiderte Corinne und schien erleichtert. „Ich weiß, dass meine Eltern es gut meinen, aber manchmal ist mir das einfach zu viel! Seit Thomas’ Tod behandeln sie mich wieder wie ein kleines Kind. Deshalb möchte ich auch längere Zeit in Toronto bleiben, wenn es dir recht ist, und mich hier ein wenig umsehen.“

„Du kannst gerne bleiben, solange du willst“, bot Nathalie an. „Wenn du hier zur Ruhe kommst, würde mich das sehr freuen. Allerdings kann ich mich nicht so viel um dich kümmern, wie es vielleicht nötig wäre.“

„Das ist ja gerade das Gute“, meinte Corinne und lächelte. „Es ist mir nur recht, wenn ich mich um mich selbst kümmern muss; und wenn ich länger fort bin, wird meinen Eltern dann hoffentlich auch wieder klar, dass ich bereits 25 bin und ein eigenes Leben habe. Vielleicht bleibe ich auch ganz hier, wenn es mir gefällt.“

„Wie... wie meinst du das?“ fragte Nathalie erschrocken.

„Nun, wenn es mir in Toronto gefällt, werde ich mir einen Job und eine Wohnung suchen“, klärte Corinne sie in ruhigem Ton auf. „Ich trage mich seit einiger Zeit mit dem Gedanken, aus Deutschland fortzugehen.“

„Wissen deine Eltern von diesen Plänen?“

„Nein!“ Corinne schüttelte den Kopf und meinte dann mit fester Stimme: „Ich bin eine erwachsene Frau und treffe meine eigenen Entscheidungen. Damit müssen sich Mama und Papa abfinden!“

„Es wird sicherlich ein Schock für sie sein, wenn du für immer hier bleibst“, murmelte Nathalie.

„Langsam, Nat! Erst einmal nehme ich an der Fachtagung teil und dann sehen wir weiter...“

Corinne kam gerade aus dem Büro der Tagungsleitung, das sich in der Kongresshalle befand, als ihr ein großer, schlanker Jüngling mit dunkelbraunem Haar in Begleitung einer zierlichen, blonden Frau entgegenkam. Diese beiden waren Corinne wohlbekannt, schließlich hatten sie mit ihr zusammen an der gleichen Uni studiert.

„Inge! Michael!“ rief sie daher aus und erwiderte deren erfreutes Lächeln. „Was für eine Überraschung, euch hier zu sehen!“

„Das Gleiche könnten wir von dir sagen“, erwiderte der junge Mann, dessen Augen bei Corinnes Anblick zu glänzen begonnen hatten. „Was führt dich her?“

„Ich halte einen kurzen Vortrag auf der Tagung“, erwiderte diese. „Und ihr?“

„Wir begleiten Professor Teichert“, erwiderte nun die zierliche Frau, die neben Michael stand.

„Professor Teichert?“ fragte Corinne verständnislos und runzelte die Stirn.

„Ja, wir sind jetzt wissenschaftliche Mitarbeiter bei ihm“, erklärte Inge mit zufriedenem Gesichtsausdruck. „Er hat uns gebeten, ihn auf den Kongress zu begleiten. Wir wollten gerade ins Tagungsbüro, um unsere Ankunft mitzuteilen.“

Corinne musterte Inge nachdenklich. Sie wusste, dass ihre Bekannte schon lange in Wernher Teichert, den Professor für Medienpädagogik, verliebt war und bereits während des Studiums mehrfach erfolgreich versuchte hatte, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Sie schien jetzt überaus glücklich zu sein, mit ihm zusammenarbeiten zu können. Corinne gönnte ihr das, obwohl sie sicher war, dass Inge eine baldige Enttäuschung über den Professor bevorstand, den sie für den ehrenwertesten Mann der Welt hielt. Dabei wusste Corinne aus eigener Erfahrung, was für einen miesen Charakter Teichert hatte. Obwohl er Familienvater war, ließ er sich oft mit Studentinnen ein – ein offenes Geheimnis an der Universität. Doch Inge wollte dies nicht wahrhaben und nannte die Gerüchte, die über Teichert kursierten „infame Lügen“.  Nun ja, schließlich hatte der Professor Inges Leistungen oft genug über den grünen Klee gelobt und ihr Honig ums Maul geschmiert, worüber diese sehr glücklich gewesen war. Wenn Inge damals allerdings geahnt hätte, dass Teichert genau zu dieser Zeit mehrfach Corinne bedrängt hatte, „entgegenkommender“ zu ihm zu sein, wäre wohl ihr Weltbild eingestürzt. Aber Inge sollte ruhig ihre eigenen Erfahrungen mit diesem Fiesling machen...

 „Wann hält Professor Teichert eigentlich seinen Vortrag?“ fragte Corinne, der die Aussicht, ihren ehemaligen Prüfer wiederzusehen, alles andere als angenehm war, weshalb sie eine Begegnung mit ihm unter allen Umständen vermeiden wollte.

„Am ersten Tag um 16.30 Uhr“, antwortete Michael.

„Was?“ meinte Corinne entsetzt. Sie würde um 13.30 Uhr referieren, anschließend war eine Podiumsdiskussion angesagt und danach eine Pause bis 16.30 Uhr. Ein Zusammentreffen mit Teichert wäre demnach unvermeidbar. Allein bei der Vorstellung, sein fieses Lächeln zu sehen, wurde ihr schon schlecht. „Er ist also nach meinem Vortrag dran?“

„Was, du hältst auch einen?“ fragte Inge verwundert.

„Nun ja, deswegen habe ich mich doch gerade im Tagungsbüro gemeldet“, erwiderte Corinne, die sich allmählich wieder fing.

„Aber ich dachte, der Tod deines Freundes...“, begann Inge, schlug sich jedoch sofort auf den Mund und starrte ihre ehemalige Studienkollegin erschrocken an. „Nun... entschuldige, aber ich... ich dachte...“

„Wir haben gehört, dass es dir nicht besonders gut geht“, mischte sich nun Michael erklärend ein.

„Ich gebe zu, dass ich den Tod von Thomas nur schwer verkrafte“, räumte Corinne ein, die sehr blass geworden war, nachdem Inge dieses Thema angesprochen hatte. „Aber einmal muss ich mich ja wieder meiner beruflichen Tätigkeit widmen, nicht wahr? Und außerdem lenkt es mich davon ab, dauernd an diesen schrecklichen Unglücksfall zu denken...“

„Es tut mir wirklich sehr leid“, entschuldigte sich Inge in mitfühlendem Ton. „Ich wollte dich nicht daran erinnern.“

„Schon gut“, wehrte Corinne ab.

„Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend treffen und einfach Mal über die alten Zeiten quatschen, bevor der ganze Tagungsbetrieb losgeht?“ fragte Michael. „Schließlich haben wir uns schon ewig nicht gesehen und wer weiß, wann wir uns danach wieder begegnen werden?“

„Eine gute Idee“, meinte Corinne und zwang sich zu einem Lächeln. „Wo wollen wir uns treffen?“

„Am besten hier“, schlug Michael vor. „Ganz in der Nähe gibt es ein kleines, gemütliches Restaurant.“

„Gut, dann also bis heute Abend um acht“, sagte Corinne und verließ die Kongresshalle, während ihre beiden ehemaligen Kommilitonen das Tagungsbüro betraten.

 ***

 Nachdem sie ihrer Cousine erzählt hatte, dass sie mit einigen Bekannten den Abend verbringen wolle, fuhr Nathalie Corinne gegen 20.00 Uhr zur Kongresshalle. Michael wartete bereits vor dem Gebäude und wurde sofort mit Nathalie bekannt gemacht, die daraufhin den beiden einen schönen Abend wünschte und ihren Weg zur Arbeit in dem Glauben fortsetzte, Corinne sei in guter Obhut. Kaum war der Wagen verschwunden, erschien auch schon Inge ein wenig atemlos.

„Entschuldigt, aber ich musste noch rasch einen Artikel für Teichert fertig tippen“, sagte sie.

„Das hätte doch sicher bis morgen warten können“, meinte Michael, doch seine Kollegin schüttelte den Kopf.

„Professor Teichert hat mich heute Nachmittag noch extra ermahnt, den Text bis 20.00 Uhr fertig zu haben“, widersprach Inge. Dann wandte sie sich Corinne zu. „Jetzt lasst uns endlich essen gehen, ja?“

*

Das Essen in dem kleinen Restaurant war sehr gut und der Abend verlief auch recht unterhaltsam, dennoch musste Corinne immer wieder an Lucien denken. Als der Zeiger der Uhr schließlich halb zehn zeigte, konnte sie es nicht mehr aushalten und warf mitten in einem Satz von Michael ein: „Hättet ihr nicht Lust, mich ins Raven zu begleiten?“

„Ins Raven?“ fragte Inge neugierig. „Was ist das?“

„Ach, ein hiesiges Lokal. Es ist mir empfohlen worden“, erwiderte Corinne ausweichend.

„Was ist denn das Besondere daran?“ fragte Michael, der keinerlei Lust verspürte, den Ort zu wechseln.

„Oh, ich weiß nicht genau“, gab Corinne zu und zuckte lächelnd die Schultern. „Aber es scheint recht angesagt zu sein.“

„Wenn das so ist...“, Michael hob die Hand und einen Augenblick später war ein Kellner an ihrem Tisch. „Sagen Sie, kennen Sie das Raven ?“

„Aber ja, es ist ein exklusiver Nachtclub“, erwiderte der Gefragte.

„Dann kommt vermutlich auch nicht jeder rein?“ meinte Michael.

„Soviel ich weiß, verhält es sich so“, gab der Kellner zu. „Ohne Einladung... keine Chance!“

„Da hörst du es, Corinne“, wandte sich der junge Mann an seine ehemalige Kommilitonin. „Bleiben wir doch lieber hier und trinken noch ein schönes Glas Wein.“

„Das können wir auch im Raven trinken“, erwiderte das Mädchen und erhob sich.

„Aber du hast doch eben gehört, dass...“, protestierte Michael, wurde jedoch von Corinne unterbrochen: „Ich bin eingeladen worden. Also gehen wir hin!“

Überrascht schaute der junge Mann erst sie, dann Inge und dann den Kellner an. Dieser meinte daraufhin: „Wenn Ihre Bekannte eine Einladung hat, würde ich an Ihrer Stelle unbedingt den Club besuchen.“

„Na schön“, murmelte Michael missmutig, bezahlte (denn er hatte die beiden Mädchen eingeladen) und folgte Corinne und Inge, die bereits draußen auf ihn warteten. Wenig später saßen sie zu dritt im Taxi, das sie geradewegs ins Raven fuhr...

 ***

 „Dahinter also soll sich dieser exclusive Club befinden?“ fragte Inge beklommen, als sie vor dem Eingang des Raven standen, der an beiden Seiten von zwei dunkelgekleideten, blassen Männern flankiert wurde, die die drei Neuankömmlinge misstrauisch musterten.

„Ich würde eigentlich lieber woanders hingehen“, meldete Inge sich wieder leise und Michael gab ihr im Stillen Recht. Auch er fühlte sich äußerst unwohl, wenn er die beiden finsteren Gestalten vor dem Eingang betrachtete.

„Ach was! Jetzt, wo wir schon einmal hier sind, möchte ich auch rein“, meinte Corinne und ging unbekümmert auf den Eingang des Clubs zu. Inge und Michael folgten ihr mit mulmigem Gefühl.

„Habt ihr eine Einladung?“ wandte sich plötzlich einer der Türsteher an Corinne.

„Lucien hat mich hierher bestellt“, erwiderte diese und schaute dem blassen Mann furchtlos in die Augen. Ein Lächeln glitt nun über dessen Gesicht und er fragte: „Du bist Corinne?“

Sie nickte.

„In Ordnung, du darfst rein“, meinte er dann und öffnete die schwere, schwarze Tür. Das Mädchen trat ein und wollte gerade die Treppe hinuntergehen, als sie hörte, wie ihren Begleitern der Eintritt verwehrt wurde.

„Ihr habt hier nichts zu suchen!“

Sofort wandte sie sich wieder dem Türsteher zu und sagte mit energischer Stimme: „Die beiden gehören zu mir!“

„Niemand hat sie eingeladen!“ widersprach der blasse Mann. „Also dürfen sie nicht rein. Der Club ist nur für Mitglieder und geladene Gäste zugänglich.“

„Ich bin eingeladen und niemand hat mir verboten, Begleitung mitzubringen!“ sagte Corinne ärgerlich.

„Tut mir leid, wir haben unsere Vorschriften“, erwiderte der Türsteher.

„Gut! Wenn man meine Freunde nicht empfangen will, habe ich hier auch nichts zu suchen!“

Mit diesen Worten schritt die junge Dame aus der Tür, wandte sich an ihre Begleiter und sagte: „Kommt, lasst uns gehen!“

Inge und Michael freuten sich schon, von diesem unheimlichen Ort fortzukommen, als der Türsteher rief: „Moment! Warte doch mal, Corinne!“

Abrupt blieb die Angesprochene stehen und drehte sich langsam um.

„Ja?“

„Lucien wartet auf dich!“ meinte der Türsteher und warf seinem Kollegen einen fragenden Blick zu, worauf dieser nickte. „Also gut. Deine Freunde dürfen dich ausnahmsweise begleiten.“

„Vielen Dank!“ sagte Corinne und schenkte den beiden finsteren Gestalten vor dem Eingang ihr freundlichstes Lächeln, bevor sie sich an ihre Begleiter wandte. „Kommt, gehen wir rein!“

 

Mit mulmigem Gefühl folgten Inge und Michael Corinne nun in das Raven hinein und die Treppe hinunter, die in eine geräumige, in schummriges Licht getauchte Bar führte, die gut besucht war. Alle Anwesenden schienen dunkle Kleidung zu bevorzugen. Durch die dämmrige Beleuchtung konnte man jedoch die Gesichter der Gäste kaum erkennen.

„Mir gefällt es hier ganz und gar nicht“, flüsterte Inge Michael zu.

„Ich bin völlig deiner Meinung“, gab ihr der junge Mann recht. „Aber Corinne scheint wie besessen davon zu sein, hierher kommen zu müssen. Wir können sie doch nicht allein lassen.“

„Warum eigentlich nicht?“ murmelte Inge und bedachte Corinne mit ärgerlichem Blick, während sie sich wohl zum hundertsten Mal fragte, was so viele Menschen bloß an diesem Mädchen fanden, dass sich alles um sie drehte. Das war schon in der Uni so gewesen, wo selbst Teichert sie eine Zeitlang allen anderen vorzuziehen schien, und wiederholte sich nun an diesem fremden Ort. Denn wie sonst wäre es zu erklären, dass Corinne zu der Einladung eines Nobelclubs kam, von dem sie offenbar nichts weiter wusste, als dass er bekannt war?

Inge jedenfalls hatte keine Lust, durch den Leichtsinn dieser kleinen Lambert in Gefahr zu geraten. Und wenn sie die Personen betrachtete, die sich in diesem merkwürdigen Club aufhielten, schien diese Befürchtung nicht unberechtigt zu sein. Deshalb fuhr sie leise fort: „Corinne passt mit ihrem schwarzen Outfit perfekt hierher. Sie kommt sicher gut ohne uns zurecht.“

„Rede keinen Unsinn!“ fuhr Michael sie leise an, während Corinne, die er unaufhörlich mit den Augen verfolgte, längst unten angekommen war und sich an einen freien Tisch gesetzt hatte. Sie schien sich weder über die seltsame Umgebung zu wundern noch Angst zu haben, sondern ließ ihre Blicke neugierig durch den Raum schweifen. Vermutlich hatte Inge mit ihrer Behauptung, dass Corinne sie nicht brauchte, sogar recht. Trotzdem fühlte er sich bei dem Gedanken, sie allein in diesem Club zu lassen, unbehaglich. So ergriff er die zögerliche Inge am Handgelenk und zog sie mit an den Tisch, an dem es sich Corinne mittlerweile gemütlich gemacht hatte. Einen Augenblick später war eine Bedienung bei ihnen und Michael bestellte für alle drei einen Rotwein. Dann wandte er sich an Nathalies Cousine: „Ein merkwürdiger Ort, an den du uns geschleppt hast.“

Corinne warf ihm einen verwunderten Blick zu und entgegnete: „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„So? Dann schau dich Mal um“, giftete Inge leise. „Diese Typen hier sind doch alle irgendwie unheimlich. Bist du sicher, dass sie normal sind?“

„Aber ja!“ meinte Corinne in beruhigendem Ton und lächelte. „Es gibt viele verschiedene Szenen außerhalb des universitären Lebens. Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Club für Leute, die ein Faible für schwarze Romantik haben.“

„Schwarze Romantik?“ fragte Inge fassungslos. „Was soll das heißen?“

„Na ja, sie fühlen sich zu allem Düsteren und Geheimnisvollen hingezogen. Alles Unerklärliche ist für sie interessant“, erklärte Corinne geduldig, als hätte sie ein kleines Kind vor sich. „Wenn du dich außer für Medienpädagogik und Mathematik noch für etwas anderes interessieren würdest, wäre das alles hier für dich nicht so erschreckend.“

Inge schwieg beleidigt. Michael schüttelte nur den Kopf über die beiden Mädchen. Weshalb fingen sie gerade jetzt an, sich anzugiften? Bevor er etwas sagen konnte, brachte die Bedienung den bestellten Rotwein, dem sich die gekränkte Inge sofort widmete, während Corinne nun wieder ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, als ob sie jemanden suchen würde. Schließlich blieben ihre Augen an einem großen Mann haften, der am Tresen bei einer hochgewachsenen, schwarzhaarigen Frau in einem dunkelroten Kleid saß und sich mit dieser unterhielt. Sie konnte zwar nur seinen Rücken sehen, aber dieser Körper erinnerte sie an den Mann aus ihrem Traum... ob das Lucien war? In ebendiesem Moment drehte sich der Beobachtete zu ihr um, als hätte er ihren Blick gespürt, und sie begegnete zwei eiskalten, blauen Augen in dem Gesicht, das sie aus ihrem Traumbild kannte... es war einfach unglaublich...!

Corinne wandte ihren Blick errötend ab und schaute versunken in das Rotweinglas. So bekam sie auch nicht mit, dass sich der Mann am Tresen wieder der Frau in dem roten Kleid zuwandte.

„Das muss sie sein, Janette“, murmelte LaCroix und warf wieder einen Blick auf die hübsche, mädchenhaft wirkende Frau in dem eleganten, schwarzen Kostüm. Ihre leicht schrägstehenden, tiefgrünen Katzenaugen waren faszinierend. Er konnte die starke Anziehungskraft, die zwischen ihnen bestand, deutlich spüren. Zweifellos handelte es sich bei der jungen Dame um seine interessante Gesprächspartnerin von gestern Nacht. Sie schien tief in ihrem Inneren etwas zu verbergen, das sie selbst nicht wahrhaben wollte, obwohl es sie quälte... und vermutlich war sie sich dessen gar nicht bewusst. Er war begierig darauf, dieses Geheimnis zu ergründen.

„Die Kleine dort drüben soll es sein, Lucien?“ fragte Janette in seine Gedanken hinein. „Bist du wirklich sicher? Sie ist eine Sterbliche!“

„Ja, ich bin auch etwas erstaunt“, meinte LaCroix. „Ich dachte, Corinne wäre eine von uns... hm... scheint so, als hätte ich mich geirrt. Aber was soll’s? Die Kleine sieht sehr appetitlich aus... sie muss keine Sterbliche bleiben.“

Der alte Vampir warf Janette einen amüsierten Blick zu, bevor er sich erhob und langsam auf den Tisch zuging, an dem Corinne und ihre beiden Begleiter saßen. Mit ängstlichem Blick bemerkte Inge ihn und griff unwillkürlich unter dem Tisch nach Michaels Hand, denn von dem blonden Mann schien eine eisige Kälte auszugehen.

„Bitte, lass uns gehen! Sofort!“ flüsterte sie.

Corinne, die dies gehört hatte, schaute erstaunt zu Inge auf und folgte dann deren Blick. Im selben Augenblick stand LaCroix vor ihr.

„Guten Abend!“ sagte er.

Corinne erkannte diese Stimme sofort und rief spontan aus: „Lucien?!“

Der Vampir deutete eine Verneigung an, bevor er ihre Hand ergriff, zum Mund führte und einen leichten Kuss darauf hauchte, was Inge mit furchtsamem Blick und zitternden Knien verfolgte.

„Ich freue mich, dass du meiner Einladung doch noch gefolgt bist, Corinne“, fuhr er dann fort und warf einen kurzen Blick auf Inge und Michael. „Wie ich sehe, bist du nicht allein gekommen.“

„Oh, entschuldige“, sagte Nathalies Cousine, die von dem Anblick des ‚Nachtfalters’ ebenso fasziniert war wie von seiner Stimme, und stellte dann vor: „Dies hier sind Inge Riedel und Michael Fernandez.“

„Sehr erfreut“, meinte der Vampir höflich. „Mein Name ist Lucien LaCroix.“

Corinnes Begleiter nickten und zwangen sich zu einem Lächeln. Dann meinte Inge: „Verzeihen Sie, mein Herr, aber ich bin furchtbar müde und würde gerne gehen. – Könntest du mir bitte ein Taxi rufen, Michael?“

„Nicht nötig“, sagte LaCroix und schnippte mit den Fingern. Sofort erschien ein Bediensteter, dem er die Order gab, ein Taxi zu bestellen. Dann wandte er sich wieder Inge zu: „In fünf Minuten wird ein Wagen für Sie bereitstehen.“

„Danke!“ hauchte die blonde Frau und starrte den Vampir an. Dieser nickte ihr lächelnd zu. Er konnte die Angst dieser zierlichen Sterblichen fühlen und genoss es. Auch bei dem jungen Mann spürte er ein Unbehagen, das ihn äußerst zufrieden stellte.

Mit sichtlichem Vergnügen wandte er sich nun wieder verstärkt der Person zu, die ihn am meisten interessierte, aber auch ein wenig irritierte. Corinne schien ohne Furcht vor ihm zu sein, was ein äußerst seltsames Phänomen darstellte. Sterbliche hatten gewöhnlich Angst vor seiner Spezies, selbst wenn sie nicht wussten, was er war. Ihr Instinkt warnte sie vor der Nähe eines Vampirs. Irgendetwas stimmte mit der schwarzen Schönheit nicht und er wollte herausfinden, was es war.

„Ich hatte schon befürchtet, dass du nicht kommst“, sagte er zu Corinne.

„Nun, ich... wir... wir kennen uns in Toronto nicht aus“, erwiderte sie ein wenig verlegen. „Tut mir leid, dass du warten musstest.“

„Auf eine schöne Frau warte ich immer gern“, murmelte LaCroix, der erfreut registrierte, dass dieses Kompliment seinem weiblichen Gegenüber gefiel. „Verrätst du mir, was dich in diese Stadt führt?“

Michael, der das Verhalten zwischen Corinne und dem Unbekannten eifersüchtig beobachtete, hielt es für an der Zeit einzugreifen, und ehe die junge Frau etwas sagen konnte, antwortete er an ihrer Stelle: „Sie ist wegen einer Tagung hier – genau wie wir!“

„Ich bin durchaus in der Lage, selbst zu sprechen!“ wies Corinne ihn ärgerlich zurecht. Wie konnte Michael es wagen, sie wie ein kleines Kind zu behandeln? Zum Glück schien Lucien ihren Bekannten kaum zu beachten, denn sein Blick ruhte immer noch auf ihr, weshalb sie sich wieder ihm zuwandte: „Eigentlich besuche ich meine Cousine. Dass ein Kongress in Toronto stattfindet, der mich interessiert, ist eher ein Zufall.“

„Um was geht es bei dieser Tagung?“ fragte LaCroix interessiert.

„Um Kunst!“ warf Michael, den diese Nichtbeachtung seiner Person sowie das gute Einvernehmen zwischen Corinne und dem Fremden erheblich störte, heftig ein. „Aber davon verstehen Sie sicherlich nichts!“

„Michael, bitte!“ riefen Corinne und Inge gleichzeitig. Die Erstere peinlich berührt, die Letztere voller Angst, denn sie sah den durchdringenden, kalten Blick, den LaCroix nun ihrem Kollegen zuwarf.

„Junger Mann, Sie ahnen gar nicht, wie viel ich weiß“, sagte der Vampir mit kühler Stimme, während seine Augen Michael zu erstechen schienen. Dieser hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Dennoch hielt er dem Blick des älteren Mannes stand.

„Er hat es sicher nicht so gemeint“, wandte sich Corinne in entschuldigendem Ton an LaCroix.

„Doch, das hat er!“ widersprach Lucien, der seinen Blick immer noch intensiv auf Michael gerichtet hielt. Dann meinte er mit gedehnter Stimme: „Das Taxi ist bestimmt schon da. Bitte, verlassen Sie jetzt den Club, Mr. Fernandez!“

„Komm, Michael“, meinte Inge schüchtern, fasste ihn am Arm und wollte hinausgehen, aber ihr Kollege blieb stehen und erwiderte mit festem Blick auf LaCroix: „Ich lasse Corinne nicht allein hier zurück!“

„Ah, Sie möchten sie beschützen“, murmelte der Vampir, starrte Michael – wie diesem schien – noch durchdringender an und wandte sich nach einer Weile lächelnd an Corinne. „Das kann ich natürlich verstehen. – Was meinst du, soll ich ihm verzeihen?“

Die junge Frau war sichtlich irritiert. Warum hatte sich Michael, den sie bisher nur als ruhigen, sachlichen Menschen kannte, so unverschämt gegenüber dem älteren Mann verhalten? Aber viel rätselhafter war, dass Lucien, der doch eben noch gekränkt zu sein schien, ihrem Bekannten plötzlich verzeihen wollte. Was für ein Spiel spielten die beiden Männer da nur?

„Ich mag keinen Streit“, hörte sie sich selbst sagen. „Dennoch, Michael, ich bin erwachsen und kann durchaus allein auf mich aufpassen!“

„Außerdem wird ihr unter meiner Obhut nichts geschehen, das versichere ich Ihnen, Mr. Fernandez“, erklärte LaCroix mit ruhiger Stimme, während sein Blick dabei mit leicht ironischem Lächeln auf dem jungen Mann ruhte.

„Ich fühle mich für Corinne verantwortlich“, erwiderte Michael, sichtlich verärgert über die Verhaltensweise des Fremden. „Daher verstehen Sie es doch sicher, wenn ich nicht von ihrer Seite weiche, bis ich sie wieder wohlbehalten bei ihrer Cousine abgeliefert habe.“

„Also wirklich, Michael, ich bin kein kleines Kind mehr!“ empörte sich Corinne, aber LaCroix lenkte ein.

„Natürlich verstehe ich Sie, Mr. Fernandez. Und da ich nicht nachtragend bin, dürfen Sie gerne weiterhin hier bleiben.“

„Sehr freundlich von Ihnen“, bedankte sich Michael in einem unfreundlichen Ton, der sein männliches Gegenüber – zu seinem großen Ärger – nur zu amüsieren schien.

„Du kommst also nicht mit zurück ins Hotel?“ meldete sich nun wieder Inge zu Wort, die aufbruchsbereit und abwartend am Tisch stand.

„Nein“, erwiderte ihr Kollege und schien durch ihre Worte allmählich wieder ruhiger zu werden. „Du findest sicher allein ins Hotel, oder?“

„Aber ja!“ antwortete Inge schnippisch und ging ohne ein Wort des Abschieds eilig in Richtung Treppe, die in den Ausgang hinaufführte. Dies ernüchterte Michael mit einem Schlag und er lief ihr bis nach oben nach, um sie zu beruhigen. Seine Kollegin als Feindin zu haben war wirklich das Letzte, was er wollte. Er erreichte sie, als sie gerade in das bereitstehende Taxi einsteigen wollte.

„Inge, warte doch mal!“ rief er und sie drehte sich überrascht um. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht kränken. Aber du siehst doch sicher ein, dass ich Corinne nicht mit diesem zwielichtigen Kerl allein lassen kann.“

„Ja, mach dich nur weiter zum Affen!“ höhnte Inge. „Meinst du, ich weiß nicht, dass du auf diese verwöhnte Lambert-Göre stehst? Aber gib dich keinen Illusionen hin: Du hast nicht die geringste Chance bei ihr.“

„Abwarten. In den nächsten Tagen können wir uns auf dem Kongress näher kommen und vielleicht...“

Inge lachte laut auf.

„Glaubst du das wirklich? Oh, Michael, gerade eben hast du dich so was von daneben benommen, dass keine halbwegs vernünftige Frau etwas von dir wollen würde. Wie kannst du da nur annehmen, dass Corinne sich für dich interessieren könnte? Schlag dir dieses Mädchen lieber aus dem Kopf!“

„Das kann ich nicht“, erwiderte der junge Mann und meinte dann grinsend: „Ebenso wenig, wie du dir unseren Professor aus dem Kopf schlagen kannst.“

Die zierliche Blondine starrte ihn aus erschrockenen Augen an, was Michael noch mehr zum Lachen reizte.

„Nichts für ungut, Inge. Ich werde niemandem verraten, was du für Teichert empfindest. Und nun eine Gute Nacht. Wir sehen uns dann morgen.“

 

 

 

Corinne starrte dem davoneilenden Michael nach, dann wandte sie sich wieder LaCroix zu.

„Es tut mir wirklich leid, dass er sich so unmöglich aufgeführt hat“, entschuldigte sie sich nochmals. „Wenn ich gewusst hätte, dass...“

„Scht!“ Lucien legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Kein Wort mehr über diesen uninteressanten Menschen! Ich würde lieber unser Gespräch von gestern fortsetzen. Doch lass uns dazu einen ruhigeren Ort aufsuchen.“

Er reichte ihr seinen Arm, in den Corinne sich einhängte, und führte sie dann in einen kleinen, mit gedämpftem Licht beleuchteten Nebenraum, der überwiegend von einer Eckcouch aus schwarzem Leder ausgefüllt wurde, vor dem sich ein niedriger Holztisch mit kunstvollen Schnitzereien an den Beinen befand. Auf diesem standen bereits zwei edle Weingläser und eine geöffnete Flasche.

„Bitte, setz dich doch!“ forderte LaCroix sie freundlich auf.

Das ließ sich Corinne nicht zweimal sagen und setzte sich auf die eine Ecke der Ledergarnitur. Dabei glitt ihr Blick bewundernd über den Holztisch.

„Ohne Zweifel eine Antiquität“, meinte sie. „Und diese Schnitzereien sind wirklich ein Meisterwerk! Wie schade, dass sie in diesem Club ein verborgenes Dasein führen müssen.“

„Nun, es gibt noch manch anderes, dass sich hier verborgen hält“, murmelte Lucien, der sich auf der anderen Sitzecke, direkt neben seinem Gast, niedergelassen hatte und die beiden leeren Gläser mit Rotwein füllte. „Du scheinst etwas von Kunst zu verstehen, Corinne. Darf ich erfahren, was du beruflich machst?“

„Im Moment tue ich gar nichts“, gab die junge Frau seufzend zu. „Aber ich habe Pädagogik und Kunstgeschichte studiert und immer mal wieder in diesen Bereichen gejobbt. Zuerst natürlich während eines Schulpraktikums im Kindergarten, später dann in Galerien und Auktionshäusern. Nach meinem Examen habe ich in einem Kunstmuseum Führungen für Kinder veranstaltet und auch mal den einen oder anderen Einführungsvortrag für neue Ausstellungen gehalten.“

„Und warum hast du damit aufgehört?“

„Mein Freund ist gestorben“, erwiderte Corinne und die Erinnerung an jene Unglücksnacht überfiel sie wieder. Lucien konnte die Bilder in ihrem Kopf deutlich vor seinem inneren Auge wahrnehmen und er spürte, wie sie versuchte, den dabei aufkommenden Schmerz zu unterdrücken.

„Du solltest deinem Kummer freien Lauf lassen“, meinte er leise und legte behutsam seine Hand auf ihren Arm, was dazu führte, dass die ersten Tränen über Corinnes Wangen rollten. Wenig später wurde ihr Körper von heftigem Weinen geschüttelt. Der Vampir beobachtete sie und konnte nun neben einer gewissen Erleichterung ihrerseits noch etwas anderes fühlen, dass sich im Inneren dieser jungen Frau verbarg... ein starkes Gefühl, fast quälend, das förmlich danach schrie, endlich ausbrechen zu dürfen, aber es durfte nicht... noch nicht...

Lucien konzentrierte sich stärker auf dieses machtvolle, gefangene Gefühl und erkannte eine Sekunde später, dass es blanker Hass war... Hass, der nach Rache schrie... nach Rache für den Mord an dem geliebten Mann...

 ***

 Als Michael in den Club zurückkehrte, schaute er sich vergeblich nach Corinne und LaCroix um. Zornig ging er an die Bar, wo Janette gerade hinter dem Tresen stand und gelassen die Gäste beobachtete.

„Wo ist sie?“ zischte er die Vampirin an.

„Wer?“ fragte diese erstaunt und musterte den jungen Mann mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Corinne! Ich suche Corinne!“

Janette lachte trocken auf und meinte: „Bei all den vielen Gästen hier erwarten Sie doch nicht im Ernst, dass ich weiß, wer von ihnen Ihre Corinne ist oder gar, wo diese sich aufhält.“

„Als ich sie verlasse habe, war sie mit LaCroix zusammen“, erklärte Michael aufgebracht. „Und jetzt kann ich keinen von beiden hier entdecken.“

„Vielleicht sind sie schon gegangen“, erwiderte Janette gleichgültig, zündete sich langsam eine Zigarette an und nahm dann genüsslich einen Zug. Den Rauch blies sie Michael einfach ins Gesicht, während sie ihn unverwandt anstarrte.

„Reden Sie keinen Unsinn!“ fuhr der junge Mann sie wütend an. „Ich komme von draußen und hätte den beiden doch begegnen müssen, wenn sie wirklich gegangen wären.“

„Es gibt mehr als einen Ausgang im Raven“, klärte Janette ihn auf.

„Was?! Das darf doch einfach nicht wahr sein!“ Michael schüttelte verzweifelt den Kopf. „Und was soll ich jetzt machen? Ich fühle mich für Corinne verantwortlich!“

„Wenn Ihre Freundin bei Lucien ist, können Sie unbesorgt sein“, behauptete die Vampirin mit kühlem Lächeln.

Michael horchte auf.

„Demnach kennen Sie ihn also gut, Madam?“

Janette nickte lächelnd, beugte sich dann zu ihm vor und säuselte: „Es gibt auch noch andere Frauen...“

Der junge Mann tat, als hätte er dies nicht gehört und ließ erneut seinen Blick durch den Raum schweifen, wobei er sagte: „Ich glaube einfach nicht, dass Corinne mit LaCroix gegangen ist. Sie muss hier noch irgendwo sein...“

„Sie sind wohl sehr verliebt in sie?“ fragte Janette, statt ihm zu antworten. Daraufhin wandte Michael sich wieder ihr zu, starrte sie böse an und murmelte: „Allerdings! Und wenn Sie mir nicht auf der Stelle verraten, wo ich Corinne finde, rufe ich die Polizei!“

„Tun Sie sich keinen Zwang an“, meinte die Vampirin, lehnte sich zurück und lächelte kalt. „In meinem Club geschieht nichts, wofür man mich bestrafen kann... und ich bin auch keineswegs verpflichtet, meine Gäste zu überwachen. Dies hier ist ein freies Land und Ihre Freundin ist ein erwachsener Mensch. Meinen Sie, es gefällt ihr, wenn Sie jeden ihrer Schritte kontrollieren?“

„Ich mache, was ich für richtig halte!“ zischte Michael.

„Bei einem Verhalten wie dem Ihren wundert es mich nicht, dass Ihre Freundin mit Lucien verschwunden ist“, fuhr Janette ungerührt fort. „Auf diese Weise werden Sie das Herz der jungen Dame nie erobern.“

„Mir scheint, es hat keinen Sinn, weiterhin mit Ihnen zu reden“, erwiderte der junge Mann und verließ mit entschlossenen Schritten den Club, während ihm die Vampirin mit kaltem Lächeln nachblickte.

 ***

 Als Inge an die Rezeption trat, um ihren Zimmerschlüssel abzuholen, sagte ihr der Portier, dass sie sich sofort bei Professor Teichert melden solle.

„Worum handelt es sich?“ fragte sie erstaunt.

„Nun, das weiß ich auch nicht“, antwortete der Portier. „Aber Professor Teichert hat bereits mehrfach nachgefragt, ob Sie zurück sind. Er erwartet Sie oben.“

„Danke!“

Unruhig eilte Inge in den Fahrstuhl und fuhr hinauf in den zehnten Stock, in dem ihr Chef ein großes Zimmer bewohnte, während man Michael und sie selbst auf Wunsch des Professors in der Nähe des Dienstbotentraktes untergebracht hatte, weil diese Räume preiswerter waren. Nervös ging sie auf Teicherts Tür zu und klopfte zaghaft an.

„Ja?!“ hörte sie seine ärgerliche Stimme.

Ängstlich öffnete Inge die Tür, trat gleich darauf ein und piepste: „Entschuldige, Wernher, aber der Portier sagte mir, du erwartest mich...“

„Na endlich!“ fuhr Teichert die zierliche Frau an, die kaum merklich zusammenzuckte. „Wo hast du die ganze Zeit gesteckt!? Warst du etwa allein weg?“

„Nein, mit Michael“, erwiderte sie. „Ich dachte, du bräuchtest mich heute nicht mehr!“

„Kannst du mir nicht Bescheid sagen, wenn du mit Fernandez unterwegs bist?“

„Hast du dir etwa Sorgen um mich gemacht?“ fragte Inge mit hoffnungsvoll glänzenden Augen.

„Natürlich! Ich brauche dich doch!“ erwiderte Teichert vorwurfsvoll, aber mit ruhigerer Stimme, und ließ sich nun in einem Sessel nieder. „Komm, setz dich!“

Nachdem die junge Frau dieser Aufforderung nachgekommen war, fragte er: „Was war denn so interessant, dass du mit Fernandez das Hotel verlassen hast?“

„Nun ja, wir haben heute Morgen Corinne Lambert getroffen und uns für den Abend mit ihr verabredet“, erklärte Inge.

„Corinne? Corinne Lambert?“ fragte Teichert erstaunt. „Sie ist hier?“

„Ja, wir haben uns auch gewundert.“

„Wie geht es ihr? Was macht sie für einen Eindruck?“

„Sie wirkt immer noch ein wenig mitgenommen. Du weißt doch, dass ihr Freund vor wenigen Monaten ums Leben gekommen ist.“

„Eben!“ bestätigte Teichert. „Deshalb wundert es mich ja, dass sie in Toronto ist.“

„Sie ist genau wie wir wegen des Fachkongresses hier“, erwiderte Inge, die verärgert feststellte, wie interessiert ihr Chef an Corinne war.

„So, so... deswegen... sieh mal einer an“, murmelte der Professor, mehr zu sich selbst als zu seiner Mitarbeiterin. Dann wandte er sich wieder an diese: „Wohnt sie etwa auch hier im Hotel?“

„Nein, tut sie nicht! Soviel ich weiß, hat sie Verwandte in Toronto“, sagte Inge, die sich bemühte, trotz ihrer Eifersucht sachlich zu bleiben. Um das Thema Corinne nicht weiter vertiefen zu müssen, fragte sie dann: „Warum wolltest du mich eigentlich so dringend sprechen?“

Teichert warf ihr einen lüsternen Blick zu.

„Was glaubst du? Meinst du, ich habe dich hierher mitgenommen, um meine Nächte in Einsamkeit zu verbringen?“

„Aber ich dachte, ich wäre in meiner Eigenschaft als wissenschaftliche Mitarbeiterin hier...“

„Dann hätte mir die Begleitung von Fernandez genügt. Du bist eigentlich überflüssig, es sei denn...“

„Was?“ fragte Inge, die die Beleidigung, die seine Erklärung enthielt, nicht wahrgenommen hatte, und warf ihm einen zärtlichen Blick zu.

„Kannst du das wirklich nicht erraten, Mäuschen?“ Teichert näherte sich ihr und zog sie plötzlich an sich, während er flüsterte: „Du bist hier, um mir meine Nächte zu versüßen. Das hast du doch sicherlich geahnt, nicht wahr?“

„Ich habe es kaum noch zu hoffen gewagt, Wernher“, hauchte Inge. „Aber ich habe immer davon geträumt... ich habe mich sofort in dich verliebt, als ich dich das erste Mal sah...“ 

Statt einer Antwort lächelte Teichert selbstzufrieden, dann küsste er die junge Frau in seinen Armen, die sich ihm widerstandslos hingab und einige Augenblick später neben ihm auf seinem Hotelbett lag...

 ***

 Langsam beruhigte sich Corinne wieder. Nachdem sie sich eine letzte Träne von der Wange gewischt hatte, warf sie Lucien einen dankbaren Blick zu. Er hatte die ganze Zeit, während der sie der Schmerz übermannte, schweigend ihre Hand gehalten und lächelte nun. Ihr tief verborgener Hass, von dem sie selbst kaum etwas ahnte, faszinierte ihn sehr. Kein Wunder, dass er letzte Nacht geglaubt hatte, mit einem Wesen seiner eigenen Art zu telefonieren. Dieses Mädchen wäre sicherlich eine interessante Gefährtin. Ihr Schrei nach Vergeltung für den Tod ihres Partners bot die passende Grundlage, sie auf die dunkle Seite zu holen; und es wäre ihm ein Genuss, sie dann bei dem Vollzug ihrer Rache zu beobachten, sobald sie herausfand, wer ihren Freund auf dem Gewissen hatte. Oh, er konnte sie gut verstehen... sie waren ohne Zweifel verwandte Seelen...

Immer noch lächelnd näherte Lucien sich ihr in der Absicht, sie zu küssen.

„Nein!“ schrie Corinne plötzlich, als erwache sie aus einer Trance und rückte unwillkürlich ein Stück von ihm weg.

„Was ist?!“ fragte der Vampir verwundert.

„Entschuldige, Lucien, aber ich bin noch nicht so weit“, erklärte sie und blickte ihn mit traurigen Augen an. „Weißt du, ich kann Thomas einfach nicht so schnell vergessen. Er war der Mann meines Lebens.“

„Das verstehe ich gut“, erwiderte LaCroix. „Auch ich habe vor langer Zeit meine Familie verloren... meine Frau, meine Tochter...“

Ein wenig wehmütig dachte er daran zurück. Dass dieser Verlust über tausend Jahre her war, verschwieg er allerdings. Schließlich wollte er seinen Gast nicht erschrecken.

„Tut mir aufrichtig leid“, sagte Corinne und beugte sich vor, um seine Hand zu ergreifen. Dabei blinkte aus ihrem Ausschnitt kurz etwas auf. Interessiert wandte sich der Vampir dieser Erscheinung zu und erkannte, dass wohl das Licht den Anhänger ihrer Kette, der bisher unter dem Stoff verborgen war, reflektiert haben musste.

„Dürfte ich mir dieses Schmuckstück näher betrachten?“ fragte er.

Corinne zog sich die silberne Kette über den Kopf und reichte sie ihm. Der Anhänger war in Form eines Schmetterlings gearbeitet. In seinen Flügeln waren winzig kleine Diamanten fest eingefasst.

„Ein schönes und sicherlich sehr wertvolles Kleinod“, meinte LaCroix und reichte der jungen Frau ihre Kette zurück. „Ein Geschenk deines verstorbenen Liebsten?“

„Nein, mein Großvater hat dieses Schmuckstück für mich angefertigt, als ich geboren wurde“, erklärte Corinne. „Er wünschte mir, dass mein Leben leicht und voller Schönheit sein sollte... so wie das eines Schmetterlings.“

„Dieses schöne Geschöpf ist aber auch überaus zerbrechlich“, sagte Lucien und betrachtete sie nachdenklich, während er sich fragte, ob ihr Großvater das ebenfalls bedacht hatte. Allerdings wirkte Corinne eher wie eine Kämpferin, auch wenn sie im Augenblick nicht besonders belastbar schien. Doch das gab sich sicher, sobald sie ihr persönliches Leid überwunden hatte.

Er lächelte. Ihm kam wieder in den Sinn, wie sehr etwas in ihrem Inneren nach Rache drängte. Ob es ihr gefiele, wenn sie die Macht dazu hätte?

„Was meinst du, Corinne? Könnte der Schmetterling, ein Geschöpf der Sonne, es in der Dunkelheit aushalten?“

„Ich weiß nicht“, entgegnete sie zögerlich und überlegte einen Moment, bevor sie fortfuhr: „Es leben ja nicht alle Schmetterlinge am Tag. Du vergisst, dass es auch noch die Nachtfalter gibt. Beide gehören der gleichen Spezies an.“

„Und zu welcher Art würdest du dich selbst zählen?“ fragte Lucien. „Fühlst du dich mehr vom Licht oder von der Dunkelheit angezogen?“

„Eigentlich mag ich beides.“

„Aber wenn du dich für eine Seite entscheiden müsstest, welche würdest du wählen?“

„Das ist eine schwierige Frage. Worauf willst du eigentlich hinaus, Lucien?“

„Du bist so ein kluges Mädchen. Überleg selbst, wovon ich spreche! Für welches Prinzip könnten Tag und Nacht beziehungsweise Licht und Dunkelheit stehen?“

Corinne blickte LaCroix einen Moment verwirrt an, dann jedoch schien Klarheit in ihre Gedanken zu kommen.

„Du meinst die Einteilung der Welt in Gut und Böse, nicht wahr?“ fragte sie im Ton der Selbstgewissheit. Der Vampir nickte lächelnd.

„Demnach stünde für dich der Tagfalter für das Gute und der Nachtfalter für das Böse?“

„Ja, Corinne. Sie sind grundverschiedene Geschöpfe.“

„Ach was, so verschieden sind sie auch nicht!“ widersprach die junge Frau. „Sie sind beide nur die Hälfte einer Ganzheit.“

Nun war es Lucien, der irritiert schien. Corinne sah seinen Blick und musste ein wenig lachen. Der Vampir schüttelte nur den Kopf und meinte: „Ich verstehe nicht, was du meinst.“

„Nun ja, Gut und Böse sind zunächst einmal Wertungen, die die Menschen selbst gemacht haben“, erklärte das Mädchen. „Viele Philosophen lieferten dann Theorien, die genau definierten, was das Gute und was das Böse ist. In einigen dieser Weisheitslehren jedoch werden diese beiden Prinzipien als zwei Seiten einer Einheit genannt, die untrennbar zusammengehören. Demnach braucht das Gute das Böse wie der Tag die Nacht, um überhaupt erkennbar zu sein als das Gute und der Tag... und umgekehrt verhält es sich genauso. Also bedingen sich die beiden Prinzipien gegenseitig. Ohne das eine existiert das andere nicht! Wenn wir das in Betracht ziehen, können wir erkennen, dass der Nachtfalter auch ein Schmetterling ist. Allerdings ist er meist nachts aktiv. Aber er sehnt sich nach dem Licht, selbst wenn es ihn verbrennt...“

Corinne fiel wieder der Nachtfalter ein, den sie gestern in der Wohnung ihrer Cousine beobachtet hatte. Sie wusste nicht, was mit dem armen Geschöpf passiert war und ob es überhaupt noch lebte.

„Eine interessante Sichtweise“, murmelte Lucien, der ihr aufmerksam zugehört hatte, in ihre Gedanken hinein, während ihm augenblicklich in den Sinn kam, dass er nach Corinnes Theorie dann wohl ein nächtlicher Schmetterling sei. Dieser Gedanke brachte ihn zum Lächeln, denn er selbst nannte sich schließlich Nachtfalter. „Demnach wären Gut und Böse also notwendig?“

Corinne nickte.

Lucien beugte sich nun mit mildem Lächeln zu ihr vor und flüsterte: „Auch Leben und Tod gehören zusammen, und ich finde, dass es an der Zeit ist, dass du nach dem Tod deines Freundes, als ein Teil deiner Seele mit ihm gestorben ist, wieder ins Leben zurückkehrst.“

„Das versuche ich gerade, aber es fällt mir schwer“, seufzte sie.

„Lass mich dir helfen“, bat er leise. „Komm, Corinne, öffne dich für etwas Neues.“

Dabei näherte Lucien sich ihrem Mund, wobei er flüsterte: „Wehr dich nicht!“

Die junge Frau wich nun nicht mehr zurück und ließ es zu, dass er seine Lippen auf ihre drückte. Sie waren weich... es war so lange her, dass sie mit einem Mann Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte... und Lucien ließ nun seinen Mund langsam in Richtung Hals wandern... es erregte sie, seine Lippen auf ihrer Haut zu spüren...

Ein lautes Klopfen brachte die beiden in die Wirklichkeit zurück.

„LaCroix! Mach sofort die Tür auf!“ rief eine energische Männerstimme. „Wenn du es nicht tust, trete ich sie ein!“

„Wer ist das?“ fragte Corinne und schaute Lucien erschrocken an. Dieser antwortete mit unverkennbarem Zorn in der Stimme: „Nicholas!“

 

Erneut klopfte es heftig an die Tür und Lucien öffnete sie. Wutentbrannt starrte er Nick an, der daraufhin gleich in das Zimmer eindrang und sich an die junge Frau wandte.

„Sind Sie Corinne Lambert?“ fragte er und betrachtete sie besorgt.

„Ja, und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“ entgegnete die Angesprochene in kühlem Ton. „Und warum stören Sie mich und Mr. LaCroix? Wir wollten allein sein!“

„Entschuldigen Sie, aber Nathalie schickt mich“, erklärte Nicholas. „Sie erhielt den Anruf von einem Ihrer Freunde, dass Sie in diesem Nachtclub hier verschwunden wären. Bestimmt können Sie sich vorstellen, dass Nathalie daraufhin keine ruhige Minute mehr hatte und mich um Hilfe bat. – Ich bin übrigens Nick Knight, ein Kollege Ihrer Cousine.“

„Schön!“ Corinne nickte ihm knapp und ohne ein Lächeln zu. „Natürlich wollte ich Nathalie keine Sorgen bereiten, Mr. Knight, aber ich bin erwachsen und in netter Gesellschaft. Wären Sie jetzt also so freundlich, uns wieder allein zu lassen?“

„Tut mir leid, aber ich musste Ihrer Cousine versprechen, Sie wohlbehalten zu ihr zu bringen. Deshalb bitte ich Sie, mich ins Revier zu begleiten.“

„Nicht zu fassen!“ Corinne schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich wieder mit ernstem Gesicht an Nick und fragte: „Wer hat Nathalie angerufen?“

„Das klären Sie besser mit ihr“, wich dieser aus.

Corinne sah ein, dass sie von Nats Kollegen nichts erfahren würde. Sie seufzte, warf LaCroix  einen bedauernden Blick zu und erhob sich.

„Tut mir leid, Lucien“, meinte sie. „Aber ich muss jetzt meine Cousine beruhigen.“

„Das verstehe ich“, erwiderte der Vampir, ergriff ihre Hand und hauchte einen leichten Kuss darauf. „Du bist hier jederzeit willkommen, Corinne. Ich hoffe doch, dass wir uns wiedersehen?“

„Bestimmt!“ versprach sie und lächelte Lucien an. Nick beobachtete die beiden voller Sorge. Er musste Nathalie warnen. Sein Meister schien deren jüngerer Cousine bereits den Kopf verdreht zu haben. Wenn man die Kleine vor LaCroix schützen wollte, wäre es besser, sie aus der Stadt zu bringen. Hoffentlich ließ dieses Mädchen mit sich reden. Sie schien genauso eigenwillig zu sein, wie Nathalie ihm angedeutet hatte.

 

Als Nick Corinne zu seinem Wagen führte, der auf der gegenüberliegenden Seite des Raven stand, tauchte unvermutet Michael neben ihr auf, der im Schatten eines Gebäudes verborgen gewesen war.

„Corinne! Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist!“ sagte er und seinem Ton war die Erleichterung anzumerken. Die Angesprochene jedoch drehte sich abrupt um und ihre Katzenaugen schienen in dem schwachen Licht der Straßenbeleuchtung aufzublitzen.

„Michael!“ stieß sie zwischen ihren Zähnen hervor. „Das hätte ich mir ja denken können!“

Sie trat auf ihn zu und fragte mit mühsam unterdrückter Wut: „Warum hast du Nathalie angerufen?!“

„Na hör mal, schließlich hast du dich einfach heimlich mit diesem LaCroix in irgendeinem Raum verborgen. Da hielt ich es für meine Pflicht...“, weiter kam Michael nicht, denn Corinne hatte unvermutet ihre Hände zu Fäusten geballt und prügelte nun damit auf den jungen Mann ein. Nick hatte Mühe, das aufgebrachte Mädchen von Michael loszureißen.

„Bitte, beruhigen Sie sich, Corinne! Bitte!“

„Warum?! Warum mischt er sich in meine Angelegenheiten?!“ rief sie aufgebracht. „Wie kommt er dazu, sich das herauszunehmen?!“

 

LaCroix, der sie hinaufgeleitet hatte und vor der Tür des Raven stand, beobachtete ebenso wie die beiden Wächter mit sichtlichem Vergnügen, wie diese kleine Wildkatze, die ihm gerade mal bis zur Brust reichte, auf seinen Rivalen losging. Dies sprach dafür, dass Corinne genauso leidenschaftlich war, wie er sie eingeschätzt hatte, und seine ohnehin schon vorhandene Sympathie für sie nahm deutlich zu. Im Gegensatz dazu verloren sowohl Nicholas als auch Fernandez in seinen Augen an Achtung, da sie beide nicht in der Lage waren, diese junge Frau zu beruhigen. Er spürte genau, wie erbittert sie über die Einmischung ihres Bekannten war, und ging deshalb geradewegs auf sie zu, ohne Nicholas oder Michael zu beachten.

„Mr. Fernandez hat es bestimmt nur gut gemeint “, wandte sich Lucien in sanftem Ton an das Mädchen. „Du solltest ihm verzeihen, Corinne. Sicherlich hat er sich sehr um dich gesorgt.“

Kaum vernahm die junge Frau die ruhige Stimme LaCroix’, hörte sie auf zu zappeln, so dass Nicholas es endlich wagte, sie aus der Umklammerung seiner Arme zu lassen.

„Geht es wieder?“ fragte er.

Corinne nickte ihm kurz zu, bevor sie erneut einen grimmigen Blick auf Michael warf.

„Glaub mir, ich habe es nur zu deinem Besten getan!“ beteuerte der junge Mann. „Ich dachte doch, dass du in Gefahr bist.“

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann schrie Corinne plötzlich auf: „Wie kommst du nur auf einen solch absurden Einfall! Du wusstest doch, mit wem ich zusammen war.“

„Ja, mit einem Fremden! Einem Mann, den weder du noch ich genügend kennen, um ihm vertrauen zu können!“

Ehe die junge Dame etwas auf diesen Vorwurf erwidern konnte, mischte sich LaCroix ein.

„Es ist bereits sehr spät! Ich halte es für das Beste, wenn du nun mit Nicholas zu deiner Cousine fährst, die sich bestimmt immer noch große Sorgen macht“, meinte er an Corinne gewandt. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: „Mr. Fernandez ist so besorgt um dich, weil er dich sehr gern hat. Das ist doch ein Grund, ihm zu verzeihen, nicht wahr?“

Corinne blickte den Vampir überrascht an.

„Ja... ja, ich glaube, du hast recht“, murmelte sie dann und merkte auf einmal, wie müde sie war. „Gute Nacht, Lucien!“

„Gute Nacht, meine Liebe, und angenehme Träume... mein süßer Schmetterling“, hauchte er leise in ihr Ohr, was ihm ein scheues Lächeln seiner neuen Bekannten einbrachte. Er küsste ihr erneut die Hand und ging in Richtung Raven zurück, während Corinne in Nicks Auto einstieg. Michael, der hoffnungsvoll auf ein Wort von ihr wartete, bedachte sie nur mit einem knappen Kopfnicken.

Betrübt starrte der junge Mann dem Wagen hinterher, der sie ihm entführte. Dabei achtete er nicht auf den Schatten der Gestalt, die lautlos hinter ihn trat.

„Sie ist wirklich eine überaus attraktive, junge Dame mit einer faszinierenden Ausstrahlung“, murmelte LaCroix und blickte den Sterblichen, der erschrocken herumfuhr, spöttisch an. „Ich kann durchaus verstehen, dass Sie verrückt nach ihr sind. Sie ist sicherlich eine wundervolle Gefährtin für den Mann, den  s i e  liebt. Aber  s i e  muss diesen Mann lieben. Ich glaube nicht, dass man Corinnes Liebe erzwingen kann.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!“ gab Michael patzig zurück und kehrte dem Vampir den Rücken.

„Bemühen Sie sich nicht, mir etwas vorzumachen, Mr. Fernandez! Ich weiß, dass Sie Corinne lieben. Der Tod ihres Lebensgefährten kam Ihnen doch sehr gelegen, nicht wahr?“

Michael schien zu erstarren, während LaCroix langsam und mit spöttischem Lächeln um ihn herumging. Schließlich blieb er vor ihm stehen und fuhr fort: „Glauben Sie wirklich, Sie können eine Frau wie Corinne gewinnen?“

„Warum denn nicht?! Ich liebe sie! Und eines Tages wird sie erkennen, dass ich der richtige Mann für sie bin!“

LaCroix lachte laut auf.

„Verzeihen Sie, Mr. Fernandez, aber an Ihrer Stelle würde ich nicht darauf warten, dass meine Angebetete eines Tages meine Liebe erkennt.“

Der Vampir schwieg einen Moment und starrte Michael an. Dann murmelte er: „Wissen Sie, Mr. Fernandez, nicht jedes Mittel ist geeignet, die geliebte Frau zu gewinnen... und ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, wenn Corinne eines Tages herausbekommt, was Sie getan haben.“

„Ich weiß nicht, was Sie eigentlich von mir wollen, LaCroix! Und ich will auch gar nicht wissen, welch krankhafte Phantasien Sie sich über mich zusammenspinnen. Doch ich verspreche Ihnen eins: Sie werden Corinne niemals kriegen... niemals!“

„Da seien Sie sich mal nicht so sicher, Fernandez! Sie mag mich!“

„Mich mag sie auch!“

„Darauf würde ich im Augenblick nicht meine Seele verwetten, junger Mann!“ widersprach Lucien. „Und nun rate ich Ihnen, schnellstens aus dieser Gegend zu verschwinden. Nachts könnte es nämlich gefährlich werden!“

„Ich habe keine Angst!“

„Das sollten Sie aber, junger Mann!“

In diesem Moment hielt ein Taxi genau vor Michael und LaCroix öffnete ihm die Wagentür.

„Leben Sie wohl, Fernandez!“

 ***

 Im Revier angekommen, platzierte Nicholas Corinne an seinen Schreibtisch, direkt gegenüber Schanke, der das junge Mädchen anstarrte, als sei es von einem anderen Stern.

„Bitte, warten Sie hier einen Augenblick. Ich hole Nathalie.“

Nick verschwand. Corinne blickte ihm missmutig nach. Sie ärgerte sich noch immer, dass Michael ihre Cousine angerufen und somit dafür gesorgt hatte, dass sie – eine erwachsene Frau – von einem Polizisten aufs Revier gebracht worden war, als hätte sie irgendetwas verbrochen.

„Sind Sie Nathalies Cousine?“ unterbrach Schanke, der seine Augen nicht von ihr lassen konnte, ihre Gedanken. Sie wandte ihm ihr Antlitz zu und nickte.

„Freut mich sehr“, fuhr der Polizist fort und schenkte ihr ein Lächeln. Corinne erwiderte es schwach. „Mein Name ist Don Schanke. Ich arbeite mit Nick zusammen und kenne Ihre Cousine recht gut.“

„Angenehm. Ich bin Corinne Lambert; und ich frage mich, was ich hier eigentlich zu suchen habe.“

„Soviel ich mitbekam, ist Nathalie überaus besorgt um Sie gewesen.“

„Völlig unnötig“ murmelte die junge Frau und schloss für einen Augenblick die Augen.

„Möchten Sie einen Kaffee, Miss Lambert?“

Erneut nickte das Mädchen und meinte, nachdem Schanke ihr das heiße Getränk gebracht hatte: „Nennen Sie mich ruhig Corinne.“

Ein Strahlen ging über das Gesicht des Polizisten, bevor er erwiderte: „Ich bin Don.“

Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und ließ seinen Blick einen Moment über seine Akten schweifen. Dann fragte er: „Sind Sie Fotomodell?“

Corinne lachte.

„Aber nein, wie kommen Sie darauf?“

„Nun ja, bei Ihrem Aussehen...“

„Vielen Dank, Mr. Schanke...“

„Don!“

„Vielen Dank, Don, das ist sehr schmeichelhaft. Aber ich glaube, um Fotomodell zu werden, muss man größer als 1,65 m sein.“

„Jammerschade...“

„Da es nie mein Wunsch war, Modell zu werden, ist das doch egal, Don. Ich bin Kunstpädagogin und liebe meinen Beruf.“

„Und was führt Sie nach Toronto? Besuchen Sie nur Ihre Cousine?“

„In erster Linie schon, aber ich halte auch einen Vortrag auf dem demnächst stattfindenden Kongress über Kunst. Kommen Sie doch auch!“

„Also, ich weiß nicht...“

„Nathalie kommt auf alle Fälle“, erklärte Corinne, deren Müdigkeit verflog, da sie nun Gelegenheit hatte, über ihr Fachgebiet zu sprechen. „Die Tagung wird bestimmt sehr gut. Sie beginnt mit einer Vernissage im Vorraum des großen Saals, in dem anschließend die Vorträge gehalten werden. Sie soll die Teilnehmer auf das Thema einstimmen.“

„Wie lautet denn das Thema dieser Tagung?“

„Sinn und Unsinn der optischen Kunst. Was bedeutet sie im Zeitalter der neuen Medien?“

„Das klingt recht hochtrabend“, meinte Schanke. „Glauben Sie wirklich, dass das etwas für mich ist? Von Kunst verstehe ich nichts.“

„Ach was! Wir sind täglich von optischer Kunst umgeben: Werbeanzeigen, Fotos und Filmen in diversen Medien wie Zeitschriften, Fernsehen und Internet kann kaum jemand entgehen“, führte Corinne aus. „Ich würde mich jedenfalls freuen, Sie auf der Tagung zu sehen.“

In diesem Augenblick tauchte Nathalie im Büro auf und schloss ihre Cousine sofort in die Arme.

„Oh, Corinne, ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist“, meinte sie. „Nachdem dein Freund hier angerufen und erzählt hat, dass du verschwunden seiest, bin ich fast durchgedreht.“

„Tut mir leid, dass dieser Idiot dich mit seinem unnötigen Anruf in Angst versetzt hat“, erwiderte Corinne. „Wahrscheinlich wollte er sich nur wichtig machen!“

„Nein! Nein, den Eindruck hatte ich nicht“, sagte Nathalie. „Dein Freund wirkte überaus besorgt um dich.“

„Michael ist nicht mein Freund!“ stellte Corinne in sachlichem Ton klar. „Das Einzige, was uns verbindet, ist das frühere, gemeinsame Studium. Wir sind gute Bekannte, sonst nichts.“

„So?“ Nathalie blickte ihre Cousine erstaunt an. „Ich hatte vorhin aber einen ganz anderen Eindruck. Du hast dich doch so gefreut, mit ihm auszugehen.“

„Mit ihm und Inge, einer anderen früheren Kommilitonin“, erklärte Corinne. „Wenn du den Eindruck gehabt hattest, Michael und ich wären Freunde, dann hast du dich geirrt. Natürlich freute ich mich, in dieser fremden Stadt bekannte Gesichter zu treffen, aber mehr steckte auch nicht dahinter. Wenn ich allerdings geahnt hätte, dass Michael dermaßen übertreibt...“

„Er hat nicht übertrieben. Das Raven liegt in einer sehr gefährlichen Gegend. Eine Frau sollte da nicht alleine hingehen“, nahm Nathalie den jungen Mann in Schutz. Als Corinne darauf nichts erwiderte, fuhr sie fort: „Es ist wirklich bedauerlich, dass ich mich nicht so um dich kümmern kann, wie es vielleicht angebracht wäre. Möchtest du nicht lieber wieder nach Frankfurt zurückfliegen und in ein paar Wochen wiederkommen, wenn ich Urlaub habe?“

„Nein, will ich nicht!“

Nathalie erschrak über diese heftige Antwort ihrer Cousine und warf Nick einen hilflosen Blick zu. Nachdem sie von diesem erfuhr, mit wem Corinne sich getroffen hatte, hielt sie es ebenso wie er für das Beste, eine Wiederbegegnung zwischen ihr und LaCroix zu verhindern. Beide wussten, wie gefährlich der alte Vampirmeister war.

„Überleg es dir, Corinne“, bat Nathalie erneut und schaute sie besorgt an. „Ich habe keine ruhige Minute, da du oft allein bist; und dein Vater hat mir ans Herz gelegt, dass...“

„Papa übertreibt!“ schnitt die junge Dame ihrer Cousine das Wort ab. „Ich will nicht zurück nach Frankfurt – und ich kann es auch nicht! Schließlich halte ich in ein paar Tagen einen Vortrag auf einem Kongress.“

„Bist du sicher, dass du dazu schon in der Lage bist?“ fragte Nathalie zweifelnd. Sie merkte, wie gereizt Corinne war und führte das auf den Verlust ihres langjährigen Freundes zurück, dessen Tod sie immer noch nicht verwunden zu haben schien.

„Natürlich bin ich dazu in der Lage“, erwiderte Corinne ungehalten und schaute ihre Cousine einen Augenblick später angriffslustig an. „Oder ist es dir etwa nicht recht, dass ich bei dir wohne, Nat? Ich kann mir gerne ein Hotelzimmer nehmen.“

„Nein, so war das nicht gemeint!“ sagte Nathalie schnell. „Ich mache mir nur Sorgen um dich – genau wie dein Freund Michael.“

„Wie ich schon einmal sagte, ist Michael    n i c h t    mein Freund!“ zischte Corinne. Einen Augenblick später brach sie in Tränen aus und sagte unter Schluchzen: „Tut mir leid, Nat! Aber Michael ist nicht mein Freund! Er war es nie! – Mein  Freund  ist tot... tot...“

 ***

 LaCroix, der vor einigen Augenblicken das Revier betreten und diese Szene von weitem beobachtet hatte, schüttelte den Kopf. Er wunderte sich, dass eine so sensible Frau wie Dr. Lambert nicht merkte, wie verletzend die Vorgehensweise, ihre Cousine durch einen Polizisten ins Revier bringen zu lassen, war. Und das gerade eben stattgefundene Gespräch, das durchblicken ließ, für wie unzurechnungsfähig sie die junge Dame hielt, vertiefte diese Verletzung noch. Merkte Dr. Lambert denn nicht, dass sie durch dieses Verhalten eine Kluft zwischen sich und Corinne aufbaute?

Einerseits freute sich Lucien, denn dadurch trieb Nathalie ihre junge Cousine direkt in seine Arme. Andererseits tat es ihm leid, dass Corinne durch die dummen Verhaltensweisen von unsensiblen Sterblichen verletzt wurde. Sein Mitgefühl mit diesem Mädchen verwirrte Lucien, denn seit Ewigkeiten hatte er nicht mehr solche Empfindungen verspürt. Zwischen ihm und Corinne musste eine Art geheimnisvolle Bindung entstanden sein, die er sich nicht erklären konnte, die ihn aber desto neugieriger auf sie machten. Er würde sie nicht mehr aus seinen Fängen lassen...

 

Nathalie schien es unangebracht, ihre jüngere Cousine in ihrem aufgewühlte Zustand allein zu lassen. Daher nahm sie sich den Rest der Nacht frei und fuhr mit Corinne nach Hause.

„Dieser Michael scheint ein netter Junge zu sein“, meinte Nathalie während der Fahrt. „Du solltest wirklich nicht so wütend auf ihn sein. Er hat sich für dich verantwortlich gefühlt und deshalb im Revier angerufen. Ich bin sicher, dass es nur in der besten Absicht geschah.“

„Möglich“, gab Corinne widerwillig zu. Nathalies Worte hörten sich vernünftig an. Trotzdem konnte sie ihren Ärger über Michaels Verhalten kaum dämpfen. Ohne dessen Einmischung wäre sie jetzt immer noch mit Lucien zusammen. Dessen Gegenwart hatte ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, seine Umarmung ihr jene Geborgenheit gegeben, nach der sie sich so sehr sehnte; und als er sie küsste, hatte sie ein warmes Kribbeln im Bauch verspürt... nie hätte sie gedacht, dass die Berührung eines Mannes noch einmal solche Empfindungen in ihr hervorrufen würden. Nach Thomas’ Tod schien für sie alles seinen Sinn verloren zu haben, doch seit sie Lucien begegnet war, fühlte sie sich wieder lebendig... und sie wäre gern noch bei ihm geblieben... Ach, warum nur war sie nicht allein ins Raven gegangen? Wenn sie ihre Bekannten nicht dazu überredet hätte, sie in den Nachtclub zu begleiten, säße sie jetzt immer noch mit Lucien dort, statt mit Nathalie in deren Wagen. Es war also ihre eigene Schuld...

Corinne musste sich selbst eingestehen, dass sie sich darüber mehr ärgerte als über Michaels Handlungsweise.

 Kaum in Nathalies Wohnung angekommen, wünschte Corinne ihr eine „Gute Nacht“, verschwand unter die Dusche und ging dann gleich zu Bett, wo sie sofort einschlief. Und zum ersten Mal seit Thomas’ Tod wurde sie nicht von ihrem immer wiederkehrenden Alptraum gequält, sondern hatte einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Erst das Klingeln der Türglocke weckte sie auf. Ein kurzer Blick auf das Fenster, das nur halb durch Vorhänge bedeckt war, verriet ihr, dass es draußen noch dunkel war.

„Wer stört denn zu so früher Stunde andere Leute?“ dachte Corinne mürrisch und erhob sich. Sie ging zur Wohnungstür und schaute durch den Spion, aber auf dem Flur, obwohl erhellt, stand niemand. Verwundert öffnete das Mädchen und sah sich um. Kein Mensch war zu sehen.

„Wahrscheinlich habe ich nur geträumt, dass es geklingelt hat“, dachte sie und wollte schon wieder hineingehen, da fiel ihr Blick auf den Fußabtreter: Dort lagen drei weiße Lilien in durchsichtiger Folie eingeschlagen, auf der ein roter Briefumschlag klebte, an dem unverkennbar der Name CORINNE LAMBERT geschrieben stand. Erstaunt nahm sie ihn an sich, schloss die Tür und öffnete neugierig den Brief:

 „Guten Morgen Corinne,

ich hoffe, du hattest eine geruhsame Nacht und angenehme Träume?

Tut mir wirklich sehr leid, dass dein Bekannter dir so große Unannehmlichkeiten bereitete und wir daher unsere Unterhaltung nicht vertiefen konnten. Wenn du möchtest, dann komm heute Abend  wieder ins Raven – aber bitte allein. Ich erwarte dich um 21.00 Uhr  vor der Tür. Ich hoffe wirklich sehr, dass du dieser Einladung folgst, Corinne, doch es ist deine Entscheidung.

Auf bald?

Lucien LaCroix“

 

Über Corinnes Gesicht glitt ein Lächeln. Natürlich würde sie sich mit Lucien treffen. Aber davon musste ja niemand etwas erfahren.

Die junge Frau versorgte zunächst einmal die Blumen, indem sie sie in das gefüllte Waschbecken im Bad legte, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte, den Brief in der Nachttischschublade verbarg und sich anzog. Dann ging sie in die Küche, setzte Kaffee auf und suchte in den Schränken nach einer passenden Vase für die weißen Lilien. Nachdem sie fündig geworden war, stellte sie die Blumen in das Gefäß und dieses dann in ihr Zimmer, damit Nathalie – die das Klingeln nicht gehört hatte und immer noch schlief – keine neugierigen Fragen stellte. Diesmal war sie vorsichtiger und würde dafür sorgen, dass niemand ihre Verabredung mit Lucien störte

 Corinne schaute aus dem Fenster und sah, dass die Sonne inzwischen aufgegangen war. Ihr Licht schien durch die Gardinen herein und tauchte das Zimmer in einen milden, warmen Gelbton. Dieser Anblick kam der jungen Frau wie eine Ermutigung vor, endlich wieder selbst das eigene Leben in die Hand zu nehmen, und sie fühlte sich tatkräftig wie lange nicht mehr. Sicherlich hatte das Verhalten Luciens, der sie wie eine Frau behandelte, wesentlich dazu beigetragen. Anders hingegen war es bei ihren Eltern und Nathalie, die sie aus Sorge manchmal wie ein  unselbständiges Kind behandelten. Dennoch verstand sie es bei ihnen, da sie ihr nahe standen. Aber bei Michael, der gestern Abend ebenfalls die Tendenz zeigte, sie zu bevormunden, fand sie es vollkommen unangebracht, denn er war weder ein guter Freund noch ein Familienangehöriger.

„Ich bin sicher, dass es nur in der besten Absicht geschah.“ 

Diese Worte Nathalies über Michaels Verhalten kamen Corinne gerade rechtzeitig in den Sinn, denn sie hätte sich sonst wieder in ihre Wut über ihren ehemaligen Kommilitonen hingesteigert.  Nun jedoch hielt sie inne und überlegte. Nathalie hatte sicher recht mit dem, was sie sagte. Michael könnte gestern wirklich in Angst um sie gewesen sein. Corinne überlegte, wie es im umgekehrten Fall wohl gewesen wäre und musste sich eingestehen, dass sie an seiner Stelle wahrscheinlich ebenso gehandelt hätte. Nun, wenn sie Michael auf der Tagung wiedersah, würde sie sich bei ihm entschuldigen. Sie hatte wohl wirklich etwas überreagiert, als sie auf ihn einprügelte. Bei dem Gedanken daran schämte sie sich. Hoffentlich nahm Michael ihr dieses Verhalten nicht allzu übel.

Ach, sie hätte ihn und Inge einfach nicht ins Raven mitnehmen sollen. Diesen Fehler würde sie nicht mehr begehen und sich heute Abend mit einem Taxi allein dorthin bringen lassen. Der Warnung Nathalies, dass die Gegend gefährlich sei, schenkte Corinne keinerlei Beachtung. Was sollte ihr schon geschehen? Lucien war ja da und würde sie beschützen...

***

 Wie versprochen stand LaCroix  bereits vor dem Eingang des Raven, als das Taxi anhielt und Corinne diesem gleich darauf entstieg.

„Hallo, Lucien!“

Die junge Frau umarmte ihn und drückte ihm zur Begrüßung einen leichten Kuss auf die Wange, was der Vampir erwiderte. Er nahm den leichten Duft ihres Parfüms wahr und schaute mit Wohlgefallen auf Corinne, die munter weiterplauderte.

„Danke für die Blumen und die Einladung. Ich hab mich wirklich sehr darüber gefreut.“

„Und ich freue mich, dass du gekommen bist“, erwiderte LaCroix. „Wollen wir ins Raven oder möchtest du in ein anderes Lokal?“

Das Mädchen sah ihn einen Augenblick nachdenklich an, dann meinte es: „Ich würde gern dein Tonstudio sehen, wenn das möglich ist.“

Lucien nickte lächelnd.

„Natürlich ist das möglich! Ich bin ab Mitternacht sowieso wieder auf Sendung. Wenn du willst, kannst du mein Studiogast sein.“

„Wirklich?“ fragte Corinne ungläubig.

„Aber ja, warum denn nicht? Unser Gespräch in der letzten Sendung war ziemlich kurz und ich könnte mir vorstellen, dass meinen Hörern sicherlich gefällt, wenn wir es heute Nacht fortsetzen“, antwortete Lucien.

„Wenn das so ist, dann bin ich gerne heute Nacht dabei“, sagte sie.

„Gut, dann ist das also geklärt. Aber bis dahin haben wir noch viel Zeit“, meinte LaCroix und vollführte mit seiner Hand eine einladende Geste in Richtung Raven. „Darf ich dich auf ein Getränk deiner Wahl einladen?“

„Gern!“, erwiderte Corinne und hängte sich in den anderen Arm ihres Gastgebers ein, den er ihr darbot, während einer der Türsteher den Eingang des Nachtclubs öffnete. Gemeinsam mit Lucien ging sie dann hinunter.

„Ist ja wie der Abstieg in die Unterwelt“, murmelte die junge Frau, amüsiert über diese spontane Assoziation. Lucien warf bei diesen Worten jedoch einen raschen, erstaunten Blick auf sie. Als er indes sah, dass ein leichtes Lächeln ihre Lippen umspielte, glitten seine Mundwinkel auch unmerklich nach oben. Einen Moment lang hatte er aus der Stimme seiner Begleiterin einen ängstlichen Unterton herauszuhören geglaubt, was jedoch ein Irrtum zu sein schien.

„Sie hat eine gute Intuition!“ dachte er anerkennend. „Schon sehr bald, meine Kleine, wirst du wissen, dass dieser Gedanke von der Unterwelt mehr Wahrheit enthält, als du ahnst. Dann jedoch ist es zu spät, süßer Schmetterling, und du wirst genau wie ich ein Nachtfalter sein und mit mir zusammen ein Leben in ewiger Dunkelheit führen.“

„So bald also sieht man sich wieder!“ begrüßte Janette die beiden, als sie an die Bar traten. Dann wandte sich die Clubbesitzerin direkt an Corinne: „Ich sehe den zornigen, jungen Mann gar nicht, der sich gestern in Ihrer Begleitung befand.“

„Zornig?“ fragte das Mädchen erstaunt.

Janette nickte und fuhr fort: „Als Sie sich gestern mit Lucien in einen der Räume zurückgezogen haben und er Sie nirgendwo mehr entdecken konnte, hat er sich sehr lautstark darüber aufgeregt und mir gedroht, die Polizei zu holen...“

„Nein!“ entfuhr es der jungen Frau und sie fragte sich, ob sie diese Seite bei ihrem ehemaligen Kommilitonen früher nicht wahrgenommen oder ob er sich in der Zwischenzeit so sehr verändert hatte. Jedenfalls waren ihr solche Verhaltensweisen an ihm bisher fremd gewesen. Allerdings hielt sie es nicht für unmöglich, dass Wernher Teichert einen schlechten Einfluss auf seine Mitarbeiter ausübte, denn Leute zu bedrohen war etwas, dass seinem Charakter durchaus entsprach. Vielleicht färbte dies allmählich auf Michael ab?

„Tut mir sehr leid, dass Sie durch mich Schwierigkeiten hatten, Madame.“

„Machen Sie sich darum keine Gedanken“, erwiderte Janette in heiterem Ton. „Mein Freund Nick, der Sie gestern hier abholte, bereitet mir keine Probleme. Ich hoffe nur, dass Ihr gestriger Abend nicht allzu sehr verdorben wurde, meine Liebe?“

„Leider war es doch so“, gab Corinne zu.

„Aber das ist jetzt vorbei und wir wollen kein Wort mehr darüber verlieren!“ sagte LaCroix in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Wenn du uns nun entschuldigen würdest, Janette, wir ziehen uns zurück und wollen nicht gestört werden!“

„Ich sorge schon dafür, dass ihr eure Ruhe habt“, versprach Janette mit einem kurzen Seitenblick auf Corinne, bevor sie sich dann einem der anderen Gäste zuwandte, während LaCroix das Mädchen erneut in den Raum führte, in dem sie sich gestern schon aufgehalten hatten. Auf dem Tisch standen bereits eine geöffnete Flasche Wein sowie zwei Gläser, die Lucien füllte.

„Auf dein Wohl, meine Liebe“, sagte der Vampir und stieß mit dem Mädchen an.

„Und auf deins, Lucien“, erwiderte dieses kokett und lächelte.

Er erwiderte das Lächeln und meinte: „Wo waren wir gestern eigentlich stehen geblieben?“

Corinne beugte sich vor und küsste ihn sanft auf dem Mund. Dann meinte sie leise: „Wir waren genau an diesem Punkt, als Mr. Knight uns störte!“

 

 

 „Ach wirklich?“ murmelte Lucien und tat erstaunt. Dann hob er unwillkürlich seinen rechten Arm und streichelte mit seiner Hand über ihre Wange. „Es freut mich, dass du wieder am Leben teilnimmst.“

Sie errötete, schaute ihn einen Augenblick verwundert an und umarmte ihn dann spontan, wobei sie sich an ihn schmiegte. Er legte seine Arme um sie und drückte sie fester an sich. Einen Moment lang genoss Corinne es, doch dann tauchte plötzlich vor ihrem geistigen Auge das Bild von Thomas auf. Erschrocken stieß sie sich von Lucien ab, der sie verwundert betrachtete.

„Es geht nicht...“, murmelte sie und senkte ihren Blick, wobei ein paar Tränen aus ihren Augen quollen. Sie schämte sich, derart stark von Lucien angezogen zu sein, und zwar so sehr, dass sie zeitweise völlig ihren verstorbenen Freund vergessen hatte.

„Ist schon gut", meinte der Vampir und strich wieder sanft über ihre Wange, was Corinne noch mehr in Verlegenheit brachte. Da saß sie hier mit diesem wunderbaren Mann, hatte es gewagt, ihn zu küssen, was ihm zu gefallen schien - und ihr gefiel es auch. Aber konnte das denn sein? Durfte das denn sein? Thomas war doch erst seit vier Monaten tot. Wie konnte sie da bereits wieder tiefere Gefühle für einen Mann entwickeln? Immerhin hatte sie kurz vor der Verlobung mit ihrem Lebensgefährten gestanden... vorbei, vorbei... und jetzt saß sie hier in einer fremden Stadt mit einem Mann, den sie sehr attraktiv fand, allein in einem Nobelclub, ohne dass einer ihrer Freunde oder Angehörigen davon etwas wusste... wie konnte sie nur einem Mann vertrauen, den sie kaum kannte? Aber sie tat es. Sie war im Begriff, sich in Lucien zu verlieben... wie konnte sie nur? Sie hatte Thomas doch so sehr geliebt... nein, sie durfte sich nicht so früh auf einen neuen Partner einlassen. Das gehörte sich einfach nicht!

Lucien, der genau ahnte, was in ihr vorging, ärgerte sich, dass nicht alles so lief, wie er es sich vorstellte - und mehr als einmal verwünschte er die Schuldgefühle der Sterblichen, denen Corinne immer noch unterworfen war und die sich in just dem Moment meldeten, in dem sie begonnen hatte, sich ihm hinzugeben, und damit seine ganzen Pläne zunichte machten.

Mit Bedauern dachte Lucien an den weichen Körper, den er gerade eben noch im Arm gehalten hatte. Er erinnerte sich an seine Vorfreude, seine Zähne in ihren zarten Hals zu senken... doch dann hatte sich das Mädchen seinen Armen entwunden und damit war sein Vorhaben zumindest für heute Abend gescheitert, wenn er sie für sich gewinnen wollte.

Corinne gefiel ihm außerordentlich gut und es wäre für sie beide ein unvergesslich schönes Erlebnis, wenn sie sich ihm freiwillig hingab, während er sie in ein Geschöpf seiner eigenen Art verwandelte und zu seiner ewigen Gefährtin machte. Doch das war unmöglich, solange sie emotional noch an ihrem toten Freund hing. Wahrscheinlich müsste er noch eine Weile Geduld haben, bis Corinne sich von diesem gelöst hatte, doch er war bereit, einiges auf sich zu nehmen, um der jungen Sterblichen den Übergang so leicht wie möglich zu machen.

Merkwürdig, dass sie ihm so wichtig war, obwohl sie sich kaum kannten. Verwundert gestand er sich ein, dass er gerne warten würde, bis sie dazu bereit war, sich ihm hinzugeben... nun ja, das erhöhte den Reiz....

„Bist du mir böse, Lucien?" hörte er Corinne zaghaft fragen.

„Natürlich nicht", erwiderte er leise. „Ich verstehe dich... lassen wir uns also Zeit."

Die junge Frau schenkte ihm ein dankbares Lächeln und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Der Vampir schaute sie einen Moment nachdenklich an, bevor er wieder das Wort an sie richtete.

„Du bist also mit Dr. Lambert verwandt?"

„Du kennst Nathalie?" fragte Corinne erstaunt.

„Nur flüchtig! Mr. Knight ist ein alter Bekannter von mir", antwortete Lucien. „Und du sagtest, Dr. Lambert ist deine Cousine?"

„Ja", erwiderte die junge Frau, die erleichtert diesen Themenwechsel aufgriff. „Unsere beiden Väter sind Brüder."

„Du selbst kommst jedoch nicht aus Toronto, Corinne?"

„Nein, ich lebe in Frankfurt am Main - in Deutschland."

„Und woher stammt eure Familie ursprünglich?"

„Unsere Vorfahren kommen aus Frankreich, flüchteten aber in der Zeit der Hugenottenverfolgungen nach Hessen, wo sie sich als Goldschmiede und Uhrmacher in Frankfurt niederließen. Unsere Familie lebt seither dort und ist seit Generationen sehr erfolgreich in dieser Branche tätig", erzählte Corinne.

„Wie kommt es dann, dass Dr. Lambert hier lebt?" fragte Lucien.

„Soviel ich weiß, hat es Nathalies Vater schon immer nach Kanada gezogen. Darum wanderte er als junger Mann aus, obwohl mein Vater sehr gerne mit ihm zusammen den Familienbetrieb weitergeführt hätte."

„Du selbst jedoch bist keine Goldschmiedin geworden?"

„Nein, obwohl mich das auch interessierte", gab Corinne zu. „Aber meine ältere Schwester Christine hat den Beruf erlernt und wird später das Geschäft meiner Eltern übernehmen. Damit ist alles geregelt."

„Demnach hatte dein Vater also nichts dagegen, dass du einen anderen Berufsweg einschlugst?"

„Aber nein, warum sollte er? Meinen Eltern gefiel es sehr, dass ich Kunstgeschichte und Pädagogik studierte. Es ist ja nicht so weit weg von unserem Gewerbe. Meine Eltern waren auch sehr angetan von Thomas, meinem Freund...", das Mädchen stockte und senkte den Blick.

„Erzähl mir von ihm!" forderte Lucien sie sofort auf. „Was war er für ein Mensch?"

„Er hat mich immer als gleichwertige Partnerin respektiert", antwortete Corinne. „Und er hat mich immer bestärkt, das zu tun, was ich wollte."

„Wie habt ihr euch kennengelernt?"

„Es war auf einer Ausstellung in der Schirn!* Thomas war Galerist und ich habe bei ihm hin und wieder jobben können. Einmal veranstaltete ich dort eine Führung für Kinder."

„Was ist aus der Galerie geworden?“

„Eigentlich sollte ich sie weiterführen – Thomas hat sie mir vermacht. Aber ich kann das nicht...“

„Warum nicht?“

„Nun... alles dort würde mich an Thomas erinnern und daran, dass er nie wieder da sein wird. Er fehlt... es war seine Galerie, sein Lebenstraum.“

„Dann führe seinen Traum weiter. Du liebst doch die Kunst, oder nicht?"

„Schon! Aber... nein, ich kann nicht... ich habe keine Ahnung, wie man eine Galerie betreibt..."

„Aber das ist doch nicht der Grund, warum du sie nicht weiterführen willst...?" Lucien warf Corinne einen langen Blick zu, bevor er fortfuhr: „Was hindert dich wirklich daran?"

„Thomas... er ist... er ist direkt davor überfahren worden...!"

Wieder überwältigte die Erinnerung daran Corinne und sie schluchzte laut auf. LaCroix schloss sie sofort in die Arme.

„Wenn ich nur denjenigen erwische, der ihn ermordet hat!"

„Ermordet?!" Lucien tat erstaunt. „War es denn kein Unfall?"

Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf, befreite sich aus seinen Armen und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Dann schaute es den Vampir an und sagte mit unüberhörbarem Zorn in der Stimme: „Nein! Es war kein Unfall! Jemand hat Thomas mit Absicht überfahren! Aber die Polizei hat nicht den geringsten Hinweis darauf, wer es gewesen sein könnte. Mein Freund besaß eigentlich keine Feinde. Er war bei allen beliebt..."

„Nun, vielleicht hat das Ganze gar nichts mit deinem Freund persönlich zu tun, sondern andere Ursachen. - Ursachen, auf die bisher noch niemand gekommen ist...“

Corinne blickte Lucien erstaunt an.

„Was meinst du damit?“

„Vielleicht geschah dieses Verbrechen aus Leidenschaft?“

„Du meinst, eine Frau, die sich in Thomas verliebt hat, ist die Täterin, weil er nichts von ihr wissen wollte?“

„Das wäre eine Möglichkeit...“, sagte Lucien zögernd, schaute Corinne aber erwartungsvoll an.

„Eine Möglichkeit?“ fragte sie erstaunt. „Und welche anderen Möglichkeiten gäbe es noch?“

„Überleg selbst!“ forderte der Vampir sie auf.

„Ich komm nicht drauf!“ erwiderte Corinne und schüttelte den Kopf. „Bitte, sag mir doch, welche Vermutungen du hast, Lucien!“

LaCroix lächelte.

„Was siehst du, wenn du in den Spiegel schaust?“

„Dann sehe ich mich...“

„Ja, eine verdammt schöne Frau, nicht wahr?“

Corinne zuckte die Schultern und blickte mit gerunzelter Stirn zu ihrem Gesprächspartner.

Dieser fuhr nach einem Augenblick fort: „Du bist sehr attraktiv und es würde mich nicht wundern, wenn dein Anblick den einen oder anderen Mann verrückt machen würde. Kannst du dir nicht vorstellen, dass solch ein von dir Besessener völlig durchdreht, sobald ihm klar wird, dass du in einer dauerhaften Beziehung mit einem anderen Mann bist und alles danach aussieht, als stündet ihr kurz vor der Hochzeit?“

„Das ist völlig verrückt!“ rief Corinne aus. „Von mir ist sicherlich niemand besessen. Ich bin doch kein Dämon!“

Lucien konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen.

„Vielleicht bist du kein Dämon", antwortete er dann. „Aber ein verführerischer, dunkler Engel, der gar nicht weiß, welche Wirkung er auf manche Männer ausübt!“

„Was für ein Unsinn! Ich habe niemandem Hoffnungen gemacht und jeder wusste, dass ich seit langem mit meinem Freund zusammen bin. – Nein, nein! Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der von mir besessen ist.“

„Dir fällt wirklich keiner ein?!“ fragte der Vampir und warf ihr einen lauernden Blick zu. „Wirklich nicht?!“

„Bitte, Lucien, sag mir, wen du verdächtigst!“ forderte Corinne ihn in verzweifeltem Ton auf.

„Es ist nur ein Verdacht und ich könnte mich irren“, gab LaCroix zu bedenken.

„Dennoch möchte ich wissen, wen du in Verdacht hast, meinen Freund umgebracht zu haben.“

„Meinst du nicht, dass sich Fernandez ein bisschen viel in deine Angelegenheiten einmischt?“

„Michael?“ Corinne starrte Lucien erschrocken an. „Du meinst, Michael wäre... aber nein, das ist völlig absurd!“

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und schüttelte unentwegt den Kopf.

„Michael! – Nein, das kann nicht sein! Er hat mir nie gezeigt, dass er mehr für mich sein wollte als ein Freund...“

„Erinnerst du dich, dass er deine Cousine angerufen hat?“

„Aber das hat er doch nur getan, weil er sich Sorgen machte...“, wehrte Corinne ab und wandte ihren Blick wieder Lucien zu. „Wenn er mich wirklich lieben würde, hätte er mich nicht mit dir allein gelassen! – Thomas jedenfalls hätte das nie getan! Schließlich waren wir beide uns völlig fremd...“

„Dieser Fernandez ist sehr in dich verliebt, Corinne!“

„Ach nein! Das glaube ich nicht...“

„Manche Männer trauen sich nicht, der Frau, die sie verehren, ihre Liebe zu zeigen!“

„Aber Michael ist kein schüchterner Mensch! Das hast du ja gesehen!“

„Zu dir verhält er sich ganz anders, als zu anderen Menschen, weil er in dich verliebt ist!“

Als die junge Frau erneut den Kopf schüttelte und ihn ungläubig anstarrte, glitt ein Lächeln über die Züge Luciens und er meinte: „Schau ihn dir genau an, meine Liebe. Du wirst sicher bald feststellen, dass ich die Wahrheit gesagt habe."

„Es fällt mir wirklich schwer, das zu glauben", murmelte Corinne.

LaCroix legte ihr beruhigend die Hände um die Schultern und entgegnete: „Vergessen wir das jetzt. Es wird langsam Zeit, ins Studio zu fahren. Möchtest du immer noch mit?"

„Natürlich! Das würde ich mir um nichts auf der Welt entgehen lassen", sagte das Mädchen.

***

Als Corinne mit LaCroix gegen 23.30 Uhr das Tonstudio betrat, in dem er in unregelmäßigen Abständen als ‚Nachtfalter’ auf Sendung ging, sah sie sich äußerst überrascht um, denn sie fand es genauso vor wie in ihrem Traum. Nur war der Raum im Augenblick noch hell erleuchtet, so dass sie alles genau sehen konnte.

„Nun, wie gefällt es dir?" fragte Lucien, dem ihr Blick nicht entgangen war. „Hast du es dir so vorgestellt?"

Statt einer Antwort schüttelte sie nur stumm den Kopf.

„Wo sind denn deine Mitarbeiter?" wollte sie dann wissen.

„Außer mir gibt es niemanden in diesem Studio", antwortete er, was ihm erneut einen überraschten Blick des Mädchens eintrug, wie er amüsiert registrierte. „Alles ist bereit, on air zu gehen. Ich brauche nur den zu drücken."

LaCroix wies auf einen roten Knopf neben einigen anderen, die in den Tisch eingebaut waren. Dann ging er für einen Augenblick hinaus und kam mit einem Stuhl und einem zweiten Mikrophon zurück. Den Stuhl stellte er seinem Sitz gegenüber und das Mikrophon auf dem Tisch so auf, dass sie hineinsprechen konnte.

„Bitte, Corinne, setz dich doch!" forderte der Vampir sie auf. Nachdem die junge Frau dieser Aufforderung nachgekommen war, ließ er sich ihr gegenüber nieder und beugte sich ein wenig zu ihr hinüber. „Nun, meine Liebe, wovon möchten wir reden, wenn wir um Mitternacht auf Sendung gehen?"

„Ach, ich weiß nicht so recht", erwiderte sie und schaute ihn unsicher an.

„Ist es dir recht, wenn wir das Thema fortsetzen, dass wir vorgestern begonnen haben?" fragte Lucien.

„Na ja, wenn du meinst", gab sie nach. „Weißt du, ich habe noch nie ein Gespräch über Radio oder Fernsehen geführt."

„Herzklopfen?"

Sie nickte.

Lucien legte beruhigend seine Hand auf ihre und meinte: „Keine Angst. Alles halb so schlimm! Es kann nichts passieren. Ich stelle dir einfach ein paar Fragen und du legst mir deine Ansichten dar."

„Okay!" brachte Corinne hervor und hustete dann. Ihr Gegenüber erhob sich und verschwand erneut aus dem Raum. Als er zurückkehrte, drehte er das Licht soweit herunter, dass das Mädchen nur noch Umrisse der Umgebung erkennen konnte. Aber sie nahm seine Gestalt wahr und ebenso, dass er ein Glas vor sie hinstellte. Hastig ergriff sie es und trank einige Schlucke.

Lucien hatte sich derweil wieder gesetzt und fragte leise: „Geht es jetzt besser?"

„Ja, danke! Mein Mund war plötzlich vollkommen ausgetrocknet", entgegnete sie. „Warum hast du den Raum abgedunkelt?"

„Es gehört zur Atmosphäre der Sendung", erklärte er. „Ich fühle mich einfach sehr wohl damit. Du wirst dich bald daran gewöhnt haben."

Wieder legte er seine Hand auf ihre und murmelte: „Keine Angst, meine Liebe, wir gehen gleich auf Sendung."

Erneut fühlte Corinne, dass ihr Mund trocken wurde, und nahm sicherheitshalber noch einen Schluck Wasser zu sich. Als sie das Glas absetzte, drückte LaCroix gerade auf den roten Knopf und verkündete im selben Augenblick: „Willkommen, ihr Freunde der Nacht. Hier spricht der Nachtfalter. Ich habe in dieser Nacht eine besondere Überraschung für euch: Corinne, meine Gesprächspartnerin aus der letzten Sendung, ist heute bei mir im Studio."

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*Schirn = eine bekannte Kunsthalle in Frankfurt a. M.

 

 

LaCroix schwieg einen Moment und richtete seinen Blick auf Corinne, die fühlte, wie es heftig in ihren Schläfen pochte.

„Nun, meine liebe Corinne", wandte sich Lucien an seinen Gast. „Sicher erinnerst du dich noch daran, dass ich das letzte Mal die Frage stellte, ob der Tod besser ist als die dunkle Einsamkeit unserer Existenz? Du hattest damals angerufen und gemeint, dass es darauf keine Antwort gibt, weil niemand genau wisse, was nach unserem Tod passiert."

„Ja, das ist richtig", erwiderte die junge Frau mit selbstsicher klingender Stimme, obwohl sie fühlte, dass sie innerlich zitterte, wenn sie daran dachte, dass vielleicht eine Menge Leute ihr und Lucien zuhörten. Zwar machte es ihr nichts aus, vor einer Gruppe von Menschen zu sprechen, aber das Publikum gar nicht zu sehen, irritierte sie sehr.

Lucien spürte ihre Aufregung und drückte kurz ihre Hand, während er fortfuhr: „Nach unserer letzten Sendung haben sich einige meiner Hörer schriftlich geäußert. Zum Beispiel schrieb ein gewisser McDonavan, dass es gar nicht so schlimm sei, untot zu sein. Was sagst du dazu, meine Liebe?"

„Was meint er mit dem Begriff  >untot< ?" fragte die junge Frau verständnislos. Mittlerweile hatten sich ihre Augen wirklich an das dämmrige Licht gewöhnt, so dass sie das Gesicht ihres Gastgebers wieder gut erkennen konnte. Seine Lippen schürzten sich zu einem leichten Lächeln und er entgegnete ohne Umschweife: „Vielleicht ist Mr. McDonavan ein Vampir?"

„Nein!“ entfuhr es Corinne und sie musste unwillkürlich lachen. Ihre Nervosität war von einem Moment zum anderen vollkommen verschwunden. „Glaubst du wirklich, dass er das so gemeint hat?“

Lucien verzog seine Lippen erneut ein wenig nach oben. Deutlich fühlte er, dass die junge Dame die Existenz seiner Spezies für unwahrscheinlich hielt.

„Warum denn nicht?"  fragte er sachlich und erklärte gleich darauf in leicht ironischem Ton:  „Es gibt vieles, wovon die Menschen nichts wissen... oder nichts wissen wollen. Die Vorstellung, dass Vampire tatsächlich existieren könnten, bereitet ihnen sicherlich großes Unbehagen."

„Dieses Unbehagen wäre durchaus nachvollziehbar, wenn solcherart Wesen existieren würden. Schließlich bedrohen sie das Leben der Menschen", behauptete Corinne mit selbstsicherer Stimme.

„Möglich", gab LaCroix zu, wobei er seinen Blick keine Sekunde von seinem Studiogast abwandte. „Aber im Moment geht es mir darum, dass Vampire der Welt der Lebenden nicht mehr angehören, das heißt, sie sind bereits verstorben und leben in ewiger Dunkelheit, denn das Sonnenlicht würde sie vernichten. Was meinst du, Corinne, ist der Tod einer solchen Existenz vorzuziehen? Oder glaubst du, Mr. McDonavan hat recht mit seiner Behauptung?"

„Ich finde, dass auch diese Frage unmöglich zu beantworten ist", antwortete die junge Frau. „Gesetzt den Fall, es gäbe Vampire, so könnten auch diese nichts darüber sagen, wie es nach dem Tode ist, da sie - wie du bereits sagtest - untot sind. Um aber deine Frage zu beantworten, ob der Tod besser ist als diese dunkle Existenz, wäre es unumgänglich, einen Vergleich zu haben zwischen dem Zustand des Totseins und dem des Untotseins."

Verblüfft starrte LaCroix das Mädchen einen Moment lang an, bevor er sagte: „Ich glaube, du hast recht!"

„Meinst du, es wäre erstrebenswert, ein Vampir zu sein?" fragte Corinne gleich darauf.

„Ist der Tod denn erstrebenswert?" stellte Lucien die Gegenfrage. „Überleg doch mal, mein Mädchen: Du liegst in einem Sarg in der Erde und dein Körper zersetzt sich langsam. Ist das ein angenehmer Gedanke für dich?"

„Nein, das ist er nicht!"

„Na, siehst du! Und dann stell dir vor, jemand bietet dir die Unsterblichkeit an. Würdest du dich nicht dafür entscheiden, ein Vampir zu werden, statt der Vergänglichkeit der Zeit unterworfen zu sein?"

LaCroix blickte gebannt auf die junge Frau ihm gegenüber. Endlich hatte er angedeutet, welches Geschenk er ihr zu machen gedachte, und wartete gespannt darauf, was sie dazu sagte.

„Das ist wirklich nicht so einfach zu beantworten", erwiderte Corinne nach einer Weile. „Einerseits macht mir der Gedanke an den Tod natürlich Angst, aber andererseits weiß ich nicht, was mich als Vampir erwarten würde."

„Du wirst niemals alt", gab Lucien zu bedenken. „Und du besitzt übernatürliche Kräfte. Reizt dich das wirklich nicht?"

„Solange mir nicht klar ist, wie sich diese Vampirexistenz genau gestaltet, würde ich sie ablehnen!"

Corinne hatte diese Worte so klar und sicher ausgesprochen, dass LaCroix keinen Augenblick bezweifelte, dass sie sie ernst meinte.

„Du bist so jung und schön", meinte er mit unüberhörbarem Bedauern in der Stimme. „Es ist ein Jammer, dass du das Angebot der Unsterblichkeit nicht bedenkenlos annehmen willst."

„Man sollte überhaupt keine Angebote annehmen, ohne den Preis zu kennen, den man dafür zahlen muss."

Der Vampir lachte verhalten, sprach ins Mikrophon: „Nun ein wenig Musik, bevor wir unser Gespräch fortsetzen“  und drückte gleich darauf einen blauen Knopf. Während dieser aufleuchtete, wandte sich LaCroix an Corinne: „War doch gar nicht so schlimm, oder?"

„Hm", murmelte sie. „Allerdings habe ich nicht erwartet, dass das Gespräch in eine so seltsame Richtung gehen würde.“

„Weißt du, das Spannende an meiner Radiosendung ist, dass der Verlauf nie vorhersehbar ist. Deshalb liebe ich es ja so, sie zu machen“, erklärte Lucien. „Wäre das Leben ohne Kuriositäten nicht furchtbar langweilig?“

„Wohl wahr“, gab Corinne zu. „Aber mal ehrlich: Glaubst du tatsächlich an die Existenz von Vampiren?“

„Was spricht dagegen?“ fragte LaCroix mit bösem Lächeln. „Die Menschheit lebt in Unkenntnis von so vielen Dingen, die im Verborgenen existieren...“

„Ach, ich weiß nicht“, wehrte das Mädchen ab. „Es fällt mir schwer, an Geschöpfe wie Werwölfe, Hexen oder Vampire zu glauben...“

„Es kann sie trotzdem geben – egal, ob man daran glaubt oder nicht“, meinte ihr Gesprächspartner und seine Augen blitzten für einen kurzen Moment auf. Oh, er freute sich schon auf den Augenblick, in dem er sie in ein Wesen der Dunkelheit verwandeln würde. Sollte sie sich bis zu jener Nacht ruhig in Sicherheit wiegen... umso größer würde ihre Überraschung sein...

Wieder spielte ein böses Lächeln um seinen Mund, während er sie betrachtete. Corinne erwiderte seinen Blick und sein Lächeln furchtlos, bevor sie ihm antwortete: „Also, wenn es Fabelwesen wirklich gäbe, würde ich mir wünschen, dass mir ein Einhorn über den Weg liefe. Dann hätte ich immer Glück...“

„Gibt es einen bestimmten Grund, dass du dir das wünscht?“ wunderte sich LaCroix.

„Na ja, ich muss doch diesen Einführungsvortrag für den Kongress halten“, erklärte Corinne. „Und ehrlich gesagt, bin ich ein bisschen nervös...“

„Warum?“

„Ich finde ihn ein wenig langweilig... zu farblos...“, murmelte die junge Frau. „Aber vielleicht kommt es mir auch nur so vor... Ich habe halt seit Monaten nicht mehr referiert...“

Lucien nickte langsam. Dann fiel sein Blick wieder auf den Tisch und er sah, dass das blaue Licht erlosch. Corinne war seinem Blick gefolgt und schwieg, während er ins Mikrophon sprach: „Nun, liebe Freunde der Nacht, ihr habt gehört, dass es schwierig ist, meine Frage zu beantworten. Sicherlich bleibt sie individuellen Philosophien unterworfen. Aber das ... hm ... Leben... nun, das Leben wäre langweilig, wenn wir auf alles eine Antwort wüssten. Meinst du nicht auch, Corinne?“

„Völlig richtig!“ erwiderte sie wieder selbstsicher. Allerdings fragte sie sich, ob es nicht zu früh wäre, die Sendung zu beenden. Ihr Gespräch hatte höchstens eine halbe Stunde gedauert. Gespannt beobachtete sie LaCroix , der ihr einen langen Blick schenkte, während er seine wohlklingende Stimme erneut über den Äther ertönen ließ: „Mein reizender Studiogast und ich hatten unlängst eine interessante Unterhaltung über das Wesen von Gut und Böse, welche ich euch nicht vorenthalten möchte. Nun, Corinne, erläutere doch noch einmal unseren Zuhörern deine Ansichten darüber...“

***

Nick saß im Auto und hatte das Radio angeschaltet, als er die wohlbekannte Stimme seines ‚Vaters’ hörte. Er maß dem keine große Bedeutung bei, bis er Corinnes Stimme vernahm und dem Gespräch der beiden lauschte. Die Frage LaCroix’, was sie über das Vampirdasein dachte, ließen in Nick sämtliche Alarmglocken schrillen. Das Mädchen war zweifellos in Gefahr. Wenn sein Meister ihr indirekt das Angebot der Unsterblichkeit unterbreitete, hatte er sie bereits als neue Gefährtin in Auge gefasst. Das bedeutete zwar, dass er sie noch nicht gebissen hatte, aber er könnte es jederzeit tun! Er musste die Kleine retten! Aber wie? Seit er sich von seinem Meister abgewandt hatte, blieb ihm dessen Geist weitgehend verschlossen. Verdammt! Und er wusste noch nicht einmal, wo sich dieses Tonstudio befand, in dem LaCroix die Vampirgemeinde und deren Gleichgesinnte in Toronto als ‚Nachfalter’ beglückte. Aber Janette konnte ihm vielleicht weiterhelfen!

Kurzerhand stieg Nick aus dem Wagen, ging in eine wenig benutzte Seitenstraße, schaute sich um, ob niemand ihn sah, und als das nicht der Fall war, schnellte er in rasender Geschwindigkeit vom Boden hoch und landete einen Augenblick später in der Nähe des Raven. Die Türsteher ließen ihn ohne Probleme ein und er eilte schnurstracks an die Bar, hinter deren Tresen sich Janette befand. Ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn erblickte.

„Nicholas! Wie schön, dich so bald wiederzusehen“, begrüßte sie ihn lächelnd. „Ich hoffe, du bist diesmal nicht dienstlich hier?“

„Nein“, gab er zu. „Eigentlich will ich zu LaCroix. Du weißt nicht zufällig, wo ich ihn finden kann?“

„Nanu? Sehnsucht nach dem Meister?“ fragte Janette mit ironischem Unterton, wobei sie ihre Augenbrauen hochzog.

„Lass diese Spielchen, Janette!“ antwortete Nick in gereiztem Tonfall. „Du weißt genau, dass dem nicht so ist! – Also, wo steckt LaCroix?“

„H i e r    ist er nicht“, wich die Vampirin aus.

„Janette!“

„Schalt dein Radio ein, dann kannst du ihn hören“, meinte sie gelassen.

„Genau deswegen bin ich da! Er hat Nathalies Cousine bei sich!“

„Ach, es geht mal wieder um die junge Sterbliche...“, Janette schaute ihren ehemaligen Gefährten verwundert an. „Was für ein Interesse hast du an der Kleinen, Nicholas? Hat sie dich etwa auch schon um den Finger gewickelt?“

„Ich kenne das Mädchen doch kaum!“ wies Nick diese Unterstellung empört zurück. „Aber sie ist Nathalies Cousine und noch sehr jung. Sie weiß nicht, mit wem sie es zu tun hat! Was will LaCroix von ihr?“

„Woher soll ich das wissen?“  fragte Janette gelangweilt. „Sie scheinen sich gut zu verstehen und ich glaube, Lucien mag sie.“

„Genau das beunruhigt mich!“ entfuhr es Nick.

Die Vampirin verzog ihren Mund zu einem spöttischen Grinsen.

„Ich denke, dass sie im Moment noch nicht in Gefahr ist, Nicholas. Lucien lässt sich Zeit, sonst wäre sie längst eine von uns. Es gab genügend Gelegenheiten für ihn, sie zu beißen.“

Nick starrte seine Vampirschwester mit funkelnden Augen an.

„Du weißt, was du mir damit gerade verraten hast, Janette, nicht wahr?“

Die Angesprochene nickte langsam, während sie in leisem, gedehntem Ton sagte: „Aber natürlich, Nicholas. Er hat sie auserwählt. Wir bekommen sicherlich bald Familienzuwachs – und es wird mir ein Vergnügen sein, mich um meine neue Schwester zu kümmern.“

„Das lasse ich nicht zu!“ rief Nick aus.

Janette lachte laut auf.

„Oh, Nicholas! Was willst du dagegen tun?!“

„Sag mir sofort, wo ich LaCroix finde!“

„Das geht nicht, Nicholas.“

„Wo ist sein Tonstudio?“

Janette schüttelte den Kopf und murmelte: „Das kann ich dir nicht sagen... Ich weiß es nicht!“

„Wirklich nicht?“ fragte Nick fassungslos. „Aber ich dachte, ihr beide steht euch noch nah...“

„Nun, wir sehen uns ab und an und ich habe mich auch niemals von meinem Meister abgewandt, so wie du. Dennoch habe ich keine Ahnung, wo sich Luciens Tonstudio befindet“, erklärte die Vampirin. „Nun ja, ich habe mich auch nie dafür interessiert.“

„Verdammt! – Verdammt!“

„Beruhige dich, Nicholas! Du kannst der Kleinen nicht helfen. Finde dich mit Luciens Entscheidung ab... und übrigens solltest du dich mal wieder anständig ernähren.“

Janettes  Blick wanderte zu zwei Frauen, die am anderen Ende des Tresens standen und miteinander tuschelten, während sie verschiedene männliche Gäste beobachteten.

„Beide sind Sterbliche“, murmelte die Vampirin. „Sie sehen recht appetitlich aus. Willst du dir heute Nacht nicht ein wenig von ihrem Blut einverleiben?“

Nick schüttelte unwillig den Kopf.

„Immer noch von der fixen Idee besessen, selbst wieder sterblich zu werden?“ fragte Janette leise und mit spöttischem Unterton. Als er schwieg, fuhr sie fort: „Ich verstehe dich nicht, Nicholas. Du wolltest doch selbst die Unsterblichkeit...“

„Ich habe im Laufe der Jahrhunderte eingesehen, dass diese Entscheidung falsch war. Ich bin ein Monster, ein verfluchtes Geschöpf, das anderen Lebewesen zum Verhängnis geworden ist. Und ich werde es – verdammt noch mal – nicht zulassen, dass Nathalies Cousine LaCroix zum Opfer fällt!“

„Nathalie!“ schnaubte Janette ärgerlich. „Es geht doch nur um sie, nicht wahr? – Wenn die Kleine nicht zufällig die Cousine dieser Nathalie wäre, würdest du keinerlei Interesse daran haben, sie vor deinem Meister zu schützen!“

„Was redest du da?!“ fuhr Nick auf.

„Ich sage nur, was mir auffällt!“ erwiderte Janette heftig. „Du empfindest mehr für diese Dr. Lambert als du zugibst. Nur wegen ihr willst du kein Vampir mehr sein! Nur wegen ihr hast du mich verlassen!“

„Das ist nicht wahr! Du weißt, dass mir meine Existenz seit langem zuwider ist. Es ist lediglich ein Zufall, dass ich Nathalie kennengelernt habe. Sie versteht mich und versucht, mir zu helfen. Wenn du doch nur einsehen würdest, dass unsere Lebensweise sündhaft ist!“

„Sündhaft!“ Janette sprach das Wort verächtlich aus und starrte Nick an, als hätte er den Verstand verloren. Dann lachte sie kurz auf und meinte höhnisch: „Sieh an, der edle, tugendhafte Ritter kommt auch mal wieder zum Vorschein – Monsieur de Brabant, haben wir im Laufe der Jahrhunderte denn nicht bemerkt, dass der Klerus die Glaubenssätze, die er predigt, selbst nicht einhält? Erinnerst du dich an deren Bigotterie und der geduldeten Doppelmoral? Also komm mir nicht mit solchen Dingen wie Sündhaftigkeit oder ähnlichem Scheiß!“

Die Vampirin warf ihrem ehemaligen Gefährten einen wütenden Blick zu.

„Gib doch einfach zu, dass du dich wegen dieser Nathalie ändern willst, dich wegen ihr deiner Natur schämst!“ zischte sie zornig.

„Was soll dieses Theater, Janette?“ Nick war über ihr Verhalten wirklich irritiert. Stets war sie die Kühle und Selbstbeherrschte gewesen.

„Du machst dich mit deinem Wunsch, wieder sterblich zu werden, einfach lächerlich!“ erwiderte Janette heftig. „Ich kann das nicht mehr mit ansehen. Du gehörst zu uns und nicht in die Welt der Menschen.“

Nicholas seufzte. Er wusste, wie viel er ihr bedeutete und dass sie es ehrlich meinte.

„Schade, dass du mich nicht verstehst“, murmelte er. „Bitte, Janette, wo ist LaCroix?“

„Ich sagte dir doch schon, dass ich es nicht weiß!“ gab sie giftig zurück. „Außerdem wirst du nichts an seiner Entscheidung ändern können. Er hat nun mal einen Narren an der Cousine von dieser... hm... Nathalie... gefressen.“

Janette schwieg einen Moment und funkelte Nick böse an, dann glitt ein grimmiges Lächeln über ihr Gesicht und sie raunte höhnisch: „Vergiss die Kleine und mach dir lieber Gedanken um deine Freundin Nathalie. Sie braucht dich bestimmt, wenn ihre Cousine eine von uns ist. Du wirst sie trösten müssen!“

Die Vampirin lachte laut auf und meinte dann: „Nun, vielleicht spornt diese Tatsache Dr. Lambert ja zusätzlich an, ein Elixier zu entwickeln, dass Vampire in Sterbliche zurückverwandelt... Obwohl das völlig gegen die menschliche Natur ist, denn die Menschen wären sicherlich mehr an einem Elixier interessiert, dass sie unsterblich macht.“

Sie schwieg und musterte Nick mit kaltem Blick, bevor sie in sachlichem Ton fortfuhr: „Wenn du nichts weiter von mir willst, dann geh bitte! Ich muss mich schließlich um meine Gäste kümmern.“

 

 

Als sie das Studio verließen und nach draußen traten, merkte Corinne erst, wie kühl es geworden war, und sie bedauerte, keine Jacke mitgenommen zu haben. Aber kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, legte Lucien ihr schon seinen schwarzen Mantel um, der ihr bis zu den Knöcheln reichte.

„Danke“, hauchte sie und lächelte ihn an.

„Gehen wir ein Stück“, meinte er und legte einen Arm um ihre Schultern. „Nun erzähl mir mal genauer von diesem Vortrag, den du halten musst. Worum geht es?“

„Nun, es ist die Einführung in die Thematik des Kongresses“, sagte Corinne, froh, endlich einmal jemandem ihr Herz darüber ausschütten zu können. „Weißt du, es geht darum, dass Kunst ihren Anfang in religiöser Verehrung nahm. Die Menschen machten sich z. B. Abbilder in Form von kultischen Gegenständen... mein Vortrag ist eigentlich so weit fertig, aber solch ein historischer Abriss wird die Leute sicherlich langweilen.“

„Meinst du?“ fragte der Vampir. „Glaubst du nicht, dass die Kongressteilnehmer so etwas erwarten?“

„Na ja, schon...“, murmelte die junge Frau. „Sicherlich ist mein Vortrag rein formell betrachtet in Ordnung...“

„Wo ist dann das Problem?“

„Dieser Kongress hat die optische Kunst zum Thema und ich finde, man sollte das auch dementsprechend gestalten. In dem Vorraum, der zum Vortragssaal führt, werden zum Beispiel künstlerische Artefakte aus allen Jahrhunderten ausgestellt sein, um auf die Thematik einzustimmen. Sobald die Besucher jedoch den Vortragssaal betreten und Platz nehmen, sollen sie langweiligen Referaten lauschen... jedenfalls habe ich noch nichts davon gehört, dass etwas anderes vorgesehen ist...“

„Du bist wohl sehr nervös, was?“ meinte Lucien.

„Hm...“, gab Corinne zu. „Es werden sehr viele Leute auf der Veranstaltung sein. Ich habe noch nie vor einer solchen Menge einen Vortrag gehalten...“

„Was du brauchst, wäre eine Art Generalprobe“, erwiderte LaCroix. „Wo soll denn der Kongress stattfinden?“

„Oh, in einem ganz neuen Gebäude... warte, ich habe es mir notiert.“

Sie blieben unter einer Straßenlaterne stehen und Corinne holte aus ihrer Handtasche ein kleines Büchlein hervor, das sie aufgeregt durchblätterte und schließlich an einer Seite anhielt.

„Hier steht es: Convocation Hall. Weißt du, wo das ist?“

„Klar – es ist ganz in der Nähe der Universität“, antwortete Lucien, hob seinen Arm und öffnete die Tür des Taxis, das gleich darauf neben ihnen stoppte. „Steig ein, ma chère, wir fahren dorthin.“

„Was sollen wir da?“ fragte Corinne und lachte.

„Du verschaffst dir einen Eindruck vom Inneren des Vortragssaals“, erklärte LaCroix. „Und wenn du willst, trägst du mir dein Referat vor.“

„Aber, Lucien...“, die junge Frau schüttelte den Kopf. „Das Gebäude ist jetzt sicher geschlossen!“

„Wer sagt das?“

„Nun... es ist nach 1.00 Uhr... nachts...“

„Wir kommen schon hinein“, erwiderte der Vampir gelassen und gab ihr mit einer Geste seiner Hand zu verstehen, endlich in das Taxi einzusteigen. Corinne zuckte die Schultern und folgte dieser Aufforderung. Nachdem Lucien sich neben sie gesetzt hatte, befahl er dem Fahrer: „Convocation Hall!“

Wenige Minuten später hielt der Wagen vor einer Grünfläche, hinter der sich ein längliches Gebäude mit einer runden Kuppel in der Mitte befand, wie Corinne in Umrissen erkennen konnte, denn die Straßenbeleuchtung zeichnete das Haus lediglich mit undeutlichen Konturen ab.

„Das ist die Convocation Hall“, klärte Lucien sie auf, bezahlte den Fahrer und stieg als Erster aus dem Taxi. Dann reichte er ihr seine Hand. „Komm, ma chère, wir sind an unserem Ziel!“

Corinne warf ihm einen verwunderten Blick zu und schüttelte dann den Kopf.

„Du meinst es wirklich ernst, nicht wahr? Doch ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie wir dort hineinkommen wollen.“

„Lass dich überraschen!“ murmelte ihr Begleiter. Bei diesen Worten huschte ein Lächeln über das Gesicht der jungen Frau. Mit diesem Mann war es wenigstens nicht langweilig. Sie ergriff die dargebotene Hand und stieg nun ebenfalls aus dem Auto.

„Und jetzt?“ fragte sie, während das Taxi in der Ferne verschwand.

„Vertrau mir!“ raunte LaCroix, nahm ihre Hand und ging mit ihr durch den Rasen auf das Gebäude zu. Corinne blickte sich unsicher um. Es war sehr still hier und niemand schien in der Nähe zu sein. Sie begann erneut, leicht zu frösteln, obwohl sie immer noch den langen Mantel Luciens umhatte. Aber sie vertraute dem hochgewachsenen Mann, den sie erst seit kurzer Zeit kannte, völlig... es war vollkommen absurd... sie ging mitten in der Nacht in einer fremden Stadt mit einem ihr kaum bekannten Typ auf das Gebäude zu, in dem in einigen Tagen der Kongress stattfinden würde, und all das nur, damit sie das Innere dieses großen Hauses besichtigen konnte... dabei war sie sicher, dass die Tür der Halle verschlossen sein würde... absurd... absurd...

Corinne musste laut lachen. Lucien blickte sich um und grinste.

„Du wirst sehen, dass wir hineinkommen“, meinte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Mittlerweile waren sie vor dem Eingang angekommen und die junge Frau konnte erkennen, dass dieser Bereich durch einige Säulen abgestützt wurde. Man hatte für den Neubau dieser Halle also eine klassische Bauweise gewählt. Vermutlich, weil sie in der Nähe der Universität stand und wohl auch überwiegend akademische Veranstaltungen darin abgehalten werden sollten.

Ihr Begleiter legte seine Hand auf die Klinke der Eingangstür und drückte sie nieder. Corinne war überrascht, als die Tür sich wirklich öffnen ließ.

„Nun, Mademoiselle, treten Sie ein!“ forderte LaCroix sie auf und ließ ihre Hand los.

Zögernd folgte die Angesprochene diesen Worten und setzte vorsichtig einen Fuß über die Schwelle. Kaum hatte sie das getan, ging die Beleuchtung an. Erschrocken wich sie zurück und fand sich in Luciens Armen wieder.

„Keine Angst“, sagte er und grinste erneut. „Es ist keine Hexerei, sondern lediglich Elektrik. Die Bauherren waren der Meinung, dass eine automatische Beleuchtung gerade das Richtige für dieses Gebäude sei.“

„Woher weißt du das?“ fragte Corinne.

„Ich kenne sehr viele Leute in dieser Stadt und ich halte mich natürlich auf dem Laufenden“, erwiderte Lucien und zog das Mädchen nun wieder in die Halle hinein. Die Eingangstür fiel sanft ins Schloss. Offensichtlich hatte auch sie eine entsprechende Automatik verpasst bekommen.

„Das erklärt noch nicht, warum die Tür unverschlossen war“, meinte sie nun und starrte LaCroix mit unverhohlener Neugier an. Dieser lächelte wissend und antwortete: „Heute Abend hat man damit begonnen, die Exponate herzubringen und aufzustellen. Die Arbeiten können die ganze Nacht dauern... das hat mir ein Bekannter erzählt... deshalb kannst du jetzt auch die Gelegenheit nutzen, dich hier etwas umzusehen. Komm!“

Er ging zielstrebig in einen anderen Raum und Corinne folgte ihm. Tatsächlich sahen sie einige Leute, die gerade eben einen der Kunstgegenstände auspackten. Als sie die beiden späten Besucher erblickten, nickten sie ihnen freundlich zu. Ein dunkelhaariger Mann rief: „Was führt euch zu so später Stunde hierher, Lucien? Im Augenblick kann man noch nichts besichtigen.“

„Ich wollte meiner neuen Bekannten den Vortragssaal zeigen“, erwiderte der Vampir laut.

Der Dunkelhaarige winkte ihm zu und widmete sich dann wieder dem Auspacken eines Exponats, während LaCroix mit Corinne durch die nächste Tür ging. Abermals erhellte sich der Raum, sobald sie ihn betraten, und die junge Frau schaute sich aufmerksam um. Der Saal, der sich wohl in der Mitte des Gebäudes befand, war in runder Form gehalten. Allerdings wurde er in mehreren hohen Bögen aufgeteilt, in denen sich jeweils oben und unten Sitzplätze befanden, wodurch der Saal in der Mitte eine freie Fläche behielt. Allerdings befand sich in einem der Bögen eine große Orgel und darunter stand ein rundes Podest mit Rednerpult.

„Wow!“ entfuhr es dem Mädchen. „Sieht ziemlich eindrucksvoll aus!“

„Ja, genau das Richtige für einen großen Kongress“, meinte Lucien und betrachtete sie amüsiert. „Und wo wir nun schon einmal hier sind: Jetzt ist die Gelegenheit, deinen Vortrag für mich zum Besten zu geben. Ich hoffe, du hast ihn einigermaßen im Kopf?“

Corinne nickte und errötete ein wenig, während er ihr nun seinen Mantel von den Schultern nahm und auf das Podest deutete. Langsam ging sie darauf zu, stieg hinauf und stellte sich hinter das Pult. Sie ließ ihren Blick nochmals durch den Raum schweifen und blieb schließlich an LaCroix hängen, der sich auf einen der Plätze unter den Bögen ihr gegenüber gesetzt hatte und sie gespannt ansah. Sie räusperte sich und begann mit lauter Stimme: „Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie ganz herzlich zu diesem Kongress, der sich mit dem Thema Sinn und Unsinn der optischen Kunst beschäftigen wird. Aber was heißt das eigentlich – optische Kunst? Was ist Kunst überhaupt?“

Sie hielt kurz inne und sah ihren einzigen Zuhörer aufmerksam an. Dieser lächelte ein wenig und nickte ihr zu, was sie dazu ermutigte, fortzufahren: „Nun, der allgemeinen Meinung nach ist Kunst eine Abbildung der Wirklichkeit. Doch ist dem tatsächlich so, meine Damen und Herren?“

Sie starrte Lucien fragend an. Dieser runzelte die Stirn.

„Eigentlich wollte ich hier eine kleine Diskussionsrunde einschieben, damit die Leute sich nicht langweilen...“, erklärte sie.

„Was machst du, wenn das Publikum dir nicht antwortet, Corinne?“

Sie seufzte und ließ den Kopf hängen, vergrub ihr Gesicht in den Händen und schüttelte langsam den Kopf. Besorgt erhob sich LaCroix von seinem Platz und ging zu ihr auf das Podium.

„Was ist denn los, Mädchen?“

„Es geht nicht... es geht einfach nicht... vielleicht sollte ich absagen...?“

„Ach was! Der Anfang war doch sehr schön... nur diese Frage an das Publikum würde ich mir nochmals überlegen. – Na komm, mach einfach weiter. Ich bin neugierig auf deinen Text.“

„Wirklich?“ fragte Corinne und schaute ihn zweifelnd an. Er nickte ihr aufmunternd zu und sie straffte ihren Körper, baute sich vor dem Pult auf und fuhr fort: „Heutzutage gehören nach unserem Verständnis Malerei, Bildhauerei, Musik, Tanz und Dichtung zur Kunst. Im Hinblick auf unsere Thematik lassen Sie uns den Blick jedoch verstärkt auf Malerei und Bildhauerei richten. In der frühesten Menschheitsgeschichte zeigen sich optische Abbildungen an den Wänden von Höhlen; auch fand man bei Ausgrabungen verschiedene Figuren, die wahrscheinlich kultischen Zwecken dienten. Dies lässt vermuten, dass Kunst aus der Religion heraus entstand – das heißt aus der Verehrung von Gegenständen in archaischer Zeit. Skulpturen, Bildnisse und rituelle Gegenstände hatten kultischen Charakter und dienten höchstwahrscheinlich zunächst der Ausübung der Religion. Das bedeutete, dass man die Götter und Dämonen, die man verehrte oder vor denen man sich fürchtete, in Form dieser Kunstgegenstände anrief bzw. beschwichtigte... wobei Musik und Tanz eine große Rolle spielten, ja sich kaum davon trennen ließen. Beispielsweise brachte man der Gottheit in Form eines besonderen Tanzes ein Opfer, wobei sich der Tänzer oder die Tänzerin zu einem Loblied dieses Gottes bewegte, das von den übrigen Stammesmitgliedern gesungen wurde... ein Relikt, das sich übrigens in der Litanei der christlichen Glaubensgemeinschaften erhalten hat...“

Abrupt brach Corinne ihre Rede, die immer freier geworden war, ab und ließ wieder einmal ihren Blick durch den großen Saal schweifen. Dann drehte sie sich um und starrte gedankenverloren zu der großen Orgel hoch, bevor sie sich plötzlich mit funkelnden Augen an LaCroix wandte: „Feuer, Licht, Rauch... das wär’s doch...“

„Was meinst du? Ich verstehe nicht ganz...“, sagte Lucien und runzelte die Stirn.

„Ich weiß jetzt, wie ich den Vortrag so gestalten könnte, dass er mir gefällt“, erklärte sie ihm mit breitem Lächeln. „Du sagtest doch vorhin, dass du viele Leute kennst, nicht wahr?“

„Ja...“, gab der Vampir gedehnt zurück.

„Du kennst bestimmt auch die eine oder andere Band, die bereit wäre, hier aufzutreten...?“

Lucien bedachte die junge Frau mit einem erstaunten Blick. "Was hast du vor?"

Corinne trat auf ihn zu und murmelte: „Es wäre perfekt, es wäre anschaulich... eine Band, die hier die Gelegenheit hätte, all die optischen Effekte, die ihren Auftritt begleiten sollen, einzusetzen – das käme vor allem bei Dunkelheit gut zur Geltung... In dieser Halle wäre das ganz sicher möglich... Oh, Lucien, wäre das nicht fantastisch?“

LaCroix starrte sie einen Moment ungläubig an, dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Er verstand ihre Idee und sie gefiel ihm.

„Kannst du mir helfen, eine Band zu finden?“ fragte Corinne.

„Natürlich“, erwiderte er selbstsicher. „Ich glaube, ich habe genau die richtigen Leute für dich...“

„Wunderbar!“ jauchzte sie und fiel ihm spontan um den Hals. „Und du musst auch kommen, hörst du?“

„Wenn es wirklich erst abends stattfindet, dann könnte ich es...“, sagte er zögernd. Ihm gefiel der Gedanke, diesem Vortrag beizuwohnen. Aber vor allem gefiel ihm die Begeisterung, die Corinne verströmte, seit ihr die Idee zur Neugestaltung ihres Vortrags eingefallen war. Diese Frau war so warm, so lebendig... er konnte das Blut durch ihren Körper rauschen hören. Es machte ihn fast wahnsinnig, doch er musste sich beherrschen... seinen Hunger konnte er ja später noch anderweitig stillen...

 ***

Nick hatte Nathalie bis jetzt verschwiegen, dass ihre Cousine bei LaCroix in der Sendung gewesen war, damit diese sich nicht unnötig aufregte. Dennoch wollte er Gewissheit darüber, ob der Alte Corinne nichts getan hatte. Daher bot er seiner Kollegin an, sie nach ihrer Schicht um 4.30 Uhr nach Hause zu fahren.

„Reicht dir die Zeit, um von mir in deine Wohnung zu kommen?“ fragte Nathalie besorgt.

„Sonnenaufgang ist erst um 6.30 Uhr – also genügend Zeit für mich“, erwiderte er leichthin.

Seine Kollegin nickte und nahm sein Angebot dankend an. Er begleitete sie sogar hinauf in den siebten Stock des Hochhauses, in dem sich ihre Wohnung befand.

„Du benimmst dich wirklich merkwürdig“, meinte Nathalie kopfschüttelnd.

„Was ist denn so schlimm daran, dass ich dich bis vor deine Tür begleite? Ich möchte doch nur, dass du sicher nach Hause kommst... und außerdem... vielleicht brauchst du ja Hilfe? Schließlich ist deine eigenwillige Cousine zu Gast. Wer weiß, was sie wieder angestellt hat“, versuchte Nick zu scherzen, obwohl ihm nicht danach zumute war.

„Corinne hat den ganzen Tag an ihrem Vortrag gearbeitet“, erwiderte Nathalie wenig amüsiert. „Sie ist ziemlich aufgeregt deswegen. Wahrscheinlich schläft sie tief und fest. Sei bitte leise, ich möchte sie nicht wecken.“

Vorsichtig schloss sie die Tür auf, schaltete das Licht ein und ging hinein, dicht gefolgt von Nick.

„Siehst du, alles ist ruhig“, meinte seine Kollegin und hängte ihren Mantel an die Garderobe. „Du kannst also ruhig gehen.“

„Willst du nicht wenigstens mal einen Blick auf die Kleine werfen?“

„Sag mal, was ist eigentlich los?“ Nathalie warf Nicholas einen durchdringenden Blick zu. „Warum interessiert du dich so für meine Cousine?“

„Ich mache mir einfach Sorgen, das ist alles“, wehrte der Vampir ab. „Nach ihrem gestrigen Weinkrampf im Revier mache ich mir halt Gedanken um sie. Das Mädchen sollte wirklich nicht alleine bleiben.“

„Sie ist erwachsen, Nick. Und sie schien mir heute recht gefasst zu sein“, meinte Nathalie.

„Was ist schon dabei, kurz nach ihr zu sehen?“ ließ der Vampir nicht locker. „Bitte, Nat, danach verschwinde ich auch – versprochen!“

„Also gut“, gab sie nach und ging so leise wie möglich zum Gästezimmer. Nicholas folgte ihr, fragte sich allerdings, was er machen würde, wenn Corinne nicht zu Hause sein sollte. Ein Blick in ihr Schlafzimmer bewies allerdings, wie unnötig diese Befürchtung gewesen war. Das Mädchen lag im Bett und schlief bereits. Ihre Atemzüge gingen ruhig und regelmäßig.

„Wie ich vermutet habe – sie schläft“, murmelte Nathalie und wollte gerade die Tür schließen, als Nick sie daran hinderte.

„Geht es ihr auch wirklich gut, Nat?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, schob er sich an ihr vorbei und trat an das Bett heran, in dem Corinne schlief. Er schaltete die Nachttischlampe an und beugte sich über sie...

„Nick!“ rief Nathalie empört, war mit einem Satz bei ihm und riss ihn zurück. „Was soll das?“

Grummelnd ließ sich Corinne nun vernehmen: „...hm...lass mich schlafen...“

„Entschuldige...“, sagte Nathalie leise, dann fiel ihr Blick plötzlich auf die Kommode, die an der Wand gegenüber dem Bett stand, und sie sah die drei weißen Lilien in der Vase. Ein leiser Schrei entfuhr ihr, was Corinne dazu brachte, sich im Bett aufzusetzen und zu zischen: „Was soll der Lärm mitten in der Nacht? Ich will schlafen!“

Dann sah sie Nick und fragte fassungslos: „Und was hat  d e r   in meinem Schlafzimmer zu suchen, Nathalie?!“

Doch ihre Cousine ging nicht darauf ein. Vielmehr starrte sie immer noch auf die drei Lilien und fragte stockend: „Woher... woher sind... diese Blumen?!“

„Ein Freund hat sie mir geschenkt“, erwiderte Corinne erstaunt. „Sag mal, ist dir nicht gut, Nat?“

„Doch, doch...“, murmelte Nathalie, die sich kaum beruhigen konnte. „Es ist nur... ausgerechnet Lilien...“

„Stehen für Schönheit und Reinheit“, ergänzte Corinne den Satz ihrer Cousine. „Und jetzt verrate mir bitte, was ihr beide hier im Schlafzimmer zu suchen habt!“

„Ich wollte nur mal nach dir sehen“, erklärte Nathalie, wobei ihr klar war, wie seltsam diese Antwort klang. Dementsprechend erntete sie auch einen misstrauischen Blick von Corinne, die einen Moment später jedoch wissend lächelte.

„Mein Vater, richtig?“

„Ja“, log Nathalie, der inzwischen peinlich war, dass sie überhaupt auf ihren Kollegen gehört und nach ihrer Cousine geschaut hatte. Nick hingegen schien zufrieden. Er hatte mittlerweile einen Blick auf den Hals der jungen Frau werfen können und gesehen, dass keine Bisswunde vorhanden war.

„Es geht mir wirklich gut, Nat“, sagte Corinne nun. „Du kannst die Anweisungen meines Vaters ruhig ignorieren! Ich habe seit zwei Tagen keine Alpträume mehr.... Und wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich noch einige Stunden schlafen. Gute Nacht!“

„Gute Nacht“, murmelte Nathalie und verließ mit Nick das Gästezimmer. Draußen wandte sie sich an ihren Kollegen. „Die ganze Aktion war völlig unnötig. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas dahintersteckt. Also, raus mit der Sprache!“

Die Pathologin funkelte ihn wütend an.

„Ist ja schon gut“, meinte Nick leise. „Es ist nur... nun ja, du weißt doch, dass die Kleine LaCroix kennengelernt hat... ich fürchtete, dass er sie nachts besucht...“

„Zum Glück scheint das ja nicht der Fall zu sein!“

„Bitte, vergiss nicht, dass er ein Vampir ist...“, mahnte Nicholas.

„Du bist auch einer“, stellte Nathalie nüchtern fest. „Glaubst du wirklich, dass Corinne ernsthaft in Gefahr ist?“

„Möglich“, meinte Nick, behielt aber dennoch für sich, dass das Mädchen sich mit LaCroix getroffen hatte. „Mich würde auch nicht wundern, wenn die Lilien von ihm wären...“

„Sie sagte doch eben, dass sie von einem Freund sind“, widersprach Nathalie. „Ich glaube nicht, dass Corinne damit LaCroix gemeint hat. Sie kennt ihn doch kaum.“

„Aber...“, wollte Nick einwenden, doch seine Kollegin ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Ich weiß ja zu schätzen, dass du dich um meine Familie sorgst, aber in diesem Fall scheint es mir doch etwas übertrieben. Mir ist schon aufgefallen, dass du völlig durchdrehst, sobald dein alter Meister deine Wege kreuzt. Für dich ist er so etwas wie der Teufel höchstpersönlich... findest du nicht, dass du seine Person zu sehr dramatisierst?“

„Bei LaCroix kann man nicht vorsichtig genug sein“, erwiderte Nick nüchtern. Dann warf er ihr einen eindringlichen Blick zu und sagte: „Bitte, Nat, pass auf die Kleine auf!“

„Ich tue, was ich kann“, gab die Pathologin in sachlichem Ton zurück. „Du solltest dich jetzt aber wirklich auf den Weg nach Hause machen.“

„Hast recht, Nathalie. Schlaf gut!“

„Du auch, Nick!“

 

 

Gegen 9.00 Uhr morgens wurde Nathalie durch den Geruch von frisch gekochtem Kaffee aus ihrem unruhigen Schlaf geweckt. Müde erhob sie sich, warf sich den Morgenrock über und ging in die Küche. Dort fand sie den Tisch für zwei Personen gedeckt. Einen Augenblick später hörte Nathalie, wie jemand die Wohnungstür aufschloss, und gleich darauf kam Corinne mit einer Tüte frischer Brötchen in die Küche.

„Oh, guten Morgen, Nat! Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?“

„Nein, hab nur schlecht geschlafen“, murmelte die Angesprochene und beobachtete ihre Cousine nachdenklich. Diese füllte gerade die Brötchen in ein Körbchen und stellte dieses ebenso wie die Kaffeekanne auf den Tisch. Corinne sah gut aus, irgendwie glücklich... ob es dafür einen besonderen Grund gab?

„Wie bist du gestern mit deinem Text vorangekommen?“

„Er ist fertig und ich kann ihn fast auswendig“, antwortete Corinne fröhlich, während sie Nathalie Kaffee einschenkte. Dann setzte sie sich ihr gegenüber und fuhr fort: „Aber das Beste ist, dass mir gestern eine wundervolle Idee für meinen Vortrag einfiel und ich das Glück hatte, gleich heute Morgen einen Termin bei Professor Huus zu bekommen. In circa einer Stunde muss ich dort sein. Wenn das kein gutes Omen ist!“

„Aha! Und wer ist dieser Professor Huus?“

„Der Kongressleiter. Von seiner Entscheidung hängt es ab, ob ich meine Idee verwirklichen kann. – Ach, Nat, ich hoffe, dass alles klappt!“

„Das wird es bestimmt“, munterte die Pathologin ihre Cousine auf. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Corinnes  Gedanken kreisten nur um ihren Vortrag... und Nick machte sich Sorgen wegen LaCroix. Sicherlich spielte dieser im Moment für das Mädchen keine Rolle - wahrscheinlich dachte sie gar nicht mehr an ihn. Was sollte auch eine junge Frau mit einem Mann, der aussah, als könne er ihr Vater sein? Allerdings war Corinne immer recht unkonventionell gewesen. Wenn LaCroix ihr gefiel, würde es sie nicht im Geringsten stören, dass er älter war als sie...

Nathalie schüttelte den Kopf. Was dachte sie denn da für wirres Zeug? Das mussten die Nachwirkungen von Nicks Worten sein...

Die Pathologin warf erneut einen Blick auf ihre Cousine. Diese wirkte so fröhlich und selbstbewusst, dass Nathalie sicher war, sie verschwendete keinen Gedanken an LaCroix. Sonst wäre sie gewiss nicht so gut drauf wie jetzt, sondern hätte Angstzustände und weitere Alpträume.

Schaudernd dachte die Ärztin an ihre erste Begegnung mit dem dunklen Meister zurück und selbst jetzt noch – in der Erinnerung – fühlte sie sich beklommen. Die Nähe dieses unheimlichen Mannes, dessen Augen ihr damals wie die eines gierigen Raubtiers vorgekommen waren, machte ihr Angst... wie hatte Corinne das nur ertragen können? Und dieses Sensibelchen sollte längere Zeit allein mit ihm in einem Raum verbracht haben? Unmöglich! Wahrscheinlich waren sie nur wenige Minuten zusammen gewesen, als Nick sie fand... einzig der Umstand, dass Corinne im Revier einem Nervenzusammenbruch nahe war, ließ darauf schließen, dass sie mit dem alten Vampir Kontakt gehabt hatte...

Nathalie schüttelte sich bei dem Gedanken. Entgegen ihren Behauptungen von heute früh misstraute auch sie LaCroix in höchstem Maße und wünschte keinem Menschen eine Begegnung mit ihm...

„Was hast du?“ fragte Corinne, der nicht entging, wie blass ihre Cousine geworden war.

„Ach, nichts...“, erwiderte Nathalie und zwang sich zu einem Lächeln. „Wahrscheinlich bin ich nur überarbeitet. Ich lege mich gleich wieder hin.“

„Es ist sicher nicht angenehm, dauernd Nachtschichten zu haben“, meinte Corinne.

„Man gewöhnt sich daran“, behauptete die Pathologin.

„Aber manchmal ist man sicherlich auch ziemlich erschlagen, oder?“

„Kann vorkommen...“

„Und dann verwechselt man schon einmal die Tür, nicht wahr?“

Nathalie runzelte die Stirn.

„Was genau willst du mir damit sagen, Corinne?“

„Nun ja, das ist meine Erklärung für den Besuch von dir und Mr. Knight in meinem Schlafzimmer. Oder habe ich das etwa nur geträumt?“

Als Nathalie an den ihr peinlichen Auftritt zurückdachte, errötete sie leicht. Corinne lachte daraufhin und meinte: „Es ist ja nicht so schlimm, sich mal in der Tür zu irren. – Wie lange läuft das zwischen euch beiden schon?“

„Es ist nicht so, wie du denkst!“ widersprach Nathalie, während ihre Wangen einen Farbton annahmen, der jeder vollreifen Tomate Konkurrenz gemacht hätte.

„Deine Privatangelegenheiten gehen mich natürlich nichts an“, erwiderte Corinne mit einem wissenden Lächeln. „Wenn du nicht darüber sprechen willst, ist das okay. Allerdings wäre ich euch sehr verbunden, wenn ihr mich zukünftig nicht mehr aus dem Schlaf reißt.“

Die junge Dame erhob sich und verschwand ins Bad. Kopfschüttelnd sah Nathalie ihr nach. Ohne es zu wissen, hatte Corinne einen wunden Punkt in ihr berührt. Nicholas Knight war ihr wirklich mehr als sympathisch, doch von seiner Seite, da war Nathalie sich sicher, wurden ihre Gefühle nicht erwidert... und außerdem durfte man nicht vergessen, dass er immer noch ein Vampir war...

 ***

Professor Dr. Marc Huus, Leiter des Fachbereichs Fine Arts der Universität Toronto und derzeitiger Kongresskoordinator für die Fachtagung über optische Kunst, die in wenigen Tagen begann, war gerade in einen Artikel vertieft, als seine Sekretärin ihm über den Lautsprecher mitteilte: „Miss Lambert ist jetzt da!“

„Herein mit ihr!“ sagte er und erhob sich einen Augenblick später, als die Tür aufging und die junge Dame eintrat. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und fragte auf französisch: „Mademoiselle Lambert?“

Sie nickte erfreut, als sie die Sprache hörte, die in ihrem Elternhaus kommuniziert wurde.

„Angenehm, Marc Huus“, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand. Dann deutete er auf eine Sitzgruppe, die sich rechts neben seinem Schreibtisch befand. „Bitte, nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie etwas trinken?“

„Ein Wasser, bitte“, erwiderte sie und beobachtete den weißhaarigen, älteren Mann, der aus einer Flasche Mineralwasser, die sich neben anderen Getränken auf dem Tisch befand, ein Glas füllte und es ihr dann reichte. Die vielen Lachfältchen unter seinen Augen sowie das freundliche Lächeln, das er seiner Besucherin schenkte, ließen ihn sympathisch wirken.

„Nun, Mademoiselle Lambert, Sie deuteten an, dass Sie Änderungswünsche bezüglich Ihres Vortrages hätten?“

„Ja, und ich hoffe, dass es Ihnen nicht zuviel Unannehmlichkeiten bereiten wird.“

„Um was handelt es sich denn?“ fragte Huus in immer noch freundlichem Ton.

Seine ganze Art nahm ihr ihre Befangenheit, die zurückgekehrt war, als ihr auf dem Weg zum Kongressbüro klar wurde, dass ihre Vorschläge auch abgelehnt werden könnten. Doch Professor Huus sah sie so aufmunternd an, dass sie ihm ohne Scheu von ihrer Idee erzählte. Während sie sprach, schien seine Mimik darauf hinzudeuten, dass ihm ihr Vorschlag gefiel.

„Das hört sich wirklich sehr vielversprechend an“, meinte Huus, als sie fertig war. „Es passt ausgezeichnet zu unserer Thematik. Sie haben mein Okay und meine volle Unterstützung, Mademoiselle Lambert.“

„Und das mit der Terminverschiebung ist auch in Ordnung?“ fragte Corinne. „Ich meine, werden sich die anderen Kongressteilnehmer nicht beschweren, wenn es so kurzfristig eine Änderung gibt?“

„Ach, es wäre nicht das erste Mal, dass eine Veranstaltung umorganisiert wird“, winkte Huus ab. „Außerdem ist Kunst unberechenbar. Das sollten die Damen und Herren der Kunst- und Medienwissenschaft eigentlich wissen. Sie sehen, dass auch dies wunderbar zu unserem Thema passt. – Wir machen es so, wie Sie vorgeschlagen haben. Der Termin wird auf den 22. September gelegt und durch die öffentlichen Medien publik gemacht. Darüber hinaus...“

Huus hielt inne und schaute sie mit strahlenden Augen an, bevor er weitersprach: „Darüber hinaus ist es eine großartige Möglichkeit, auch fachfremden Menschen Kunst näher zu bringen. Wissen Sie, dass ich schon lange auf so eine Gelegenheit gewartet habe? Leider ist mir selbst eine Idee, wie Sie sie haben, nie gekommen. Ich bin davon überzeugt, dass sie großen Anklang in der Öffentlichkeit findet.“

Corinne starrte ihn sprachlos an. Mit solch einer Begeisterung von Seiten des Kongressleiters hatte sie gar nicht gerechnet. Und wenn er recht behielt, würden wesentlich mehr Menschen an der Veranstaltung teilnehmen als ursprünglich gedacht...

Einen Moment lang machte der Gedanke daran sie unsicher, aber dann spürte sie, wie ein Gefühl freudiger Erregung sie erfasste. Was machte es schon aus, ob ihr ein paar Menschen mehr zuhörten? Ihr Vortrag jedenfalls würde nicht mehr langweilig sein... sie konnte kaum erwarten, mit den Vorbereitungen zu beginnen...

„Haben Sie eigentlich schon eine Band?“ fragte Huus in ihre Gedanken hinein.

„Heute Abend treffe ich mich mit ihr“, antwortete Corinne. So hatte sie das mit Lucien abgesprochen. Die Gruppe würde ab 21.00 Uhr im Raven auf sie warten.

„Ausgezeichnet!“ Huus erhob sich, ging zu seinem Schreibtisch, zog eine der oberen Schubladen auf und holte einen Anhänger mit zwei Schlüsseln hervor. „Hier, Mademoiselle Lambert, der eine Schlüssel ist für die Eingangstür der Convocation Hall, der andere für den Vortragssaal. Sie können also jederzeit mit den Vorbereitungen für unseren Event beginnen.“

Eine warmes Wohlbehagen erfüllte das Innere der jungen Frau.

Unseren Event! Der Professor hatte wirklich von unserem Event gesprochen!

Corinne erhob sich und nahm mit strahlendem Lächeln die Schlüssel von Huus entgegen.

„Vielen Dank! Ich bin so froh, dass Ihnen meine Idee gefällt!“

„Und ich freue mich, dass Sie so eine gute Idee hatten. Viel Erfolg, Mademoiselle!“

„Ich danke Ihnen, Professor Huus. Auf Wiedersehen!“

 

Glücklich trat Corinne aus dem Zimmer des Kongressleiters in den Flur hinaus und starrte immer noch ungläubig auf den Schlüsselbund in ihrer Hand. Es hatte alles viel besser geklappt, als sie dachte... und es war so einfach gewesen... nun konnte eigentlich nichts mehr schief gehen...

„Guten Morgen, Fräulein Lambert!“

Der Kopf der jungen Frau fuhr hoch und sie erblickte den Besitzer jener näselnden Stimme, die sie soeben aus ihren glücklichen Gedanken gerissen hatte... der Stimme, die einer Person gehörte, die ihr zutiefst verhasst war: Wernher Teichert sah mit hochmütigem Lächeln auf sie herab.

„Ich hätte nicht gedacht, ausgerechnet Sie hier wiederzutreffen“, fuhr er in ironischem Tonfall fort. „Es ist doch noch nicht allzu lange her, seit Ihr Lebensgefährte gestorben ist. Scheint mir ein wenig pietätlos, dass Sie sich gleich wieder ins Berufsleben stürzen, Fräulein Lambert. Oder sind Sie etwa gezwungen zu arbeiten, um Ihren Lebensunterhalt zu sichern?“

„Das muss nicht Ihre Sorge sein!“ antwortete Corinne kalt.

„Da haben Sie zweifellos recht“, gab Teichert zu. „Allerdings waren Sie mir noch nie gleichgültig... Corinne...“

„Für Sie bin ich immer noch Frau Lambert!“ wies die junge Frau ihren ehemaligen Professor zurecht.

„Ja, leider...“, murmelte Teichert. „Sie wissen, wie gerne ich das ändern würde.“

„Oh, mir gefällt die Distanz, die zwischen uns herrscht, sehr gut“, erwiderte das Mädchen und bemühte sich, ihrer Stimme einen möglichst harten Klang zu geben. „Von mir aus könnte sie noch größer werden...“

„So nachtragend?“ fragte Teichert spöttisch. „Ts, ts, ts... dabei lag es nur an Ihnen, dass ich Ihre schriftliche Arbeit schlechter bewertet habe als sie ist. Wenn Sie entgegenkommender gewesen wären, dann...“

„Sie wissen, was ich von derlei Arrangements halte!“

„Aber natürlich! Sie hängen noch an abstrusen Moralvorstellungen von Vorgestern. Was für ein Jammer. Dabei könnten Sie ein viel leichteres Leben haben... auch ein leichteres Berufsleben...“, belehrte Teichert sie in ironischem Tonfall. „Ich hätte eventuell noch eine Stelle frei...“

„Kein Interesse!“ sagte Corinne und schickte sich an zu gehen, doch Teichert hielt sie am Arm zurück.

„Nicht so voreilig, meine schöne Spröde! Sie sollten sich meinen Vorschlag wenigstens anhören.“

„Lassen Sie mich sofort los!“ zischte das Mädchen und funkelte ihn zornig mit den Augen an. Über Teicherts Lippen glitt ein abschätziges Lächeln, bevor er ihren Arm aus seinem Griff entließ.

„Wir sprechen uns noch!“ murmelte er.

„Vergessen Sie’s!“ fuhr Corinne ihn an. „Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben!“

„Schlecht möglich“, erwiderte Teichert gelassen. „Wir werden beide auf dem Kongress sein und uns sicherlich über den Weg laufen.“

„Was mich angeht, werde ich mir die größte Mühe geben, Ihnen nicht zu begegnen!“ antwortete die junge Frau. „Guten Tag, Herr Teichert!“

Mit diesen Worten stolzierte sie an ihm vorbei Richtung Ausgang, während er ihr mit selbstgefälligem Lächeln nachblickte.

 ***

 Nachdem Corinne draußen war, schaute sie sich nochmals um und atmete hörbar aus, als sie sah, dass Teichert ihr nicht gefolgt war. Warum musste ihr dieses Arschloch ausgerechnet jetzt begegnen? Und natürlich konnte er es nicht lassen, sie daran zu erinnern, dass Thomas tot war...

Das Glücksgefühl, das sie vor wenigen Minuten noch erfüllt hatte, war jäh einem inneren Schmerz gewichen. Es tat weh, dass ihr Freund jetzt nicht hier sein konnte... er hatte sie in all ihren Vorhaben immer sehr ermutigt – und sicherlich hätte er sich mit ihr darüber gefreut, dass sie den Einführungsvortrag dieses Fachkongresses hielt...

Ein paar Tränen liefen über ihre Wangen. Sie wischte sie missmutig weg. Thomas hätte sicher nicht gewollt, dass sie so schnell klein beigab. Wenn er nun bei ihr wäre, würde er sagen, dass sie ein „solches Mensch“ *  wie Wernher Teichert überhaupt nicht beachten sollte. Schließlich konnte dieser ihr nichts anhaben... und sein Gelabere war sowieso nur „heiße Luft“, bedeutungslos und dumm...

Corinne sah Thomas vor ihrem inneren Auge. Er lächelte sie an und sagte: „Komm, Liebling, zeig den Leuten, was in dir steckt!“

„Das werde ich...“, murmelte sie. „Das werde ich...“

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* So bezeichnet man in Hessen Leute, die sich schlecht bis bösartig benehmen.

 

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Nachdem sie sich ein wenig von der Aufregung über die Begegnung mit ihrem ehemaligen Professor erholt hatte, ging Corinne zunächst einmal Lebensmittel einkaufen. Als sie danach in die Wohnung ihrer Cousine zurückgekehrt war und alles eingeräumt hatte, gönnte sie sich ein heißes Bad und legte sich anschließend ins Bett, um ein wenig auszuruhen.

Es war kein Wunder, dass sie so müde war, denn nach dem Besuch in der Convocation Hall hatte Lucien sie noch bis ca. 4.00 Uhr durch die Innenstadt geführt. Zu dieser Nachtzeit war die City fast nur durch die Straßenbeleuchtung erhellt, denn die meisten Menschen schliefen noch, und dieses schummrige Licht ließ diese große Stadt unwirklich erscheinen.

Corinne erinnerte sich, dass sie sich auf ihrem Spaziergang mit Lucien einen Augenblick gefragt hatte, ob sie sich nicht in einem Traum befände. Kaum in Toronto gelandet, hatte sie Lucien kennen gelernt... fast sofort war eine Verbindung zwischen ihnen da gewesen... und dieser neue Freund nahm sie immer mehr für sich ein, und zwar so sehr, dass sie sich schon nicht mehr vorstellen konnte, ohne ihn zu sein...

Umso größer war der Schock über den Kontrast, der ihr in Gestalt von Wernher Teichert entgegentrat. Er war ihr noch genauso unerträglich wie zu ihrer Studienzeit, und eine Begegnung mit diesem abstoßenden Mann hätte sie gern vermieden. Aber es war nun einmal geschehen und sie musste lernen, sich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Immerhin konnte Teichert ihr jetzt weitgehend egal sein – sie war nicht mehr seine Studentin, sondern besaß eine gewisse Bekanntheit in Fachkreisen. Gerade deshalb wollte sie die Chance nutzen, auf dem Kongress neue Kontakte zu knüpfen. Vielleicht ergab sich ja sogar ein Lehrauftrag in Toronto und sie konnte hierbleiben...

Über diesen Gedanken schlief Corinne langsam ein und träumte:

Sie stand allein auf einer Art Tribüne, um sie herum herrschte völlige Dunkelheit, so dass sie nichts mehr sah. Dennoch wusste sie, dass sich vor ihrem Podium Sitzreihen befanden, in denen viele Menschen saßen. Auf einmal zischte es laut und lodernde Flammen tauchten um sie und ihr Publikum, welches sie nun sehen konnte, auf und umkreisten sie. Dann flatterten plötzlich riesige Fledermäuse durch den Raum und stießen eine Art von Warnschrei aus. Eine Sekunde später schwang eine große Tür auf und ein schwarzer Sportwagen, an dessen Steuer Wernher Teichert saß, raste auf das Podium zu und krachte direkt hinein...

Mit lautem Schreien fuhr Corinne aus dem Schlaf hoch. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie registrierte, dass sie nur geträumt hatte.

Was für ein grässlicher Alptraum!

Ob er ein schlechtes Omen für ihr Vorhaben war?

Wäre es vielleicht besser, wenn sie ihre Teilnahme an dem Kongress absagte?

Aber was würde dann Professor Huus von ihr denken? Immerhin hatte sie ihm ihre Idee schmackhaft gemacht und er vertraute nun darauf, dass ihr Einführungsevent ein Erfolg werden würde, hatte sogar deswegen eine Terminverschiebungen veranlasst... Nein, sie konnte unmöglich absagen! Sie musste ihre Idee durchziehen...

Himmel! Die Band! Sie war ja mit diesen Leuten um 21.00 Uhr verabredet!

Gehetzt warf Corinne einen Blick auf die Uhr – gleich 20.00 Uhr! Höchste Zeit, sich fertig zu machen, wenn sie pünktlich im Raven sein wollte...

***

Michael und Inge mussten sich unterdessen die Klagen ihres Chefs anhören. Er war sehr erzürnt darüber, dass es wegen Corinne Lambert Terminverschiebungen gab, die zunächst ihn betrafen. Statt nämlich erst am späten Nachmittag, würde er Montagmorgen um 9.00 Uhr mit seinem Vortrag beginnen müssen. Dieser Umstand ärgerte ihn umso mehr, als er eigentlich geplant hatte, die Nacht zuvor in diversen anrüchigen Lokalen zu verbringen und sich mit der einen oder anderen Dame des horizontalen Gewerbes zu vergnügen, denn er sehnte sich nach Abwechslung.

Inge Riedel würde davon nichts mitbekommen, denn er hatte sie bereits jetzt mit soviel Aufgaben betraut, dass sie kaum Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, was er eigentlich während der Zeit tat, in der sie sich nicht sahen. Die beiden Nächte mit ihr hatten ihn vollkommen zufrieden gestellt, da sie ein leidlich hübsches Ding war und ihn anhimmelte. Aber sie begann bereits, ihn zu langweilen. Um sich ein wenig Ruhe vor ihr zu verschaffen, machte er ihr weis, dass er wegen der Tagungsvorbereitungen im Stress sei und sie ihm am besten half, wenn sie für ihn im Internet recherchierte und diverse Aufsätze und Artikel sowie Bücher besorgte, die er vielleicht brauchen würde. Damit wäre sie vollauf beschäftigt und er könnte sich von ihrer nervtötenden Anhänglichkeit erholen. Die Kratzbürstigkeit von Corinne Lambert war ein wohltuender Gegensatz zu Inges devoter Art gewesen. Dennoch ärgerte es ihn maßlos, dass er wegen dieser eigenwilligen, kleinen Hexe seine Pläne ändern musste.

„Sie sind doch mit Fräulein Lambert befreundet, nicht wahr, Fernandez?“ wandte Teichert sich in gereiztem Ton an seinen Assistenten.

„Nun ja, so würde ich es nicht nennen“, wehrte Michael ab. „Wir kennen uns nur durch das Studium...“

„Und wie sieht es mit Ihnen aus, Frau Riedel?“ fragte Teichert daraufhin Inge, die leicht zusammenzuckte, als sie hörte, wie er sie vor ihrem Kollegen ansprach. Sie verstand natürlich, dass Wernher ihre Beziehung vorerst geheim halten wollte, um sie zu schützen. Immerhin war er noch verheiratet und konnte mit seiner Frau erst über die Scheidung sprechen, wenn er wieder in Frankfurt war. Denn dass er dies tun würde, davon war Inge zutiefst überzeugt. Schließlich teilte er seit zwei Nächten mit ihr das Bett und murmelte heiße Liebesschwüre in ihr Ohr, die sie voller Entzücken hörte. Ach, sie hatte schon immer geahnt, dass Wernher ihr große Zuneigung entgegenbrachte. Für ihn würde sie jedes Opfer auf sich nehmen; und sie wusste, dass es seiner Karriere empfindlich schaden könnte, wenn während des Kongresses herauskam, dass er ein Verhältnis mit seiner Mitarbeiterin hatte. Gerade deshalb fügte sie sich seinem Wunsch und schlich sich immer gegen 5.00 Uhr früh aus seinem Hotelzimmer hinauf in ihre Schlafkammer unter dem Dach. Dort gab sie sich glücklich ihren Wunschträumen hin und sah sich bereits als strahlende Braut an seiner Seite...

Zwar hatte Wernher nie von etwas Derartigem gesprochen, aber sie fühlte doch, dass er gerne mit ihr zusammen war... dass er sich sehr nach ihr sehnte. Sonst hätte er sie gar nicht erst nach Toronto mitgenommen und sie mit seinen Zärtlichkeiten verwöhnt. Wernher konnte nicht ohne sie sein. Darum auch hatte er sie sofort nach dem Examen als seine Mitarbeiterin bei sich eingestellt... und darum auch würde er sie heiraten, sobald er geschieden war...

„Hallo, Frau Riedel, sind Sie geistig anwesend?!“ drang nun wieder die Stimme ihres Liebhabers in ihr Bewusstsein und holte sie aus ihren Tagträumen in die Gegenwart zurück.

„Entschuldigen Sie, ich war gerade in Gedanken“, stotterte sie und errötete.

„Das habe ich gemerkt!“ sagte Teichert in tadelndem Ton. „Aber jetzt scheinen Sie ja wieder klar zu sein. Nun, wie steht es mit Ihnen, Frau Riedel?“

„Was?“ fragte Inge und blickte ihren Chef verständnislos an. Dieser stöhnte genervt auf.

„Sind Sie mit Fräulein Lambert befreundet, Frau Riedel?“ wollte er dann wissen.

„Nein, überhaupt nicht!“ antwortete Inge heftig. Wieder fühlte sie so etwas wie Eifersucht in sich. „Diese Frau ist mir ein völliges Rätsel. Ich verstehe sie einfach nicht, weder heute noch früher... sie ist ein wenig schwierig...“

Teichert nickte und lächelte. Derart ermutigt blickte Inge von ihm nun zu Michael und fuhr fort: „Aber Herr Fernandez kommt ganz gut mit ihr zurecht. Er bemüht sich sogar, Verständnis für all ihre Allüren zu haben.“

„Ach, tatsächlich?“ fragte Teichert erstaunt und betrachtete seinen Assistenten neugierig. „Ich dachte, er kennt sie nicht näher?“

„Sie wissen doch, dass wir sie getroffen haben“, fühlte Michael sich nun verpflichtet zu erklären, ehe Inge noch mehr über sein Interesse an Corinne verraten konnte. Das ging schließlich niemanden etwas an. „Und Sie wissen auch, dass Frau Lambert vor einigen Monaten erst ihren Freund verloren hat. Gerade deshalb sollte man Verständnis für sie haben. Im Augenblick ist sie nicht sie selbst.“

„Wahrscheinlich haben Sie recht, Fernandez“, erwiderte Teichert. „Ich habe Fräulein Lambert als Studentin auch immer sehr zu schätzen gewusst. Leider steht ihr ihr eigenwilliger Charakter oft im Weg und verbaut ihr viele Chancen. Aber ich glaube auch, dass sie im Moment recht angeschlagen ist. Deshalb will ich mal nicht so nachtragend sein. Und weil Sie ein so verständnisvoller, junger Mann sind, halte ich Sie für den Richtigen, um sie zur Vernunft zu bringen.“

„Was soll das heißen?“ fragte Michael irritiert.

„Gehen Sie zu ihr, sprechen Sie mit ihr, Fernandez!“ befahl sein Chef. „Vielleicht können Sie sie von dem unsinnigen Vorhaben abbringen, den Kongress Sonntagabend zu eröffnen!“

„Sie will was?!“ riefen Michael und Inge wie aus einem Mund. Teichert warf seinen Mitarbeitern einen vielsagenden Blick zu und nickte.

„Ja, sie konnte den alten Huus dazu überreden, die Tagung am Sonntagabend um 21.30 Uhr beginnen zu lassen. Er hat vor, das über die Medien publik zu machen und hofft, dass möglichst viele Leute diese Veranstaltung besuchen werden, auch Fachfremde...!“

Teichert schüttelte den Kopf und zeigte wieder ein missmutiges Gesicht.

„Das ist so ein Quatsch!“ fuhr er, mehr zu sich selbst sprechend, fort. „Als ob Laien irgendetwas davon verstehen würden. Aber er wird schon sehen, dass kaum jemand kommt, wenn er dieses unsinnige Vorhaben wirklich durchzieht.“

„Ich kann nicht glauben, dass Professor Huus das wirklich erlaubt hat!“ meinte Inge tonlos.

„Doch, Frau Riedel, leider ist es so“, murmelte Teichert. „Ich weiß ja nicht genau, was die kleine Lambert vorhat, denn Huus macht ein großes Geheimnis daraus...“

Er hielt plötzlich inne und schaute erneut auf seinen Assistenten, wobei seine Augen einen fiebrigen Glanz angenommen hatten.

„Gehen Sie zu ihr, Fernandez!“ befahl er wieder, diesmal in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete. „Verwickeln Sie Lambert in ein Gespräch. Vielleicht verrät sie Ihnen ja etwas von ihrem Plan. Ich brauche Informationen, um Huus diesen Quatsch auszureden!“

„Ich glaube kaum, dass das einen Sinn hat“, wandte Michael ein, dem bei dem Gedanken, Corinne auszuspionieren, unbehaglich wurde. „Frau Lambert weiß, dass ich für Sie arbeite, Wernher, und wird mir bestimmt kein Wort verraten. Sie ist schließlich nicht dumm!“

„Probieren Sie es trotzdem!“ wies Teichert ihn im strengen Ton an.

„Aber...!“

„Tun Sie es, Fernandez!“ zischte ihn sein Chef an.

„Also gut“, seufzte Michael und gab scheinbar nach. In Wirklichkeit war es ihm eigentlich egal, wann die Tagung stattfand. Er würde jetzt die Gelegenheit nutzen, um Corinne zu sagen, dass es ihm leidtue, dass sie wegen ihm von einem Polizisten aus dem Club geholt worden war. Er würde ihr erklären, dass sein Handeln nur aus der Angst um sie heraus resultierte. Das musste sie doch einsehen! Vielleicht ging ihr dann endlich ein Licht auf und sie erkannte, wie viel er für sie empfand... wie sehr er sie liebte...

 ***

Nathalie war schon vor einer Viertelstunde zu ihrer Schicht aufgebrochen und Corinne, die sich bereits telefonisch ein Taxi bestellt hatte, warf noch einen Blick in den hohen Spiegel, der sich in ihrem Zimmer befand, als es klingelte. In der festen Überzeugung, es handele sich um das bestellte Taxi, lief sie rasch auf den Flur, schnappte sich ihre Handtasche und riss die Tür auf, um aus der Wohnung zu eilen. Aber sie stoppte sofort, als sie erkannte, dass Michael vor ihr stand.

„Nanu? Was willst du denn hier?“ fragte sie erstaunt.

„Ich weiß, dass es schon ziemlich spät ist, um unangemeldet zu erscheinen“, begann er in entschuldigendem Ton, dann glitt sein Blick erstaunt über ihr Äußeres. Sie trug einen lilafarbenen Hosenanzug in einem irisierenden Stoff, der ihr sehr gut stand, und über ihrem Arm hing ein grüner Mantel. „Du hast wohl keine Zeit, was?“

„Richtig!“ erwiderte Corinne und schloss die Wohnungstür hinter sich ab. „Ich habe noch eine berufliche Besprechung und bin spät dran...“

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Es ist schon Viertel vor neun!“ stellte sie fest und wandte sich dann wieder Michael zu. „Hör zu, es tut mir wirklich leid, dass ich neulich so eklig zu dir war, aber ich mag es nun einmal nicht, wenn man sich ungefragt in meine Angelegenheiten mischt. – Und jetzt habe ich leider keine Zeit mehr für dich, entschuldige bitte!“

Sie war im Begriff, die Treppe hinunterzurennen, doch Michael hielt sie am Arm zurück.

„Warte doch einen Augenblick, Corinne!“ bat er. Sie schaute ihn fragend an. „Mir tut es auch leid, dass unser letztes Treffen so unglücklich verlaufen ist. Aber ich versichere dir, dass ich nur in der besten Absicht gehandelt habe.“

„Davon bin ich überzeugt“, meinte sie sachlich und befreite ihren Arm aus Michaels Griff. Sie setzte gerade einen Fuß auf die Stufe, da fragte er: „Wann hast du Zeit, damit wir beide uns mal länger unterhalten können?“

Corinne hielt inne, drehte sich zu dem jungen Mann um und blickte ihn erstaunt an.

„Ich wüsste nicht, warum wir das tun sollten“, meinte sie. „Sicher ist es viel besser, wenn wir es bei den beruflichen Kontakten belassen.“

„Das ist doch nicht dein Ernst, Corinne!“ rief Michael heftig aus.

„Doch, das ist mein Ernst“, bekräftigte sie und eilte dann die Treppenstufen hinunter, während sie noch ein „Machs gut!“ verlauten ließ. Einen Augenblick stand der junge Mann verdutzt im Flur, dann jedoch kam Bewegung in ihn und er lief nun ebenfalls hinunter. Als er aus dem Haus trat, sah er, dass Corinne in ein Taxi einstieg, und eilte zu ihr. Er klopfte an die Scheibe des Wagens, worauf das Mädchen diese herunterkurbelte und fragte: „Was gibt es denn noch?“

„Du kannst mich doch nicht einfach so stehen lassen!“ meinte er vorwurfsvoll.

„Michael, bitte! Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für deine Kindereien!“ ermahnte sie ihn. „Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann kannst du das ja im Rahmen des Kongresses machen. In den Pausen haben wir sicher Gelegenheit, uns zu unterhalten.“

„So lange will ich nicht warten!“ protestierte er. „Bitte, ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen!“

„Nicht jetzt!“ wies sie ihn ab, kurbelte die Wagenscheibe wieder hoch und wandte sich an den Fahrer. „Ins Raven, bitte!“

Das Taxi setzte sich in Bewegung und Corinne hoffte, nun endlich Michael los zu sein. Normalerweise war es nicht ihre Art, Leute einfach stehen zu lassen, aber Michael war ihr im Moment lästig. Er konnte doch nicht erwarten, dass sie für ihn Zeit hatte, wenn er einfach unangemeldet bei ihr auftauchte. Was immer er ihr sagen wollte, musste er auf später verschieben.

„Ich glaube, ihr Freund sitzt in dem Taxi, das hinter uns herfährt“, meinte der Fahrer nach einer kleinen Weile. Überrascht drehte Corinne sich um und starrte aus dem Rückfenster. Sie hielten gerade an einer Ampel neben mehreren Straßenlampen, so dass sie trotz der spärlichen Lichtverhältnisse sehen konnte, wer sich in dem Wagen befand, der direkt hinter ihnen stand. Corinne erkannte, dass der Taxifahrer recht hatte. War Michael denn verrückt geworden? Warum verfolgte er sie?

Da Corinne keine Lust darauf hatte, sich wegen eines Anrufs dieses Spinners erneut auf einer Wache wiederzufinden, überlegte sie blitzschnell, wie sie ihn abhängen könnte. Ein verrückter Gedanke kam ihr plötzlich in den Sinn und sie wies den Fahrer an, sie zu Nathalies  Dienststelle zu bringen und dort ein paar Minuten auf sie zu warten.

Während der Chaffeur ihrer Aufforderung nachkam, schaute sich Corinne wieder um. Genau wie sie vermutet hatte, folgte ihnen das andere Taxi, in dem sich Michael befand.

Als sie vor dem Revier hielten, bat das Mädchen den Fahrer nochmals: „Bitte, warten Sie hier auf mich. Ich bin gleich zurück!“ und sprang dann aus dem Wagen. Sie eilte in das Polizeigebäude und ging ohne zu überlegen in das Büro, in dem sich die Schreibtische von Knight und Schanke befanden. Erfreut registrierte sie, dass sich Don gerade dort aufhielt. Sie beschleunigte ihren Schritt.

„Wie gut, dass ich Sie hier antreffe, Mr. Schanke!“ begrüßte sie ihn und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. Überrascht schaute der Angesprochene von seinem Bildschirm auf und schmolz förmlich dahin, als er sie erkannte.

„Oh, hallo... ich habe gar nicht damit gerechnet, Sie so bald wiederzusehen“, sagte er ein wenig verlegen. „Kann ich etwas für Sie tun?“

„Ja, deswegen bin ich hier“, erklärte Corinne, beugte sich ein wenig zu ihm hinunter und legte mit einem flehenden Blick eine Hand auf seinen Unterarm. „Bitte, helfen Sie mir! Ich bin gerade auf dem Weg zu einer geschäftlichen Verabredung gewesen, als ich merkte, dass mich jemand verfolgt. Es ist ein Bekannter von mir, der mich vorhin aufgesucht hatte, aber einfach nicht akzeptieren will, dass ich im Augenblick keine Zeit für ihn habe. Dabei sind wir nicht einmal befreundet! Ich kann mir nicht vorstellen, was er von mir will!“

„Ein aufdringlicher Verehrer vermutlich“, meinte Schanke und tätschelte beruhigend die Hand der jungen Frau. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmere mich um den Typ!“

In diesem Augenblick betrat Michael Fernandez das Revier und kam direkt auf Schanke zu, da er Corinne bei diesem sitzen sah. Der Polizist bemerkte es sofort und wandte sich an seine Gesprächspartnerin: „Gerade eben ist ein junger Mann hereingekommen. Ist das der Kerl, der Sie verfolgt?“

Corinne warf einen Blick über ihre Schulter und nickte. Dann schaute sie wieder zu Don.

„Was soll ich denn nun machen? Wenn ich nicht pünktlich zu meinem Termin komme, dann kann ich meine beruflichen Pläne vermutlich vergessen!“ sagte sie mit einem Ausdruck von Verzweiflung in der Stimme. Sie machte sich wirklich ein wenig Sorgen, denn immerhin war es genau 21.00 Uhr und sie sollte jetzt eigentlich im Raven sein.

„Gehen Sie ruhig zu Ihrem Termin, Corinne, ich knöpfe mir derweil Ihren Verfolger vor“, erwiderte Schanke beruhigend und tätschelte ihr nochmals die Hand.

„Das ist also deine berufliche Besprechung?!“ hörte sie plötzlich hinter sich Michaels Stimme, die sehr vorwurfsvoll klang.

Schanke hielt den Augenblick für gekommen, sich zu erheben und vor dem jungen Mann aufzubauen.

„Ich höre gerade, dass Sie diese junge Dame verfolgen?!“  fragte er streng.

„Das ist doch meine Privatangelegenheit!“ verteidigte sich Michael.

„Nein, jetzt nicht mehr!“ klärte ihn Schanke auf. „Wir wurden in diesem Fall um Hilfe gebeten!“

Während sich der verdutzte Michael unvermutet in einer Situation wiederfand, in der er sich einem polizeilichen Verhör unterziehen musste, verschwand Corinne leise wieder nach draußen und stieg in das auf sie wartende Taxi, das sie nun umgehend ins Raven brachte.

*

Ohne Probleme ließen sie die Türwächter in den Nachtclub hinein, und während sie die Treppe hinuntereilte, hörte sie bereits Musik. Unten angekommen, fiel ihr Blick sogleich auf eine Band, die auf einer kleinen Bühne, welche direkt gegenüber dem Eingang an der Wand stand, ihre Darbietung zum Besten gab und die Gäste des Clubs zum wilden Tanzen animierte.

Corinne fiel bei dieser Musikgruppe vor allem eine dunkelhaarige, schlanke, hochgewachsene Frau mit länglichem, schmalen Gesicht und hohen Wangenknochen auf, deren tiefschwarze Augen in deutlichem Kontrast zu ihrer blassen Hautfarbe standen, was ihr ein hartes Aussehen verlieh. Der Ausdruck ihrer Augen hingegen war sanft und ihre hohe Stimme, die sie durch den Saal erklingen ließ, hatte einen weichen Klang. Musikalisch wurde sie von einigen schwarzgekleideten Männern auf verschiedenen Instrumenten begleitet. Plötzlich sprang von unten ein jüngerer, dunkelhaariger Mann mit nach oben gegelten Haaren, die wie Stacheln in der Luft abstanden, in ebenso schwarzer Lederkluft auf die Bühne und fiel in den Gesang der Frau ein:

 

Wer sind wir? Wer sind wir ?

Verloren in der Dunkelheit fliehen wir das Licht.

Nachtwandernde Schatten – verfolgen wir dich!

Drum fliehe, fliehe – solange du kannst.“

 

Beeindruckt starrte Corinne diese Band an. Sie sangen nochmals den gleichen Refrain wie eben und erklärten dann in der nächsten Strophe, dass sie dazu verflucht seien, in ewiger Nacht zu existieren. Der Text war melancholisch, die Musik hörte sich nach Romantic Rock an. Doch vor und hinter dem Refrain mischte sich ein harter, metallischer Beat hinein.

Dennoch: die Musik, der Text und die Erscheinung der Band war faszinierend. Corinne konnte ihren Blick nicht von ihr abwenden.

„Na, gefallen sie dir?“  LaCroix war hinter Corinne getreten und musterte sie amüsiert.

„Sie sind großartig!“ hauchte das Mädchen und zwang sich dann, ihre Augen von der Musikgruppe abzuwenden. „Guten Abend, Lucien. Tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin, aber es gab Schwierigkeiten...“

„Ach, die zehn Minuten“, tat der Vampir es ab und lächelte. „Hauptsache, du bist hier. Ich freue mich sehr, dich zu sehen.“

Er nahm sie bei der Hand und führte sie an einen größeren Tisch, etwas abseits von all den anderen, wo die beiden sich hinsetzten. Die Band hatte unterdessen mit einem neuen Lied begonnen, dem Corinne wieder aufmerksam lauschte. Diesmal handelte der Text von der Falschheit derjenigen, die sich selbst und andere belogen. Der Refrain forderte nun diese Menschen auf, damit aufzuhören, da ihr eigener Verrat sie sonst umbrächte.

Während die junge Frau wieder fasziniert die Band beobachtete, hatte Lucien Zeit, sie zu betrachten. Nach einer Weile, als sie sich wieder ihm zuwandte, meinte er: „Das ist die Band, die eventuell bereit wäre, deinen Vortrag zu begleiten. Nachdem sie erfahren haben, dass du die Frau bist, die neulich bei mir in der Sendung war, sind sie an einer Zusammenarbeit mit dir sehr interessiert und wollen dich unbedingt kennenlernen.“

„Oje, wer hat mich denn alles im Radio gehört?“ fragte Corinne.

„Ich nehme an, die meisten der hier Anwesenden“, antwortete LaCroix.

„Das heißt doch nicht etwa, dass jetzt alle Gäste wissen, dass ich es bin, die im Radio mit dir gesprochen hat?“

„Nein, nein, keine Angst!“ beruhigte Lucien sie lächelnd. „Allerdings hielt ich es für richtig, den Bandleadern davon zu erzählen, um sie für dein Vorhaben zu gewinnen.“

Die Musik war nun verstummt und die beiden Sänger kamen von der Bühne hinunter direkt auf den Tisch zu, an dem LaCroix und Corinne saßen. Der alte Vampir erhob sich und stellte dann vor: „Das hier ist Corinne Lambert, die gern mit euch zusammenarbeiten möchte.“

Die Sängerin schenkte dem Mädchen ein gewinnendes Lächeln und reichte ihr die Hand.

„Angenehm, mein Name ist Danielle – und dies hier ist mein Bruder.“

Der jüngere Mann, der Corinne ebenfalls freundlich gemustert hatte, deutete jetzt eine leichte Verbeugung an.

„Ich heiße James, aber alle meine Freunde nennen mich Jamie. Freut mich, dich persönlich kennenzulernen. Deine Ansichten im Radio haben mich wirklich sehr beeindruckt.“

„Danke!“ erwiderte Corinne und errötete heftig.

LaCroix und die beiden Sänger setzten sich nun an den Tisch, und nachdem Lucien für alle etwas zu trinken bestellt hatte, wandte sich James wieder an das Mädchen: „Wie gefällt dir unsere Musik?“

„Sehr gut“, lobte Corinne. „Alles passt wunderbar zusammen: Euer Outfit, die Musik und die Texte.“

„Lucien sagte uns, dass du eine Band suchst, die deinen Auftritt begleitet“, begann daraufhin Danielle. „Erzähl uns mehr darüber. Wie soll das Ganze ablaufen?“

„Ihr habt doch bestimmt davon gehört, dass in einigen Tagen ein Fachkongress über optische Kunst stattfindet?“ fragte Corinne.

„Ja, aber was hat das mit uns zu tun?“ wollte Danielle verwundert wissen. „Wir sind Musiker!“

„Würde es euch reizen, euren Auftritt mit allen technischen Mitteln auszuschmücken, die euch möglich sind? Mit Lichtspielen, Pyrotechnik und ähnlichem?“

„Klar!“ sagte Jamie sofort. „Das wäre großartig!“

„In der Convocation Hall könntet ihr das verwirklichen“, meinte Corinne. „Es geht darum, dass ich einen Einführungsvortrag zum Thema  >Was ist Kunst?<  halte. Und ich dachte, ich könnte dieses Referat mit einigen optischen Effekten und Musik aufpeppen. Wisst ihr, dass ihr mit euren Texten super in meinen Vortrag passt? Kunst nahm nämlich seinen Ursprung in religiösen Kulten... und so, wie ihr auftretet, mit euren Ermahnungen, als Priester einer modernen Subkultur, wärt ihr ein hervorragendes anschauliches Beispiel für meine Thesen.“

„Hört sich reizvoll an“, meinte Jamie. Auch Danielle schien interessiert zu sein.

„Natürlich müssten wir die Location erst Mal sehen!“ meinte sie dann.

„Kein Problem!“ erwiderte Corinne lächelnd. „Ich habe die Schlüssel – und wenn ihr wollt, können wir noch heute in die Convocation Hall hinein!“

Die Augen der beiden Bandleader leuchteten auf.

„Worauf warten wir noch?“ wandte sich Jamie an seine Schwester, die lächelnd nickte.

„Ich bin auch dafür hinzugehen“, meinte Danielle. „Aber wir haben Janette versprochen, bis zwölf den Laden hier musikalisch in Schwung zu halten. Wenn du so lange auf uns warten willst, Corinne?“

„Aber natürlich! Ich werde eure Musik genießen“, sagte das Mädchen. „Wie nennt sich eure Band eigentlich?“

„Wir sind The flying shadows“, klärte Jamie sie auf. Dann reichte er ihr seine Hand, während Danielle sich erhoben hatte und wieder auf die Bühne begab. „Möchtest du tanzen? Das nächste Lied singt sie nämlich allein.“

„Entschuldigst du uns?“ wandte sich Corinne an Lucien, der lächelnd nickte und amüsiert die beiden jungen Leute beobachtete, die sich zu der wieder einsetzenden Musik bewegten. Janette erschien an seiner Seite.

„Nun, Lucien, bist du denn nicht eifersüchtig?“ fragte sie erstaunt.

„Eifersucht ist etwas Sinnloses“, antwortete er ihr, ohne seinen Blick von Corinne zu wenden, deren Lebendigkeit ihn wieder einmal faszinierte. Und sie hatte so ein schönes Lachen. Die pure Lebensfreude. Es war ein Genuss, das zu spüren. Wenn es nach ihm ginge, so sollte sie ruhig ihren toten Freund vergessen. Sie war auf dem besten Wege dahin.

„Aber Jamie scheint sich auch für die Kleine zu interessieren“, murmelte Janette in seine Gedanken hinein. „Und es sieht so aus, als sei er ihr sympathisch.“

„Na und? Wenn sie ihm den Vorzug gibt, werde ich es akzeptieren“, meinte er. „Du weißt, dass Sexualität mir nicht so wichtig ist. Doch ich wäre gerne für immer ihr Freund.“

Er bemerkte mit Erstaunen, dass er sich wünschte, Corinne bliebe immer in seiner Nähe – egal, in welcher Beziehung sie beide stünden. Ewige Freundschaft war etwas Schönes. Endlich jemanden zu haben, mit dem man über alles sprechen könnte, der einen verstand... Und plötzlich war es ihm vollkommen egal, ob Corinne noch Rachegedanken gegen den Mörder ihres Freundes hegte. Für ihn sollte sie immer jung und schön bleiben... dafür würde er sorgen, sobald sie ihren Vortragsabend hinter sich hatte. Danach würde sie ihm gehören, für immer... seine beste Freundin, seine treue Gefährtin...

 

     

 „Ich kann immer noch nicht begreifen, dass sie das getan hat...“, Michael hockte bei Inge im Zimmer auf dem Bett und vergrub sein Gesicht in beide Hände. Er hatte seiner Kollegin gerade geschildert, dass Corinne ihn bei der Polizei angezeigt hatte – jedenfalls war das die Auffassung von Detectiv Schanke gewesen. Zwei Stunden hatte er den jungen Mann verhört und ihm die Auflage erteilt, Miss Lambert in Zukunft nicht mehr zu nahe zu kommen. Es war zwar nur eine mündliche Verwarnung, doch nichtsdestotrotz sehr peinlich.

„Wie konnte sie das nur tun?“ murmelte Michael. „Ich wollte doch nur mit ihr reden.“

„Warum hast du damit nicht bis zum nächsten Tag gewartet? Immerhin sagte sie dir doch, dass sie keine Zeit hat, nicht wahr?“ erwiderte Inge in sachlichem Ton, obwohl Michaels Erzählung die in ihr gewachsene Überzeugung verstärkte, dass Corinne Lambert sich seit ihrer Studienzeit von einem netten Mädchen zu einer richtigen Zicke entwickelt hatte. „Wirklich, Michael, du hättest nicht gleich so übertreiben und ihr nachfahren müssen.“

„Du weißt doch, dass ich auf Wernhers Wusch mit ihr sprechen sollte“, behauptete Michael. In Wahrheit jedoch hatte er befürchtet, dass Corinne sich wieder mit diesem zwielichtigen LaCroix  traf, und genau davon hatte er sie abhalten wollten. Irgendjemand musste sie doch vor ihren eigenen Dummheiten schützen, wenn ihre Cousine schon nicht dazu in der Lage war.

„Ich weiß, was Wernher von dir erwartete“, gab Inge zurück. „Aber der wirkliche Grund für deine Hartnäckigkeit ist deine Verliebtheit in sie, nicht wahr?“

„Na uns? Was ist so schlimm daran?“ fragte Michael unwirsch und schaute nun mit wütendem Blick zu seiner Kollegin hoch.

„Merkst du denn nicht, dass du dich dadurch selbst kaputt machst? Sieh doch endlich ein, dass Corinne nichts von dir wissen will! Ihr beide passt überhaupt nicht zusammen!“

„Ach, was weißt du denn schon?!“

„Du kennst weder ihre Familie noch teilt ihr die gleichen Interessen. Oder kannst du dich etwa dafür erwärmen, stundenlang in Museen vor irgendwelchen Exponaten zu stehen und darüber zu philosophieren, was sich der Künstler bei der Herstellung dieses Stücks gedacht hat?“

„Nun ja, das nicht gerade, aber...“

„Das ist der springende Punkt, Michael! Denn genau das liebt Corinne! Und wenn sie dann noch ihr Wissen und ihre Erkenntnisse einem breiten Publikum erklären kann, geht sie völlig darin auf – vor allem, wenn es sich dabei um Kinder handelt“, erklärte Inge in ernstem Ton und schaute ihrem Kollegen prüfend ins Gesicht. „Magst du eigentlich Kinder?“

Michael zuckte unwillig mit den Schultern, erhob sich vom Bett und ging unruhig im Zimmer hin und her.

„Was ist das für eine seltsame Frage, Inge?“

„Deine Angebetete liebt den Umgang mit Kindern – auch privat“, erklärte Inge. „Ich glaube kaum, dass sie etwas mit einem Mann anfangen kann, der diese Neigung nicht teilt; und soviel ich weiß, gehen dir schon die Kinder deines Bruders auf die Nerven, wenn sie mal für ein oder zwei Stunden zu Besuch kommen, nicht wahr?“

„Hm“, gab Michael brummend zu.

„Siehst du“, meinte Inge zufrieden. „Eigentlich habt ihr gar nichts gemeinsam! Darum solltest du dir Corinne so schnell wie möglich aus dem Kopf schlagen. Ich sage es ja nicht gerne, aber sie ist wirklich eine blöde Kuh geworden!“

Michael warf Inge einen bösen Blick zu.

„Sprich nicht so von ihr!“ blaffte er sie plötzlich an. „Sie ist durcheinander und braucht Hilfe, keine Anklagen!“

„Wenn du meinst!“ gab sie schnippisch zurück. „Wenn sie dir so wichtig ist, dann gesteh ihr doch endlich deine Gefühle!“

„Vielleicht sollte ich das wirklich tun...“, murmelte Michael. Doch bislang hatte er es nicht gewagt, um Corinne nicht zu verschrecken und sie ganz zu verlieren. Aber die Situation war nun eine andere, und wenn er sich ihr nicht erklärte, würde sie den Kontakt zu ihm ganz abbrechen... das durfte nicht sein.

„Ja, machs endlich!“ forderte Inge ihn auf, obwohl sie davon überzeugt war, dass Michael es niemals tun würde, um sich mit der Desillusionierung, die diesem Geständnis mit Sicherheit folgte, nicht auseinandersetzen zu müssen.

 ***

Bereits seit zwei Abenden probte Corinne mit den Flying shadows ihren Auftritt und es lief besser, als sie gedacht hatte. Auch heute wollte sie sich mit der Gruppe wieder in der Convocation Hall treffen. Doch vorher begleitete sie Nathalie zur Arbeit, um Don Schanke persönlich eine Einladung für den Kongress zu überreichen.

„Oh, vielen Dank!“ sagte der Polizist erfreut. „Wie komme ich zu der Ehre?“

„Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann“, erklärte Corinne lächelnd. „Immerhin haben Sie mich neulich von meinem aufdringlichen Bekannten befreit.“

„Aber das war doch selbstverständlich“, meinte Schanke leicht errötend. „Nun ja, meine Frau Myra wird sich sehr über die Einladung freuen.“

„Ich hoffe, Sie beide am Sonntagabend bei meinem Vortrag begrüßen zu dürfen?“

„Das werden wir uns nicht entgehen lassen!“ versprach Schanke.

Corinne nickte ihm freundlich zu, verabschiedete sich dann und verließ das Büro. Verträumt starrte Schanke ihr nach und behielt diesen Blick auch dann noch bei, als sie längst verschwunden war. In diesem Zustand fand ihn Nick vor, als er wenig später den Raum betrat.

„Hey, Schanke, schläfst du noch?“ sprach er seinen Kollegen an.

„Hm... was ist los?“  Erst allmählich kehrte Don in die Gegenwart zurück.

„Warum starrst du dauernd auf die Tür? Hast du einen Geist gesehen?“

„So was ähnliches... doch ich würde eher von einer Fee sprechen...“

Als Don den fragenden Blick Nicks wahrnahm, fügte er erklärend hinzu: „Nathalies Cousine war eben hier... sie ist wirklich eine Wucht!“

„Lass das bloß nicht Myra hören!“ meinte Nick und setzte sich mit süffisantem Lächeln auf seinen Platz gegenüber Schanke.

„Oh, Myra wird Corinne bestimmt ebenso mögen wie ich, wenn Sie erfährt, dass wir eine Einladung zu dieser Kongresseröffnung am Sonntag bekommen haben, die vor zwei Tagen als Großereignis in allen bekannten Tageszeitungen Torontos angekündigt wurde.“

„Die Kleine hat dich eingeladen?“ fragte Nick überrascht. „Gibt es dafür einen besonderen Grund?“

„Nun ja, ich habe ihr vor kurzem aus der Patsche geholfen, als sie ein aufdringlicher Typ verfolgte“, erklärte Schanke stolz und fühlte sich in der Erinnerung daran immer noch wie ein Held. Nicholas hingegen wurde hellhörig.

„Wer war es?“ wollte er wissen.

„Ein gewisser Fernandez, der behauptete, ein guter Freund von Nathalies Cousine zu sein. Aber Corinne hatte mich zuvor darüber aufgeklärt, dass das nicht stimmt“, antwortete Schanke. „Ich habe ihn in aller Schärfe darauf hingewiesen, dass es mächtigen Ärger gibt, wenn er der jungen Dame noch einmal in unangenehmer Weise zu nahe kommt.“

„Dann wollen wir mal hoffen, dass es etwas gebracht hat“, meinte Nick, aber in seinem Kopf arbeitete es. Fernandez? Der Name sagte ihm erst Mal nichts, aber er erinnerte sich noch genau an die Szene, die sich vor dem Raven abgespielt hatte. Ob Fernandez der junge Mann war, der Corinne damals unvermutet angesprochen und auf den sie schimpfend losgegangen war? Man sollte vielleicht doch einen näheren Blick auf ihn werfen...

***

 Am selben Vormittag hatte sich Michael, durch Inges Worte ermutigt, unter dem Vorwand, ein Bekannter der Familie Lambert zu sein und eine wichtige Nachricht von Corinnes Eltern an ihre Tochter zu haben, im Sekretariat der Kongressleitung nach seiner Angebeteten erkundigt.

„Oh, Miss Lambert finden Sie bestimmt in der Convocation Hall“, meinte die Sekretärin freundlich. „Schließlich liegt es auch im Interesse der jungen Dame, dass bei dem Event am Sonntagabend alles reibungslos abläuft.“

„Event?“ wunderte sich Michael.

„Ja, Miss Lambert plant, ihren Vortrag durch optische und akustische Beispiele anschaulich zu machen. Dazu sind allerdings – wie Sie sich bestimmt denken können – einige Vorbereitungen nötig. Deswegen hat Professor Huus ihr doch einen Schlüsselsatz für das Gebäude und die Räume überlassen, damit alles Nötige aufgebaut und installiert werden kann.“

Nachdem er diese Information erhalten hatte, versuchte Michael ein paar Mal an diesem Tag erfolglos, Corinne in der Convocation Hall zu treffen. Aber entweder war das Gebäude verschlossen oder es waren andere Leute dort, die damit beschäftigt waren, die restlichen Ausstellungsstücke in die Vorhalle zu bringen, dort aufzubauen oder an die Wand zu hängen. Doch für die Kunstwerke hatte Michael keinen Blick übrig. Da er Corinne nirgendwo sehen konnte, beschloss er, auf sie zu warten. Aber als sie gegen 12.00 Uhr immer noch nicht erschienen war, gab er es schließlich auf, denn in einer halben Stunde hatte er eine dienstliche Besprechung mit Teichert, für den er noch einige Arbeiten, die dessen Referat betrafen, erledigen musste. Dies nahm dann den Rest des Tages in Anspruch. Erst ab halb zehn fand Michael wieder Zeit, um in die Convocation Hall aufzubrechen – und er machte sich unversehens auf den Weg dahin...

 ***

Nachdem sie Schanke die Einladung übergeben hatte, war Corinne geradewegs in die Convocation Hall gegangen. Als sie das Gebäude betrat, hörte sie bereits die Musik der Flying shadows aus dem großen Saal. In ihren Ohren klang es wunderbar und sie war froh, dass Lucien sie mit solchen Profis zusammengebracht hatte. Allerdings bedauerte sie, dass er selbst keine Zeit fand, ihren Proben beizuwohnen, so dass sie sich seit zwei Tagen nicht mehr gesehen hatten. Um sich von ihrer Sehnsucht nach ihrem neuen Freund abzulenken, widmete sie sich verstärkt den Vorbereitungen für Sonntagabend.

Nachdem die Flying shadows das Lied gespielt hatten, dass als erstes geplant war, stieg Corinne wie vorgesehen auf das Podium, trat an das Rednerpult und trug ihr Referat vor, das immer wieder von Musik- und Gesangseinlagen der Gruppe untermalt wurde. Danach diskutierten das Mädchen und die Band darüber, was man noch besser machen könnte.

Gegen 22.00 Uhr machten sie eine kleine Pause und Jamie gesellte sich zu Corinne aufs Podium.

„Heute Nacht werden wir noch die letzten technischen Effekte ausarbeiten und morgen bei der Generalprobe sehen wir, ob es so klappt, wie du es dir vorgestellt hast“, meinte der Sänger.

„Eure Erwartungen sollen doch auch erfüllt werden, nicht nur meine!“ protestierte Corinne leicht, doch Jamie lachte nur.

„Das werden sie schon, keine Sorge. Es sind ja nur noch Kleinigkeiten! – Ich muss gestehen, ich bin sehr gespannt auf die Reaktionen des Publikums übermorgen.“

„Ja, ich auch“, gab Corinne zu. „Ich hoffe nur, dass den Leuten mein Vortrag ebenso gut gefällt wie eure Darbietung.“

„Meinst du denn, dass wir mit unserer Musik gut ankommen werden?“

„Klar! Wem würde euer Auftritt nicht gefallen? Ihr seid einfach großartig – und eure Texte regen zum Nachdenken an.“

„Danke!“ meinte Jamie. „Es freut mich, dass du unsere Musik zu schätzen weißt!“

„Ich weiß es auch sehr zu schätzen, dass ihr bereit wart, mir bei der Gestaltung meines Vortrags zu helfen, obwohl wir so wenig Zeit hatten“, sagte Corinne. „Wie kann ich euch jemals dafür danken?“

„Ist schon gut“, wehrte der Sänger mit verlegenem Lächeln ab. „Dieser Auftritt verschafft uns sicherlich einen größeren Bekanntheitsgrad. Es wäre schön, wenn wir unsere Musik nicht nur in diversen Nachtclubs singen müssten.“

„Ich wünsche euch jedenfalls sehr viel Erfolg!“ sagte das Mädchen in herzlichem Ton. „Oh, ehe ich es vergesse: Die Kongressleitung hat mir für euch einige Einladungsschreiben geschickt. Jeder aus eurer Band darf zwei Freunde zu der Tagung einladen.“

Corinne bückte sich und holte aus ihrer Mappe einen großen Umschlag, den sie Jamie überreichte.

„Hast du auch jemanden eingeladen?“ wollte der Sänger wissen.

„Natürlich! Ich habe Lucien, meine Cousine und Mr. Schanke eingeladen, die jeweils eine Begleitperson mitbringen dürfen“, antwortete Corinne unbefangen.

„Du magst Lucien wohl sehr?“ fragte Jamie und schaute sie aufmerksam an.

„Ja, sehr“, gab das Mädchen zu und senkte ihren Blick. Eine sanfte Röte glitt über ihre Wangen. „Schade, dass er im Moment keine Zeit hat, um unseren Proben beizuwohnen.“

„Er würde sich sowieso nur langweilen“, meinte Jamie leichthin und grinste. „Glaub mir, ihm genügt es, wenn er das Resultat am Sonntagabend sieht.“

„Ich vermisse ihn ein wenig“, sagte Corinne.

„Was für ein beneidenswerter Mann...“, seufzte Jamie. „Aber natürlich freue ich mich auch, wenn du mit ihm glücklich wirst. Ich glaube nämlich, er mag dich sehr, sonst hätte er dir den Kontakt mit uns nicht vermittelt...“

„Wie meinst du das, Jamie?“

„Das soll er dir bei Gelegenheit selbst erzählen“, wehrte der Sänger ab. „Meinst du, wir beide könnten gute Freunde werden?“

„Aber ja, warum nicht? Ich finde dich und deine Band sehr sympathisch.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, Corinne... Aber ich nehme an, Lucien kommt an erster Stelle, nicht wahr?“

„Ja, ich denke schon!“ 

Die junge Frau lächelte Jamie mit offenem Blick an, während sich ihre Gesichtsfarbe noch einen Ton dunkler färbte. Der Sänger nickte und grinste etwas. Dann nahm er Corinnes Hand, führte sie zum Mund und hauchte einen leichten Kuss drauf.

In eben diesem Augenblick knallte jemand die Tür des Vortragssaales zu. Die Augen aller Anwesenden fuhren in diese Richtung und erblickten einen jungen Mann mit zornrotem Kopf, der in lautem, vorwurfsvollem Ton schrie: „Aha! Das also ist es, was du hier treibst!“

„Michael Fernandez!“ ließ sich Corinne nun in ebenso lautem Ton vernehmen. „Du hast hier nichts zu suchen! Wir proben für unseren Auftritt am Sonntag!“

„Seit wann muss man ein Referat proben? Noch dazu mit einem Aufgebot an Musikern?!“ fragte Michael so aufgebracht, dass seine Stimme durch den Saal dröhnte.

„Das wirst du schon sehen, wenn es soweit ist!“ erwiderte Corinne ärgerlich. „Verschwinde jetzt endlich!“

Doch statt dieser Aufforderung zu folgen, kam Michael zu ihr auf das Podium herauf.

„Hey, Mann, du hast hier nichts zu suchen!“ mischte sich nun Jamie ein, fasste den Eindringlich vorne am Kragen und führte ihn mit eisernem Griff wieder herunter. Dann warf er ihn zu Boden und bedachte ihn mit einem so stechenden Blick, dass er Michael unwillkürlich an LaCroix erinnerte. Doch da dieser nicht anwesend zu sein schien, erhob sich der Sterbliche mit einem Gefühl enormer Erleichterung sofort wieder. Dabei ignorierte er den dunkelhaarigen, blassen Mann, der immer noch mit drohendem Blick vor ihm stand, und orientierte sich nur an Corinne, die vom Podium auf ihn hinunterblickte. Sie erschien Michael in diesem Augenblick so arrogant und kalt, dass er in sich zum ersten Mal ein leichtes Hassgefühl auf das Mädchen wahrnahm. In diesem Augenblick glaubte er deutlich zu spüren, dass sie ihn ablehnte, dass sie ihn wohl niemals so lieben würde, wie er es sich wünschte – und dieses grässliche Gefühl der unerwiderten Liebe schmerzte entsetzlich. Verzweiflung machte sich in ihm breit; und die Urheberin derselben stand immer noch auf dem Podium, ohne ein Wort zu sagen. Sie starrte ihn einfach nur an. Und immer noch kam sie ihm arrogant und kalt vor. In diesem Augenblick fühlte er sich maßlos von ihr hintergangen. Dabei vergaß er die Tatsache, dass Corinne weder von seinen Gefühlen etwas ahnte noch ihn je in irgendeiner Form ermutigt hatte. Zu tief saß der Stachel, von ihr abgelehnt zu werden. Er erinnerte sich, wie sie ihn bei diesem Schanke dargestellt haben musste... Ja, sie war Schuld an all seinen Qualen... diese kleine Hexe... zu jedem war sie nett – außer zu ihm. Nicht einmal zuhören wollte sie ihm...  den Kontakt abbrechen lassen... Na ja, wenn er ein einflussreicher Mann wäre, dann würde sie ihm sicher zu Füßen liegen...

Dieser plötzliche Gedanke schien ihm auf einmal die Augen über ihren Charakter zu öffnen. Warum war er nicht früher darauf gekommen? Es war doch so offensichtlich...

Über Michaels Züge glitt nun ein hämisches Lächeln und er rief: „Ja, ein so schönes Mädchen wie du müsste man sein. Dann wäre es egal, ob man etwas in der Birne hat oder nicht! Dann geht man halt einfach zu den verantwortlichen Herren, wirft ihnen aufreizende Blicke zu und bietet vielleicht noch mehr, damit man sein Ziel erreicht! Wen interessiert da schon deine mangelnde, fachliche Kompetenz! Wie weit bist du denn gegangen, um Huus dazu zu bringen, deine Sonderwünsche zu erfüllen?“

Corinne starrte Michael einen Augenblick sprachlos an, als käme er von einem anderen Stern. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Ich weiß zwar nicht genau, was du mir damit eigentlich sagen willst, aber es klingt wie eine Beleidigung“, gab sie in kühlem Ton zurück. Ihr Innerstes jedoch war aufgewühlt, denn sie ahnte, worauf Michael hinaus wollte.

„Nein, Corinne, es ist keine Beleidigung, sondern nur eine Feststellung“, sagte ihr ehemaliger Kommilitone in hochmütigem Ton. „Mich interessiert aber vor allem, mit wem du sonst noch alles ins Bett gehst, um deine Ziele zu erreichen? Was kann ich beispielsweise machen, damit du mir eine Nacht schenkst?!“

„Du widerlicher Crétin!“ stieß Corinne hervor, sichtlich bemüht, die Fassung zu bewahren.

„Ja, spiel nur die Spröde! Mit dieser Nummer bist du bis jetzt ganz gut gefahren, du kleine...“, doch weiter kam Michael nicht. Ein fester, schmerzhafter Tritt in den Magen, der ihn zu Boden sinken ließ, unterbrach seine boshaften Andeutungen – und während er versuchte, wieder aufzustehen, folgte ein weiterer Tritt in sein Hinterteil. Michael lag bäuchlings auf dem glatten Boden. Jamie beugte sich über ihn und zischte: „Niemand beleidigt hier eine Lady! Am wenigsten so ein Stück Dreck wie du!“

Obwohl Michael immer noch Schmerzen verspürte, lachte er kurz auf und keuchte: „Ah, hat sie dich auch schon eingewickelt, ja?... Dieses kleine Miststück ist alles andere als eine Lady...“

Diese Bemerkung brachte ihm erneut einige Tritte des Sängers in die Seiten ein, was ihn laut aufstöhnen ließ.

„Hör auf, Jamie!“ rief Corinne. Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen. „Er ist es nicht wert, dass du dir seinetwegen eine Anzeige wegen Körperverletzung einhandelst.“

„Der Typ zeigt mich nicht an!“ meinte der Sänger selbstbewusst. Er hatte für einen kurzen Moment seinen Blick zu ihr erhoben und sah, in welchem Zustand sie sich befand. Wütend richtete er daraufhin seine Augen wieder auf Michael und murmelte: „Jetzt ist es an der Zeit für dich, von hier zu verschwinden!“

Ehe der junge Mann es sich versah, hob Jamie ihn mit beiden Händen hoch und zerrte ihn gewaltsam aus dem Saal. Michael staunte über die Körperkraft des schlanken Sängers, der offensichtlich über keinerlei Muskelpakete an den Armen verfügte... und dennoch schien es ihm ein Leichtes, ihn bis zur vorderen Eingangstür zu schleppen und ihn mit einem erneuten Fußtritt in den Hintern ins Freie zu befördern.

„Lauf mir nie wieder über den Weg!“ zischte Jamie ihm hinterher. „Denn wenn du mir noch einmal dumm kommst oder Corinne in irgendeiner Weise verletzt, dann bist du dran!“

Michael blieb einen Augenblick auf dem Fußweg liegen und versuchte, das soeben Erlebte innerlich zu verarbeiten. Himmel, welchen Umgang pflegte Corinne nur! Diese in schwarzem Leder verpackten Typen sahen alles andere als vertrauenerweckend aus. Aber sie schien sie cool zu finden. Trotzdem erklärte das noch nicht, was sie bei ihrem Vortrag zu suchen hatten... das konnte doch alles nicht gut gehen!

Und er, wie hatte er sich überhaupt dort drin benommen? War es wirklich er gewesen, der sie beinahe als kleine Hure beschimpft hätte? War es wirklich er gewesen, der ihr unterstellt hatte, sich jedem sexuell hinzugeben, der ihr Vorteile verschaffen konnte...?

Michael erhob sich langsam und machte sich klar, dass er Corinne gerade unentschuldbar beleidigt hatte – warum auch ließ sie sich von diesem dunkelhaarigen Stachelschwein die Hand küssen! Niemand durfte sie anrühren – niemand außer ihm!

 

Nachdem Jamie Michael aus dem Vortragssaal geschleppt hatte, herrschte dort Totenstille. Niemand schien einen Laut von sich geben zu wollen. Corinne fühlte, dass die Bandmitglieder sie beobachteten. Sie schämte sich sehr dafür, wie Michael sie beschimpft hatte, und hoffte, dass keiner der Anwesenden seinen Behauptungen Glauben schenkte. Gleichzeitig fragte sie sich, wie ihr Bekannter überhaupt auf solch absurde und unverschämte Unterstellungen kam? Sie konnte sich nicht erinnern, ihm je einen Anlass dazu gegeben zu haben – aber er führte sich auf, als sei sie seine Feindin!

An eine Weiterarbeit ihrerseits war jetzt nicht mehr zu denken. Sie war zu aufgewühlt, um noch einen klaren Gedanken fassen zu können, und wollte nur noch weg!

Corinne schlüpfte in ihren Mantel und packte ihre Sachen in die Mappe, die sie dann unter den Arm klemmte. In diesem Augenblick kehrte Jamie zurück.

„Du willst schon gehen?“ fragte er.

Sie nickte stumm.

„Doch nicht etwa wegen dieser charakterlosen Kreatur, die eben hier war?“ Jamie betonte das Wort  >Kreatur< , indem er es gedehnt aussprach und dabei seine Lippen kräuselte. Dann warf er plötzlich seinen Kopf zurück und rief theatralisch, wobei er Grimassen schnitt und versuchte, Michaels Tonfall zu imitieren: „Das ist es also, was du hier treibst! – Oh, seit wann muss man ein Referat proben? Noch dazu mit Musikern... du böses, böses Mädchen... schäm dich... einem Crétin wie mir nicht zuhören zu wollen... Pfui!“

Corinne musste unwillkürlich lachen, wobei ihr die nur mühsam unterdrückten Tränen aus den Augen quollen und über die Wangen liefen. Jamie grinste zufrieden. Er wollte nicht, dass sich die Kleine wegen solch einer unbedeutenden und vorübergehenden Erscheinung wie diesem unverschämten Menschen grämte. Danielle schien der gleiche Gedanke gekommen zu sein, denn sie tauchte nun auf dem Podium auf und meinte in sanftem Ton: „Du solltest dir nicht weiter den Kopf über solch einen Hohlkopf zerbrechen. Er ist einer jener Idioten, die nicht glauben, dass schöne Frauen auch klug sein können. Das verrät einerseits, wie sehr er dich beneidet, und andererseits, dass er nicht das bekommt, was er will. Sein einziges Mittel, um sich abzureagieren, sind Beleidigungen.“

Corinne wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und wandte sich dann erstaunt der Sängerin zu: „Wie meinst du damit – er bekommt nicht, was er will?“

„Ach, Kleines, kannst du dir das wirklich nicht denken?“

Dem Mädchen kam plötzlich Luciens Andeutung in den Sinn, Michael könne verliebt in sie sein. Aber führte sich denn ein verliebter Mann derart ekelhaft auf?

Corinne schüttelte unwillig den Kopf, was Danielle als Verneinung ihrer eben gestellten Frage auffasste.

„Nun, dieser Hohlkopf von eben ist zwar nur Abschaum, aber ich rate dir dringend, in nächster Zeit nicht mehr allein auszugehen“, sagte die Sängerin.

„Du meinst doch nicht etwa, Michael lauert mir auf?“ fragte Corinne ungläubig.

„Das ist nicht auszuschließen“, erwiderte Danielle in ernstem Ton. „Er war doch nicht mehr Herr seiner selbst. Bei solchen Menschen muss man mit allem rechnen.“

„Ich bringe dich nach Hause, Corinne“, bot Jamie sofort an.

„NICHT NÖTIG!“ LaCroix stand am Eingang des Saales, worüber sich die junge Frau etwas wunderte, denn sie hatte nicht gehört, dass die Tür geöffnet worden war.

„Ich werde Corinne nach Hause begleiten!“ sagte der alte Vampir in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Die beiden Sänger nickten und verabschiedeten sich von dem Mädchen, wobei Danielle es nicht lassen konnte, ihr ins Ohr zu flüstern: „Bitte, vergiss, was dieser Michael gesagt hat. Du bist eine kluge Frau... daran darfst du niemals zweifeln.“

Diese Worte taten Corinne gut und sie fühlte sich ein wenig besser. Danielle schien zu wissen, was in ihr vorging. Vielleicht hatte sie schon etwas Ähnliches erlebt?

Gerührt winkte das Mädchen der gesamten Band zu und ging dann hinunter zu Lucien, der die Tür öffnete und ihr den Vortritt ließ. Sobald die beiden allein draußen im Flur standen, wandte sich Corinne ihrem Begleiter zu: „Lucien, es ist...“

„Sch...“, unterbrach sie dieser und legte ihr einen Finger auf die Lippen. Dann fuhr er leise fort: „Du brauchst mir nichts zu erzählen. Ich habe genug mitgekriegt, um mir meinen Teil zu denken.“

„Weißt du, Lucien, ich verstehe einfach nicht, warum Michael sich mir gegenüber so benimmt – warum er mich in der Öffentlichkeit beschimpft. Ich habe ihm nichts Böses getan.“

„Komm, ich bringe dich jetzt nach Hause“, erwiderte LaCroix in ruhigem Ton und legte mit größter Selbstverständlichkeit seinen Arm um ihre Schultern. „Es ist reine Zeitverschwendung, wenn du dir Gedanken um das Verhalten deines Bekannten machst.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, meinte Corinne und verließ mit ihm langsam das Gebäude. „Es ist nur... ich fühle mich so verletzt durch seine Worte...“

„Ich weiß...“, sanft bog Lucien ihren Kopf ein wenig zurück und drückte ihr zärtlich einen Kuss auf die Stirn. „Eines Tages, ma chère, wird er für all das bezahlen, was er dir angetan hat.“

„Es ist mir unbegreiflich, was mit Michael los ist. Diese merkwürdigen Verhaltensweisen sind mir an ihm völlig fremd“, murmelte Corinne mit leichtem Kopfschütteln, ohne auf die letzte Bemerkung ihres Begleiters einzugehen. „Vor zwei Tagen hat er mich sogar mit dem Taxi verfolgt, so dass ich gezwungen war, einen Umweg zu nehmen.“

„Ach, deshalb bist du später zu unserer Verabredung gekommen?“ entfuhr es LaCroix überrascht. Dieser Fernandez wurde ihm allmählich lästig, auch wenn es zunächst ganz amüsant gewesen war, ihn zu provozieren. Es wäre vielleicht besser, ihn zu beseitigen - Rache hin oder her... Es war nicht mehr so wichtig, derlei Gelüste in Corinne zum Vorschein zu bringen. Bald würde sie sowieso ein dunkler Engel sein. Bis dahin sollte dieser ahnungslose, kleine Schmetterling so wenig wie möglich leiden...

Der Vampir spürte, dass sie immer noch aufgewühlt war, dass sie lautlos weinte und ihr Körper leicht zitterte. Es schmerzte ihn. Oh, wie sehr er diesen Fernandez hasste!

Wortlos zog er sie noch ein wenig enger an sich. Schweigend gingen beide zu Fuß den langen Weg bis zu dem Hochhaus, in dem Nathalie wohnte, und fuhren mit dem Aufzug hinauf bis zu deren Appartement. Als Corinne die Haustür aufgeschlossen hatte, wollte LaCroix sich verabschieden, aber sie ergriff schnell seinen rechten Arm und rief: „Nein, Lucien, bitte geh nicht!“

Auf seinen fragenden Blick, erklärte sie: „Ich möchte jetzt nicht allein sein. Bitte, komm doch rein und bleib bei mir!“

„Meinst du denn, es wäre Dr. Lambert recht?“

„Sie ist in der Nachtschicht.“

„Dennoch, es ist ihre Wohnung...“

„Aber ich bin ganz alleine hier...“, Corinne sah LaCroix mit flehendem Blick an. „Michael könnte hier auftauchen... ich habe Angst, Lucien!“

„Es wird es schon nicht wagen, dich hier zu belästigen!“ meinte der Vampir beruhigend und strich ihr sanft über die Wange.

„Michael weiß bestimmt, dass Nathalie nicht da ist“, erwiderte Corinne unbeirrt. „Vor zwei Tagen stand er plötzlich abends vor der Tür... und dann verfolgte er mich...“

„Das ist ja unglaublich!“ entfuhr es dem Vampir wütend. Dann warf er einen lauernden Blick auf die junge Frau und murmelte: „Es liegt in meiner Macht, ihn verschwinden zu lassen. Soll ich es tun?“

„Weder du noch Jamie noch ein anderer meiner Freunde sollen wegen diesem Idioten in Schwierigkeiten kommen“, antwortete Corinne besorgt. „Er wird nach dem Kongress ohnehin nach Frankfurt zurückkehren. Dann habe ich bestimmt Ruhe vor ihm!“

„So? Bist du sicher, mein Mädchen?“ fragte LaCroix enttäuscht, dem die Vorstellung behagte, seinen Hunger an Fernandez zu stillen. „Ich tue alles für dich, ma chère.“

„Dann bleib heute Nacht bei mir!“ forderte ihn das Mädchen auf. Der Vampir nickte, trat in das Appartement ein und half ihr dabei, ihren Mantel abzulegen. Danach folgte er ihr in das Wohnzimmer.

„Bitte, setz dich doch, Lucien. Was möchtest du trinken?“

Seine Augen leuchteten kurz auf, ehe er erwiderte: „Nichts!“

„Ich kann dir auch eine Kleinigkeit zu essen machen“, bot Corinne ihm an.

„Nein, nein! Ich will nichts“, sagte er. „Und du solltest lieber schlafen gehen.“

„Ich glaube nicht, dass ich ein Auge zubekomme“, meinte Corinne.

„Dann komm her zu mir“, murmelte LaCroix und streckte seinen Arm nach ihr aus. Sofort ließ sich Corinne neben ihm auf das Sofa nieder und schmiegte ihren Kopf hilfesuchend an seine Schulter. Er spürte, wie sehr sie zitterte, und sein Beschützerinstinkt verstärkte sich.

„Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin jetzt hier“, murmelte LaCroix in beruhigendem Ton und streichelte unwillkürlich über ihren Rücken. Er vergrub sein Gesicht in ihrem dichten, seidigen Haar und nahm ihren Duft sich auf. Sie roch leicht nach Puder... ein unschuldiger Kindergeruch, der zu diesem zarten Geschöpf passte. Nach einer Weile schaute Corinne zu ihm auf und küsste vorsichtig seine Lippen. Er erwiderte behutsam diesen Kuss. Das Mädchen lächelte ihn scheu an.

„Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe“, flüsterte sie. „Du respektierst mich, du hilfst mir und du behandelst mich wie eine Frau. Das ist so schön... ich fühle mich sehr wohl mit dir, Lucien.“

„Das freut mich“, brummte er leise und begann mit einer Hand, ihr Gesicht zu streicheln. Dabei sah er sie unverwandt an, so dass sie das Gefühl hatte, in seinen Augen zu versinken. Zu gern würde sie sich fallen lassen...

„In welchem Zimmer schläfst du, Corinne?“

Als sie es ihm zeigte, hob er sie auf seine Arme und trug sie hinein. Er legte sie auf das Bett und sie konnte es kaum erwarten, dass er die Knöpfe ihrer Bluse öffnen und seine Hände gleich ihren Körper erkunden würden...  Voller Sehnsucht schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn erneut, jedoch fordernder. Diesmal allerdings erwiderte Lucien diesen Kuss nicht, sondern löste sich mit sanfter Gewalt aus ihrer Umarmung.

„Was ist los?“ fragte Corinne erstaunt.

LaCroix hatte sich mittlerweile auf den Rand ihres Bettes gesetzt und lächelte sie an. Sein Blick war zärtlich und seine Stimme sanft, als er erwiderte: „Du bist wirklich eine sehr begehrenswerte junge Frau, aber noch nicht dazu bereit, mit mir zu schlafen.“

„Ich will es wirklich, Lucien!“

„Nein, Corinne!“ widersprach LaCroix in ruhigem Ton, während er ihr sacht über die Wangen strich. „Du bist im Augenblick sehr aufgewühlt und suchst einen Halt. Mag sein, dass du deswegen das Gefühl hast, mit mir schlafen zu wollen. Aber glaub mir, kleiner Schmetterling, dem ist nicht so.“

„Ich fühle mich so geborgen bei dir“, murmelte Corinne, richtete sich halb auf und wollte ihn erneut umarmen, doch er wehrte es ab.

„Ach bitte, Lucien!“

Der Vampir hielt ihre Hände fest und schüttelte den Kopf.

„Nein, Corinne, ich bin nicht so gewissenlos, diese Situation auszunutzen. Dazu mag ich dich viel zu sehr. Du bist etwas ganz Besonderes.“

Die junge Frau ließ sich zurückfallen, drehte sich auf die Seite, vergrub ihr Gesicht in den Kissen und begann zu schluchzen. Wortlos fuhr LaCroix mit einer Hand noch einmal durch ihr schwarzes Haar, das im spärlichen Licht, welches aus dem Wohnzimmer direkt darauf fiel, bläulich schimmerte. Seufzend stand er auf und murmelte: „Gute Nacht, mein kleiner Schmetterling, und fürchte dich nicht. Ich werde deinen Schlaf bewachen.“

Er verließ den Raum und schloss leise die Zimmertür hinter sich. Corinne hörte seine Schritte nur für einen kurzen Augenblick, dann war es still. Lucien schien sich irgendwo im Wohnzimmer hingesetzt zu haben und wirklich sein Wort halten zu wollen. Corinne, die immer noch enttäuscht darüber war, dass er sie allein gelassen hatte, lauschte angespannt, ob er es sich vielleicht doch anders überlegen und zu ihr zurückkommen würde. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, zu ihm ins Wohnzimmer zu gehen, verwarf diese Idee dann aber wieder. Je mehr sie über seine Worte nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass Lucien sich ihr gegenüber wie ein richtiger Gentleman verhielt und sie froh sein konnte, solch einen Freund an ihrer Seite zu haben.

 ***

Genau wie Danielle vermutet hatte, wartete Michael draußen auf Corinne. Da er jedoch damit rechnete, dass sie sich in Begleitung befinden würde, verbarg er sich hinter einem Baum, von dem aus er den Eingang der Halle gut im Blick hatte. Er wollte sich unbedingt bei Corinne für sein unmögliches Verhalten entschuldigen, da er sich mittlerweile sehr für die Worte schämte, die er dem geliebten Mädchen an den Kopf geworfen hatte. Natürlich hoffte er, dass sie ihm verzieh und dass er sie davon überzeugen konnte, den Kontakt zu dieser merkwürdigen Gruppe, mit der sie gerade zusammen war, abzubrechen.

Ein paar Minuten später ging die Eingangstür der Convocation Hall auf und Corinne kam mit einem großen Mann heraus, der seinen Arm um sie gelegt hatte und in dem Michael sofort LaCroix wiedererkannte. Dies irritierte den jungen Mann etwas, denn er hatte diesen weder im Inneren der Halle gesehen noch bemerkt, dass jemand in das Gebäude hineingegangen war, obwohl er die Tür desselben doch die ganze Zeit im Auge behalten hatte.

Dann folgte etwas, dass abermals leichte Eifersucht in Michael entfachte: Corinne ließ sich von diesem LaCroix auf die Stirn küssen! Am liebsten wäre er dazwischen gefahren, aber eine erneute körperliche Auseinandersetzung wie eben würde er wahrscheinlich nicht durchhalten. Um dies zu vermeiden, folgte er den beiden in weitem Abstand. Dennoch konnte Michael erkennen, dass Corinne weinte und ihr Körper unmerklich zitterte. Seine gerade eben aufgeflammte Eifersucht verflog sofort und machte seinem Schamgefühl Platz. Statt ihr seine Liebe zu gestehen, hatte er sich dazu hinreißen lassen, Corinne zu beleidigen, wobei er sich immer noch fragte, wie das passieren konnte.

Michael gab seine Verfolgung nicht auf, obwohl es ein sehr weiter Weg zu dem Haus war, in dem Dr. Lambert wohnte. Der junge Mann war der festen Überzeugung, dass Corinne ihm seine Unverschämtheiten verzieh und er ihr dann endlich gestehen könnte, was er für sie empfand. Allerdings sah er seine Hoffnungen zunichte gemacht, als LaCroix mit dem Mädchen ins Haus ging und nicht wieder zurückkam. In Michaels Kopf arbeitete es heftig. Sollte er das Risiko auf sich nehmen und bei Dr. Lambert klingeln?

Immer noch unschlüssig, näherte sich Michael der Eingangstür des Hochhauses und starrte auf die Klingelknöpfe. In der siebten Reihe entdeckte er schließlich den Namen von Dr. Nathalie Lambert. Es wäre so einfach, jetzt zu klingeln. Zumindest erreichte er damit, ein eventuell stattfindendes Tête-à-tête zwischen Corinne und LaCroix zu stören. Dieser Gedanke bereitete ihm Vergnügen und er hob den Finger...

„Denken Sie nicht einmal daran, Fernandez!“

Erschrocken fuhr Michael herum. Dicht hinter ihm stand LaCroix.

„Wie kommen Sie hierher?!“ keuchte der junge Mann.

„Das spielt keine Rolle!“ erwiderte der Vampir in strengem Ton und starrte seinen Rivalen an. „Was wollen Sie hier, Fernandez? Meinen Sie nicht, dass Sie heute schon genug Unheil angerichtet haben?!“

„Dass ich Corinne verletzt habe, tut mir leid!“ sagte Michael und hielt dem unangenehm stechenden Blick der eisblauen Augen LaCroix’ stand. „Aber ich werde alles tun, um sie vor solchen Personen wie Sie zu schützen.“

„So, so! Wie wollen Sie das denn anstellen?“ spottete Lucien. „Zumal Ihnen sicherlich klar sein muss, dass Corinne Sie weder sehen noch mit Ihnen sprechen will.“

„Sie wird mich anhören“, gab Michael zurück, wandte sich um und wollte gerade klingeln, als LaCroix ihn am Genick packte und aus dem beleuchteten Eingangsbereich blitzschnell in eine dunklere Ecke zog, in der Mülltonnen standen. Dann drehte er Michael zu sich herum, presste ihn gegen die Mauer des Hauses, legte ihm eine seiner großen Hände um den Hals und würgte ihn leicht. Der junge Mann rang verzweifelt nach Atem.

„Halten Sie sich in Zukunft von Corinne fern, Fernandez!“ zischte ihm der Vampir ins Ohr. Dann ließ er endlich von Michael ab, der gierig nach Luft schnappte. Entsetzt starrte er dann LaCroix an und ihm dämmerte es langsam, dass weder dieser noch der blasse, dunkelhaarige Mann namens Jamie normale Menschen sein konnten.

„Ich hoffe, Sie haben mich verstanden?!“ fragte LaCroix mit drohender Stimme.

Michael nickte stumm. Ein grimmiges Lächeln huschte über das Gesicht des Vampirs.

„Schön!“ murmelte Lucien dann, wobei er den drohenden Unterton beibehielt. „Dann verschwinden Sie jetzt. Und merken Sie sich, Fernandez: Sollten Sie Corinne je wieder weh tun, sind Sie ein toter Mann!“

Mit großer Befriedigung beobachtete LaCroix, wie schnell der junge Sterbliche davonrannte. Dann flog er selbst in rasender Geschwindigkeit zurück in das mittlerweile finstere Wohnzimmer von Nathalie. Er hatte das Licht ausgeschaltet, da er es nicht brauchte, um sich im Dunkeln zurechtzufinden. Langsam näherte er sich der Tür des Gästezimmers, in dem Corinne lag, und öffnete sie leise. Die regelmäßigen Atemzüge der jungen Frau verrieten ihm, dass sie fest schlief. Vorsichtig ging er zu ihr hin, setzte sich auf den Bettrand und schaute sie eine Weile wohlgefällig an. Dann beugte er sich über sie und küsste sanft ihren weichen Mund. Es tat ihm wirklich leid, dass er sie vorhin so rüde abweisen musste, aber jetzt war noch nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit ihr zu vereinen. Die Gefahr war zu groß gewesen, dass er sie in seiner Leidenschaft gebissen und ausgesaugt hätte. Außerdem war die störende Gegenwart dieses Fernandez für ihn immer spürbarer geworden. Zu schade, dass Corinne ihm nicht gestattet hatte, den Sterblichen zu beseitigen. Doch vorerst musste es ihm genügen, dass der kleine Schmetterling eine friedliche Nachtruhe haben würde...

LaCroix streichelte ihr erneut über das Gesicht und das Haar, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ dann das Appartement durch das offenstehende Fenster im Wohnzimmer...

 

Am Abend des 22. September betrat Nathalie gegen 21.00 Uhr in Begleitung von Nicholas die Convocation Hall, in der sich schon sehr viele Leute aufhielten, die sich interessiert die Exponate oder Bilder betrachteten, die in den Vorräumen des großen Saales, in dem in etwa 20 Minuten der Einführungsvortrag des Fachkongresses über  >Sinn und Unsinn der optischen Kunst<  stattfinden würde, ausgestellt oder aufgehängt waren.

„Donnerwetter, da haben sich die Verantwortlichen wirklich alle Mühe gegeben“, meinte Nick, der nach einem kurzen Blick glaubte, dass ihm von all den Werken schwindlig werden würde. „Ist etwa das gesamte Kunstmuseum für diese fünf Tage ausgeplündert worden?“

„Nun ja, Corinne erzählte mir, dass das Institut für Fine Arts sowie das Royal Ontario Museum diese Tagung zusammen organisiert haben. Der Kongressleiter hat außerdem pädagogische Ambitionen, denn er möchte möglichst vielen Menschen aller Schichten die Kunst nahe bringen“, erwiderte Nathalie, der es im Gegensatz zu ihrem Begleiter zu gefallen schien. Mit glänzenden Augen schaute sie sich um. „Außerdem sind auch Werke von noch unbekannten jungen Künstlern ausgestellt, denen man eine Chance geben will, entdeckt zu werden.“

„Mir scheint das alles zu viel des Guten, Nat. Man weiß ja gar nicht, wo man überall hingucken soll“, kritisierte Nick und schüttelte den Kopf. Plötzlich glaubte er, eine ihm bekannte Schwingung im Raum wahrzunehmen. Irritiert schaute er hinter sich und sah seinen Meister, der soeben mit Janette die Halle betrat. Als die beiden Vampire seinem Blick begegneten, nickten sie ihm kurz zu und verschwanden dann in der Menge. Besorgt schaute Nick zu Nathalie, die jedoch gerade in der Betrachtung eines Bildes vertieft war. Er hatte es immer noch nicht über sich gebracht, ihr zu erzählen, dass ihre kleine Cousine höchstwahrscheinlich in Kontakt mit LaCroix stand. Kein Wunder also, dass dieser hier auftauchte. Corinne hatte ihn sicherlich eingeladen. Es war an der Zeit, nachher mit ihr unter vier Augen ein ernstes Gespräch zu führen und sie vor LaCroix zu warnen. Die Kleine ahnte gar nicht, was für ein verdammtes Glück sie bisher gehabt hatte, dass dieser ihr noch nicht an den Hals gegangen war. Aber bei diesem Zustand blieb es gewiss nicht, und Nicks Intuition sagte ihm, dass es für Corinne nach ihrem Vortrag äußerst gefährlich werden könnte... dieser Zeitpunkt war überaus günstig, um sie aus der Welt der Lebenden in die dunkle der Untoten hinüberzuholen, da es in der Menge nicht so schnell auffiel, wenn sie verschwand.

Nick beschloss, die Kleine nicht aus den Augen zu lassen und auch Schanke in diese Aktion     mit einzubeziehen. Er müsste seinem Kollegen einfach nur weismachen, dass sich Fernandez hier herumtrieb, dann würde Don sicherlich sehr wachsam sein – so vernarrt, wie er in Corinne war.

„Oh, schau mal, Nick!“ holte ihn Nathalies Stimme wieder in die Gegenwart zurück. „Dort drüben sind Schanke und Myra. Komm, lass uns zu ihnen gehen!“

Der Vampir folgte der Ärztin, die Dons Frau herzlich begrüßte. Myra hatte haselnussbraune Augen und halblange Haare von der gleichen Farbe. Sie war eine mütterlich wirkende Frau mit warmherziger Ausstrahlung, die ihren Ehemann fest im Griff hatte.

Während sich die beiden Frauen lebhaft unterhielten, nahm Nick seinen Kollegen beiseite und erzählte ihm, dass sich Fernandez ebenfalls hier befand. Genau wie er vermutet hatte, regte sich Schanke darüber auf und versprach, ein Auge auf Corinne zu haben.

„Aber wo ist sie denn überhaupt?“ fragte Don und schaute sich suchend um. „Ich kann sie nirgendwo entdecken.“

„Wahrscheinlich im großen Saal“, meinte Nicholas. „Sie ist bereits um 20.00 Uhr aufgebrochen, um sich mental auf ihren Vortrag einzustimmen. Laut Nat war sie ziemlich nervös.“

„Kein Wunder“, sagte Don verständnisvoll. „Ich hätte auch mächtig Bammel, vor so vielen Leuten zu sprechen.“

In diesem Augenblick wurden die beiden Türen des großen Saales von zwei Männern weit geöffnet.

„Nick, Don, es wird Zeit für den Vortrag!“ rief Nathalie und ging mit Myra voran, während die Angesprochenen ihnen folgten.

Der Saal war in gedämpftes Licht getaucht, so dass man gerade noch erkennen konnte, dass sehr viele Sitzreihen vor dem Podium aufgestellt und an den Seiten des Saales lange, schwarze Vorhänge bis fast auf den Boden hinuntergelassen waren. Myra und Nathalie ließen sich in der Mitte nieder und hielten für ihre Begleiter je einen Platz neben sich frei. Nick fühlte eine eigenartige Schwingung, die den Raum erfüllte. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber er konnte im Moment noch nicht sagen, was es war.

„Spürst du es auch, Nat?“ fragte er leise seine Kollegin.

„Was denn?“

„Etwas Irritierendes ...“

„Ach, das wird die Spannung der Anwesenden sein“, meinte Nathalie und lächelte.

„Hm, vielleicht hast du recht“, gab Nick zu, obwohl er es selbst nicht glaubte. Dann richtete er seinen Blick nach vorne und konnte auf dem Podium hinter dem Rednerpult die Gestalt eines Mannes und die kleinere einer Frau erkennen, bei der es sich wahrscheinlich um Corinne handelte. Sie schienen leise miteinander zu sprechen, worauf der Mann ihr auf die Schulter klopfte und sie sich endlich auf einen der beiden Stühle setzte, die sich in einigem Abstand vom Rednerpult befanden.

Nachdem sich der Saal gefüllt und alle einen Platz gefunden hatten, schlossen die beiden Saaldiener wieder die Tür und postierten sich dann davor. Noch einen Augenblick schwirrte Stimmengewirr durch den Raum, dann richtete sich plötzlich ein Lichtspot auf das Rednerpult des Podiums und der ältere Mann, dessen Gestalt Nick eben beobachtet hatte, stellte sich dahinter.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren“, sprach er in das Mikrophon. „Mein Name ist Marc Huus und ich begrüße Sie ganz herzlich auf unserem Kongress über  >Sinn und Unsinn der optischen Kunst< , der  - höchst ungewöhnlich für derlei Veranstaltungen - an einem Sonntagabend stattfindet. Umso mehr freue ich mich über Ihr zahlreiches Erscheinen, das meine Annahme bestätigt, dass Kunst viele Menschen interessiert. Und nun übergebe ich das Wort an Mademoiselle Corinne Lambert, die Ihnen nahe bringen wird, was Kunst überhaupt ist. Nur noch ein abschließendes Wort, meine Damen und Herren, erschrecken Sie nicht, wenn sich gleich der Saal verdunkelt. Denken Sie daran: Optische Kunst spielt mit Licht und Schatten. Lassen Sie sich überraschen.“

Unter Applaus verließ Huus das Rednerpult und setzte sich auf den freien Stuhl neben Corinne. Er zwinkerte ihr zu und wisperte: „Viel Glück, Mademoiselle!“

Das Mädchen atmete einmal tief durch, erhob sich dann und trat an das Rednerpult. Kaum stand sie dort, verdunkelte sich der Saal. Ein leichtes Rascheln deutete darauf hin, dass die Vorhänge langsam hochgezogen wurden. Danach herrschte einige Sekunden lang Stille, bis auf einmal leise Klänge den Raum erfüllten, die allmählich immer lauter wurden und schließlich wieder zur Tonlosigkeit abebbten. Plötzlich ließ sich ein Zischen vernehmen und gleich darauf wurde der dunkle Saal von allen Seiten durch spontan heraufschießende Flammen aus dem Boden in unregelmäßigen Abständen erleuchtet, begleitet von harten metallischen Rhythmen der E-Gitarren. Langsam hellte sich der Saal wieder auf und man erkannte nun, dass die Sitzreihen von Musikern umringt waren, in deren jeweiliger Mitte sich rechts und links von der Eingangstür aus gesehen ein Mann und eine Frau genau gegenüber standen und gemeinsam zu singen begannen:

 Einst träumte ich, dass ich ein Vogel sei –

flog durch die Lüfte immerdar –

doch wachte ich auf und es war vorbei.

Da das Traumbild jedoch so wirklich war,

stellt sich mir seither die Frage:

 

Was ist Schein?

Was ist Sein?

Was ist Traum?

Was ist Wirklichkeit?

 

Einst träumte ich, dass ich dir begegnet sei –

O Schönste, die ich je gesehen –

doch wachte ich auf und es war vorbei.

Wieder war das Traumbild so real,

dass ich seither nach dir suche, du mein Ideal.

 

Was ist Schein?

Was ist Sein?

Was ist Traum?

Was ist Wirklichkeit?

 

Träume oder wache ich?

Was ist Wirklichkeit, was nicht?

Ist die Wirklichkeit ein Traum?

Oder ist der Traum das wahre Leben?

Wer kann dieses Rätsel lösen?

 

Was ist Schein?

Was ist Sein?

Was ist Traum?

Was ist Realität?

 

Das Rätsel wird unlösbar bleiben,

die Frage niemals eine Antwort finden.

Ich kann den Traum hier nur beschreiben

und verkünden:

 

Realität ist nur eine Illusion für mich,

nichts weiter als ein Traum -

doch wer kann sagen, ob dies nicht auch ein Irrtum ist?

 

„...nicht auch ein Irrtum ist, nicht auch ein Irrtum ist...“, fielen nun einige der Musiker begleitend mit ein, geführt von Danielles hoher Stimme, die am Ende diese Zeile alleine sang und immer leiser wurde, bis sie schließlich verstummte.

Als der letzte Ton verklungen war, hüllte sich der Raum einen Augenblick in dichten Nebel und es dauerte ein paar Minuten, bis dieser sich wieder verzog. In dieser Zeit war es totenstill. Dann brandete tosender Applaus auf und die Mitglieder der Band verbeugten sich.

Während das Publikum begeistert Beifall spendete, war Nick inzwischen klar, dass es sich bei den Musikern um Vampire handelte. Das also war der Grund seines angespannten Gefühls gewesen; und nun wunderte er sich keineswegs mehr, dass der Kongress auf eine so späte Uhrzeit verschoben worden war – wahrscheinlich eine Idee von LaCroix, der es sicherlich höchst amüsant fand, eine Veranstaltung von Sterblichen durch Vampire untermalen zu lassen. Corinne ahnte bestimmt nicht, mit welchen Wesen sie es zu tun hatte.

Der Applaus verklang allmählich und die Aufmerksamkeit der Besucher wurde nun durch einen Lichtspot auf das Rednerpult gelenkt. Corinne lächelte ein wenig und begann: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, das soeben gehörte Lied bringt ein Thema zum Ausdruck, welches auch die Kunstwissenschaft seit ihren Anfängen beschäftigt, nämlich das Problem, ob Kunst wirklich die Realität abbildet oder lediglich die geschönte Wirklichkeit, mithin eine Illusion, darstellt. Lassen Sie mich dazu folgendes ausführen: ...“

Corinne legte den Zuhörern recht glaubhaft dar, wie Kunst sich aus religiösen Kulten, begleitet durch an Götter und Dämonen gerichtete beschwörerische Gesänge oder Tänze sowie an mehr oder weniger musikalische Ermahnungen an die Gläubigen, heraus entwickelte. Ihr Vortrag wurde immer wieder untermalt durch musikalische Beispiele der Vampirband sowie durch Dias, die an eine große Leinwand geworfen wurden, die hinter dem Podium aufgehängt worden war.

Währenddessen schaute sich Nicholas angespannt im Saal um und fragte sich unentwegt, ob LaCroix und einige andere Untote, die sich unter dem Publikum befanden, eine unangenehme Überraschung für die Menschen bereithielten. Allerdings passierte nichts dergleichen.

Als Corinne ihren Vortrag beendet hatte, erntete sie ebensolch einen tosenden Applaus wie zuvor die Band, worauf sich ihre Wangen feuerrot färbten. Nachdem der Beifall ein wenig abgeebbt war, räusperte sie sich und sagte ins Mikrophon: „Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich, dass Ihnen mein Vortrag und die musikalische Darbietung der Flying shadows gefallen hat, die mir kurzfristig bei der Mitwirkung dieses Abends geholfen haben. Dafür gebührt ihnen besonderer Dank und ein großer Applaus!“

Unter lautem Händeklatschen verbeugten sich die Bandmitglieder nochmals. Sie schienen ebenfalls glücklich zu sein. Corinne stieg vom Podium herab und fiel Danielle und Jamie um den Hals, was ihr einige zusätzliche Sympathiepunkte des Publikums einbrachte.

Währenddessen hatte sich der sichtlich zufriedene Kongressleiter wieder erhoben und trat jetzt erneut an das Mikrophon: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem interessanten Beitrag von Mademoiselle Lambert wartet nun draußen ein großes Buffet auf Sie und vielleicht die Gelegenheit, mit anderen Menschen weitergehende Gespräche über Kunst zu führen. Ich bedanke mich nochmals für Ihr zahlreiches Erscheinen und hoffe, Sie auch zu den anderen Vorträgen des Kongresses begrüßen zu dürfen.“

Der große Saal wurde augenblicklich voll beleuchtet und die Besucher standen auf und strebten langsam dem Ausgang zu. Huus indessen hatte sich nach seinen Abschiedsworten zu Corinne und der Band gesellt, deren Mitgliedern er jeweils einzeln die Hand drückte.

„Ich muss zugeben, ich bin sehr beeindruckt von Ihnen“, sagte der Kongressleiter. „Da fällt mir ein, dass wir noch über Ihre Gage sprechen sollten.“

„Corinne hat nichts davon erwähnt, dass wir bezahlt werden“, erwiderte Danielle und schien etwas erstaunt.

„Ach was?!“ fragte Huus, warf Corinne einen spitzbübischen Blick zu und lachte dann herzlich. „Wahrscheinlich war Mademoiselle Lambert so aufgeregt, dass sie es völlig vergessen hat.“

„Ja, Sie haben recht“, gab das Mädchen zu und errötete wieder ein wenig. „Das ist mir wirklich peinlich...“

„Halb so schlimm!“ beruhigte Danielle sie und wandte sich dann wieder Huus zu. „Wenn Sie jetzt Zeit hätten, könnten wir das Finanzielle regeln.“

„Gern“, erwiderte der Professor freundlich. „Hinter dem Vortragssaal ist ein kleiner Raum, in dem wir alles in Ruhe besprechen können.“

Danielle nickte ihm lächelnd zu und meinte mit einem Seitenblick auf Corinne und die Band: „Wir sehen uns später.“

Dann hakte sie sich bei Huus ein und schlenderte mit ihm hinaus. Die übrigen Musiker außer Jamie, der an der Tür wartete, verließen ebenfalls den großen Saal. Corinne folgte ihnen sehr langsam.

„Nun, Corinne, wie fühlst du dich?“ fragte der Sänger, als sie bei ihm ankam.

„Merkwürdig“, antwortete sie nachdenklich, wandte sich um und betrachtete vom Eingang aus nochmals den riesigen Raum. Dort, auf dem Podium, hatte sie gestanden und zu einem großen Publikum gesprochen. Es war unfassbar...

„Jamie, kneif mich mal!“ forderte sie ihn auf.

„Warum sollte ich so etwas tun?“

„Damit ich weiß, dass ich nicht träume.“

„Was hast du gegen Träume?!“ fragte plötzlich eine weibliche Stimme und Corinne drehte sich überrascht um. Am Saaleingang neben Jamie stand jetzt ein rotblondes Mädchen mit flotter Kurzhaarfrisur und grinste sie an.

„Eva!“ hauchte Corinne, dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie wandte sich an den Sänger und stellte vor: „Jamie, das ist Eva Hoffmann, eine alte Freundin von mir.“

„Angenehm!“ sagte der junge Mann und gab der Rotblonden freundlich lächelnd die Hand. „Ich bin einer der Sänger von The flying shadows.“

„Ja, ich weiß! Ich hatte eben das Vergnügen, Sie live zu erleben“, erwiderte Eva. „Ihre Musik und die Texte haben mir sehr gefallen.“

„Danke, Miss Hoffmann!“

„Nennen Sie mich doch bitte Eva!“

„Gern. Mein Name ist Jamie. Darf ich erfahren, welchem Umstand wir das Vergnügen Ihrer Anwesenheit zu verdanken haben?“

„Nun, ich bin Kunstfotografin“, erklärte Eva bereitwillig. „Einige meiner Werke hängen in der Vorhalle und ich hoffe, sie gut verkaufen zu können.“

„Viel Erfolg!“ wünschte Jamie und schaute kurz zu Corinne. „Ich lasse euch jetzt mal besser allein...“

Corinne nickte ihm zu. Der Sänger verbeugte sich dann vor Eva, nahm ihre Hand und hauchte einen leichten Kuss darauf.

„Ich hoffe, wir sehen uns wieder... vielleicht später?“ fragte er und schenkte ihr einen langen Blick.

„Lassen wir uns überraschen“, erwiderte die Rotblonde lächelnd, worauf Jamie endlich verschwand. Nun wandte sich Eva mit strahlendem Blick ihrer Freundin zu. „Dein Vortrag war... nun sagen wir mal: ungewöhnlich!“

Dann fielen sich die beiden Freundinnen um den Hals und umarmten sich.

„Meine Güte, Eva, wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen?!“

„Lass mich nachdenken... hm... so circa zwei Jahre...?“ murmelte die Fotografin und schob Corinne nun ein Stück zurück, während sie sie betrachtete. „Du hast dich kaum verändert. Siehst gut aus wie immer. Was gibt es Neues bei dir? Und wo wohnst du zur Zeit?“

„Im Moment gehe ich meiner Cousine auf die Nerven“, sagte Corinne. „Komm, ich mache euch miteinander bekannt.“

Das ließ sich Eva kein zweites Mal sagen, hakte sich bei ihrer Freundin unter und trat mit ihr nun endlich hinaus in die Vorhalle, in der Corinne ihren Blick herumschweifen ließ und nach einer Weile meinte: „Dort drüben ist Nathalie!“

 

 

Nicholas, der darauf gewartet hatte, dass Corinne endlich aus dem Vortragssaal kam, damit er sie unauffällig beobachten konnte, war froh, als er sie in Begleitung einer anderen jungen Frau auf sich zukommen sah. Er stand mit Nathalie und dem Ehepaar Schanke an einem der zahlreichen kleinen, hohen Tische, die während des Vortrags zusammen mit dem Buffet in der Halle aufgestellt worden waren.

„Guten Abend zusammen!“ sagte Corinne fröhlich und schaute sich neugierig um. Als sie Myra erblickte, reichte sie ihr spontan die Hand und meinte lächelnd: „Sie müssen Dons Ehefrau sein. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits“, erwiderte Myra, die bereits während des Vortrags positiv von der jungen Dozentin eingenommen worden war. „Und vielen Dank auch für die Einladung.“

„Nichts zu danken!“ wehrte Corinne ab. „Dies hier ist übrigens Eva Hoffmann, eine sehr gute Freundin von mir. – Und dies, Eva, sind meine Cousine Nathalie, ihr Freund Mr. Knight und das Ehepaar Schanke.“

„Guten Abend“, sagte die Fotografin und wurde von allen willkommen geheißen. Sie bemerkte, dass alle am Tisch außer ihr, Corinne und Mr. Knight ein Sektglas in der Hand hatten und meinte daraufhin zu ihrer Freundin: „Vielleicht sollten wir auch mal das Buffet aufsuchen, sonst kriegen wir gar nichts mehr ab. Du musst doch hungrig sein, oder?“

„Eigentlich nicht“, erwiderte Corinne. „Aber gegen ein Glas Sekt hätte ich nichts einzuwenden.“

„Sie entschuldigen uns doch einen Moment?“ wandte Eva sich an Nathalie, die lächelnd nickte. Sie schaute den beiden Mädchen nach und meinte zu Myra: „Ich bin eigentlich ganz froh, dass Corinne eine ihrer Freundinnen getroffen hat. Sie war in letzter Zeit doch sehr niedergeschlagen.“

„Um Himmels willen, warum denn?“ fragte Myra neugierig und auch ihr Mann spitzte die Ohren.

„Na ja, es ist noch nicht lange her, dass ihr Freund gestorben ist“, erklärte Nathalie. „Bis vor kurzem hatte die Ärmste schreckliche Alpträume. Scheinbar ist diese Tagung doch eine gute Gelegenheit, um sie etwas von ihrem Schmerz abzulenken.“

„Das ist wirklich tragisch für eine so junge Frau“, murmelte Myra mitfühlend. „Auf welche Weise hat sie denn ihren Freund verloren?“

Nun erfuhr das Ehepaar Schanke die ganze Geschichte von dem Unfall, der aus Corinnes Sicht keiner war. Nicholas, dem das alles schon bekannt war, richtete seine Aufmerksamkeit indessen auf Nathalies Cousine und bemerkte, dass sowohl LaCroix und Janette sowie ein anderer Untoter die junge Frau interessiert beobachteten. Sie waren aber nicht die einzigen. Aus einer anderen Ecke des Saales starrte ein mit einem dunkelgrauen Anzug bekleideter Mann mit Brille und Halbglatze fasziniert auf Corinne und schien zu überlegen, wie er sie am besten ansprechen sollte. Er wirkte äußerst unsympathisch. Als er schließlich begann, sich langsam in Richtung der beiden Freundinnen zu bewegen, folgte Nicholas ihm unauffällig.

*

Eva und Corinne hingegen bekamen nichts davon mit. Sie hatten jeweils ein Glas Sekt ergattern können und standen nun völlig in ihr Gespräch vertieft vor dem langen Buffettisch. Erst als eine zierliche, blonde Frau sie ansprach, kehrten sie in die Gegenwart zurück.

„Guten Abend“, begrüßte Inge die beiden Freundinnen und wandte sich dann an Corinne. „Es hat sich wirklich gelohnt, deinem Vortrag beizuwohnen. Deine Idee, den Vortrag durch Spezialeffekte und den Live-Auftritt einer Band aufzupeppen, war hervorragend. Wahrscheinlich wird dieser Abend allen Beteiligten unvergesslich bleiben.“

„Das will ich hoffen“, sagte Corinne und lächelte Inge an. Sie wusste, dass ein Lob aus deren Mund immer ehrlich gemeint war. Sie schätzte an ihrer Bekannten sehr, dass diese, unabhängig davon, ob sie gerade auf jemanden wütend war oder nicht, gute Leistungen anerkannte. „Vielen Dank! Freut mich besonders, dass es dir gefallen hat.“

„Du weißt, dass ich nicht nachtragend bin“, sagte Inge.

Daraufhin nickte Corinne und reichte ihr die Hand.

„Frieden?“ fragte sie.

„Gern“, antwortete Inge und schlug in die dargebotene Hand ein. Dann wandte sie sich an die Rotblonde: „Schön, dich auch mal wiederzusehen, Eva! Sicherlich hängen einige deiner Fotografien hier aus, nicht wahr? Wie gehts dir?“

„Ach, ich schlage mich so durch und komme ganz gut über die Runden“, erwiderte Eva. „Und was machst du so, Inge?“

„Ich arbeite als Assistentin bei Professor Teichert“, klärte die zierliche Blondine sie auf.

„Wie bitte?!“ entfuhr es der Kunstfotografin, die glaubte, sich verhört zu haben. Sie starrte Inge mit aufgerissenen Augen an. „Du arbeitest wirklich für... Teichert? – Aber... hm... nun, wie gefällt dir die Arbeit bei dem Schl... ähm... dem Professor für Medienpädagogik?“

„Oh, es ist wundervoll!“ schwärmte Inge mit strahlenden Augen.

„Scheucht dich der Alte denn nicht viel rum?“ fragte Eva erstaunt.

„Na ja, ich habe schon viel zu tun, aber es macht mir auch großen Spaß“, behauptete Inge. Sie wirkte überaus glücklich, was die Rotblonde kaum nachvollziehen konnte. „Die letzten Tage war ich natürlich besonders im Stress wegen der Tagungsvorbereitungen, aber jetzt...“

„Frau Riedel!“ wurde Inge plötzlich in barschem Ton unterbrochen. „Was machen Sie denn noch hier?! Sie sollten längst in Ihrem Zimmer sein, um alles für morgen fertig zu machen.“

„Ist bereits erledigt“, erwiderte die zierliche Blondine, die wegen der rüden Anrede durch ihren Chef leicht zusammengezuckt war und sich nun zu ihm umdrehte. „Sie können unbesorgt sein, Herr Professor Teichert.“

„Das will ich auch hoffen!“ wies er sie zurecht und warf ihr einen strengen Blick zu. „Und jetzt gehen Sie endlich schlafen, damit Sie morgen an meiner Seite fit und ausgeruht sind! Eine Assistentin, die im Stehen einschläft, ist wirklich das Letzte, was ich gebrauchen kann.“

Inges Augen füllten sich mit Tränen. Corinne und Eva waren entsetzt, in welchem Ton Teichert mit ihr sprach.

„Na hören Sie mal! Frau Riedel hat doch genauso wie alle anderen das Recht, sich hier aufzuhalten, solange sie will. Sie ist schließlich ein erwachsener Mensch!“ sagte Corinne mit unverkennbarer Wut in der Stimme und sah ihren ehemaligen Professor böse an.

„Nicht, solange sie bei mir angestellt ist!“ wies der Angesprochene sie zurecht. Dann wandte er sich wieder an Inge: „Nun, worauf warten Sie noch, Frau Riedel?! Ab ins Bett mit Ihnen!“

„Natürlich!“ hauchte Inge, die Mühe hatte, nicht loszuheulen. Sie warf Corinne und Eva einen kurzen Blick zu und lächelte dankbar. „Gute Nacht!“

„Gute Nacht, Inge!“ erwiderten die beiden Mädchen tonlos und beobachteten immer noch ungläubig, wie schnell die zierliche Blondine verschwand.

„Es war völlig unnötig, sie so anzufahren!“ wandte sich Corinne dann in vorwurfsvollem Ton an ihren früheren Professor.

„Das, liebes Fräulein Lambert, überlassen Sie ruhig mir!“ antwortete Teichert mit süffisantem Grinsen. „Im Übrigen: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Erfolg. Niemand außer Ihnen würde es schaffen, aus einer seriösen wissenschaftlichen Veranstaltung eine Glamour-Show zu machen. Aber Sie brauchen ja immer eine Extra-Wurst, nicht wahr?“

Er betrachtete äußerst zufrieden die aufgebracht wirkende Corinne, als Eva in forschem Tonfall und mit breitem Grinsen zu ihm sagte: „Auch in der Wissenschaft sollte man neue Wege gehen; und außerdem wird hier Kunst thematisiert. Deshalb frage ich mich, was Sie eigentlich auf dieser Tagung zu suchen haben.“

Der selbstzufriedene Gesichtsausdruck Teicherts verwandelte sich in ein säuerliches Lächeln, als er sich nun Eva zuwandte.

„Ach, Fräulein Hoffart, Sie sind auch hier?“ fragte er mit näselnder Stimme und tat, als hätte er sie gerade erst bemerkt. „Es geht doch nichts über alte Freundschaft, nicht wahr?“

„Sie sagen es!“ erwiderte die Fotografin. „Aber da Frau Lambert und ich beruflich mit Kunst zu tun haben, war abzusehen, dass wir uns irgendwann mal wieder über den Weg laufen. Doch was führt Sie hierher, Herr Teichert?“

Eva kannte den Professor für Medienpädagogik gut genug, um zu wissen, welchen Wert er darauf legte, mit seinem akademischen Titel angesprochen zu werden. Gerade deshalb tat sie ihm diesen Gefallen nicht. Schließlich hatte er sie und Corinne während des Studiums lange genug schikaniert, weil sie seinen sexuellen Avancen widerstanden und außerdem noch unbeirrt ihre eigenen Meinungen vertraten, auch wenn diese oftmals konträr zu seinen Behauptungen standen.

„Morgen früh, Fräulein Hoffart, werden Sie es erfahren“, gab Teichert leicht pikiert zurück. „Die grafische Gestaltung von Computerprogrammen hat durchaus etwas mit optischer Kunst zu tun.“

„Wie Sie meinen“, erwiderte Eva mit spöttischem Unterton, wobei sie ihr Grinsen beibehielt.

Teichert nickte ihr und Corinne daraufhin mit mürrischem Lächeln zu und verschwand wieder in der Menge. Die beiden Mädchen blickten ihm mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck nach.

„Auf die Begegnung mit diesem Schleimbeutel hätte ich gerne verzichtet“, wandte sich Eva dann an ihre Freundin.

„Wem sagst du das?“ seufzte Corinne. „Aber er drängt sich überall hinein, um sich wichtig zu machen – der Herr Professor für Medienpädagogik...“

„Und wie mies er Inge behandelt“, die Fotografin schaute ihre Freundin kopfschüttelnd an. „Warum lässt sie sich das nur bieten? Sie muss doch nicht bei diesem Arschloch arbeiten!“

„Sie ist ziemlich verknallt in ihn“, klärte Corinne sie auf.

„Wie bitte?!“ Eva starrte sie mit entsetzt aufgerissenen Augen an. „In diesen Macho?!“

„Ja – kaum nachzuvollziehen, nicht wahr? Aber sie vergöttert den Schleimbeutel total und ist blind gegenüber seinen miesen Verhaltensweisen.“

„Oh, gerade eben hatte ich allerdings den Eindruck, dass sein Benehmen sie stark verletzte. Wollen wir hoffen, dass dies Inge die Augen über ihn geöffnet hat“, meinte Eva und schwieg einen Moment, während sie ihre Freundin nachdenklich ansah. „Sag mal... Interessierst du dich für die optische Gestaltung von Software?“

„Nö, nicht wirklich...“

„Was hindert uns dann daran, den morgigen Vortrag des alten Schleimbeutels zu schwänzen?“ schlug die Fotografin vor und blitzte ihre Freundin mit ihren graublauen Augen übermütig an. „Wenn ich schon einmal in Toronto bin, dann möchte ich unbedingt ins Eaton Center – die Besichtigung eines so riesigen Einkaufstempels will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Möglicherweise finden sich ja auch interessante Motive für ein neues Projekt...“

„...oder neue Klamotten?“ warf Corinne fragend ein.

Die beiden Mädchen lachten.

„Also treffen wir uns morgen?“ fragte Eva.

„Hm... wo?“

„Ich würde sagen, direkt vor dem Haupteingang des Eaton Centers. Ich warte auf dich.“

„Einverstanden! Ich werde da sein“, versprach Corinne, stieß mit Eva nochmals an und nahm dann einen Schluck Sekt zu sich. Als sie das Glas absetzte, fiel ihr Blick auf eine Gestalt, die sich ihnen näherte.

„Oh Gott, nicht schon wieder!“ stöhnte sie leise auf und schaute ihre Freundin mit rollenden Augen an. „Warum kann der Typ mich denn nicht einmal in Ruhe lassen?!“

Verwundert schaute die Rotblonde sich um.

„Ich weiß nicht, was du willst, Corinne! Es ist doch nur Michael Fernandez!“

„Ja, eben!“ zischte sie wütend. Aber bevor sie erklären konnte, warum sie mit ihrem ehemaligen Studienkollegen nichts mehr zu tun haben wollte, stand er bereits mit einem verlegenen Lächeln vor ihnen.

„Guten Abend, Eva – Corinne“, sagte Michael leise und fuhr, mit eindringlichem Unterton, an seine Angebetete gewandt fort: „Corinne, bitte verzeih mir meine Worte von vorgestern. Das alles habe ich niemals ernst gemeint...“

Die Angesprochene kehrte ihm den Rücken zu und schwieg. Eva wunderte sich und schaute Michael mit hochgezogenen Augenbrauen an. Doch er beachtete sie nicht, sondern redete weiter auf Corinne ein: „Bitte, du musst mir glauben! Es war nicht meine Absicht, so hässliche Dinge zu dir zu sagen... entschuldige bitte... ich weiß nicht, was mich geritten hat! Bitte, Corinne, du musst mir verzeihen!“

Die junge Frau schwieg weiterhin beharrlich.

„Corinne, so sag doch was!“ flehte Michael sie an.

„Wir haben uns nichts mehr zu sagen!“ erwiderte sie mit kalter, gepresster Stimme.

„Aber Corinne...!“

„Was ist zwischen euch vorgefallen?“ fragte Eva und blickte von Michael zu ihrer Freundin, die ihnen immer noch den Rücken zukehrte. Sie erhielt keine Antwort. Daraufhin wandte sie sich direkt an Corinne, legte eine Hand auf deren Schulter und fragte nochmals: „Was ist los?“

„Er hat mich auf abscheuliche Weise beleidigt“, murmelte die junge Frau und flüsterte Eva dann ins Ohr, was vorgefallen war. Deren Augen weiteten sich und sie schaute wieder auf Michael. Dieser entnahm ihrem Blick, dass er kaum damit rechnen konnte, dass ihm je vergeben würde – heute Abend jedenfalls nicht mehr; und es sah außerdem so aus, als wäre Corinnes Freundin die zweite Frau, die er gegen sich eingenommen hatte.

„Dein Verhalten ist wirklich unglaublich!“ stieß Eva nun hervor. „Sag mal, bist du noch ganz dicht?! Verzieh dich auf der Stelle, du Mistkerl!“

„Gibt es etwa Probleme?“ 

Schanke war zu ihnen getreten. Corinne drehte sich um, sobald sie seine Stimme gehört hatte, und nickte. Sie deutete mit ihrem Kinn in Richtung Michael.

„Aha! Mr. Fernandez macht also mal wieder Ärger!“ meinte der Detective und wandte sich nun an den jungen Mann. „Hatte ich Ihnen nicht zur Auflage gemacht, Miss Lambert nicht mehr zu behelligen?!“

„Ich wollte mich lediglich bei ihr entschuldigen“, verteidigte sich Michael.

„Verschwinden Sie!“ forderte Schanke ihn in strengem Ton auf. „Und wenn Sie es noch einmal wagen sollten, die junge Dame zu belästigen, werden Sie mich von einer anderen Seite kennenlernen, Freundchen!“

Michael nickte stumm und verschwand in der Masse der Besucher.

„Danke, Don! Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie täte“, wandte sich Corinne an Schanke und lächelte ihn freundlich an.

„War mir doch ein Vergnügen!“ wehrte der Polizist ab und errötete ein wenig. „Möchten Sie und Ihre Freundin nicht wieder zu uns an den Tisch kommen?“

„Gern!“

Corinne und Eva hakten sich je an einem Arm bei Schanke unter und kehrten so an den Tisch zurück, an dem Nathalie und Myra standen. Letztere schaute ein wenig pikiert auf ihren Mann, der sich – sobald er ihren Blick bemerkte – sofort von den beiden Mädchen löste und allen anbot, noch Getränke zu besorgen. Nachdem er verschwunden war, wandte sich Corinne an Myra: „Ihr Mann ist wirklich sehr nett, Mrs. Schanke!“

„So?“ meinte diese ein wenig säuerlich.

„Ja, er hat Corinne eben von einem aufdringlichen Verehrer befreit“, erklärte Eva, die genauso wie ihre Freundin begriffen hatte, dass Myra ein wenig eifersüchtig war. Sie mussten ihr klarmachen, dass es dazu keinen Grund gab. Schließlich hatte der freundliche Schanke es nicht verdient, für sein ritterliches Verhalten auch noch von seiner Frau Vorwürfe zu ernten. „Sie können wirklich stolz auf Ihren Mann sein.“

„Er hat mir gegenüber auch immer sehr nett von Ihnen gesprochen“, fiel Corinne jetzt wieder ein. Damit hatte sie die richtige Tonart getroffen. Über Myras Gesicht glitt ein mildes Lächeln.

„Wirklich?“ fragte sie.

„Ja, er spricht oft von Ihnen“, behauptete Corinne. „Ihrem Mann scheint seine Familie wirklich wichtig zu sein. Haben Sie beide Kinder?“

„Oh ja!“ erwiderte Myra erfreut und kramte sofort in ihrer Handtasche. Wenig später holte sie ein paar Fotos heraus und zeigte sie den beiden jungen Frauen. „Unsere Jenny ist im März fünf Jahre alt geworden.“

„Was für ein süßes Mädchen!“ entfuhr es Corinne spontan. „Sie ist sicher der größte Schatz von Ihnen und Ihrem Mann, nicht wahr?“

Zwischen Myra und der jungen Dozentin entwickelte sich ein intensives Gespräch über Kindererziehung. Eva warf Nathalie einen Blick zu und beide grinsten sich an. Sie wussten schließlich, wie vernarrt Corinne in Kinder war. Umso mehr amüsierten sie sich über die erstaunten Blicke von Nicholas und Schanke, die an den Tisch zurückkehrten – letzterer mit einem Tablett voller Getränke. Beide Polizisten schienen es nicht fassen zu können, dass eine mädchenhaft wirkende, junge Frau wie Corinne sich über Erziehungsfragen unterhielt und die Meinung vertrat, dass Kinder den größten Reichtum darstellten, den man sich nur wünschen konnte.

„Haben Sie selbst denn schon Kinder?“ entfuhr es Schanke verwundert.

„Nein, aber ich hoffe natürlich, dass ich auch irgendwann Mutter sein werde“, antwortete Corinne. Als sie den Polizisten anblickte, nahm sie hinter ihm von einem etwas weiter entfernt stehenden Tisch direkt gegenüber Lucien wahr, der sie unverwandt anstarrte. Nun, da er ihren Blick auf sich gerichtet sah, hob er sein Glas ein wenig und lächelte. Sie spürte, wie heftig ihr Herz plötzlich klopfte, hatte sie Lucien doch seit jener Nacht, als sie vergeblich versuchte, ihn zu verführen, nicht mehr gesehen.

„Ich wüsste gern, wie alt Sie sind, Corinne“, hörte die junge Frau wie aus weiter Ferne die Stimme von Myra in ihre Gedanken eindringen. Sie zwang sich, den Blickkontakt zu Lucien abzubrechen und wandte sich ihrer Gesprächspartnerin zu: „Am 24. September werde ich 26 Jahre alt.“

„Das ist ja schon Übermorgen!“ entfuhr es Schankes Frau. „Macht es Ihnen gar nichts aus, an diesem Tag so weit weg von zu Hause zu sein?“

„Nein, mir ist eigentlich nicht nach feiern zumute“, antwortete Corinne. Sie wirkte abwesend, weil sie am liebsten das Gespräch beenden und zu Lucien hinübergehen wollte. Myra hingegen glaubte, die junge Frau denke gerade an ihren verstorbenen Freund. In der Absicht, sie davon abzulenken, versuchte sie einen Themenwechsel: „Wie wäre es, wenn Sie uns einmal besuchen kommen, Corinne?“

„Das wäre nett, vielen Dank. Wann passt es Ihnen denn?“

„Oh, ich bin eigentlich fast immer zu Hause. Am besten, Sie rufen mich an, wenn Sie vorbeikommen wollen“, schlug Myra vor, holte aus ihrer Handtasche Stift und Notizblock und schrieb etwas auf einen der Zettel, den sie dann Corinne reichte. „Hier ist meine Telefonnummer. Ich würde mich freuen, bald von Ihnen zu hören.“

Die junge Frau lächelte freundlich und nickte. Aus den Augenwinkeln lugte sie wieder zu dem Tisch, an dem Lucien sich mit Janette und einem ihr unbekannten, rothaarigen Mann unterhielt. Dabei schaute auch er wie zufällig immer wieder in ihre Richtung. Im selben Moment begegneten sich ihre Blicke und Corinne war wie elektrisiert. Sie wollte unbedingt hinüber zu Lucien.

 

Nicholas war das Augenspiel zwischen Corinne und seinem Meister keineswegs entgangen. Um die junge Frau von LaCroix abzulenken, schien es ihm das Beste, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Außerdem würde er auf diese Weise vielleicht mehr über diesen unsympathischen Teichert erfahren, der vorhin seine junge Mitarbeiterin so niedergemacht hatte. Das zierliche, blonde Mädchen sah sowieso schon aus, als ob sie beim geringsten Windhauch umfallen würde.

Diese Tatsache sowie ihre offensichtliche Gutmütigkeit hatte bei Nick, der diese Szene mitbekam, heftiges Mitleid mit der kleinen Blondine ausgelöst und seine ohnehin vorhandene Antipathie gegen Teichert verstärkt. Umso mehr freute es ihn, dass Corinne diesen unsympathischen Zeitgenossen zurechtwies und Eva ihm den Rest zu geben schien. Aber da kein Mensch wusste, dass er dies alles mitgekriegt hatte, tat er ahnungslos, als er sich nun an Corinne wandte und fragte: „Wer war eigentlich der Mann in dem grauen Anzug mit Halbglatze, der vorhin mit Ihnen gesprochen hat?“

„Jemand, auf dessen Bekanntschaft ich gerne verzichtet hätte“, erwiderte die Angesprochene in kühlem Ton.

„Warum? Wer ist es?“ fragte nun auch Nathalie.

„Einer unserer früheren Hochschullehrer“, erwiderte Eva anstelle ihrer Freundin. „Professor Teichert ist ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse.“

„Eigentlich möchte ich nicht über ihn sprechen“, meinte Corinne. „Bitte, entschuldigt mich!“

Ehe einer am Tisch dagegen protestieren konnte, ging sie bereits auf Lucien zu, der sie mit leuchtenden Augen erwarteten.

„Wie schön, dass du doch noch den Weg zu uns gefunden hast“, begrüßte er sie.

Statt einer Antwort lächelte sie ihn an und reichte ihm beide Hände, die er sofort ergriff und festhielt. Sie schauten sich einen langen Moment an, dann murmelte er: „Ich habe heute auch noch eine Überraschung für dich. Sobald du hier abkömmlich bist, möchte ich gerne mit dir allein sein -  nur du und ich... Was sagst du dazu? Willst du mich nachher begleiten?“

„Gern“, erwiderte sie leise und spürte erneut, wie stark ihr Herz schlug.

Ein lautes Räuspern brachte die beiden wieder in die Gegenwart zurück. Der rothaarige Fremde, der neben Janette stand, musterte die junge Frau mit unverhohlenem Interesse. Er trug sein Haar schulterlang und der Bart verlief von seiner Oberlippe bis unter sein Kinn.

„Ach, entschuldige!“ sagte Lucien. „Hier ist jemand, der dich unbedingt kennenlernen will.“

„Ich fand Ihren Vortrag wirklich sehr interessant, Corinne“, sagte nun der Unbekannte zu ihr. Er beugte sich hinunter und küsste ihre Hand. Dann lächelte er. „Nun ja, nach Ihren Ausführungen im Radio war auch nichts anderes zu erwarten...“

Corinne errötete. Ihren Auftritt beim >Nachfalter< hatte sie beinahe vergessen.

„Ganz Toronto kennt jetzt wohl meine Stimme?“ meinte sie ein wenig unsicher.

„Nun, vielleicht nicht ganz Toronto, aber sicherlich doch eine Menge Leute“, erwiderte der Rothaarige leicht amüsiert. „Aber daran ist nichts Schlimmes, meine Liebe. Viele der Zuhörer würden gern mehr von Ihnen hören... oder lesen...“

Mit diesen Worten reichte ihr der Fremde eine Visitenkarte und Corinne las: „Arthur McDonavan. Antiquitäten- und Buchhandel.“

Einen Augenblick runzelte sie die Stirn. Der Name kam ihr bekannt vor. Plötzlich starrte sie den Rothaarigen an.

„Sie sind also Mr. McDonavan – der Vampir?“ fragte sie, worauf sich LaCroix und Janette rasch einen amüsierten Blick zuwarfen.

„Eben derselbe!“ antwortete McDonavan.

„Ja klar – und ich bin die Kaiserin von China“, gab Corinne in spöttischem Ton zurück.

Der Rothaarige vollführte eine tiefe Verbeugung vor ihr.

„Freut mich sehr, Eure Majestät!“

Corinne musste lachen. McDonavan grinste und fuhr fort: „Sie scheinen immer noch nicht von der Möglichkeit der Unsterblichkeit überzeugt zu sein.“

„Völlig richtig!“ gab das Mädchen zu.

„Eines Tages werden Sie erkennen, dass Untote wirklich existieren“, meinte McDonavan gelassen. „Haben Sie übrigens schon einmal mit dem Gedanken gespielt, Ihre interessanten philosophischen Ausführungen über das Wesen von Gut und Böse zu Papier zu bringen? Ich habe einen kleinen Verlag und wäre sehr daran interessiert, diese herauszubringen.“

„Oh, mit so einem Angebot habe ich gar nicht gerechnet!“ entfuhr es Corinne überrascht. „Nun, ich weiß nicht, was ich sagen soll...“

„Überlegen Sie es sich in Ruhe“, sagte McDonavan. „Das heißt, wenn es Sie nicht abschreckt, mit einem Vampir zusammenzuarbeiten.“

„Ich habe keine Angst vor Ihnen“, erwiderte Corinne selbstsicher. „Vielen Dank für Ihr Angebot. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Dennoch will ich Ihnen nicht verschweigen, dass ich eigentlich Pädagogin und keine Philosophin bin.“

„Das stört niemanden!“ meinte McDonavan gelassen. „In unserer Welt nehmen wir es mit den weltlichen Dingen nicht so genau und...“

„Ah, da sind Sie ja, Mademoiselle Lambert!“ wurde der Rothaarige abrupt unterbrochen. Corinne schaute sich überrascht um. Huus kam mit strahlendem Lächeln auf sie zu und sprach mit aufgeregter Stimme weiter: „Kommen Sie, meine Liebe, ich muss Ihnen unbedingt jemanden vorstellen!“

Er wandte sich kurz an die drei Vampire: „Bitte, entschuldigen Sie uns!“ und führte die junge Frau gleich mit sich fort. Sie konnte McDonavan, LaCroix und Janette lediglich einen bedauernden Blick schenken. Dann war sie aus deren Blickfeld entschwunden. Diese Beobachtung wirkte auf Nicholas und Nathalie, die vorhin voller Entsetzen gesehen hatte, zu wem ihre Cousine gegangen war, äußerst beruhigend. Sie standen gerade alleine zusammen, da das Ehepaar Schanke mit Eva deren Fotos, die in der Nähe des Eingangsbereichs hingen, betrachtete.

„Nick, ich muss ein ernstes Wort mit LaCroix sprechen!“ meinte die Pathologin zu ihrem Kollegen. Dieser starrte sie einen Moment überrascht an, worauf sie erklärte: „Corinne ist eigenwillig und es hat keinen Sinn, sich mit ihr zu unterhalten, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Offensichtlich ist sie sehr an LaCroix interessiert, obwohl mir das unbegreiflich ist. Aber er kann mit einer so jungen Frau bestimmt nicht viel anfangen und ist nur geschmeichelt, weil sie ihm Aufmerksamkeit schenkt. Vielleicht kann ich ihn davon überzeugen, den Kontakt zu Corinne abzubrechen.“

„Ich glaube kaum, dass er sich für die Belange anderer interessiert, Nat!“

„Trotzdem! Ich muss es versuchen! Bitte, Nick, komm mit. Alleine wage ich mich nicht in die Nähe von LaCroix.“

„Na, wenigstens eine aus eurer Familie, die noch über einen gesunden Instinkt verfügt!“

Er begleitete Nathalie hinüber zu dem gegenüberstehenden Tisch, an dem sich die drei Vampire aufhielten. Sie waren äußerst erstaunt, als sie die Pathologin und Nick auf sich zukommen sahen.

„Guten Abend, Dr. Lambert“, begrüßte LaCroix sie mit leichtem Spott in der Stimme, während er Nicholas kaum beachtete. „Was verschafft mir das Vergnügen Ihrer Gesellschaft?“

„Das wissen Sie genau“, antwortete Nathalie. „Ich bitte Sie, sich von Corinne fernzuhalten!“

LaCroix lachte laut auf.

„Warum halten Sie sich denn nicht von Nicholas fern?“ mischte sich nun Janette, um deren Mund ebenfalls ein süffisanter Zug spielte, ein. „Oder besser gesagt: Warum hält sich Nicholas nicht von Ihnen fern? Er hat bei Menschen nichts verloren!“

„Scheint mir doch eine sehr private Unterhaltung zu werden“, murmelte McDonavan und verzog sich in Richtung Buffet.

Nathalie sah sich einen Augenblick mit dem kalten Blick Janettes konfrontiert. Dann wandte sie sich erneut an LaCroix: „Ich fordere Sie auf, sich von meiner Cousine fernzuhalten!“

„Ich denke ja gar nicht daran!“ erwiderte der alte Vampir mit fester Stimme. „Corinne ist erwachsen; und wenn sie mit mir zusammen sein will, geht Sie das nichts an!“

„Meine Cousine steht immer noch unter einem schweren Schock und weiß im Augenblick nicht wirklich, was sie tut“, sagte Nathalie in vorwurfsvollem Ton.

„Sie unterschätzen Corinne!“ behauptete LaCroix. „Sie scheint sich wieder gefangen zu haben. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass sie sehr gut weiß, was sie will. Und ich rate Ihnen, Dr. Lambert, die junge Dame nicht zu bevormunden. Darauf reagiert sie nämlich äußerst empfindlich. Aber das müssten Sie selbst bereits aus eigener Erfahrung wissen, nicht wahr?“

Ohne weiter darauf einzugehen, fragte Nathalie ärgerlich: „Warum können Sie sie nicht in Ruhe lassen?“

„Weil ich Corinne mag und sie mir außerordentlich gut gefällt“, gab LaCroix unumwunden zurück und fügte eine Minute später hinzu, wobei er seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln verzog und sich leicht mit der Zunge über die Lippen fuhr: „Sie ist reizend und sehr... appetitlich! Warum sollte ich eine derart hübsche, junge Dame in Ruhe lassen? Noch dazu, wo sie selbst doch meine Nähe sucht.“

„Bitte, LaCroix, lassen Sie die Finger von Corinne!“ sagte Nathalie inständig.

Der alte Vampir zog nun seine Stirn in Falten, beugte sich etwas zu der Ärztin vor und entgegnete in kaltem Ton: „Corinne möchte mit mir zusammen sein! Und Sie, meine liebe Dr. Lambert, können nichts dagegen tun! Akzeptieren Sie endlich, dass Ihre Cousine eine erwachsene Frau ist, die sich selbst aussucht, mit wem sie Umgang pflegt und mit wem nicht!“

„Komm, Nat!“ wandte sich nun Nicholas an seine Kollegin. „Es hat keinen Sinn, mit ihm zu reden!“

Er nahm sie leicht am Oberarm und wollte mit ihr fortgehen, aber Nathalie befreite sich aus seinem Griff und starrte LaCroix einen Moment schweigend an. Schließlich fragte sie: „Was wollen Sie eigentlich von Corinne?“

„Ach, ich bitte Sie, Dr. Lambert!“ erwiderte der alte Vampir ironisch. „Was will ein Mann von einer Frau, die ihm gefällt?“

Einen Augenblick war es still, dann zischte die Pathologin plötzlich: „Rühren Sie sie ja nicht an!“

„Nat! Bitte, lass uns gehen!“ forderte Nicholas sie erneut auf. Er erkannte das Flackern in den Augen seines Meisters, das darauf hindeutete, dass dieser allmählich zornig wurde. „Glaub mir, Nat, es ist besser so! Du siehst doch, dass es keinen Sinn hat, mit LaCroix zu sprechen!“

Einen Augenblick starrten sich die Ärztin und der alte Vampir noch an, dann murmelte sie: „Du hast recht! – Aber ich werde alles tun, um Corinne davon abzuhalten, wieder Ihre Nähe zu suchen, LaCroix.“

Der alte Vampir reagierte auf diese Worte lediglich mit einem hämischen Lächeln und einem Blick voller Verachtung, mit dem er Nathalie, die von Nicholas mit sanfter Gewalt fortgezogen wurde, bedachte.

„Sterbliche!“ stieß er dann leise hervor und starrte den Rotwein in seinem Glas an. Janette strich ihm mit einer Hand vorsichtig über den Unterarm und murmelte: „Vergiss diese Dr. Lambert, Lucien! Freu dich lieber darauf, dass du nachher mit Corinne allein sein wirst.“

„Ja, du hast recht!“ meinte LaCroix und warf Janette einen dankbaren Blick zu. „Dennoch frage ich mich, warum Corinne keine Angst vor uns hat. Schließlich ist sie noch immer sterblich. Nicht mal ein Unbehagen war bei ihr zu spüren, als sie in unserer Nähe war. Sie arbeitete mit der Band, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre. Außerdem scheint sie uns zu mögen... das ist schon seltsam...“

„Vielleicht hängt es mit dem Schock zusammen, von dem diese Nathalie sprach“, meinte Janette. Auf den fragenden Blick ihres Meisters erklärte sie: „Corinne hat doch mit angesehen, wie ihr Freund überfahren wurde, nicht wahr? Vielleicht hat dieses Erlebnis in ihr etwas ausgelöst, dass sie furchtlos allen Dingen gegenüber macht, die mit dem Tod zu tun haben... ist nur so eine Idee.“

„Hm... könnte was dran sein...“, murmelte LaCroix. „Aber wie dem auch sei: Du musst nachher Nicholas und Dr. Lambert ablenken, damit ich mit Corinne verschwinden kann.“

„Das dürfte kein Problem sein“, erwiderte Janette und warf wieder einen spöttischen Blick auf die beiden, die nun aufgeregt zu diskutieren schienen. Nathalie war sicherlich sehr wütend darüber, dass Nick sie von ihnen weggezerrt hatte, denn am liebsten – das spürte Janette – hätte die Ärztin weiterhin mit Lucien gestritten. Nicholas jedenfalls bemühte sich nach Kräften, die Pathologin zu beruhigen, was ein schwieriges Stück Arbeit war.

„Wie es aussieht, ist Dr. Lambert äußerst aufgebracht. Ich muss lediglich ein wenig Öl ins Feuer gießen... und eine Eifersuchtsszene wird die Aufmerksamkeit vieler der Besucher hier erregen. Nun ja, Schauspielkunst ist schließlich auch Kunst...“, meinte die Vampirin genüsslich, schaute dabei wieder ihren Meister an und grinste zufrieden, als sie sein anerkennendes Lächeln sah.

***

Eva erklärte Myra und Don gerade die Bedeutung einer ihrer großen Collagen, die aus verschiedenen Stoff-Fetzen, den Farben Rot und Schwarz sowie Fotos dünner Frauen und einigen Holzschnitt-Drucken über das Motiv  Der Tod und das Mädchen  bestand.

„Mir war gar nicht bewusst, wie gefährlich der Schlankheitswahn sein kann“, meinte Myra gerade. Sie war wirklich erschüttert von den Berichten über weibliche Teenager, die sich zu Tode gehungert hatten.

„Die Modebranche erhebt Maße zum Ideal, die keineswegs der Figur einer normalen, erwachsenen Frau entsprechen, sondern denen eines minderjährigen Mädchens“, erklärte Eva in ernsthaftem Ton. „Die wenigstens von uns sind sich dessen bewusst. Gerade darum hielt ich es für notwendig, mit dieser Collage darauf aufmerksam zu machen.“

„Aber es gibt doch auch hin und wieder von Natur aus große, schlanke Frauen, oder?“ fragte Schanke.

„Ja, das stimmt! Der Unterschied besteht allerdings darin, dass solche Frauen normalerweise nicht hungern, um ihre Figur zu halten. Sie sind einfach von Natur aus schlank – ich betone schlank - und nicht dürr! Sie sind in der Regel nicht in Lebensgefahr wegen ihrer Figur“, führte Eva aus.

„Na ja, ich werde jedenfalls zukünftig darauf achten, dass weder ich noch Jenny in einen Schlankheitswahn verfallen“, meinte Myra. „Gesundheit ist doch wichtiger als irgend so ein Ideal, das nicht der Wirklichkeit entspricht.“

„Außerdem gefällst du mir genauso wie du bist, Liebling“, sagte Schanke, was ihm einen zärtlichen Blick seiner Frau einbrachte. Einen Moment später umarmte und küsste sie ihn spontan. Einige Leute, die in ihrer Nähe standen und das mitbekamen, klatschten beifällig, was das Ehepaar Schanke etwas in Verlegenheit brachte. Sie lösten sich aus ihrer Umarmung und lächelten ein wenig unsicher.

„Das muss Ihnen nicht peinlich sein“, flüsterte Eva ihnen zu. „Es ist doch schön, dass Sie sich lieben.“

„Ja, das finde ich auch!“ Corinne stand vor ihnen und strahlte sie an.

„Freuen Sie sich etwa mit uns?“ fragte Myra.

„Natürlich! Etwas Schöneres als zwei Menschen, die sich lieben, kann es kaum geben“, erwiderte Corinne. „Ich glaube, heute ist eine besonders glückverheißende Nacht. Erst der Erfolg meines Vortrages und der der Flying shadows, die Intensivierung von Liebesbeziehungen und zwei Jobangebote. Ich kann es noch gar nicht fassen!“

„Wow! Zwei Jobangebote? Erzähl!“ forderte Eva ihre Freundin auf.

„Na ja, zum einen ist ein Kleinverleger daran interessiert, dass ich ein Buch schreibe, das er herausbringen will – zum anderen hat mich Professor Huus, der Kongressleiter, soeben mit der Direktorin einer Privatschule in Toronto bekannt gemacht. Sie sucht für April kommenden Jahres eine Kunstpädagogin und hat mir ein entsprechendes Angebot gemacht, weil ihr mein Vortrag und die Art, wie ich ihn gestaltet habe, sehr gut gefiel. Bis Ende November habe ich Zeit, mir zu überlegen, ob ich den Job annehmen will. Oh, Eva, ist das nicht toll?! Dann könnte ich in Toronto bleiben. Ade, Frankfurt am Main!“

„Sie würden also gerne hierbleiben, Corinne?“ fragte Myra überrascht.

„Oh ja, denn mir gefällt Toronto“, antwortete die junge Dozentin. „Außerdem habe ich neue Freunde gewonnen und jemanden kennengelernt...“

„Ihre Eltern werden bestimmt traurig sein, dass Sie so weit von ihnen fort sind“, meinte Schankes Frau.

„Das mag sein“, gab Corinne zu. „Aber wissen Sie, Frankfurt birgt überaus traurige Erinnerungen für mich und ich habe das Gefühl, dass ich mein Leben neu gestalten muss. Warum also nicht in einem anderen Land noch einmal von vorn beginnen? Außerdem ist es normal, dass eine erwachsene Frau ein eigenes Leben führt. Meine Eltern und meine Schwester können mich jederzeit besuchen, wenn sie wollen. Wozu gibt es schließlich Flugzeuge?“

„Das klingt ganz so, als ob du deine Entscheidung bereits getroffen hast“, meinte Eva.

„Das ist auch so! Aber man soll nicht gleich Ja sagen, selbst wenn die Arbeitsstelle noch so toll und die Direktorin eine sehr nette Dame ist“, erklärte Corinne, deren Augen immer noch glänzten. Sie schaute sich um. „Wo ist eigentlich Nathalie?“

„Vorhin war sie noch mit Nick an unserem Tisch“, antwortete Schanke.

„Dann gehe ich mal zu ihr und teile ihr diese erfreuliche Neuigkeit mit“, sagte Corinne und machte sich auf den Weg. Sie fand den Tisch allerdings leer vor und wunderte sich. Erneut schaute sie sich um und erblickte LaCroix im Gespräch mit Janette. Sie schienen sich über irgendetwas zu amüsieren, denn sie lachten beide verhalten. Corinne war gerade eben im Begriff, zu den beiden hinüberzugehen, als sie die Stimme von Nicholas Knight hinter sich hörte: „Warten Sie, Miss Lambert, ich muss dringend unter vier Augen mit Ihnen sprechen.“

 

Verwundert drehte sich die junge Frau um und fragte: „Was gibt es denn so Wichtiges? Ist irgendetwas mit Nat?“

„Nein, nein, keine Sorge. Nathalie geht es gut“, erwiderte Nicholas, winkte Corinne zu sich heran und senkte seine Stimme zu einem Flüstern herab, als sie nahe bei ihm stand. „Es geht um LaCroix. Ihre Cousine macht sich große Sorgen um Sie, Corinne, weil Sie Umgang mit ihm pflegen. Glauben Sie mir, er ist kein vertrauenswürdiger Mann, sondern sehr gefährlich. Bitte, brechen Sie den Kontakt mit LaCroix sofort ab! Es ist nur zu Ihrem Besten.“

„Wie kommen Sie dazu, so etwas über Lucien zu behaupten?“ fragte Corinne ärgerlich.

„Ich kenne ihn sehr gut, schon seit Jahren“, erwiderte Nicholas leise. „Glauben Sie mir, er ist sehr bösartig und kann Ihnen überaus schaden. Bitte, Corinne, halten Sie sich lieber von ihm fern.“

„Warum sollte ich Ihnen glauben?“ fragte das Mädchen. „Ich war die ganze Zeit mit Lucien zusammen und er ist einer der anständigsten Männer, die ich kenne.“

„Er verstellt sich nur, Corinne!“ sagte Nicholas eindringlich. „LaCroix ist ein mächtiger, gefährlicher und unberechenbarer Mann, der nicht davor zurückscheut, zu töten. Wollen Sie sein nächstes Opfer werden?“

Die junge Frau schaute wieder zu Lucien hinüber, der im gleichen Augenblick ebenfalls in ihre Richtung sah. Er lächelte sie freundlich an, sein Blick war überaus zärtlich. Nein, er konnte niemals das bösartige Wesen sein, von dem Knight sprach.

„Sie lügen!“ wandte sich Corinne nun wieder an Nicholas. „Ich weiß zwar nicht warum, aber es ist mir auch egal! Lucien ist ein anständiger Mann, der mir stets geholfen und mich beschützt hat.“

„Aber das alles ist nur eine Maske, mit der er seine Opfer täuscht!“ warnte Nick. „Wenn Sie schon nicht an sich denken, so vergessen Sie doch bitte nicht Ihre Familie, Corinne! Nathalie trägt die Verantwortung für Sie. Wollen Sie ihr denn Unannehmlichkeiten bereiten? Wollen Sie, dass Ihre Cousine unglücklich wird, weil Ihnen etwas Schlimmes passiert? Das würden weder Nathalie noch ich mir je verzeihen.“

„Ach ja...“, murmelte Corinne, als würde ihr wieder etwas längst Vergessenes einfallen. „In welcher Beziehung stehen Sie eigentlich zu meiner Cousine, Mr. Knight?“

„Ich bin nur ein Freund, sonst nichts.“

„Nathalie liebt Sie, aber Sie scheinen nur mit ihren Gefühlen zu spielen“, meinte Corinne vorwurfsvoll.

„Was reden Sie denn da, Miss Lambert? Zwischen mir und Nathalie ist nichts außer Freundschaft!“

„So? Und was war vor einigen Tagen, als Sie und meine Cousine plötzlich in meinem Schlafzimmer standen? – Warum lügen Sie mich an, Mr. Knight?“

„Ich belüge Sie nicht, Corinne! Nat und ich sind nur gute Freunde, und das soll auch so bleiben! Alles andere wäre undenkbar!“ verteidigte sich Nicholas heftig. „Aber Sie lenken vom Thema ab! Es geht hier nicht um mich, sondern um Sie und Ihre Sicherheit! Bitte, Corinne, versprechen Sie mir, sich von LaCroix fernzuhalten – Bitte, tun Sie es um Nathalies willen, die sonst keine ruhige Minute mehr haben wird.“

„Ich verspreche Ihnen nichts dergleichen, Mr. Knight!“ erwiderte Corinne aufgebracht. „Und da Sie schon einmal meine Sicherheit ansprechen: Mein Studienkollege Michael Fernandez macht mir das Leben schwer, seit ich ihn in Toronto wiedergetroffen habe. Er verfolgt mich und beschimpft mich. Mr. Schanke, Lucien und Jamie waren die einzigen, die mich vor ihm beschützt und ihn zur Räson gebracht haben. Und Sie haben die Frechheit, hierher zu kommen und Lucien zu diffamieren? Nathalie sollte sich lieber Gedanken um solche Typen wie Michael machen!“

„Wir kümmern uns auch um ihn!“ versprach Nicholas schnell. „Aber bitte glauben Sie mir, Corinne, LaCroix ist wirklich ein sehr gefährlicher Mann. Ich sage das keineswegs, um schlecht von ihm zu reden, sondern weil es sich tatsächlich so verhält. Bitte, Corinne, ich meine es nur gut mit Ihnen. Denken Sie doch an Nathalie!“

Die junge Frau verdrehte genervt die Augen. Es war offensichtlich, dass sie Nicholas nicht glaubte.

„Wo ist Nat?“ fragte Corinne gereizt. Sie warf wieder einen Blick zu Lucien hinüber, der sie immer noch freundlich ansah und geduldig auf sie wartete. Wie gern würde sie jetzt mit ihm allein sein. Aber bevor sie verschwand, war es notwendig, Nathalie zu beruhigen. Bestimmt hatte dieser Knight sie mit seinem verleumderischen Geschwätz nervös gemacht. Er tat ihrer Cousine wirklich nicht gut und sie sollte sich besser einen anderen Freund suchen – einen, der zu ihr stand. Sie jedenfalls hatte keine Lust, noch eine Minute länger mit diesem merkwürdigen Polizisten zu verbringen, der aus irgendeinem Grund Lucien zu hassen schien.

„Ich glaube, Nat ist zur Toilette gegangen“, erwiderte Knight.

„Gut, dann werde ich ebenfalls dorthin gehen“, sagte Corinne und war froh, einen Grund gefunden zu haben, um aus der Nähe von Knight verschwinden zu können. Sie eilte ins Untergeschoss, wo sich die Toiletten befanden, und suchte die Örtlichkeiten für Damen auf. Aber es schien niemand hier zu sein. Corinne ging in eine der Kabinen und nutzte diese kleine Pause, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Danach kehrte sie in den Waschraum zurück und säuberte ihre Hände. Dann lehnte sie sich seufzend gegen die Wand und starrte nachdenklich in einen der Spiegel. Wie gern würde sie jetzt einfach von der Veranstaltung verschwinden. Ein Blick auf die Uhr über der Tür verriet ihr, dass es bereits halb eins war. Himmel, wie schnell die Zeit verging. Wie schön wäre es, nun mit Lucien irgendwo allein zu sein. Aber zuvor musste sie Nathalie, die von Knight bestimmt gegen ihren neuen Freund aufgehetzt worden war, irgendwie beruhigen. Eva könnte ihr sicherlich aushelfen... ja, das war die Lösung! Ihre Freundin half ihr gewiss mit einer kleinen Lüge aus der Verlegenheit.

Zufrieden lächelte Corinne sich im Spiegel selbst zu und schickte sich eben an, die Toilette zu verlassen, als sie ein kaum vernehmbares Schluchzen hörte. Sie hielt erschrocken inne. Ihr fiel wieder ein, wie gemein sich Teichert vorhin ihrer ehemaligen Studienkollegin gegenüber verhalten hatte.

„Inge?“ fragte sie laut.

Keine Antwort.

„Inge, bist du das?“

Ein leises Weinen erklang.

„Inge? Bist du es, Inge? Bitte, antworte doch!“ rief Corinne.

„Ja, ich bin hier“, meldete sich ein weinerliches Stimmchen.

„Mensch, Inge, was ist denn los? Komm doch raus, bitte!“

Corinne hörte, wie der Riegel einer Kabine herumgedreht wurde, und gleich darauf trat die zierliche Blondine mit rotverweinten Augen heraus. Sie sah so mitleiderregend aus, dass Corinne sie sofort in die Arme schloss, was einen erneuten Weinkrampf Inges zur Folge hatte.

„Ja, wein dich ruhig aus“, murmelte Corinne und wiegte sie sanft hin und her. So standen sie eine Weile da und Corinne stellte keine Fragen. Denn sie konnte sich denken, was mit Inge los war. Dieser war endlich klar geworden, welch miesen Charakter Teichert hatte.

Nach einer Weile hatte sich das blonde Mädchen ausgeheult und löste sich aus Corinnes Armen. Sie sah sie mit dankbarem Blick an.

„Möchtest du über irgendetwas mit mir sprechen?“ fragte Corinne.

„Ach, es ist nur... ich verstehe nicht, warum Wernher mich so behandelt“, antwortete Inge. „Wir haben uns bisher so gut verstanden, sind ein tolles Team. Ich habe Tag und Nacht durchgearbeitet, um alles für die Tagung vorzubereiten. Er wusste doch, dass ich damit fertig bin. Deshalb ist mir unbegreiflich, weswegen er mich vorhin so heruntergeputzt hat.“

„Bitte, Inge, nimm dir sein Verhalten nicht zu Herzen. Teichert ist ein falscher Hund!“ erklärte Corinne mit Nachdruck. „Er hat deine Gutmütigkeit einfach nur ausgenutzt. Tag und Nacht für ihn zu arbeiten – der spinnt doch total! Er behandelt dich, als wärst du seine Sklavin. Warum machst du das mit?“

„Ich... ich liebe ihn, deshalb...“, gab Inge leise zu.

„Genau das habe ich befürchtet“, meinte Corinne. Sie sah ihre Bekannte eindringlich an und fuhr fort: „Er hat deine Liebe nicht verdient, Inge. Du bist ein guter Mensch und hast so viele Talente und liebenswerte Eigenschaften. Warum verschwendest du sie an solch einen schlechten Typen wie Teichert, der das nicht zu schätzen weiß?“

„Ich kann ohne ihn nicht leben!“

„Ach, natürlich kannst du das!“

„So? Meinst du?“ fragte Inge und schaute Corinne zweifelnd an.

„Klar! Wenn ihr wieder in Frankfurt seid, suchst du dir eine neue Stelle und kündigst, sobald du sie gefunden hast“, riet ihr ihre Studienkollegin.

„Aber wenn Wernher mir Ärger macht? Er könnte zum Beispiel erzählen, dass ich eine schlechte Assistentin bin...“

„Nicht, wenn er keine Ahnung davon hat, dass du ihn verlassen willst. Mach einfach gute Miene zum bösen Spiel, bis du einen neuen Job hast; und lass ihn gefühlsmäßig nicht mehr an dich heran. Am besten ist es, wenn du unter Leute gehst und gute Freunde findest. Dann schaffst du es am schnellsten, dich von Teichert zu lösen.“

„Vielleicht hast du recht“, murmelte Inge, die sich beruhigt zu haben schien. „Ich danke dir, Corinne. Du bist lieb!“

„Fühlst du dich jetzt besser, Inge?“

„Ja, danke. Ich werde versuchen, deine Ratschläge zu beherzigen. Und nochmals vielen Dank, dass du mich vorhin gegen Wernher in Schutz genommen hast.“

„Das war selbstverständlich! Teichert hatte kein Recht, so mit dir umzuspringen“, wehrte Corinne ab. „Aber jetzt solltest du dich wirklich schlafen legen, Inge. Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Meinst du, du schaffst es allein ins Hotel zurück? Oder soll ich dich begleiten?“

„Nein, nein, das brauchst du nicht“, erwiderte Inge und lächelte ein wenig. „Ich mache mich nur noch etwas frisch und fahre dann ins Hotel. Vielen Dank nochmal für alles.“

„Schon okay! Wir sehen uns bestimmt in den nächsten Tagen. Gute Nacht, Inge!“

„Gute Nacht!“

*

Mit dem Gefühl, Inge wenigstens etwas Trost und Hoffnung gespendet zu haben, trat Corinne auf den Flur und schickte sich an, in Richtung Treppe zu eilen, als Wernher Teichert um die Ecke bog und sich ihr in den Weg stellte.

„Na, Fräulein Lambert, wohin so schnell?“ fragte er mit seiner unangenehm näselnden Stimme. „Ich finde, es ist jetzt an der Zeit, dass wir beide uns unter vier Augen unterhalten.“

„Darauf lege ich keinen Wert!“ giftete Corinne ihn an.

Teichert lachte.

„Sie sind ein richtig süßes, kleines Wildkätzchen, Fräulein Lambert! Mir gefällt Ihre Art, und mir hat auch gefallen, wie Sie sich für Inge eingesetzt haben. Na ja, ich hatte ohnehin immer den Eindruck, dass Sie ein leidenschaftlicher Mensch sind!“

„Mich interessiert nicht, was Sie von mir halten! Und jetzt lassen Sie mich gefälligst durch!“

„Nicht so kratzbürstig, süße Corinne! Wollen Sie denn gar nicht wissen, welches Angebot ich Ihnen zu unterbreiten habe? Es könnte sich nützlich auf Ihre Karriere auswirken!“

„Ich sagte Ihnen schon einmal, dass ich nicht interessiert bin, Herr Teichert!“

„Nicht so voreilig, meine schöne Spröde! Was halten Sie davon, bei mir als wissenschaftliche Assistentin zu arbeiten?“

„Gar nichts! Außerdem haben Sie doch zwei Assistenten, soviel ich weiß!“

„Oh, aber ich hätte noch das Budget übrig, um Sie einzustellen...“

„Wie gesagt, interessiert es mich nicht. Lassen Sie mich jetzt vorbei!“

Corinne versuchte, sich neben Teichert hindurchzuschlängeln, aber er hielt sie am Arm fest und zog sie zurück.

„Sie sollten mein Angebot gut überdenken, meine Schöne! Meinen Sie, Ihr Erfolg von heute Abend wird Ihnen noch etwas nützen, wenn ich Sie in Fachkreisen unmöglich mache, Corinne? Sie wissen sicher, wie groß mein Einfluss ist, nicht wahr?“

„Ich glaube, Sie überschätzen sich!“ erwiderte das Mädchen hochmütig. „Außerdem war und bin ich nicht an einer wissenschaftlichen Karriere interessiert.“

„Ach richtig! Sie lieben ja aus unerfindlichen Gründen die Arbeit mit den kleinen Bälgern“, sagte Teichert und begann zu grinsen. „Aber glauben Sie mir, Corinne, sobald ich Ihren Ruf ruiniert habe, wird Ihnen niemand mehr seine Gören anvertrauen. Es wäre also besser, die Stelle bei mir anzunehmen.“

„Und was bringt Ihnen das?“ wollte Corinne wissen.

„Nun, natürlich werden Sie das tun, was ich von Ihnen verlange, meine Schöne“, erklärte Teichert, dessen Grinsen immer breiter geworden war. „Das heißt, Sie stehen mir jederzeit zur Verfügung, Tag und Nacht!“

„Ich werde mich ganz bestimmt nicht so schamlos von Ihnen ausnutzen lassen wie die arme Inge.“

„Ach Gott - Inge!“ seufzte Teichert laut auf. „Sie ist ohne Zweifel sehr fleißig und ich hatte darüber hinaus auch meinen Spaß mit ihr. Aber sie ist auf die Dauer zu langweilig, um mich zu fesseln. Sie mit Ihrer erfrischenden Kratzbürstigkeit sind da schon ein anderes Kaliber, süße Corinne!“

„Was soll das heißen?“

„Sie wissen, dass ich Sie schon seit langem begehre! Genau deshalb will ich Sie als meine persönliche Assistentin haben. Das bedeutet, dass Sie mir vor allem jederzeit als Geliebte zur Verfügung stehen werden!“

„Was?!“ entfuhr es Corinne und sie begann laut zu lachen. Das verblüffte Teichert so sehr, dass er endlich ihren Arm losließ und sie verwundert anstarrte.

„Das haben Sie sich ja fein ausgedacht“, sagte sie dann höhnisch. „Aber ich habe keine Angst vor Ihnen und lasse mich nicht erpressen. Ich könnte mich niemals dazu überwinden, mit Ihnen eine Affäre zu beginnen, denn Sie sind einer der widerlichsten Menschen, die ich kenne. Und nun leben Sie wohl!“

„Na warte, du kleines Biest“, knurrte Teichert. Sein zuvor noch selbstzufriedenes Gesicht war von einem Moment zum anderen einer wütenden Fratze gewichen. „Ich mach dich so fertig, dass du mich auf Knien um Verzeihung anflehen wirst.“

„Träumen Sie ruhig weiter!“ spottete Corinne, die keinen Moment daran glaubte, dass Teichert ihr jemals gefährlich werden könnte. Für sie war er ein vom Größenwahn besessener Mensch, der seine Grenzen noch nicht kennengelernt hatte. Sie wusste aus vielen Gesprächen mit Fachleuten, dass man nicht halb so viel von ihm hielt, wie er glaubte. Mit diesem Wissen konnte sie seine Drohungen ganz gelassen an sich abprallen lassen.

Doch weder sie noch er ahnten, dass sowohl Inge als auch Michael, die beide unabhängig voneinander gerade im Begriff gewesen waren, ihre jeweiligen Toiletten zu verlassen, unfreiwillige Zeugen dieses Erpressungsversuchs geworden waren...

***

Kaum war Corinne wieder oben in der Vorhalle angekommen, verschwendete sie keinen Gedanken mehr an Teichert, sondern dachte nur daran, so schnell wie möglich mit Lucien zu verschwinden. Sie schaute in seine Richtung und wartete darauf, dass er ihren Blick erwiderte, was er gleich darauf tat. Sie deutete stumm mit dem Kopf Richtung Ausgang. Er verstand und nickte ihr zum Zeichen dafür lächelnd zu.

Danach suchte Corinne den Saal nach ihrer Freundin ab. Als sie sie entdeckte, ging sie zu ihr und nahm sie beiseite.

„Ich brauche unbedingt deine Hilfe, Eva“, wisperte sie ihr zu. Diese neigte ihren Kopf interessiert zu Corinne und fragte: „Wobei?“

„Es ist bereits 1.00 Uhr und ich möchte eigentlich gehen.“

„Und wo ist das Problem?“

„Ich bin mit einem Mann verabredet, den Nathalie nicht mag. Um sie nicht unnötig aufzuregen, will ich ihr erzählen, dass ich heute bei dir übernachte. Wäre diese kleine Lüge okay für dich?“

„Hm... Wer ist der Typ?“ fragte Eva.

„Der große, blonde Mann, der dort drüben in der Ecke mit der schlanken, schwarzhaarigen Frau spricht. Er heißt Lucien und ich kenne ihn bereits seit ein paar Tagen.“

„Sieht ein bisschen finster aus. Bist du verliebt in ihn?“

„Ich glaube schon“, gab Corinne zu und lächelte verlegen.

„Okay, ich mache mit“, versprach Eva. „Ich hoffe nur, dass du keine böse Überraschung mit ihm erlebst.“

„Bestimmt nicht! Lucien hat mir sehr geholfen. Ich kenne kaum jemanden, dem ich so vertraue wie ihm“, erwiderte Corinne und strahlte ihre Freundin an. „Ist es auch wirklich okay für dich, wenn wir dann gleich gehen?“

„Na klar! Spätesten um 2.00 Uhr wird hier dichtgemacht. Die meisten brechen ohnehin jetzt auf!“

„Hast du eigentlich irgendwo Nathalie gesehen?“ fragte Corinne.

„Sie steht mit Don und Myra vor einer Apollo-Skulptur und hat dich auch bereits gesucht“, klärte Eva sie auf. „Komm mit. Bringen wir unsere Märchenstunde hinter uns.“

*

Nathalie war hocherfreut, als Corinne mit Eva bei ihr auftauchte.

„Na endlich!“ begrüßte sie ihre Cousine. „Wo warst du?“

„Auch ich habe menschliche Bedürfnisse“, erwiderte die Angesprochene. „Ich war unten auf der Toilette. Also kein Grund, sich Sorgen zu machen.“

„Ich habe gehört, dass du vielleicht im nächsten Frühjahr nach Toronto kommst, um als Lehrerin zu arbeiten.“

„Ja, ich habe ein gutes Angebot von einer Privatschule“, gab Corinne zu. „Doch darüber können wir uns zu einem späteren Zeitpunkt unterhalten. Ich würde jetzt eigentlich gern gehen. Du hast doch nichts dagegen, dass ich bei Eva übernachte? Wir haben uns so lange nicht gesehen und wollen die Nacht durchquatschen.“

„Das verstehe ich gut“, sagte Nathalie und schien erleichtert über diese Nachricht. „Machts gut, ihr zwei. Wir sehen uns dann morgen, Corinne.“

„Ähm... also eigentlich wollten wir Montag ins Eaton Center. Daher weiß ich nicht, ob wir uns morgen begegnen werden, Nat. Dieses Einkaufszentrum ist schließlich riesengroß und wir wollten uns in Ruhe umsehen.“

„Na, dann amüsiert euch nur nach Herzenslust! Wenn etwas ist, weißt du ja, wie du mich erreichen kannst. Und ich habe die Handy-Nummer von Eva. – Also viel Spaß, ihr beiden, und Gute Nacht!“

Die beiden Mädchen nickten Nathalie, Myra und Don freundlich zu und wünschten ihnen ebenfalls eine Gute Nacht. Dann holten sie ihre Mäntel aus der Garderobe ab und verließen das Gebäude. Draußen war es angenehm kühl und Corinne nahm einen tiefen Atemzug.

„Und jetzt?“ fragte Eva neugierig.

„Lucien wird jeden Augenblick kommen“, antwortete ihre Freundin zuversichtlich.

***

Nachdem Lucien den Blick Corinnes aufgefangen und ihre Geste verstanden hatte, wandte er sich in leisem Ton an Janette: „Der Augenblick deines Auftritts ist gekommen! Viel Glück!“

„Ich wünsche euch eine schöne Nacht“, flüsterte Janette und drückte kurz den Arm ihres Meisters. Dann wartete sie den Moment ab, in dem Corinne mit ihrer Freundin verschwunden war, bevor sie sich mit energischen Schritten Nathalie Lambert näherte und schließlich mit zornigem Blick vor ihr stehen blieb.

Die Pathologin schaute erstaunt auf und fragte: „Ja, bitte?! Kann ich etwas für Sie tun?“

„Sie sind schuld daran, dass Nicholas mich verlassen hat!“ zischte Janette sie für alle hörbar an.

Das Ehepaar Schanke drehte sich zu ihr und Nathalie um und starrte sie verwundert an.

„Wie bitte?“ Nathalie war irritiert. „Ich verstehe nicht...?“

„Nicholas war mit mir zusammen und zwischen uns ist alles in Ordnung gewesen, bevor Sie auftauchten“, sagte Janette laut. Nun wurden auch viele der anderen Anwesenden auf sie aufmerksam. „Nur wegen Ihnen hat Nicholas mich verlassen!“

„Das... das muss ein Irrtum sein“, stotterte Nathalie. „Ich und Nick... wir haben nichts miteinander...“

„Lügen Sie mich nicht an!“ schrie die Vampirin.

„Bitte, Janette, mach hier keine Szene!“ Nicholas trat nun neben seine Schwester und schaute sie eindringlich an. „Nathalie hat dir nichts getan!“

Die Angesprochene drehte sich zu ihm um und blitzte ihn mit ihren Augen an.

„Von wegen“, sagte sie. „Diese Frau ist der Grund dafür, dass du mich verlassen hast!“

„Du weißt, dass das nicht stimmt!“ wies Nick sie zurecht. „Also bitte, reiß dich zusammen!“

„Ich will mich nicht zusammenreißen!“ schrie Janette. „Sollen doch alle wissen, dass du mich wegen ihr verlassen hast!“ 

Die Vampirin deutete dabei mit dem Finger auf Nathalie, die unwillkürlich zurückwich.

„Bitte!“ ließ diese sich nun mit zaghafter Stimme vernehmen. „Es ist wirklich nicht so, wie Sie glauben, Janette!“

Die Reaktion der schönen Vampirin darauf war ein kurzes, höhnisches Auflachen. Dann wandte sie sich wieder Nick zu: „Sie steht nicht mal zu eurer Beziehung, Nicholas! Was willst du mit so einer Frau?!“

„Zwischen Nathalie und mir läuft nichts!“ zischte er Janette wütend an. Sie registrierte erfreut, dass seine Augen anfingen zu flackern. Er konnte seine Vampirnatur auf die Dauer nicht verleugnen und das spürte er auch. Sie wusste es und triumphierte innerlich.

„Warum belügst du mich, Nicholas?“ fragte sie und tat immer noch so, als sei sie eifersüchtig. „Wenn du mich schon wegen ihr verlassen hast, dann gib es wenigstens zu.“

„Was soll dieser Unsinn? Du weißt, dass deine Anschuldigungen jeder Grundlage entbehren“, erwiderte Nick.

„Ach?“ Janette tat erstaunt. Dann schmiegte sie sich plötzlich an ihn und gurrte mit sanfter Stimme: „Wenn das so ist, dann komm zu mir zurück. Wir beide gehören zusammen – für immer! Hast du das etwa vergessen?“

„Die Sache zwischen uns ist schon lange vorbei“, sagte Nick und schob sie mit sanfter Gewalt von sich. „Und du weißt genau, dass Nathalie nicht der Grund dafür ist.“

Janette blickte sich nach der Pathologin um und lächelte verächtlich.

„Was für ein Jammer, nicht wahr, Dr. Lambert?“ meinte sie und wandte sich dann mit einem Blick an alle, die sie immer noch anstarrten: „So ist es nun einmal, wenn die Leidenschaft mich übermannt. Ich hoffe, dass Sie Verständnis für eine Frau wie mich haben, und wünsche Ihnen noch eine Gute Nacht!“

Sie stolzierte hocherhobenen Hauptes davon, wissend, dass viele der Anwesenden ihr nachstarrten. So auch Nicholas und Nathalie.

„Was sollte das Ganze, Nick?“ fragte die Pathologin leise.

„Ich habe keine Ahnung...“, gab er kopfschüttelnd zu. „So habe ich Janette noch nie erlebt. Außerdem verstärkt sich in mir der Eindruck, dass diese Szene, die sie uns eben geliefert hat, alles andere als ernst gemeint war.“

„Aber warum? Dafür muss es einen Grund geben.“

„Na ja, neulich schien sie mir wirklich etwas eifersüchtig auf dich zu sein“, murmelte Nick, der an ihre Vorwürfe dachte, die sie ihm im Raven gemacht hatte. „Aber hinter diesem Auftritt eben steckt noch etwas anderes...“

Intuitiv blickte er in die Ecke, in der LaCroix vorhin noch mit Janette gestanden hatte. Der Platz war leer.

„Verdammt!“ entfuhr es ihm. „Ich glaube, wir sollten von LaCroix abgelenkt werden. Er ist verschwunden! Wo ist eigentlich Corinne?“

„Ach, sie ist vor ein paar Minuten mit Ihrer Freundin gegangen. Sie wollte bei Eva übernachten“, berichtete Nathalie arglos. Dann jedoch kam ihr ein schlimmer Verdacht und sie wandte sich beunruhigt an ihren Kollegen. „Du glaubst doch nicht etwa, dass Corinne sich heimlich mit LaCroix treffen will?“

„Doch, genau das glaube ich!“ sagte Nicholas wütend und stürmte ohne weitere Erklärung aus dem Gebäude. Aber vor dem Eingang fand er die Gesuchten nicht mehr. Voller Zorn musste er sich eingestehen, dass es seinem Meister und Nathalies Cousine gelungen war, ihn auszutricksen. Wie konnte er nur so dämlich sein, auf das Theater von Janette hereinzufallen? Er hatte doch gewusst, dass die Kleine von LaCroix auserwählt worden war, die Ewigkeit mit ihm zu teilen. Niemals hätte er den Alten aus den Augen lassen dürfen, und nun konnte er nichts tun, um das Mädchen vor dem grauenvollen Schicksal zu bewahren, eine Untote zu werden...

 

Lucien befand sich mit Corinne auf der Aussichtsplattform des CN Tower und beobachtete seine junge Begleiterin, die fasziniert von dem Lichterspiel der dunklen Stadt schien, auf die sie aus dieser großen Höhe herabsehen konnte. Ein Blick auf den Ontariosee allerdings erinnerte sie daran, dass der sogenannte  >Große Teich<  zwischen ihrer alten Heimat und Kanada lag. Einen Moment lang erfasste sie Sehnsucht nach ihren Eltern und ihrer Schwester. Sie fühlte sich allein in dieser ihr fremden Stadt...

„Traurig?“ fragte Lucien mit sanfter Stimme. Er stand dicht hinter ihr und legte nun seine Arme um ihre Schultern. „Hm? Was hast du, Corinne?“

„Nur ein bisschen Heimweh“, murmelte sie und schmiegte sich an ihn. „Mir ist gerade eben bewusst geworden, wie fremd ich hier doch noch bin.“

„Das gibt sich“, versuchte er sie zu trösten. „Und werde jedenfalls alles dafür tun, dass du dich wie zu Hause fühlst.“

„Ach, wenn ich dich nicht hätte...“, seufzte Corinne und streichelte über seinen linken Arm. Ein zärtlicher Kuss Luciens belohnte sie dafür.

„Ich bin deiner Freundin jedenfalls sehr dankbar, dass sie uns geholfen hat“, murmelte er. „Die letzten Tage habe ich mich so nach deiner Gegenwart gesehnt, Corinne. Ich habe dich sehr vermisst.“

„Warum bist du dann nicht einfach zu einer unserer Proben gekommen oder hast mich besucht?“

„Ich hielt es für das Beste, dich in Ruhe zu lassen, bis du deinen Vortrag hinter dich gebracht hast. Schließlich habe ich genau gespürt, wie nervös du warst...“

„Und ich dachte schon, dass du mich nicht willst“, sagte Corinne. „Damals, als ich...“

„Ich habe dir doch erklärt, warum ich nicht mit dir schlafen wollte“, unterbrach er sie mit sanfter Stimme. „Du warst so aufgeregt... es wäre einfach nicht richtig gewesen... Und ich möchte, dass zwischen uns alles stimmt, wenn wir zusammen sein werden.“

„Dann... dann waren es also keine leeren Worte...?“ fragte Corinne etwas unsicher. „Ich bin für dich wirklich etwas Besonderes?“

„Ja, das bist du“, bestätigte der Vampir. „Vom ersten Moment an habe ich zwischen uns eine unglaubliche Anziehungskraft gespürt. Deshalb wollte ich dich damals auch unbedingt persönlich kennenlernen; und meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht.“

Während er das sagte, fühlte Corinne, wie eine starke Wärme ihren ganzen Körper überflutete. Sie drehte sich zu ihm um, schlang ihre Arme um seinen Hals und schaute mit glänzenden Augen zu ihm hoch.

„Gibt es einen Ort, wohin wir uns zurückziehen können, um allein und ungestört zu sein, Lucien?“

Der Vampir sah sie einen Moment nachdenklich an, dann fragte er: „Willst du das wirklich, Corinne?“

„Ja, ich will mit dir allein sein“, flüsterte sie. „Es gibt nichts, was ich mir im Augenblick mehr wünsche. Lass uns zu dir gehen.“

„Das halte ich für keine gute Idee“, wehrte er ab. Die beengten Verhältnisse im abgeschlossenen Kellergeschoss des Raven waren wahrlich kein geeigneter Ort für romantische Stunden zu zweit, zumal man immer damit rechnen musste, jederzeit gestört zu werden. Schließlich war er nicht der einzige Untote, dem Janette dort während des Tages Unterschlupf gewährte.

„Warum denn nicht?“ wunderte sich die junge Frau. „Bist du etwa wieder verheiratet?“

„Nein, das ist es nicht“, erklärte er. „Dort, wo ich wohne, würdest du dich nicht wohlfühlen.“

Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, meinte er in versöhnlichem Ton: „Wir wollen unser Zusammensein doch genießen, nicht wahr, mein kleiner Schmetterling?“

„Ja, aber wo denn?“

„Nun, ich habe bereits für einen entsprechenden Ort vorgesorgt...“, gab er zögernd zu, was ihm einen erstaunten Blick seiner Begleiterin einbrachte. Er lächelte und meinte leise: „Vertraust du mir, Corinne?“

„Ja.“

„Dann komm, lass dich überraschen.“

Er ergriff Corinnes Hand und zog sie zum Lift. Immer noch verblüfft über das, was er gesagt hatte, folgte sie ihm ohne Widerstand. Erst als sie im Aufzug waren, fand sie ihre Sprache wieder.

„Du hast damit gerechnet, Lucien?“

„Aber ja, ma chère“, erwiderte er sanft und streichelte Corinne über die Wange, was sie leicht erröten ließ. Sie blickte verlegen lächelnd zur Seite, während er in zärtlichem Ton fortfuhr: „Glaubst du, ich sehne mich nicht ebenso danach, mit dir allein sein zu dürfen? Ich denke ständig an dich, du wunderschöner Schmetterling. Ich hoffe, dass unsere erste gemeinsame Nacht unvergesslich wird...“

***

In der Zwischenzeit hatte Nathalie die Nummer von Evas Handy gewählt, das natürlich längst ausgeschaltet war. Lediglich ihre Mail-Box meldete sich und Nathalie hinterließ die Nachricht, Corinne möge sie dringend zurückrufen. Mit unruhigem Gefühl legte sie dann auf und starrte das Mobiltelefon in ihrer Hand an, während sie sich innerlich wünschte, ihre Cousine sei wirklich mit Eva zusammen.

„Dr. Lambert?“ wurde sie von einer Männerstimme aus ihren sorgenvollen Gedanken gerissen. Erschrocken blickte sie auf und atmete dann aus.

„Ach, Sie sind es, Michael! Entschuldigen Sie bitte, aber ich war gerade in Gedanken. Wie hat Ihnen denn der Vortrag gefallen?“

„Corinne war großartig, wie immer“, erwiderte der junge Mann. Dann senkte er seine Stimme etwas ab und fuhr fort: „Ich wollte ihr persönlich gratulieren, aber zwischen uns besteht ein dummes Missverständnis, so dass Ihre Cousine nicht mehr mit mir sprechen will. Könnten Sie ein gutes Wort bei Corinne für mich einlegen?“

„Aber natürlich, das mache ich doch gern“, versprach Nathalie und lächelte ihn freundlich an.

In ebendiesem Augenblick kehrte Nicholas von draußen zurück, stutzte einen Moment, als er Michael erblickte und fragte dann: „Sie sind doch der junge Mann, auf den Miss Lambert neulich mit bloßen Fäusten losgegangen ist, nicht wahr?“

„Das ist richtig“, gab Michael seufzend zu. „Sie ist immer noch böse auf mich, weil ich auf dem Revier angerufen habe.“

„Ja, ja, Corinne kann sehr nachtragend sein“, meinte Nathalie. „Ich werde in den nächsten Tagen einmal in Ruhe mit ihr darüber sprechen. Sicherlich kann ich sie dazu bewegen, Ihnen zu verzeihen. Sie haben es schließlich gut gemeint und ich persönlich finde es nach wie vor richtig, dass Sie mich darüber informiert haben, dass Corinne sich im Raven herumtrieb. Weder dieser Club noch die Gegend, in der er sich befindet, ist sehr empfehlenswert für eine junge Dame.“

„Das kann man wohl sagen!“ pflichtete Nicholas ihr bei. Dann wandte er sich direkt an Michael: „Kann ich Sie unter vier Augen sprechen, Mr. Fernandez?“

Er hatte ihn auf gut Glück mit diesem Namen angesprochen und fand gleich darauf seine Vermutung bestätigt, dass es sich bei Michael um jenen Mann handelte, von dem Nats Cousine sich belästigt fühlte, als dieser nickte und ihm in eine etwas ruhigere Ecke folgte.

„Miss Lambert hat sich bei mir darüber beklagt, dass sie von Ihnen verfolgt würde“, sagte Nicholas dann leise und wartete gespannt auf die Reaktion des jungen Mannes.

„Corinne übertreibt völlig“, erklärte Michael. „Ich bin ihr lediglich einmal mit dem Taxi hinterhergefahren, weil ich etwas Dringendes mit ihr zu klären hatte. Außerdem wollte ich verhindern, dass sie sich mit diesem LaCroix trifft.“

„Ach so?!“ Nicholas war erstaunt. Dann erwiderte er: „Nun, Mr. Fernandez, da haben wir beide wohl das gleiche Ziel. Auch ich finde, dass LaCroix kein Umgang für Miss Lambert ist. Leider stieß ich mit meinen Warnungen bei der jungen Dame auf taube Ohren...“

„Kann ich mir vorstellten“, murrte Michael missmutig. „Ich verstehe überhaupt nicht, warum Corinne immer wieder seine Nähe sucht. Kein normaler Mensch würde diesem zwielichtigen Typ trauen.“

„Oh, Miss Lambert wäre nicht die erste Person, die auf LaCroix hereinfällt“, meinte Nicholas. „Und da Sie die junge Dame ja seit längerem zu kennen scheinen, müssten Sie wissen, wie sehr der Tod ihres Lebensgefährten sie aus der Bahn geworfen hat. Vermutlich sucht sie bei LaCroix so etwas wie Halt, den er ihr selbstverständlich zunächst einmal bietet...“

„Ich hätte ihr diesen Halt auch geben können“, murmelte Michael und blickte zu Boden.

Nicholas horchte auf.

„Miss Lambert scheint Ihnen sehr wichtig zu sein...?“

„Ja...“, gab der junge Mann mit leiser Stimme zu. Dann schaute er Nicholas mit ernstem Blick in die Augen und murmelte: „Ich verehre Corinne, seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe.“

„Weiß Miss Lambert davon?“

„Nein, ich habe ihr bisher nichts davon gesagt... Zuerst wagte ich es nicht und dann war sie plötzlich mit diesem Thomas Marquardt fest zusammen...“

„Ich kann mir vorstellen, wie bitter das für Sie gewesen sein muss“, meinte Nicholas verständnisvoll und betrachtete Michael nachdenklich. „Aber nachdem Miss Lamberts  Freund tot war, hatten Sie doch Gelegenheit, die junge Dame für sich zu gewinnen.“

„Halten Sie mich für so pietätlos, Mr. Knight?“ fragte Michael und schüttelte den Kopf. „Glauben Sie denn, der Tod von Herrn Marquardt hat mich kaltgelassen? Corinne muss völlig am Boden zerstört gewesen sein. Sie tat mir wirklich leid...“

„Kannten Sie Herrn Marquardt eigentlich, Mr. Fernandez?“

„Nur oberflächlich.“

„Hm... dann fällt Ihnen sicher auch niemand ein, der seinen Tod gewünscht haben könnte, oder?“

„Das ist eine sehr merkwürdige Frage, Mr. Knight. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?“

„Nun, es besteht der Verdacht, dass der Tod von Thomas Marquardt kein Unfall war“, erklärte Nicholas und beobachtete sein Gegenüber sehr genau. Der junge Mann schien unruhig zu werden. Er starrte eine Weile auf den Boden, anscheinend nachdenklich, dann blickte er wieder zu Nicholas auf. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

„Wollen... wollen Sie damit etwa sagen... Thomas Marquardt ist... ermordet worden?“ fragte Michael stockend. Er schien tatsächlich überrascht von dieser Möglichkeit zu sein.

„Das ist nicht ausgeschlossen“, bestätigte Nicholas. „Sie wissen nicht zufällig, ob er irgendwelche Feinde hatte oder ob es bestimmte Gründe gab, warum jemand den Freund von Miss Lambert ermordet haben könnte?“

„Mein Gott, es ist so schrecklich, was Sie da sagen!“ 

Michael starrte Nicholas entsetzt an. Dann senkte er seinen Blick erneut minutenlang auf den Boden. Als er den Polizisten schließlich wieder ansah, flüsterte er: „Ich hätte schon eine Idee, wer Herrn Marquardt eventuell aus dem Weg schaffen wollte... aber bitte, Mr. Knight, Sie müssen mir versprechen, dass niemand erfährt, dass ich diesen Verdacht ausgesprochen habe...“

„Sieh mal an, Mr. Fernandez!“ 

Schanke trat zu Nicholas und Michael, wobei er Letzteren mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck musterte.

„Was will er von dir, Nick?“ wandte sich Schanke dann an seinen Kollegen.

„Oh, wir hatten eben ein überaus interessantes Gespräch“, antwortete der Vampir ausweichend. „Ist irgendetwas Wichtiges, Don?“

„Nun ja, unsere Damen wollen jetzt heimgehen. Kommst du, Nick?“

„Einen Augenblick!“ erwiderte Nicholas und wandte sich mit kaum merklichem Lächeln an Michael. „Ich bin sehr daran interessiert, unsere informative Unterhaltung ungestört fortzusetzen, Mr. Fernandez. Können Sie morgen ab 21.00 Uhr bei uns im Revier sein?“

„Selbstverständlich!“ versprach Michael.

„Vielen Dank. Wir sehen uns dann. Gute Nacht!“ verabschiedete sich Nick.

Der junge Mann nickte ihm freundlich zu und verließ dann die beiden Polizisten, ohne Schanke eines Blickes zu würdigen.

„Das ist vielleicht ein merkwürdiger Vogel“, murmelte Don. „Was wollte er von dir, Nick?“

„Nichts, ich habe ihn angesprochen“, antwortete sein Kollege. Auf den erstaunten Blick Schankes fuhr er fort: „Ich glaube, er hat vielversprechende Informationen für mich.“

„Um welchen Fall handelt es sich?“

„Nun... eigentlich kann man noch nicht von einem offiziellen Fall sprechen. Es gibt da lediglich eine Sache, die mir faul zu sein scheint. Ich hoffe, Fernandez liefert den entscheidenden Hinweis, damit ich einen Ausgangspunkt habe, wie ich in dieser Angelegenheit weiter vorgehen kann...“

„Geht es dabei zufällig um Nathalies Cousine?“ wollte Schanke wissen.

„Nicht direkt, Don. Aber es betrifft sie in gewisser Weise auch“, antwortete Nick, den heftige Schuldgefühle überfielen, als er sich eingestand, dass er während der Unterhaltung mit Fernandez völlig vergessen hatte, dass die Kleine in diesem Augenblick wahrscheinlich allein mit LaCroix und damit rettungslos verloren war.

Nicholas begegnete dem fragenden Blick Nathalies und zwang sich zu einem Lächeln, als er auf sie zuging.

„Eva hat ihr Handy ausgeschaltet“, berichtete sie ihm. „Was sollen wir jetzt tun, Nick?“

„Wir können nichts tun außer abzuwarten“, meinte er in sachlichem Ton, obwohl er selbst innerlich genauso unruhig wie Nathalie war. „Vielleicht irre ich mich und Corinne sitzt jetzt gerade mit ihrer Freundin auf dem Bett und spricht sich alles von der Seele.“

„Meinst du?“ fragte Nathalie zweifelnd.

„Könnte doch sein“, entgegnete er in möglichst leichtem Ton. Dann schlang er einen Arm um seine Kollegin und meinte: „Möglicherweise taucht Corinne morgen putzmunter wieder bei dir auf. Also mach dir nicht zu viele Gedanken um sie. Schlaf dich lieber aus, Nat.“

„Vielleicht hast du recht“, seufzte die Pathologin. „Aber wenn ich an das Gespräch zurückdenke, das ich vorhin mit LaCroix geführt habe...“

„Er wollte dich vermutlich nur provozieren“, behauptete Nicholas. Es tat ihm weh, Nathalie anzulügen, da er selbst nicht glaubte, was er ihr erzählte. Aber es führte zu nichts, wenn sich seine sterbliche Freundin aufregte, nur weil deren eigenwillige Cousine sich unbedacht in Gefahr begab. Nick bedauerte, dass die Kleine jetzt nicht hier war, sonst würde er sie mit Wonne übers Knie legen und sie danach monatelang in Arrest nehmen, um sie vor ihrem eigenen Leichtsinn zu schützen. Warum nur hatte er nicht besser auf sie geachtet?

***

Corinne wunderte sich, als Lucien mit ihr ein Haus betrat, dessen Flur mit einem dunkelbraunen Teppich und allerlei exotischen Pflanzen ausgestattet war. Ölgemälde zierten die mit einer hellen Samttapete verkleideten Wände. Ansonsten schien es ein normales Wohngebäude zu sein, wenngleich ungemein luxuriös ausgestattet.

„Ich habe hier für ein paar Tage ein Appartement gemietet, in dem wir beide ungestört sein können“, erklärte er, bevor sie eine Frage stellen konnte, und drückte den Knopf des Fahrstuhls.

„Warum wohnst du nicht hier?“ fragte Corinne.

„Es ist auf die Dauer nicht das Richtige für mich“, wich er aus. Im gleichen Moment öffnete sich die Tür des Aufzugs. Die beiden stiegen ein und fuhren in den 12. Stock.

Währenddessen fragte sich Corinne, was Lucien vor ihr verbarg, dass er sie nicht in seine Wohnung lassen wollte. Aber sie schwieg, um die gute Stimmung zwischen ihnen nicht zu zerstören. Schließlich sprach es irgendwie auch für ihren neuen Freund, dass er extra ein Luxus-Appartement gemietet hatte, um ungestört mit ihr allein sein zu sein. Einen Moment lang fiel ihr die Warnung Knights vor Lucien ein, aber sie tat sie sofort wieder als Unsinn ab.

Neugierig ließ Corinne sich von LaCroix an der Hand über den langen Flur führen, bis sie schließlich an dessen Ende vor einer Tür stehen blieben. Er holte eine Plastikkarte aus seiner Tasche und schob sie durch den Sicherungskasten, der rechts daneben an der Wand angebracht war. Sofort öffnete sich die Tür.

Nun wandte Lucien sich seiner Begleiterin zu, hob sie unversehens auf seine Arme und trug sie über die Schwelle. Dabei sah er sie fortwährend auf eine Art an, die sie zu streicheln schien. Im gleichen Moment fielen alle Zweifel von Corinne ab und sie schlang ihre Arme um seinen Hals und versank in seinen Augen. Erst allmählich löste sie den Blick von ihm, nachdem er die Tür hinter sich mit einem leichten Fußtritt verschlossen hatte. Im dämmrigen Licht der spärlichen Zimmerbeleuchtung erkannte sie ein großes Bett in der Mitte, das mit unzähligen Rosenblättern übersät war, deren intensiver Duft den ganzen Raum erfüllte.

„Du hast bereits alles vorbereitet, du Schlimmer, du...“, hauchte sie, wandte sich dann wieder Lucien zu und biss ihn spielerisch ins Kinn, während ihre Finger begannen, langsam seinen Mantel aufzuknöpfen. 

„Ja, ich bin ein böser Junge“, neckte er sie leise. „Du willst mich wohl auffressen, du kleine Wildkatze, was?“

„Hm... ich habe dich zum Fressen gern, Lucien“, flüsterte sie, verschloss dann seine Lippen mit den ihren und bald darauf spielten ihre Zungen miteinander.

Während sie sich küssten, stellte er sie langsam wieder auf ihre Füße und befreite sie behutsam aus ihrem Mantel. Sie tat es ihm gleich. So entkleideten sie sich nach und nach gegenseitig, wobei sie sich jedes Mal aufs Neue dem Körper des anderen in liebkosender Weise widmeten. Als sie beide schließlich nackt waren, biss Corinne ihn leicht in den Hals und saugte ein bisschen an dieser Stelle. Lucien verdrehte vor Lust die Augen, ließ sie einen Moment gewähren und hob seine junge Freundin dann wieder hoch. Er trug sie zu dem großen Bett hinüber und legte sie hinein. Corinne schaute ihn erwartungsvoll an, öffnete ihre Arme weit und murmelte: „Komm zu mir, Liebster!“

Das ließ Lucien sich nicht zweimal sagen und war eine Sekunde später über ihr, sein Gesicht nah an dem ihren. Sie schauten sich lächelnd an, versanken wieder in den Augen des anderen. Corinne streichelte zärtlich seine Wange. Er schloss die Augen, genoss diese Liebkosung, während ihre andere Hand ihm durch die Haare fuhr und schließlich in seinem Nacken verharrte, wo sie ihn zu kraulen begann.

„Oh, mon amour, was machst du mit mir?“ brummte er voller Wohlbehagen.

Sie lachte verhalten.

„Leg dich auf den Rücken!“ forderte sie ihn dann mit leiser Stimme auf. Er gehorchte. Sie setzte sich nun auf ihn und beugte ihren Kopf so weit nach vorn hinunter, dass ihre schwarzen Locken seine Haut berührten. Dann ließ sie ihre langen, seidigen Haare sachte über seine nackte Brust gleiten. Er schloss die Augen und genoss es. Es war so angenehm, sich von diesem süßen Mädchen verwöhnen zu lassen und zu fühlen, wie das längst vergessen geglaubte Verlangen in ihm sich verstärkte, mit einer Frau zu schlafen, nach der er sich voller Sehnsucht verzehrte. Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, seit er das letzte Mal eine Frau so sehr begehrt hatte, wie er jetzt Corinne begehrte. Er konnte es kaum erwarten, sich mit ihr zu vereinigen und sie dann zu seiner Gefährtin zu machen. Bald war sie für immer sein, für immer...

Corinne umkreiste nun ganz sanft mit ihrer Zunge eine seiner Brustwarzen. Es machte ihn völlig verrückt. Er stöhnte auf und griff in ihre Haare. Sie ließ sich von ihm auf seinen Körper herunterziehen und blieb mit ihrer Wange auf seiner Brust liegen, hörte seinen Herzschlag und fühlte, wie er mit seinen großen Händen zärtlich über ihre Schultern strich. So verharrten sie eine Weile. Schließlich wollte Corinne sich wieder aufsetzen. Im gleichen Augenblick erhob sich Lucien mit ihr, drückte sie hinunter auf die Kissen und küsste sie leidenschaftlich. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, genoss es, als er an ihrer Unterlippe saugte, und seufzte wohlig auf, als seine Hände begannen, ihre Brüste zu massieren.

„Oh, Lucien...“ entrang es sich ihrer Kehle, als er daran saugte, während gleichzeitig eine seiner Hände die Stelle zwischen ihren Beinen fand und anfing, diese behutsam zu streicheln. Wie unabsichtlich streifte er dabei jedes Mal ihren Lustpunkt, und sie begann sich unter seinen Liebkosungen zu winden. Schließlich glaubte sie, es nicht mehr aushalten zu können und stöhnte: „Komm zu mir...“, öffnete ihren Schoß für ihn und spürte beglückt, wie ihr Liebster sich gleich darauf mit ihr vereinigte...

*

Lucien lag auf dem Rücken und streichelte gedankenverloren das seidige Haar Corinnes, die sich in seinen Arm eingekuschelt hatte, den Kopf auf seiner Brust, und entspannt schlief. Er wollte ihr noch ein paar Minuten dieses friedlichen Schlafs gönnen, bevor er sie zu einer Untoten machte. Danach würde sie ein bis zwei Tage völlig orientierungslos sein, ehe sie sich an ihre neue Existenz gewöhnt hatte. Ob es ihr gefallen würde, die Ewigkeit mit ihm zu teilen?

Er warf einen Blick auf seine junge Freundin. Sie sah so glücklich aus, wie er sich fühlte. Bestimmt gewöhnte sie sich schnell an das neue Leben an seiner Seite.

Ja, die kleine Corinne wäre bald seine Gefährtin für die Ewigkeit. Er musste jetzt eigentlich nur noch zubeißen, dann wäre sie für immer sein.

Lucien schob die junge Frau in die Kissen zurück.

„Hm... was ist denn?“ murmelte sie verschlafen.

„Nichts, mein Liebling, schlaf schön weiter“, wisperte er und streichelte zärtlich ihre Wange. Vorsichtig näherte er sich ihrem Hals, küsste ihn, saugte daran. Sie würde kaum etwas spüren, wenn er sie gleich biss. Er entblößte seine Fangzähne und wollte sie gerade in die zarte Haut des Mädchens bohren, als dieses im Halbschlaf murmelte: „Oh, Lucien, ich liebe dich...“

LaCroix  spürte die Aufrichtigkeit dieser Worte und ein Glücksgefühl überflutete ihn, während gleichzeitig ein stechender Schmerz durch sein Herz fuhr. Fassungslos starrte er auf Corinne. Sie liebte ihn... sie liebte ihn wirklich... ihn, einen Vampir! Ein Wesen, das die meisten Menschen verabscheuten. Aber sie liebte ihn...

In dem Augenblick, als ihm das klar wurde, starb die blutgierige Bestie, die sich in seinem Inneren befand. Er konnte ihr nicht wehtun... er konnte nicht das Blut dieses Engels trinken, der ihn bedingungslos liebte. Allein der Gedanke daran löste tiefe Abscheu und innere Pein in ihm aus.

Was war nur los mit ihm? Er war ein Vampir! Er ernährte sich von Blut! Er wollte Corinne unbedingt als ewige Gefährtin haben!

Erneut beugte er sich in der Absicht, sie zu beißen, über sie. Doch allein ihr Anblick hinderte ihn daran. Sie lag so friedlich da, den Hals einladend dargeboten... ein schutzloses Mädchen, das ihm auf Gnade und Verderben ausgeliefert war...

Nein, er konnte es nicht tun!

Heute Nacht nicht!

Sein kleiner Engel sollte leben...

Als Corinne am Morgen erwachte, fand sie sich allein in dem großen Bett vor. Der Duft der Rosenblätter erfüllte immer noch den Raum.

„Lucien?!“ rief sie laut.

Als niemand ihr antwortete, stand sie verwundert auf und ging ins Bad. Sie schaute in den Spiegel und musste lächeln. Die Liebesnacht mit Lucien war einfach wundervoll gewesen. Sie hatte fast vergessen, wie schön es war, mit einem Mann zusammen zu sein, den man liebte. Und sie liebte Lucien, das war ihr inzwischen klar geworden. Denn wenn es nicht so wäre, hätte sie ihm niemals vertraut und diese Liebesnacht hätte auch nicht stattgefunden.

Nach Thomas war er der erste Mann, für den sie solch tiefe Gefühle empfand... Himmel, Thomas! Der Gedanke an ihn zerstörte jäh die Euphorie, in der sie eben noch geschwebt hatte. Sie hatte bereits seit ein paar Tagen nicht mehr an ihren toten Freund gedacht. Jetzt, wo sie sich dessen bewusst wurde, erfasste sie ein tiefes Schuldgefühl. Wie hatte sie ihn nur vergessen können! Aber andererseits liebte sie Lucien! Und Lucien lebte, Thomas nicht!

Mit steigendem Schamgefühl blickte Corinne in das Waschbecken und starrte minutenlang hinein. Sie war so irritiert über ihre Gedanken und Empfindungen, dass sie unbedingt mit jemandem sprechen musste. Einem Menschen, dem sie völlig vertrauen konnte. Aber Mutter und Schwester waren weit weg... Nathalie würde es vielleicht nicht verstehen, weil sie Vorurteile gegen Lucien hatte... aber Eva...? Ja, richtig, sie wollte sich gegen 10.30 Uhr mit ihrer Freundin vor dem Eaton Centre treffen. Eva war unvoreingenommen und vertrauenswürdig. Sie war genau die richtige Person, um sich auszusprechen.

Corinne ging unter die Dusche und drehte das Wasser auf. Als sie sich danach abtrocknete, fiel ihr Blick erneut auf ihr Spiegelbild. Sie erschrak! Da prangte es groß und für jeden gut sichtbar auf ihrem Hals... das Zeichen der Leidenschaft Luciens: Ein dunkelroter Knutschfleck!

So konnte sie unmöglich unter die Leute gehen. Aber außer ihrer Kleidung von gestern besaß sie nichts, womit sie ihren Hals bedecken konnte. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als in Nats Wohnung zurückzufahren und sich umzuziehen. Unter ihren Sachen befanden sich auch einige Tücher, die sie sich umbinden und somit den Liebesbiss verbergen konnte.

Corinne ging zurück in das Zimmer, wo das Bett stand, um sich anzukleiden. Sie musste ein wenig schmunzeln, als sie sah, dass Lucien ihre Klamotten sauber über einen Stuhl gelegt hatte. Gestern Nacht – so erinnerte sie sich – hatten weder er noch sie sich Gedanken darum gemacht, dass ihre Kleider quer im Raum herumlagen... Ihr Blick fiel auf das mit Rosen bestreute Bett... mit einem warmen Gefühl betrachtete sie das Liebeslager. Dabei bemerkte sie, dass auf dem Nachttisch ein Brief für sie lag, den sie vorhin nicht wahrgenommen hatte. Neugierig ging sie hin und öffnete ihn:

 

„Guten Morgen, meine wunderschöne Corinne Y

Bist du gut ausgeruht, kleiner Schmetterling?

Ich habe unsere gemeinsame Nacht wirklich genossen und es tut mir leid, dass ich dich bereits heute früh verlassen muss, aber du weißt ja, dass ich nachts als Moderator arbeite. Bitte verzeih mir, Liebling, aber ich brauche tagsüber wirklich meinen Schlaf. Dafür werde ich heute Abend wieder für dich da sein. Ich rufe dich an, kleiner Schmetterling, wann ich dich abhole. Bis dahin werde ich voller Sehnsucht nur von dir träumen.

In Liebe

Dein Lucien

PS:  Habe Frühstück für dich gemacht. Du findest alles in der Küche. – Übrigens: Die Karte zum Öffnen unseres Appartements ist für dich, damit du kommen und gehen kannst, wann du willst. – Ich wünsche dir einen schönen Tag, mein Liebling.“

 

Lächelnd las sie mehrmals diesen Brief, bevor sie ihn in den Umschlag zurücksteckte. Dann zog sie sich endlich an, steckte Luciens Nachricht in eine der Taschen ihres Mantels, den sie auf dem Stuhl liegen ließ und schaute sich erneut im Raum um. Erst jetzt fiel ihr eine leicht geöffnete Tür in der Ecke des Zimmers auf und sie ging darauf zu. Dahinter entdeckte sie eine kleine Küche und nahm nun endlich den leichten Duft frisch gekochten Kaffees wahr, während der winzige Tisch liebevoll gedeckt war. Sogar frische Brötchen lagen in einem Korb. Lucien hatte wirklich an alles gedacht.

Corinne, die jetzt erst merkte, wie hungrig sie war, setzte sich hin und frühstückte in Ruhe. Erst danach schaute sie auf die Uhr, die über der Eingangstür der Mini-Küche hing. Es war erst 8.30 Uhr, also genügend Zeit, um in Nats Wohnung zu fahren und sich für den Einkaufsbummel mit Eva umzuziehen.

***

Nathalie hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zumachen können. Zu sehr war sie in Sorge um Corinne gewesen, zumal sie keinen Rückruf von ihr erhalten hatte. Und jetzt saß sie seit etwa einer Stunde in der Küche vor einer Tasse Kaffee, der mittlerweile sicherlich kalt war, und starrte hinein. Was, wenn Nick mit seiner Vermutung recht hatte und Corinne die Nacht mit LaCroix zusammen gewesen war? Wie sollte sie Onkel Bertrand und Tante Valerie erklären, dass deren jüngste Tochter spurlos verschwunden und möglicherweise tot war?

Nathalie wagte sich kaum auszumalen, was dann innerhalb der Familie los sein würde. Onkel Bertrand war ohnehin auf seinen Bruder nicht gut zu sprechen, weil er ihrem Vater immer noch übel nahm, dass er nach Kanada ausgewandert war, statt mit ihm zusammen das Familienunternehmen weiterzuführen. Mit Corinnes Besuch hatte Nathalie die Hoffnung verbunden, einen ersten Schritt in Richtung Aussöhnung zwischen ihrem Onkel und ihrem Vater einzuleiten. Im Moment allerdings sah die Sache anders aus...

Erschrocken zuckte Nathalie zusammen, als sie plötzlich hörte, dass ihre Tür aufgeschlossen wurde. Sie sprang von der Küchenbank auf und eilte in den Flur. Erleichtert atmete sie auf, als sie sah, dass es Corinne war, die den Kragen ihres Mantels hochgeschlagen hatte, damit man ihren Knutschfleck nicht sah.

„Guten Morgen, Nat“, begrüßte sie ihre Cousine verwundert. „Du bist schon wach?“

„Oh, Gott sein Dank, dass du wieder zurück bist!“ rief Nathalie aus und fiel der erstaunten Corinne um den Hals. Über ihre Wangen liefen Tränen der Erleichterung.

„Himmel, was ist los mit dir?“ fragte Corinne, als ihre Cousine sie endlich losließ.

„Ach, nichts... nichts... ich habe mir nur Sorgen um dich gemacht“, erwiderte die Ärztin und wischte sich verlegen die Tränen aus dem Gesicht.

„Aber dazu bestand doch kein Grund“, meinte Corinne, der rechtzeitig einfiel, was sie Nathalie gestern Nacht erzählt hatte. „Du wusstest doch, dass ich bei Eva war.“

„Du warst also wirklich bei ihr?“ fragte Nathalie, sichtbar erleichtert über diese Tatsache.

„Ja...“, behauptete Corinne zögerlich. Sie musterte ihre Cousine aufmerksam. „Was ist eigentlich los mit dir?“

„Ich... ich habe Eva angerufen, aber ihr Handy war ausgeschaltet“, erklärte Nathalie, der ihr Misstrauen gegenüber Corinne allmählich albern vorkam. „Tut mir leid, dass ich so überbesorgt um dich bin.“

„Du bist schlimmer als meine Mutter. Aber wahrscheinlich hat Papa dich verrückt gemacht. Sicherlich hat er dir erzählt, dass du besonders auf mich achten sollst, weil ich in letzter Zeit so viel durchgemacht habe, nicht wahr?“

„So in etwa...“

„Ich glaube, ich muss Papa wirklich mal anrufen und ihm klarmachen, dass ich eine erwachsene Frau bin. Vermutlich hat er vergessen, dass ich jahrelang mit einem Mann zusammengelebt habe und kein Kindermädchen mehr benötige. Es ist wirklich nicht in Ordnung, dass er dir die Verantwortung für mich aufbürdet, Nathalie.“

„Auch ohne die Bitte deines Vaters wäre das für mich selbstverständlich gewesen! Du bist schließlich meine Cousine und mir alles andere als gleichgültig. Ist es da ein Wunder, wenn ich besorgt um dich bin?“

„Das ist zwar nett von dir, aber völlig unnötig“, meinte Corinne. „Du hast doch gesehen, dass ich mit Eva fortgegangen bin.“

„Na ja, aber kurze Zeit später war auch Mr. LaCroix verschwunden und ich dachte...“

„Dein Freund, Mr. Knight, war so freundlich mir mitzuteilen, was du und er von Lucien haltet. Aber ihr tut ihm Unrecht! Außerdem ist es meine Sache, mit wem ich die Nacht verbringe, Nat! Also bitte hör auf damit, mich wie ein kleines Kind zu behandeln und vergiss, was mein Vater dir eingeredet hat. Mit mir ist alles okay“, erklärte Corinne in ernstem Ton. „Du solltest dich lieber ins Bett legen und ausschlafen.“

„Vermutlich hast du recht“, gab Nathalie zu, die sichtlich beruhigt über die Worte ihrer Cousine nun spürte, wie müde sie war. „Schließlich muss ich um 20.00 Uhr wieder arbeiten. – Und du gehst jetzt auf die Tagung?“

„Nein, nein! Das Geschwafel von Teichert erspare ich mir“, erwiderte Corinne, die immer noch ihren Mantel trug. „Eva und ich treffen uns gleich vor dem Eaton Centre. Ich bin nur noch einmal zurückgekommen, weil ich mich umziehen und Geld mitnehmen will.“

„Okay! Dann viel Spaß. Ich lege mich jetzt mal hin“, sagte Nathalie, unterdrückte ein Gähnen und verschwand in ihr Schlafzimmer.

Corinne wartete einen Augenblick und zog dann erst ihren Mantel aus. Rasch verschwand sie in ihr Zimmer, suchte sich einige bequeme Sachen aus ihrem Koffer und zog sich um. Wenig später fühlte sie sich schon wieder selbstsicher, da sie den Knutschfleck gut versteckt unter einem langen Halstuch wusste. Sie schaute kurz in Nathalies Schlafzimmer rein, fand diese im Tiefschlaf vor und lächelte zufrieden. Ihre Cousine konnte sie nun ruhigen Gewissens allein lassen. Leise schloss sie deren Tür, warf wieder ihren Mantel um und wollte gerade die Wohnung verlassen, als das Telefon klingelte. Sie ging seufzend dran und meldete sich: „Hier bei Dr. Nathalie Lambert.“

„Corinne, bist du’s?“ hörte sie am anderen Ende eine ihr gut bekannte Stimme.

„Christine! Wie gehts dir?“

„Danke, gut – und selbst? Wie ist dein Vortrag gelaufen, Schwesterchen?“

„War prima! Ich habe zwei Jobangebote und vielleicht kann ich in den nächsten Tagen noch ein paar weitere Kontakte hier knüpfen. Schade, dass du nicht mitgekommen bist.“

„Du weißt doch, dass wir mehrere Aufträge haben, Corinne! Außerdem kennst du ja Papa. Wenigstens eine seiner Lieblingstöchter muss in seiner Nähe sein, damit er ruhig bleibt. Seit du weg bist, jammert er sowieso jeden Morgen darüber. Ich glaube, er sammelt schon Watte, damit er dich darin einpacken kann, sobald du wieder hier bist. Darum mein Rat, Schwesterchen: Blieb lieber noch eine Weile bei Nathalie, damit er von seinem  >Klein-Corinne-muss-beschützt-werden-Trip<  herunterkommt.“

„Ich wollte sowieso länger bleiben, Chrissi. Aber jetzt sei mir nicht böse, ich bin verabredet und muss gleich weg...“

„Kein Problem. Ich wollte dir nur noch mitteilen, dass ein Päckchen an dich unterwegs ist.“

„Ein Päckchen?“

„Ja, klar! Meinst du, ich vergesse den Geburtstag meiner einzigen Schwester? Ich hoffe nur, dass mein kleines Geschenk morgen da ist.“

„Danke, Chrissi! Du bist lieb. Aber jetzt muss ich los. Machs gut und grüß die Eltern von mir. Ich melde mich demnächst bei euch. Tschüss!“

„Tschüss, Schwesterchen!“

***

Eva wartete bereits vor dem Haupteingang des Eaton Centre, als ihre Freundin dort ankam.

„Guten Morgen“, begrüßte die Rothaarige Corinne mit einem Kuss auf die Wange, den diese erwiderte. „Wie gehts dir?“

„Eigentlich ganz gut“, antwortete Corinne.

„Eigentlich?“ hakte Eva nach und musterte die Freundin aufmerksam. „Was heißt ‚eigentlich’? Wie war es mit deinem neuen Freund? Hat er dich enttäuscht?“

„Nein, nein!“ sagte Corinne schnell. „Ganz im Gegenteil. Es hätte gar nicht besser laufen können. Lucien ist einfach wunderbar...“

„Aber du hast irgendwas...?“, meinte die Fotografin.

„Das ist wahr“, gab Corinne zu. „Lass uns ins Eaton gehen und uns irgendwo hinsetzen, wo wir ungestört sind. Dann erzähle ich dir, was mich bedrückt.“

Eva nickte und betrat mit ihrer Freundin zusammen das Einkaufszentrum. Sie gingen ein wenig ins Innere hinein und bewunderten die Größe des Gebäudes. Schließlich fanden sie ein nettes Café im zweiten Stock und ließen sich dort in einer der hintersten Ecken nieder.

Nachdem sie sich etwas zu trinken bestellt hatten, wandte sich Eva wieder an ihre Freundin: „Also, was ist los?“

„Weißt du, ich fühle mich so merkwürdig, nachdem ich heute Nacht mit Lucien zusammen war...“, begann Corinne zögerlich.

„Aber vorhin sagtest du, dass es gut mit ihm gewesen sei.“

„Das war es auch! Lucien kann nichts dafür, dass ich mich so schuldig fühle...“

„Ich verstehe nicht?! Warum fühlst du dich schuldig?“

„Du hast doch noch mitgekriegt, dass ich mit Thomas Marquardt zusammen war?“

„Ja, du bist gerade bei ihm eingezogen, als ich Frankfurt verlassen habe.“

„Vielleicht hast du auch gehört, dass er mittlerweile tot ist...?“

„Nein, davon wusste ich nichts“, erwiderte Eva und schaute ihre Freundin betroffen an. „Das tut mir wirklich leid. Was ist passiert?“

„Jemand hat ihn überfahren...“, Corinne stockte kurz und schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Wieder sah sie das Bild jener Nacht vor ihrem geistigen Auge. Es tat so weh...

„Du musst nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst“, sagte Eva und ergriff die Hand ihrer Freundin. Diese schüttelte den Kopf, holte aus der Handtasche ein Taschentuch heraus und trocknete sich damit die Augen.

„Weißt du, Eva, Thomas und ich wollten uns in diesem Jahr verloben und nächstes Jahr heiraten...“

„Ich verstehe... und dann kam dieser Unfall“, murmelte die Fotografin. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du Schuldgefühle hast, weil du in diesen Lucien verliebt bist?“

„Es ist nicht nur eine Verliebtheit“, widersprach Corinne und schaute ihre Freundin mit feuchten Augen an. „Meine Gefühle für meinen neuen Freund gehen viel tiefer als ich dachte. Gestern Abend nach dem Vortrag war die Anziehung zwischen uns beiden so stark, dass ich glaubte, ohne ihn nicht leben zu können. Dabei kenne ich ihn erst seit ein paar Tagen... und die Nacht mit ihm habe ich so genossen...“

„Aber das ist doch schön, Corinne. Wo ist das Problem?“

„Heute Morgen musste ich an Thomas denken. Er ist noch kein halbes Jahr unter der Erde und ich liebe bereits wieder einen anderen Mann. Ich komme mir vor, als ob ich Thomas betrügen würde...“

„Das ist doch Unsinn!“ widersprach Eva. „Glaubst du etwa, Thomas würde wollen, dass du dich in deinem Leid vergräbst und einsam bleibst?“

„Aber ist es nicht zu früh für eine neue Beziehung? Sieh mal, ich kenne Lucien erst seit kurzer Zeit und schlafe bereits mit ihm. Ist es denn normal, dass ich mich so schnell auf einen anderen Mann einlasse? Immerhin habe ich Thomas auch sehr geliebt.“

Corinne sah ihre Freundin fragend an. Diese lächelte.

„Ich finde, dass du dir darüber den Kopf unnötig zerbrichst“, erwiderte Eva. „Wem nützt es was, wenn du dich jetzt mit Selbstvorwürfen zerfleischt? Meiner Meinung nach solltest du dich lieber freuen, dass du wieder in der Lage bist, dein Herz für jemanden zu öffnen.“

„Findest du nicht, dass es dafür noch zu früh ist...?“

„Hör mal, Corinne, glaubst du im Ernst, dass dein Thomas dir Vorwürfe machen würde, weil du wieder lieben kannst?“

„Ich weiß nicht...“

„Als er noch gelebt hat, wollte er doch sicher, dass du dich wohlfühlst, oder?“

„Ja, das stimmt!“

„Meinst du, dass er glücklich wäre, dich leiden zu sehen?“ fragte Eva.

Corinne schüttelte den Kopf.

„Na also!“ meinte die Fotografin. „Bestimmt würde er sich freuen, wenn er wüsste, dass du wieder einen Mann an deiner Seite hast, mit dem es dir gut geht.“

Corinne senkte den Blick und schwieg. Eva beobachtete sie und wartete eine Weile darauf, dass ihre Freundin etwas sagte. Als dies jedoch ausblieb, fuhr die Rothaarige fort: „Oder stimmt etwas nicht mit diesem großen Blonden, den du mir gestern vorgestellt hast? Stört dich irgendetwas an ihm?“

„Nein, überhaupt nicht!“ widersprach Corinne heftig und starrte ihre Freundin erschrocken an. „Lucien ist ein wunderbarer Mann!“

„Und meinst du, dass er deine Gefühle erwidert?“

„Ja... ja, er erwidert meine Gefühle.“

„Dann freu dich, Corinne, dass es dir vergönnt ist, so etwas zu erleben!“

Eva schaute ihre Freundin eindringlich an, die eine Weile wieder nachdenklich zu Boden starrte. Schließlich hob sie ihren Blick und wandte sich an die Fotografin: „Ich glaube, du hast vollkommen recht! Thomas hätte sicher nichts gegen ihn einzuwenden. Lucien ist aufmerksam und liebevoll – eben ein echter Gentleman.“

„Hört sich nach einem Kavalier alter Schule an“, meinte Eva. „Ist er sehr viel älter als du?“

„Ich weiß es nicht“, gab Corinne zu. „Aber das ist mir eigentlich auch egal. Ich bin gerne mit ihm zusammen... ich liebe ihn einfach...“

„Dann genieß euer Zusammensein, solange es dauert“, riet die Fotografin ihr.

Corinne schaute ihre Freundin erschrocken an.

„Wie meinst du das? Glaubst du, dass die Beziehung zwischen Lucien und mir keine Zukunft hat?“

„Na ja, wenn er sehr viel älter ist als du, könnte es auf die Dauer schwierig werden – und das muss keinesfalls an euch liegen“, erklärte Eva. „Eure Umwelt könnte sich daran stören und dumme Bemerkungen machen. Ich hoffe, dass du das aushalten kannst...“

„Ich mache mir nichts aus dem Geschwätz anderer Leute!“

„Dann ist es gut!“  Eva lächelte ihre Freundin aufmunternd an. „Das bedeutet, dass du immer noch so stark bist, wie ich dich kenne. Also, Corinne, genieß einfach deine neue Liebe.“

Die Bedienung des Cafés brachte ihnen in diesem Augenblick die bestellten Getränke. Die Kunstfotografin erhob ihr Glas und meinte: „Es ist zwar nur Latte macchiato, den wir trinken, aber nichtsdestotrotz möchte ich damit anstoßen auf den Mann, der meine beste Freundin glücklich macht. Lucien lebe hoch!“

Corinne lachte erleichtert auf und stieß mit ihrem Glas gegen das ihrer Freundin, wobei sie erwiderte: „Ein Hoch auf Lucien LaCroix!“

 

Corinne kam um circa 20.00 Uhr nach Hause, als Nathalie gerade zur Arbeit gehen wollte. Sie sprachen kurz miteinander, wobei Corinne ihr mitteilte, dass sie wahrscheinlich noch heute Abend ausgehen würde. Dann zeigte sie ihrer Cousine ein hübsches Kleid aus hellgrüner Seide, welches sie sich gekauft hatte.

„Du wirst wunderbar darin aussehen“, hauchte Nathalie überwältigt.

„Ja, das hat Eva auch gemeint“, sagte Corinne lächelnd und hielt es sich an. „Es passt hervorragend zu meinen Augen, nicht wahr?“

„Eitel bist du wohl gar nicht, was?“ fragte Nathalie neckend.

„Doch... deshalb habe ich mir das Kleid ja gekauft“, erwiderte das Mädchen und schaute sich das Kleidungsstück verträumt an. „Ich möchte es heute Abend anziehen, um einen guten Eindruck zu machen. Schließlich werde ich auch bald in dieser Stadt leben.“

„Genau darüber möchte ich noch mal in Ruhe mit dir sprechen, Corinne“, sagte Nathalie plötzlich in ernsthaftem Ton. „Leider habe ich jetzt keine Zeit mehr dazu – doch bitte, versprich mir, dir deinen Umzug nach Toronto noch einmal gut zu überlegen.“

„Was gibt es da zu überlegen, Nat? Das Angebot dieser Privatschule ist einfach fantastisch und ich werde es annehmen. Von solch einem Job habe ich lange geträumt“, erwiderte die junge Frau. Ihre Augen begannen zu glänzen. „Weißt du, ich habe einfach das Gefühl, dass ich in dieser Stadt sehr glücklich werde...“

Nathalie musterte sie besorgt, was ihrer Cousine nicht entging.

„Was ist denn los?“ fragte Corinne.

„Meinst du nicht, dass es sich bei deinem Wunsch, hier zu leben, nur um eine Flucht handelt?“

„Ach was! Diese Stadt bringt mir einfach Glück, das spüre ich.“

„Und deine Eltern, Corinne? Was werden deine Eltern dazu sagen?“

„Zerbrich dir bitte nicht meinen Kopf, Nat. Sie werden sich mit der Zeit schon damit abfinden“, meinte das Mädchen leichthin.

„Du musst ja wissen, was du tust“, seufzte Nathalie ergeben. „Aber mir wäre es wichtig, dass wir noch einmal in Ruhe über all deine Pläne sprechen.“

„Gut, wenn du unbedingt willst“, versprach Corinne. In diesem Moment klingelte das Telefon. Die junge Frau schaute sich um und fragte: „Soll ich drangehen?“

„Ja, ich muss los!“ erwiderte Nathalie. „Wahrscheinlich ist das dein Vater. Er hat vor einer Stunde schon einmal angerufen. Machs gut. Wir sehen uns dann morgen, ja?“

Corinne nickte ihrer davoneilenden Cousine lächelnd zu, während sie den Hörer vom Apparat nahm und sagte: „Bei Dr. Nathalie Lambert!“

„Guten Abend, hier ist der Nachtfalter“, meldete sich die wohlklingende Stimme Luciens am anderen Ende der Leitung. „Ist dort mein wunderschöner Schmetterling?“

„Ja“, hauchte Corinne glücklich.

„Wie geht es dir, mein Liebling?“

„Unbeschreiblich gut...“

„Ich habe zwei Karten für einen Klavierabend. Hättest du Lust, mit mir hinzugehen?“

„Natürlich, Lucien!“

***

Als Nicholas an diesem Abend besorgt die Pathologie aufsuchte, um nach Nathalie zu sehen, wunderte er sich sehr, diese äußerst gutgelaunt anzutreffen. Den Grund dafür teilte sie ihm auch gleich mit.

„Heute Morgen ist Corinne nach Hause gekommen. Sie hat tatsächlich bei ihrer Freundin übernachtet.“

„Ach, wirklich?“ Nicholas blickte seine Kollegin zweifelnd an. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass Janette ihnen gestern Nacht grundlos eine Szene gemacht hatte – und er hielt es auch für keinen Zufall, dass Corinne und LaCroix fast zeitgleich die Convocation Hall verlassen hatten. Das einzige, was ihn erstaunte, war die Tatsache, dass Nathalies Cousine wohlbehalten nach Hause gekommen war. Denn sowohl die Andeutungen im Radio als auch die von Janette hatten unverkennbar enthüllt, was LaCroix mit Corinne zu tun beabsichtigte. Was also bewog seinen Meister dazu, das Mädchen leben zu lassen? Und würde er sie auch in Zukunft verschonen?

„Was hast du, Nick?“ fragte Nathalie beunruhigt, denn sein Schweigen rief wieder die Zweifel in ihr hervor, die Corinnes Wiederauftauchen zunächst verscheucht hatte. „Du glaubst, sie ist immer noch in Gefahr, nicht wahr?“

„Ja, Nat“, gab Nicholas zögernd zu. „Du hast die beiden gestern doch auch beobachtet, oder? Warum sonst hättest du das Gespräch mit LaCroix gesucht?“

„Aber was soll ich denn nur mit Corinne tun, Nick? Ich kann sie schließlich nicht einsperren. Sie ist ein erwachsener Mensch.“

„Sie sollte so schnell wie möglich zurück nach Hause, Nat. Das wäre zumindest eine Möglichkeit, sie erst einmal dem Einfluss von LaCroix zu entziehen. Vermutlich ist sie ihm nicht so wichtig, dass er wegen ihr Toronto verlässt.“

„Es wird schwierig sein, Corinne davon zu überzeugen, nach Frankfurt zurückzukehren. Sie will zumindest solange hierbleiben, bis der Kongress zu Ende ist.“

„Dann müssen wir einen Grund finden, der sie dazu zwingt, nach Hause zu fliegen. Ruf ihre Eltern an, Nat, und sprich mit ihnen. Soweit ich mich erinnern kann, war dein Onkel doch sowieso dagegen, dass Corinne sich hier aufhält, nicht wahr? Du musst ihn als Verbündeten gewinnen. Wenn alles klappt, könnten wir die Kleine dann schon morgen in den nächsten Flieger nach Deutschland setzen!“

„Du bist zu optimistisch, Nick!“

„Wir müssen es wenigstens versuchen“, meinte er eindringlich.

„Also gut, versuchen wirs“, seufzte Nathalie. Aber ihre Stimme und ihre Mimik verrieten, dass sie es für ein fruchtloses Unternehmen hielt. Denn was konnte man Corinne schon für einen Grund liefern, sofort nach Hause aufzubrechen? Nur eine dicke Lüge, wie z. B. eine schreckliche Krankheit oder ein schlimmer Unfall, würde sie dazu bewegen können. Doch mit so etwas machte man eigentlich keine Scherze.

***

Inge Riedel wartete seit nunmehr 22.00 Uhr im Hotelzimmer Teicherts auf dessen Ankunft. Der Vortrag über die künstlerische Gestaltung von Computergrafiken war recht gut gelaufen, wenngleich nicht so viele Leute dazu erschienen waren wie auf dem Einführungsvortrag von Corinne. Und Wernher hatte sich in den Pausen mit ärgerlicher Miene des Öfteren das Loblied auf Miss Lambert anhören müssen. Seine Einwände gegen den Show-Charakter ihrer Veranstaltung wurde von den meisten seiner Gesprächspartner genau als das eingestuft, was es war: Der blanke Neid auf die originelle Idee, wie man einen Vortrag über das Wesen der Kunst mit verschiedenen künstlerischen Mitteln, wie z. B. Musik und Tanz, ergänzen konnte.

Zum ersten Mal sah Inge ganz klar, was sie all die Jahre nie hatte wahrhaben wollen: Wernher Teichert war ein überaus intoleranter, rechthaberischer Kleingeist. Er kam zwar mit Leuten aus seinem Fachbereich einigermaßen gut aus, konnte jedoch mit den vielen Individuen aus dem Bereich von Kunst und Kultur überhaupt nichts anfangen, da er weder über den nötigen Freisinn verfügte, um andere Meinungen oder Lebensstile zu akzeptieren, noch über Humor.

Die junge Frau fragte sich seitdem unentwegt, wie sie jemals hatte so blind sein können, diese Engstirnigkeit nicht zu bemerken. Dennoch empfand sie etwas für diesen Mann, zumal er sich heute Morgen noch in aller Form für sein unmögliches Verhalten von gestern bei ihr entschuldigt hatte. Er sei ‚nicht ganz Herr seiner Sinne gewesen’ und hätte ‚zu tief ins Glas geschaut’. Allerdings ging ihr auch das Gespräch zwischen ihm und Corinne, das sie unfreiwillig mit angehört hatte, nicht aus dem Sinn.

Genau darüber hatte sie sich eigentlich mit Wernher unter vier Augen unterhalten wollen. Doch nun wartete sie schon zwei Stunden umsonst auf ihn, obwohl sie ihn um ein persönliches Gespräch gebeten und er sie um 22.00 Uhr in sein Zimmer bestellt hatte.

Allmählich geriet Inge in Sorge um Wernher. Wo blieb er? Er war doch nur mit Fachkollegen zum Abendessen verabredet und wollte danach eigentlich wieder ins Hotel kommen. Er müsste eigentlich längst da sein... er wusste doch, dass sie ihn erwartete...

Inge hielt inne. Von draußen näherten sich Schritte und gleich darauf hörte sie, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Gespannt starrte sie darauf und war froh, als Wernher eintrat. Dieser hingegen stutzte einen Augenblick, als er ihrer ansichtig wurde, und fragte erstaunt: „Inge? Du hier?“

„Ja, wir waren doch verabredet“, erklärte sie mit tonloser Stimme. Sie spürte einen tiefen Schmerz in ihrem Inneren. Wernher hatte sie also völlig vergessen. „Wo warst du?“

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig“, entgegnete Teichert gelassen und schenkte ihr einen gelangweilten Blick. „Tut mir leid, dass ich unseren Termin vergessen habe. Kann dein Anliegen denn nicht bis morgen warten?“

Inge schüttelte heftig den Kopf und bemühte sich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Teichert seufzte und fragte: „Also, was gibt es?“

„Du hast dich gestern Nacht mit Corinne unter vier Augen unterhalten“, begann Inge mit heiserer Stimme. „Was hat das zu bedeuten?“

„Ach, sie hat dir davon erzählt?“ fragte er erstaunt. Dann zuckte er die Schultern und meinte leichthin: „Die kleine Lambert ist ein dummes Ding. Sie hat mein Angebot, als wissenschaftliche Assistentin bei mir zu arbeiten, abgelehnt. Dem Mädchen ist nicht zu helfen!“

„Aber ich bin doch deine Assistentin“, sagte Inge mit zitternder Stimme.

„Das sollst du auch bleiben“, erwiderte Teichert in ruhigem Ton. „Ich bin wirklich sehr zufrieden mit deiner Arbeit. Dennoch ist mir nicht entgangen, dass du dich ziemlich für mich abarbeitest. Eine weitere Mitarbeiterin wäre für uns alle von Vorteil – und wir beide hätten dann auch mehr Zeit füreinander, Inge.“

Er warf der zierlichen Frau einen zärtlichen Blick zu, der diese noch mehr verunsicherte. Sollte Wernher sie etwa doch lieben? Vielleicht hatte er Corinne gegenüber ja nur so abwertend von ihr gesprochen, um seine zukünftige Mitarbeiterin zu testen?

„Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll, Wernher“, kam es über ihre Lippen. Sie schaute ihn irritiert an. „Gestern hast du mich...“

„Gestern war ich ziemlich nervös“, sagte Teichert und lächelte seine Assistentin entschuldigend an. „Wie viel Mal muss ich mich bei dir entschuldigen, damit du mir endlich verzeihst, Inge? Du weißt doch, wie sehr ich dich schätze und brauche.“

„Wirklich?“ fragte Inge und schaute ihn unsicher an.

„Natürlich!“ erwiderte Teichert mit Nachdruck. Er beugte sich zu ihr hinunter und verschloss ihren Mund mit einem Kuss. „Ich liebe dich doch, Mäuschen!“

***

Immer noch irritiert davon, dass Corinne morgens nach Hause gekommen war, betrat Nicholas sein Büro. Dort erwartete ihn schon Schanke, der ihm meldete: „Fernandez ist eben gekommen. Er wartet draußen, weil er nur mit dir sprechen will.“

„Danke, Don!“ erwiderte Nicholas, ging in den Flur und entdeckte unweit seines Büros an einem geöffneten Fenster Michael, der eine Zigarette rauchte. „Das ist hier eigentlich verboten, Mr. Fernandez!“

Erschrocken fuhr Michael herum. Nicholas grinste unwillkürlich. Er kam sich einen Moment lang vor wie in alten Zeiten, als er noch als menschensaugendes Ungeheuer hinter dem Blut seiner Opfer her gewesen war, die ihn mit demselben ängstlichen Ausdruck in den Augen angesehen hatten, bevor er ihnen an den Hals ging...

„Tut mir leid, Mr. Knight“, entschuldigte sich Michael und drückte die Zigarette auf der äußeren Fensterbank aus. Dann schloss er das Fenster und wandte sich Nicholas zu. „Ich bin etwas nervös. Vielleicht haben Sie mitbekommen, dass Ihr Kollege in mir den bösen Verfolger von Miss Lambert sieht und mich dementsprechend behandelt.“

„Kann ich mir vorstellen. Aber Sie müssen Mr. Schanke auch verstehen. Er nimmt seine Aufgaben als Polizist sehr ernst und Miss Lambert hat ihn nunmal um Schutz vor Ihnen gebeten“, erklärte Nicholas. „Das zwischen Ihnen und Corinne renkt sich mit der Zeit sicher wieder ein, Mr. Fernandez. Doch eigentlich wollten wir uns über etwas anderes unterhalten, nicht wahr?“

„Ja... ja, Sie haben recht“, gab Michael zu.

„Bitte, folgen Sie mir!“ forderte Nicholas ihn auf und führte den jungen Mann in einen separaten Raum. Sie setzten sich vis-à-vis an den Tisch. „Nun, Mr. Fernandez, wer hat ein Motiv gehabt, Thomas Marquardt aus dem Weg zu schaffen?“

„Es erfährt auch niemand, dass Sie diese Information von mir haben?“ fragte Michael.

„Darauf gebe ich Ihnen mein Wort“, versprach Nick.

„Also gut... hm... es ist mir ein bisschen peinlich...“, murmelte sein Gegenüber. „Schließlich verdanke ich diesem Mann sehr viel...“

„Wenn er ein Mörder ist, gibt es keinen Grund, ihn zu schützen“, widersprach Nicholas.

„Wie gesagt, handelt es sich lediglich um einen Verdacht, Mr. Knight. Es könnte auch sein, dass ich mich irre...“

„Glauben Sie mir, Mr. Fernandez, ich werde Ihre Angaben genauestens überprüfen. Ich brauche lediglich einen Anhaltspunkt, um mit den Ermittlungen gegen den Mörder von Herrn Marquardt anzufangen. Falls Ihr Verdächtiger unschuldig ist, werden wir ihn nicht belangen.“

Michael nickte und begann dann stockend: „Wissen Sie, mein Vorgesetzter, Herr Professor Teichert, ist wirklich kein übler Kerl. Leider hat er eine Schwäche für das weibliche Geschlecht und nutzt seine Macht dementsprechend aus...“

„Was soll das heißen...?“

„Nun ja, bereits während des Studiums begann er damit, Corinne zu belästigen. Allerdings ließ sie sich nie auf seine Avancen ein. Doch Teichert probierte es immer wieder bei ihr und hörte erst damit auf, nachdem sie ihren Abschluss hatte. Doch es wurmte ihn, sie nicht bekommen zu haben...“

„Das alles bedeutet jedoch nicht, dass er etwas mit dem Mord an Thomas Marquardt zu tun hat“, meinte Nicholas, den diese Neuigkeiten über Teichert zwar in seiner Abneigung gegen diesen bestärkten, der aber kaum glauben konnte, dass das Verlangen nach einer Frau den Professor zu einem Verbrechen verleitete, bei dem er seine Karriere aufs Spiel setzte. „Soviel mir scheint, hat Herr Teichert sich bereits mit einer anderen Frau getröstet.“

„Mag sein, Mr. Knight“, gab Michael zu. „Dennoch scheint mir, dass er es nie verwunden hat, Corinne nicht gekriegt zu haben. Er erkundigte sich immer wieder bei Bekannten von ihr, was sie mache. Als er erfuhr, dass sie fest mit Marquardt, einem bekannten Galeristen in Frankfurt, zusammen war, konnte er es nicht fassen...“

„Haben Sie damals schon für Professor Teichert gearbeitet?“

„Ja, als studentische Hilfskraft. Er förderte mich, wo er konnte. Gerade deshalb fällt es mir auch so schwer, diese Dinge über ihn preiszugeben. Immerhin vertraut er mir...“

„Nun ja, was Sie erzählen, ist zwar keineswegs schmeichelhaft für ihn, liefert jedoch keinen Hinweis darauf, dass er einen Mord begehen könnte“, meinte Nicholas. „Soweit ich gestern Abend mitbekam, versuchte er lediglich, Miss Lambert und deren Freundin in provokativer Weise anzumachen.“

„Das ist schlimm genug, nicht wahr?“ fragte Michael und warf Nick einen verzweifelten Blick zu. „Aber ich bekam unfreiwillig mit, wie Teichert gestern Nacht versuchte, Corinne zu erpressen, seine Geliebte zu werden...“

„Was?!“ Nicholas glaubte sich verhört zu haben. „Das sind allerdings völlig neue Gesichtspunkte...“

„Außerdem gab er seinerzeit an, dass sein Wagen gestohlen worden sei... und einen Tag später wurde Herr Marquardt vor seiner Galerie überfahren. Das ist wirklich merkwürdig, finden Sie nicht?“

Nicholas nickte nachdenklich. Er schien Teichert unterschätzt zu haben. Anscheinend glaubte dieser Typ wirklich, das Recht darauf zu haben, mit jeder Frau schlafen zu dürfen, die er begehrte. Doch nie hätte Nick es für möglich gehalten, dass Teichert dabei so weit ging, seine potentiellen Geliebten zu erpressen. Offenbar war er es nicht gewohnt, einen Korb zu kriegen. Daher lag es nahe, dass er auf Corinne äußerst wütend gewesen sein musste. Gleichzeitig erhöhte das jedoch auch den Reiz, den diese junge Frau auf ihn ausübte. Deshalb also hatte er kaum ein Auge von ihr abwenden können. Sie sollte seine nächste Trophäe werden – die Mittel, sie zu kriegen, waren ihm dabei wohl völlig egal...

„Sie sagten, er habe Miss Lambert erpresst, Mr. Fernandez? Wie hat sie darauf reagiert?“

„Sie hat ihn ausgelacht und ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er niemals eine Chance bei ihr haben würde. Sie können sich gewiss vorstellen, wie zornig er daraufhin geworden ist...?“

„Meinen Sie denn, er würde soweit gehen, auch ihr etwas anzutun?“

„Schwer zu sagen“, erwiderte Michael. „Einerseits kann ich es mir nicht vorstellen, andererseits... wer hätte je gedacht, dass Thomas Marquardt ermordet wurde?“

„Hm... dann sollte ich vielleicht noch einmal mit Miss Lambert sprechen“, murmelte Nick, mehr zu sich selbst.

„Muss das denn wirklich sein?“ fragte Michael, dem dies unangenehm zu sein schien.

„Natürlich! Sie sollte wissen, wie gefährlich Teichert werden könnte“, erklärte Nicholas in ernstem Ton. Dann jedoch wurde ihm klar, weswegen sein Gegenüber gefragt hatte, und er meinte in beruhigendem Tonfall: „Keine Sorge, Mr. Fernandez, Ihren Namen werde ich dabei selbstverständlich aus dem Spiel lassen.“

Michael schien erleichtert , sagte dann jedoch leise: „Es ist mir wirklich schwergefallen, Ihnen all dies zu enthüllen, Mr. Knight, und ich komme mir wie ein mieser Verräter vor. Schließlich hat Herr Teichert mich seit Studienbeginn gefördert, wo er konnte. Aber es ist mir unerträglich, dass er Corinne bedroht...“

„Ja, ja, mir ist schon klar, wie viel Ihnen das Mädchen bedeutet“, versicherte Nicholas. „Denn wenn es nicht so wäre, hätten Sie den Weg zu mir niemals gefunden, nicht wahr?“

Michael nickte.

„Haben Sie noch weitere Fragen an mich, Mr. Knight?“

„Nein, nein... Sie können ruhig gehen“, erwiderte Nicholas, erhob sich und reichte dem jungen Mann lächelnd die Hand. „Wenn noch etwas sein sollte, melde ich mich einfach bei Ihnen. Ich glaube, Mr. Schanke hat Ihre Adresse?“

„Ja.“

„Dann erst Mal vielen Dank, Mr. Fernandez... und alles Gute für die Zukunft!“

Sichtlich erleichtert erhob sich Michael und verließ den Raum. Nicholas starrte ihm nachdenklich hinterher. Dieser Junge war wirklich ein wenig seltsam. Es schien ihn einerseits nicht zu stören, dass sein Chef nicht davor zurückschreckte, sexuelle Affären mit Studentinnen und Mitarbeiterinnen einzugehen. Andererseits führten seine Gefühle für Corinne Lambert ihn dazu, seinen Gönner zu verraten... nun ja, Männer taten noch ganz andere Dinge aus Liebe zu einer Frau...

 

 

 

 

 

 

Nathalie hatte sich Nicholas’ Worte zu Herzen genommen und rief in der Pause bei ihrem Onkel in Frankfurt an.

„Lambert!“ meldete er sich sofort nach dem zweiten Klingeln.

„Onkel Bertrand?“ fragte die Pathologin. „Hier ist Nathalie!“

„Ah, Nathalie!“ begrüßte er sie erfreut. „Ist Corinne endlich da? Kann ich sie mal haben?“

„Nun, Onkel, eigentlich rufe ich dich von der Arbeit aus an...“

„Was soll das heißen, Nathalie? Ist meiner Kleinen etwas passiert?“

„Nein, nein, Corinne geht es gut, keine Sorge.“

„Warum hat sie dann nicht zurückgerufen?“

„Vermutlich hat sie es einfach vergessen. Sie kam vor ungefähr einer Stunde nach Hause und wollte gleich wieder ausgehen.“

„Unmöglich!“ entfuhr es ihm. „Sie ist noch nicht in der Lage dazu, einen langen Abend allein unter fremden Menschen zu verbringen! Wie konntest du das nur zulassen, Nathalie?“

„Ich bitte dich, Onkel Bertrand! Corinne ist erwachsen und es geht ihr wirklich sehr gut. Du solltest dich freuen, dass sie wieder am Leben teilnimmt.“

Am anderen Ende der Leitung war außer Schweigen nichts zu hören. Scheinbar war ihr Onkel zu überrascht und wusste nicht, was er davon halten sollte.

„Ach übrigens: Corinne hat einen Job angeboten bekommen und will ihn wahrscheinlich auch annehmen“, fuhr Nathalie nach einer kurzen Pause fort.

„Hm... das wäre ja nicht schlecht“, ließ sich ihr Onkel wieder vernehmen.

„Na ja, aber es handelt sich um eine Stelle in einer Privatschule in Toronto“, klärte Nathalie ihn auf. Die Reaktion Bertrand Lamberts war für sie eigentlich vorherzusehen und sie hielt deshalb sicherheitshalber den Hörer etwas entfernt von ihrem Ohr.

„Was?! Das erlaube ich nie und nimmer!“ schrie er hinein.

„Corinne braucht deine Erlaubnis nicht, Onkel Bertrand. Sie ist volljährig...“

„Steckt etwa ein Kerl hinter all dem?“

„Vermutlich...“, gab Nathalie zögernd zu, obwohl sie es nicht wirklich wusste.

„Ach, ich ahnte ja, dass diese ganze Reise eine einzige Schnapsidee war, die meiner Kleinen nicht gut tun würde. Sie ist sicher noch durcheinander, sucht einen Halt. Ich wusste, dass sie noch nicht so weit ist, um an einem Kongress teilzunehmen. – Ich hole sie ab!“

„Tu das lieber nicht, Onkel Bertrand. Damit erreichst du vermutlich nur das Gegenteil von dem, was du willst.“

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun, Nathalie?“

„Im Moment weiß ich auch keinen Rat. Corinne will unbedingt hierbleiben, und du weißt selbst, was für einen Sturkopf sie hat. Es braucht schon einen triftigen Grund, damit sie wieder nach Frankfurt zurückkehrt.“

„Unglaublich...“, Bertrand Lambert schien einen Augenblick zu brauchen, um sich wieder zu fassen. „Meine arme Kleine! Sie verkraftet den Tod von Thomas nicht und will deshalb aus Frankfurt flüchten. Dabei sind wir doch alle für sie da...“

Nathalie musste sich sehr beherrschen, um nicht zu erwidern, dass vermutlich gerade das der Grund für Corinnes Flucht aus Deutschland sein könnte. Ihr Onkel würde sonst wahrscheinlich völlig durchdrehen, und sie wollte einen weiteren Streit in dem Missverhältnis, das zwischen ihm und Vater bestand, unbedingt vermeiden.

„Vielleicht sollte Tante Valerie mal mit ihr sprechen...“, schlug die Pathologin in vorsichtigem Ton vor.

„Valerie?“ hörte sie die erstaunte Stimme ihres Onkels. Dann jedoch meinte er hoffnungsvoll: „Ja, richtig! Ein Mädchen hört eher auf seine Mutter, nicht wahr? - Guter Einfall, Nathalie. Ja, ich werde mit meiner Frau sprechen. Bis bald!“

Ehe sie noch etwas darauf erwidern konnte, hatte Bertrand Lambert aufgelegt. Mit leichtem Kopfschütteln starrte Nathalie auf den Hörer und fragte sich, ob es tatsächlich eine gute Idee gewesen war, in Frankfurt anzurufen.

***

Corinne hatte den Klavierabend mit Lucien wirklich genossen. Nun schlenderten sie händchenhaltend durch eine Grünanlage, ohne ein Wort zu sagen. Die Blicke, die sie sich zuwarfen, genügten beiden vollkommen, um sich zu verstehen.

Als sie schließlich an einer Parkbank ankamen, ließen sie sich nieder und schauten sich an.

„Ich hoffe, die Musik war nach deinem Geschmack“, meinte LaCroix nach einer Weile.

„Alles war einfach wunderbar“, wisperte Corinne und drückte sanft seine Hand. „Dass du gestern Abend auf dem Kongress warst, dass wir die Nacht zusammen verbracht haben... ach, Lucien, ich bin so glücklich, wenn du in meiner Nähe bist.“

„Ist das wirklich so, Corinne?“

„Ja... ja, ich empfinde es genau so“, erwiderte die junge Frau. „Ich weiß, dass es eigentlich unglaublich ist, da wir uns erst kurze Zeit kennen, aber... Lucien, warum sollte ich meine Gefühle verbergen?“

Unwillkürlich hob LaCroix seine Hand und streichelte ihr sanft über die Wangen. Er wusste selbst kaum, wie ihm geschah, als er murmelte: „Deine Gegenwart macht mich ebenfalls glücklich.“

Verdammt, wie konnte ihm so etwas nur über die Lippen kommen? Selbst, wenn es der Wahrheit entsprach... es war einfach nicht seine Art, darüber zu reden.

„Ich betrachte es als großes Glück, dass wir beide uns begegnet sind, Liebster“, sprach Corinne weiter. Sie ergriff Luciens Hand, die auf einer ihrer Wangen ruhte, und küsste das Innere seiner Handfläche, was zur Folge hatte, dass genau von dieser Stelle seiner Hand aus eine warme Welle durch seinen ganzen Körper wanderte. In seiner Brust machte sich ganz leicht wieder jener tiefe Schmerz bemerkbar, der ihn gestern Nacht ergriffen und daran gehindert hatte, Corinne zu beißen und auszusaugen. Jetzt war es wieder das Gleiche... er konnte ihr nicht wehtun. Sie war eine liebende, junge Frau – und sie liebte ihn... er spürte es überdeutlich. Eigentlich sollte er darüber glücklich sein, und er war es auch. Doch gleichzeitig bereitete ihm ihre Zuneigung Pein. Warum löste dieser ahnungslose kleine Engel nur solche zwiespältigen Emotionen in ihm aus? Dennoch – er wollte sich nicht von ihr trennen, wollte in ihrer Nähe sein... brauchte die Dunkelheit wirklich das Licht und der Nachtfalter den schönen Schmetterling?

„Du bist so bezaubernd“, sagte er leise. „Es ist mir wirklich schwergefallen, dich heute früh allein zu lassen – aber es musste sein, Liebling.“

„Das verstehe ich“, versicherte Corinne ihm. „Gerade deshalb genieße ich es, wenn wir zusammen sind.“

LaCroix starrte sie versonnen an und schwieg. Er begehrte sie... sie war nicht nur äußerst hübsch, sondern auch überaus liebenswert... es musste ihm gelingen, sie auf die dunkle Seite zu holen, damit sie für immer bei ihm blieb. Aber dazu musste er sich erst wieder darauf besinnen, dass er ein Vampir war – und er durfte sich nicht mehr durch seine Empfänglichkeit für ihre Gefühle beirren lassen... Nein, er musste sich jetzt wieder darauf konzentrieren, dass er Lucien LaCroix war, ein Vampir, der andere Untote schuf – ein dunkler Meister, der sich nicht durch die Zuneigung einer jungen Sterblichen besiegen lassen durfte... Nein, er musste seinen Plan durchziehen. Sie war schon fast sein, da sie ihn liebte. Ab Mitternacht hatte sie Geburtstag... Geburtstag... Welche Ironie! Dieser Geburtstag würde auch ihr Todestag sein, zu dem sie die Unsterblichkeit geschenkt bekam...

Voll boshafter Vorfreude lächelte Lucien und fühlte, dass er die Sicherheit seines Vampirdaseins zurückgewann. Genau diese galt es aufrechtzuerhalten, um Corinne zu verwandeln... Er war LaCroix, der dunkle Meister, Herr über seine Emotionen... zumindest solange, bis er das süße Geschöpf, das ihm gegenübersaß, zu einem Kind der Nacht gemacht hatte. Erst dann durfte er seinen Gefühlen wieder freien Lauf lassen. Doch jetzt galt es erst einmal, behutsam auf Corinne einzugehen.

„Ich würde wirklich gerne mit dir allein sein“, wandte er sich an das Mädchen. „Aber wie du weißt, moderiere ich eine Radiosendung und muss gleich ins Studio. Hast du Lust, mich dorthin zu begleiten? Danach hätten wir die ganze Nacht für uns.“

„Ich komme gern mit“, erwiderte Corinne.

LaCroix erhob sich und reichte ihr seine Hand.

„Dann komm, mein Mädchen!“

***

Als Nicholas das Raven betrat, schlug ihm stickige Luft entgegen. Der Club war heute Abend sehr gut besucht, so dass es kaum ausblieb, dass die Gerüche von Menschen und Vampiren sich derart verdichteten. Anscheinend störte das jedoch niemanden. Man unterhielt sich, lachte, trank und tanzte zur Musik der Flying shadows. Nach deren gestrigem Auftritt  in der Convocation Hall waren sie mit einem Schlag in Toronto bekannt geworden und viele wollten sie nun live erleben. Eine gute Werbung für Janettes  Club.

Nicholas schaute in Richtung Tresen und beobachtete, wie seine Vampirschwester sich mit der Sängerin der Band eingehend unterhielt, während der junge Mann mit der Stachelfrisur alle musikalisch davon in Kenntnis setzte, wie es um seine Gemütslage bestellt war:

 

Als dein Troubadour sing ich dies Lied für dich,

Mylady mit dem schwarzen Haar.

Bitte, bleib! Verlass mich nicht!

Du Schönste aller Frauen!

Ich liebe das Strahlen deiner grünen Augen –

Du bist die einzige für mich.

 

 

Janette und Danielle schauten lächelnd auf die Bühne zu Jamie hoch.

„Hoffentlich ist er nicht völlig von diesem Mädchen besessen“, seufzte Janette.

„Keine Sorge!“ wandte sich die Sängerin in beruhigendem Ton an sie. „Er weiß, dass Corinne in Lucien verliebt ist und akzeptiert dies.“

„Dennoch habe ich den Eindruck, dass er alles tun wird, um die junge Dame für sich zu gewinnen.“

„Das glaube ich nicht! Jamie verehrt die junge Sterbliche zwar, aber er ist nicht so verrückt, sich mit LaCroix anzulegen. Schließlich weiß er, dass sie Luciens Auserwählte ist. Doch das hindert meinen Bruder keineswegs daran, seine Gefühle für Corinne in Form von Liedern zum Ausdruck zu bringen. Er war noch nie so produktiv wie seit dem Abend, als er das Mädchen kennengelernt hat. Man kann sie quasi als seine Muse betrachten, und dagegen hat Lucien wohl nichts.“

„Die Kleine wird jedenfalls sehr geschmeichelt sein, wenn sie Jamies Hymnen hört“, meinte Janette.

„Was hältst du eigentlich von ihr?“ wollte Danielle wissen.

„Sie scheint eine nette, junge Frau zu sein“, erwiderte Janette. „Aber was spielt mein persönlicher Eindruck für eine Rolle, wenn Lucien sie will?“

Nick, der nun zu ihnen an den Tresen trat, hatte den letzten Satz gehört und sagte zu seiner Vampirschwester: „So, so – LaCroix will sie also? Ihr sprecht nicht zufällig von Corinne Lambert?“

„Nicholas!“ entfuhr es Janette, die während des Gesprächs nicht auf ihre Gäste geachtet und ihn daher nicht wahrgenommen hatte. Dann wandte sie sich an die Sängerin: „Darf ich vorstellen? Dies ist Nicholas, mein früherer Gefährte. – Nicholas, das ist Danielle, die Sängerin der Band, die gerade hier spielt.“

„Freut mich sehr!“ sagte Nick höflich, nahm Danielles dargebotene Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Ich habe Sie gestern Abend in der Convocation Hall gehört. Ihre Stimme ist sehr beeindruckend.“

„Vielen Dank“, erwiderte Danielle mit freundlichem Lächeln und musterte ihn eingehend. „Sie sind also Nicholas – der Vampir, der wieder sterblich werden will?“

„Janette hat Sie also bereits über mich informiert?“

„Es ist immer gut zu wissen, mit wem man es zu tun hat, Nicholas, und wem man trauen kann. Sind Sie vertrauenswürdig?“

„Wenn Sie damit meinen, ob ich darüber schweige, dass Sie und Ihre Bandmitglieder Vampire sind, dann kann ich Sie beruhigen – sofern Sie keinem Ihrer Fans gefährlich werden.“

Danielle lachte laut auf.

„Das ist nicht Ihr Ernst, Nicholas! Der eine oder anderer Fan möchte, dass wir ihm zu nahe treten... und Sie wissen ebenso gut wie ich, dass wir Blut brauchen. Oder haben Sie mittlerweile eine andere Methode gefunden, um sich zu ernähren?“

„Sie wissen doch, dass es Schlachthäuser gibt...“

„Oh bitte, Nicholas!“ fiel ihm Janette mit angeekelter Miene ins Wort. „Verschone uns mit diesen unappetitlichen Details!“

Danielle runzelte die Stirn und blickte von Nick zu Janette.

„Du willst doch nicht etwa sagen, dass er sich das Blut von dort besorgt?“

„Doch! Er hält es in Flaschen abgefüllt in seinem Kühlschrank frisch“, erklärte Janette.

Die Sängerin verzog nun ebenfalls angewidert das Gesicht und wandte sich erneut Nick zu: „Wie können Sie sich nur auf diese Weise ernähren? Es gibt kaum etwas ekelerregenderes als kaltes Tierblut.“

„Nun, Madame, auf diese Weise werde ich jedenfalls nicht zum Mörder“, sagte Nick.

„Ihr Vorgehen ist nichts anderes als Bigotterie“, meinte Danielle in ernstem Ton. „Sie haben Mitleid mit den Menschen, aber an das Leid der bedauernswerten Tiere verschwenden Sie keinen Gedanken. Diese hilflosen Geschöpfe sind die Opfer derjenigen, die Sie verschonen wollen. Im Grunde sind die Menschen auch nicht viel besser als wir. Alles Raubtiere, die überleben wollen!“

Bei den letzten Worten blitzten ihre Augen kurz rot auf und sie öffnete leicht den Mund, wobei er die Andeutung ihrer spitzen Eckzähne erkannte.

„Ich bitte Sie, Madame, wollen Sie mich damit etwa erschrecken?“ fragte er grinsend. Dann wandte er sich wieder Janette zu: „Ich bin auf der Suche nach Corinne Lambert. Weißt du, wo sie ist?“

„Nein, keine Ahnung!“ erwiderte die Vampirin und senkte den Blick. „Ist sie denn nicht zu Hause bei Nathalie?“

„Dann wäre ich wohl kaum hier“, grummelte Nick verärgert.

„Tut mir leid, Nicholas, aber der Aufenthaltsort der jungen Dame entzieht sich vollkommen meiner Kenntnis.“

„Und wo ist LaCroix?“

„Das ist mir ebenfalls unbekannt!“

„Was soll das, Janette?! Ich muss wirklich dringend mit Corinne sprechen. Sie ist vielleicht in großer Gefahr!“

„Da hast du möglicherweise recht“, gab die Vampirin zu. Ein spöttischer Zug spielte um ihren Mund. „Lucien wollte sich heute Abend mit ihr treffen. Welche größere Gefahr kann es für eine junge Sterbliche wohl geben als das Zusammensein mit einem Vampir?“

Janette begann zu lachen und Danielle fiel in ihr Lachen ein.

Nicholas blickte von einer zur anderen und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann sagte er mit lauter Stimme, um in dem Lärm von den beiden Vampirinnen gehört zu werden: „Ausnahmsweise habe ich einmal nicht LaCroix gemeint! Es gibt jemand anderen, der Corinne gefährlich werden könnte!“

Jamie, der gerade eine neue Strophe singen wollte, hatte dies gehört und schloss sofort seinen Mund, während die übrigen Musiker sich Blicke zuwarfen und einfach weiterspielten. Sie improvisierten, während der Sänger von der Bühne sprang und neben Knight auftauchte.

„Wer?“ fragte er atemlos und starrte Nick eindringlich an. „Wer bedroht Corinne?!“

Erschrocken drehte der Angesprochene sich zu Jamie um.

„Mein Bruder James!“ stellte Danielle ihn vor. Ihr und Janette war das Lachen vergangen, nachdem sie Nicks Worte gehört hatten. Sie warteten nun ebenso wie Jamie auf die Antwort des Vampircops.

„Nun, von einer Bedrohung kann noch keine Rede sein“, erklärte Nicholas. „Allerdings habe ich vorhin etwas erfahren, dass ein neues Licht auf den Unfall von Thomas Marquardt wirft. Ich möchte nur, dass Corinne vorsichtig ist. Deshalb muss ich sie unbedingt unter vier Augen sprechen.“

„Ich glaube kaum, dass die Kleine heute noch hier auftaucht“, meinte Janette. „Außerdem wird Lucien sie beschützen, falls das nötig sein sollte.“

„Aber es wäre wichtig, noch heute mit Corinne zu sprechen. Weißt du wirklich nicht, wo sie sein könnte?“

„Glaub mir, Nicholas, ich habe keine Ahnung. Lucien pflegt mich nicht in seine Pläne einzuweihen. Er macht, was er will...“

Janette zögerte einen Moment, dann murmelte sie: „Vielleicht kommen die beiden morgen Abend. Lucien hatte so etwas angedeutet.“

Nick starrte seine Vampirschwester an und fragte mit harter Stimme: „Das heißt dann wohl, dass er sie heute Nacht töten wird...?“

„Wer spricht denn vom Tod?“ mischte sich nun Danielle mit leichtem Grinsen ein. „Falls er sie heute Nacht wirklich herüberholt, dann ist sie genauso unsterblich wie wir...“

„Nun ja, und dann wäre es an der Zeit, den Menschen zu warnen, vor dem sie sich deiner Meinung nach in Acht nehmen soll – denn dann könnte sie ihm gefährlich werden...“, führte Janette diesen Gedanken zu Ende. Dabei begegnete sie den amüsierten Blicken von Danielle und Jamie, und einen Augenblick später lachten alle drei laut, während Nicholas es vorzog, sie zu verlassen.

Draußen atmete er erst einmal tief durch. Die Luft im Raven war heute für ihn unerträglich gewesen, vor allem, da er ahnte, dass die vielen Vampire, die sich dort befanden, in dieser Nacht gewiss ein Opfer finden würden...

 

Corinne saß genau wie das letzte Mal, als sie Lucien in sein Tonstudio begleitet hatte, ihm gegenüber; und obwohl sie diesmal nur zuhören wollte, hatte er ihr ein Mikrophon hingestellt.

„Ich hätte gar nichts dagegen, wenn du mit mir in der Sendung diskutierst“, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf und meinte: „Heute nicht. Ich habe gestern genug geredet.“

„Nun ja, falls du doch etwas sagen willst, kannst da das gerne tun“, erwiderte er, schaute auf die Uhr und drückte dann den entsprechenden Knopf, um gleich darauf zu verkünden: „Guten Abend, ihr Freunde der Nacht! Hier spricht der Nachtfalter. Habt ihr euch eigentlich schon einmal gefragt, warum die Menschen jedes Jahr den Tag ihrer Geburt feiern?“

Dabei warf er Corinne einen langen Blick zu und fuhr fort: „Was feiern wir da eigentlich und warum?“

Sie setzte dazu an, ihm zu antworten, verkniff es sich aber im letzten Moment. LaCroix grinste breit, während er ins Mikrophon sprach: „Die meisten Kinder feiern sehr gerne ihren Geburtstag. Für sie ist es noch aufregend, jedes Jahr älter zu werden. Doch mit jedem Jahr rückt der Tag der Mündigkeit immer näher – der Tag, an dem man frei wird von den Eltern und für sich selbst verantwortlich ist. Der junge Mensch reift heran und irgendwann wird ihm bewusst, dass er mit jedem Tag älter wird und sich damit dem Tag seines Todes nähert. Der alljährliche Geburtstag, den man mittlerweile schon aus Gewohnheit feiert, erinnert einen schmerzlich daran, dass das irdische Leben irgendwann zu Ende sein wird...“

Lucien hielt inne und warf neugierig einen Blick auf Corinne, die ihn überrascht musterte.

„Ich finde, du siehst das alles zu negativ!“ warf sie ohne zu überlegen ein. Sie hatte vergessen, dass sie gerade auf Sendung waren. „Mit dem alljährlichen Geburtstag feiert man den Tag, an dem ein einzigartiges Individuum geboren wurde, dessen Leben mit der Geburt begann.“

„Der Anfang eines Lebens, das mit dem Tode endet“, meinte LaCroix ungerührt.

„Aber Leben und Tod gehören genauso zusammen wie Licht und Schatten“, führte Corinne aus. Lucien ließ sie gewähren. Er lächelte. Dieses Mädchen war immer noch ungemein faszinierend und er freute sich darauf, ihren Ausführungen zu lauschen. „Außerdem ist es gar nicht sicher, dass das Leben mit dem Tode endet. Wer weiß, was uns erwartet, wenn wir gestorben sind?“

„Dunkelheit, Corinne, nichts als Dunkelheit“, murmelte LaCroix. „Und ewiges Vergessen. Unsere Existenz ist ausgelöscht, als wäre sie nie gewesen...“

„Eine sehr materialistische Anschauung“, erwiderte die junge Frau. „Es gibt viele Kulturen, die einen anderen Standpunkt vertreten. Sie glauben zum Beispiel, dass es ein Leben nach dem Tod gibt oder halten eine Wiedergeburt für möglich.“

„Das ist mir durchaus bekannt“, gab er ironisch zurück. „Aber meinst du nicht, dass der Glaube an das Paradies, an Fegefeuer und Hölle oder die Idee der Reinkarnation lediglich eine Flucht des Menschen darstellen, um sich nicht mit der Unvermeidbarkeit ihres Todes auseinandersetzen zu müssen, die ihnen tief im Inneren schreckliche Angst macht?“

„Schon möglich“, räumte Corinne ein. „Aber ebenso könnte es ein Leben nach dem Tod geben.“

Erneut glitt ein breites Grinsen über LaCroix’ Züge. Seine Augen leuchteten kurz auf und ihn überkam das plötzliche Verlangen, ihr gleich zu zeigen, welcher Art das Leben nach dem Tode war, das ihm vorschwebte.

„Wie dem auch sei“, fuhr das Mädchen unbekümmert fort. „Sowohl die Geburt als auch den Tod können wir als eine Art Neubeginn auffassen. Nehmen wir beispielsweise einmal an, dass es die Wiedergeburt wirklich gibt, dann wäre die Inkarnation in einen Körper für die Seele desjenigen, der reinkarniert, so ähnlich, als würde er sterben. Denn seine Seele hält sich ja in einer anderen als der materiellen Sphäre auf. Vielleicht fürchtet er sich dann genauso davor, diese zu verlassen, wie sich ein irdischer Mensch vor dem Tode fürchtet...“

„Diese Gedankengänge sind wirklich überaus interessant, Corinne. Doch sie könnten eine Illusion sein. Eine Strategie, um mit der Angst vor dem Tod fertig zu werden.“

„Wäre das denn so schlimm?“ fragte das Mädchen arglos und lächelte LaCroix mit einem so offenen und liebevollen Blick an, dass seine Raubtiernatur schlagartig wieder besänftigt wurde. Ohne seine Augen von ihr zu wenden, sprach er ins Mikrophon: „Nun, ihr habt die Frage gehört, Freunde der Nacht. Was haltet ihr von den Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod? Corinne und ich erwarten eure Ansichten unter der Telefonnummer  0 666 88 0.“

Nachdem er dies gesagt hatte, drückte er wie automatisch den blauen Knopf, der dafür sorgte, dass die Zuhörer der Sendung mit Musik versorgt wurden. Dann stand er auf und ging zu Corinne rüber. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte eine kleine, hellgrüne Schachtel hervor, die er ihr mit den Worten überreichte: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein kleiner Schmetterling!“

Die junge Frau starrte ihn überrascht an.

„Aber, Lucien, woher weißt du...?“

„Ich habe es Sonntagabend zufällig mitbekommen“, erklärte er mit ruhiger Stimme und hielt ihr immer noch die kleine Schachtel hin. „Nun, möchtest du mein Geschenk nicht aufmachen?“

Mit leichtem Lächeln nahm sie sein Präsent entgegen, hauchte „Danke“ und öffnete das Kästchen. Darinnen befand sich ein silberner Ring mit einem funkelnden, grünen Saphir in der Mitte.

„Oh, Lucien!“ entfuhr es ihr. „Er ist wirklich wunderschön!“

„So wie du, mein Sonnenschein“, murmelte er.

Corinne schaute erst LaCroix an und blickte dann wieder nachdenklich auf den Stein. Mit einem Seufzer schloss sie die Schachtel.

„Was ist los?“ fragte der Vampir, verwundert über diese Reaktion.

„Ich... ich kann das doch nicht annehmen, Lucien. Der Ring ist sicher sehr wertvoll!“

„Ja, das ist er, mein Liebling. Und du bist mir noch sehr viel mehr wert als dieses Schmuckstück“, entgegnete er in liebevollem Ton. „Darum bitte ich dich, dieses Zeichen meiner tiefen Zuneigung anzunehmen.“

Corinne sprang vom Stuhl auf und fiel LaCroix um den Hals.

„Oh, Lucien! Ich danke dir... etwas Schöneres hättest du gar nicht sagen können“, hauchte sie zärtlich und schluchzte ein bisschen.

„Aber... du weinst ja, mein Liebling“, meinte er besorgt und schob sie ein wenig von sich, um sie aufmerksam zu betrachten. Sie senkte den Blick, lächelte und wischte sich mit dem Handrücken einige Tränen von den Wangen. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Ich... ich freue mich nur so darüber... über das, was du eben gesagt hast... und natürlich auch über den Ring...“, sagte sie leise.

„Dann ist es ja gut“, murmelte er und strich ihr sanft einige Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor er das Schmuckstück aus der Schachtel nahm und es ihr behutsam auf den linken Ringfinger schob. „Er soll dich immer daran erinnern, wie tief ich dir verbunden bin, Corinne.“

Sie umarmte ihn noch einmal fest und hielt ihn einige Minuten in ihren Armen, bis er sich schließlich sachte daraus befreite, sie mit liebevollem Blick auf ihren Platz drückte und dann selbst an sein Mikrophon zurückkehrte. Die Musik war eben verklungen und die Hörer erwarteten, seine Stimme zu hören.

„Nun, hier bin ich wieder, ihr Freunde der Nacht“, meldete er sich. „Vor unserer kleinen Pause hatten wir die Jenseitsvorstellungen der Menschen angesprochen, die ich für nichts weiter als eine Flucht vor der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit halte. Aber natürlich interessiert uns auch eure Meinung, liebe Freunde, und ich bin gespannt, was ihr dazu zu sagen habt.“

Er schwieg einen Moment und bedachte Corinne mit einem verträumten Blick. In ihren Augen glänzte es immer noch. Es rührte ihn, dass sie ihre Gefühle nicht unterdrückte. Zeigte sie ihm doch damit überdeutlich, wie viel er ihr bedeutete... es war schön, von einem solch arglosen Engel geliebt zu werden. Etwas, was so lange zurücklag, dass er sich kaum mehr daran erinnerte. Die meisten, denen er begegnete, ängstigten sich vor ihm – sogar viele Vampire wagten sich kaum in seine Nähe. Corinne war eine der wenigen Personen, die ihm von Anfang an furchtlos begegneten. Wahrscheinlich machte das einen Großteil ihrer Faszination für ihn aus...

Das Klingeln des Telefons schreckte LaCroix aus seinen Gedanken auf und brachte ihn in die Gegenwart des Studios zurück. Er drückte die entsprechende Taste und fragte mit gedehnter Stimme: „Ja? Mit wem spreche ich?“

„Hallo, mein Name ist Martin“, war die Stimme eines jungen Mannes zu vernehmen.

„Guten Abend, Martin“, erwiderte Lucien. „Nun, was hältst du von den verschiedenen Jenseitsvorstellungen?“

„Erst einmal möchte ich Corinne grüßen“, antwortete der Anrufer. „Schön, dass du wieder dabei bist, Corinne!“

Durch ein Kopfnicken Luciens ermutigt, sprach das Mädchen ins Mikrophon: „Vielen Dank, Martin.“

„Also“, fuhr der junge Mann dann fort. „Im Prinzip gebe ich Corinne recht, dass wir eigentlich nicht wissen, was mit uns beziehungsweise unserer Seele nach dem Tod geschieht.“

„Du gehst also davon aus, dass wir so etwas wie eine Seele besitzen?“ fragte LaCroix.

„Ja, ich bin davon überzeugt“, gab der Anrufer zu.

„Demnach glaubst du bestimmt auch an ein Weiterleben irgendeiner Art nach dem Tod, nicht wahr?“

„Das ist richtig!“

„Hm... du bist wohl kein Wesen der Art, wie McDonavan es von sich in dem Schreiben, das ich in der vorletzten Sendung ansprach, behauptet hat?“

„Nein, ich bin kein Untoter“, stellte Martin klar.

„Aber du hältst es nicht für unwahrscheinlich, dass es Wesen dieser Art gibt?“ wollte LaCroix wissen und warf dabei wieder einen neugierigen Blick auf Corinne, die bei dieser Frage unwillkürlich lächelte. Allerdings blieb ihr der Mund offenstehen, als sie Martins Antwort hörte.

„Ebenso wie ich davon überzeugt bin, dass es ein Jenseits gibt, glaube ich fest an die Existenz verschiedener geistiger Welten, und meiner Meinung nach gehören Vampire einer der unteren Sphären an, weil sie gemäss der christlichen Lehre zu den verfluchten, dämonischen Geschöpfen zählen.“

„Bist du ein guter Christ, Martin?“ fragte LaCroix süffisant.

„Streng katholisch betrachtet wahrscheinlich nicht. Zudem weiß ich, dass viele der früheren Religionen von geschickten Theologen verteufelt und zu ihrer Dämonologie ausgebaut worden sind“, erklärte sein Gesprächspartner. „Mit diesem Hintergrundwissen fällt es mir schwer, Untote einzuschätzen. Deshalb konnte ich es sehr gut nachvollziehen, was Corinne in der vorletzten Sendung sagte...“

„Auf welche ihrer Aussagen beziehst du dich jetzt?“

„Nun ja, sie wollte doch keineswegs ein Angebot annehmen, von dem sie nicht weiß, was genau es beinhaltet, wie z. B. die Unsterblichkeit, in deren Besitz Vampire angeblich sein sollen.“

„Demnach würdest du es wohl auch ablehnen, wenn dir einer ein entsprechendes Angebot machen würde, und lieber das Risiko auf dich nehmen, zu sterben – mit der Hoffnung, im Paradies weiterzuleben?“

„Möglicherweise...“, gab Martin zögerlich zu. Dann fuhr er mit zweifelnder Stimme fort: „Allerdings hat mir noch niemand das Angebot unterbreitet, unsterblich zu werden...“

„Vielleicht, lieber Freund, kommt das noch“, erwiderte LaCroix in sachlichem Ton, während um seine Mundwinkel der Hauch eines Lächelns spielte. So sicher, wie der junge Mann am anderen Ende der Leitung ihm weismachen wollte, schien er keineswegs zu sein. Lucien waren solche unsicheren Kandidaten bestens bekannt. Sie waren meist schnell dazu bereit, die dunkle Existenz eines Vampirdaseins gegen das irdische Menschenleben einzutauschen. Ihm fiel in diesem Zusammenhang sofort Nicholas ein. Auch er war ein unsicherer, junger Mann gewesen, den die Liebe zu Janette dazu verführt hatte, ein Vampir zu werden... ja, die Liebe war eine starke Kraft...

LaCroix betrachtete versonnen wieder die junge Frau ihm gegenüber. Da sie ihn liebte und ihre Gefühle aufrichtig waren, würde sie sich ihm bedingungslos hingeben, wenn er das von ihr verlangte...

Der alte Vampir zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück und wandte sich seinem Anrufer zu.

„Ich danke dir für deinen Anruf, Martin“, sagte er freundlich und drückte seinen Gesprächspartner weg. Dann wandte er sich lächelnd an Corinne, die ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte: „Nun, ma chère, was meinst du zu Martins Ausführungen?“

„Im Prinzip ist er ja meiner Meinung“, erwiderte das Mädchen. „Allerdings glaube ich immer noch nicht an Vampire.“

LaCroix wollte ihr gerade antworten, als erneut das Telefon klingelte.

„Hier ist der Nachtfalter. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Nicholas Knight!“

„Oh, du bist es... Nicholas...“, Lucien war zunächst erstaunt, dann aber amüsiert. „Nun, was möchtest du uns mitteilen?“

„Meine Nachricht gilt ausschließlich Corinne“, erwiderte Nick und fuhr unbeirrt fort: „Glauben Sie mir, Corinne, Vampire existieren wirklich. Sie sollten sich vorsehen! Außerdem möchte ich Sie noch darauf aufmerksam machen, dass ein gewisser, Ihnen sehr gut bekannter Experte der Medienpädagogik mit Vorsicht zu genießen ist. Gerade darum muss ich Sie möglichst bald unter vier Augen sprechen!“

„Diese Sendung dient eigentlich nicht dazu, Verabredungen mit dem Moderator oder einer der Gäste zu treffen“, ermahnte ihn LaCroix in etwas strengerem Ton. Ihm missfiel es außerordentlich, dass Nicholas seine Pläne zu stören versuchte, und es sah so aus, als würde ihm dies gelingen. Corinne wirkte äußerst unruhig. Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her. Lucien spürte, dass sie am liebsten aufgesprungen wäre, sich jedoch beherrschte. Stattdessen fragte sie nun: „Geht es um meinen ehemaligen Professor, Mr. Knight?“

„Ja, genau um ihn handelt es sich.“

„Dass er mit Vorsicht zu genießen ist, weiß ich schon seit langem“, meinte Corinne. „Aber wenn Sie extra in dieser Sendung anrufen, muss es dazu einen besonderen Grund geben. Ich hoffe, es ist nichts passiert?“

„Das kann ich noch nicht genau sagen“, antwortete Nicholas. „Deshalb muss ich Sie ja so dringend sprechen. Ich brauche Informationen, um weiterzukommen.“

„Im Moment ist jedoch nichts geschehen, dass Corinnes Anwesenheit sofort erforderlich macht?“ mischte sich nun LaCroix mit ungeduldiger Stimmer ein. „Oder glaubst du, dass dieser Mann für sie unmittelbar gefährlich werden könnte?“

„Nein, das glaube ich eigentlich nicht“, gab der jüngere Vampir zu.

„Dann wünsche ich dir noch eine gute Nacht, Nicholas!“

Bevor Nick antworten konnte, hatte LaCroix einfach die Verbindung abgebrochen und den blauen Knopf gedrückt, um seine Zuhörer mit Musik von Nicholas’ Anruf abzulenken. Dann legte er beruhigend eine Hand auf diejenige Corinnes und flüsterte: „Es gibt keinen Grund, überhaupt einen Gedanken an diesen Teichert zu verschwenden, Liebling.“

„Aber wenn Knight sich die Mühe macht, hier anzurufen...“, wandte sie ein, doch Lucien fiel ihr ins Wort: „Ich kenne Nicholas wirklich sehr gut. Er bringt oft unnötig Unruhe in das Leben anderer Menschen. Bitte glaube mir, meine Kleine, er übertreibt alles.“

„Meinst du wirklich?“

„Ja, ma chère. Davon hast du doch Sonntagabend eine Kostprobe genießen können, erinnerst du dich?”

Corinne nickte und schien sich allmählich zu beruhigen. Zufrieden drückte Lucien ihre Hand und wandte sich dann wieder an seine Zuhörer: „Nun, liebe Freunde der Nacht, allmählich nähert sich unsere Sendung dem Ende. Aber ein Anrufer hätte jetzt noch eine Chance...“

***

Es gelang noch zwei Anrufern, in der Sendung des ‚Nachtfalters’ durchzukommen. Der eine berichtete von einer Nahtod-Erfahrung, die Lucien sich ohne zynische Bemerkungen interessiert anhörte, der andere teilte LaCroix’ Meinung über den illusorischen Charakter von Jenseitsvorstellungen. Danach war die Sendung vorbei. Als das letzte Musikstück verklungen war, verabschiedete sich der Vampir von den „Freunden der Nacht“ und schaltete durch einen einzigen Knopfdruck die gesamte Technik aus.

„Schon eine seltsame Richtung, in die das Thema Geburtstag geführt hat“, murmelte Corinne. „Ist dir aufgefallen, dass wir einen Großteil der Sendung nur über den Tod und die Jenseitsvorstellungen gesprochen haben?“

„Hattest du nicht die Meinung vertreten, dass Leben und Tod zusammengehören, ma chère?“

„Ja, aber... hm... nun ich dachte, wir würden eher darüber sprechen, warum man jedes Jahr Geburtstag feiert und was dieser Tag den Menschen bedeutet.“

„Das haben wir getan, Corinne – jedenfalls am Anfang. Du warst der Meinung, dass das ein Freudentag ist und ich gab zu bedenken, dass ich dies merkwürdig finde, da dieser Tag an die Vergänglichkeit erinnert.“

„Aber, Lucien, ich habe heute auch Geburtstag und ich hätte bestimmt nicht an Vergänglichkeit gedacht, wenn ich nicht zufällig hier in deiner Sendung gewesen wäre. Du siehst also, dass deine These nicht richtig ist. Ich kenne nämlich keinen Menschen, der daran denkt, dass er mit jedem Jahr dem Tod näher rückt...“

„Das liegt einfach daran, dass du jung bist und dein Bekanntenkreis größtenteils sicherlich aus Leuten deiner Altersklasse besteht“, gab der Vampir zu bedenken. „Ist es nicht so?“

„Nein, keineswegs!“ widersprach Corinne. „Ich habe Kontakt zu vielen Leuten unterschiedlichen Alters.“

„Nun, dann sprechen deine älteren Bekannten in deiner Gegenwart nicht von den trüben Gedanken, die sie angesichts ihres Geburtstages haben“, behauptete LaCroix. Er lächelte und fuhr in versöhnlichem Ton fort: „Aber lassen wir das mal außer Acht, ma chère. Erzähl mir, was der Tag der Geburt deiner Meinung nach bedeutet.“

„Er ist ein Freudentag“, erwiderte Corinne mit fester Stimme. „Wenn ein Kind geboren wird, dann freut sich die ganze Familie über das neue Leben. Und für die Eltern des Babys bedeutet die Geburt ihres Kindes noch etwas ganz Besonderes – nämlich die Krönung ihrer Liebe.“

Sie warf einen zärtlichen Blick zu Lucien, den ein merkwürdiges Gefühl dabei überkam, das er im Augenblick nicht einordnen konnte. Er räusperte sich und meinte: „Deine Eltern haben sich sicherlich gefreut, als du geboren wurdest, nicht wahr?“

„Ja, sie freuten sich sehr über meine Geburt, aber auch über die Geburt meiner älteren Schwester.“

„Eure Eltern lieben euch bestimmt abgöttisch...?“

„Ich glaube, dass man das sagen kann“, bestätigte Corinne lächelnd. „Unsere Eltern haben uns immer das Gefühl gegeben, bei ihnen aufgehoben zu sein. Mit allen Problemen konnten wir zu ihnen kommen, sie waren immer für uns da. Außerdem behandeln sie uns beide gleich, zum Beispiel bezeichnet mein Vater Christine und mich als seine Lieblingstöchter.“

„Das... das ist wirklich... sehr... schön“, murmelte LaCroix, wandte ihr seinen Rücken zu und starrte aus dem Fenster, das sich unweit seines Moderatorentisches befand. Ihn überkam gerade die Erinnerung an seine geliebte Tochter, die seit langem tot war. Für einen kurzen Moment hatte er die Szene vor Augen, die ihm vorführte, was sich zwischen ihm und Divia, seinem einzigen Kind, bei ihrer letzten Begegnung abgespielt hatte.[1] Sein damaliges Handeln schmerzte ihn immer noch tief, aber er hatte keinen anderen Ausweg gesehen, denn aus seiner süßen, kleinen Tochter war ein Monstrum geworden.

„Was hast du, Liebster?“ holte ihn Corinnes Stimme in die Gegenwart zurück. Er zwang sich, die quälenden Bilder zu verscheuchen und wandte sich eine Minute später wieder der jungen Frau zu, die ihn besorgt betrachtete. Sie kam auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf den Rücken. „Du hast doch was, Lucien?“

„Nur eine Erinnerung, nichts weiter. Alte Geschichten!“ wehrte der Vampir ab und schaute sie nachdenklich an. Er hatte bisher nie jemandem etwas davon erzählt, was zwischen ihm und Divia vorgefallen war. Einen Moment war er versucht, sich Corinne anzuvertrauen, aber er beherrschte sich im letzten Augenblick. Nein, er konnte es ihr unmöglich sagen – schließlich ahnte seine kleine Freundin noch nicht einmal, dass er ein Vampir war.

„Du hast an deine Tochter gedacht, nicht wahr?“ fragte Corinne plötzlich und Lucien starrte sie erschrocken an. Woher wusste sie...?

„Wenn du nicht darüber sprechen willst, ist es okay“, sagte sie leise und ergriff seine Hand. „Komm, Liebster, lass uns ein wenig an die frische Luft gehen.“

„Ja... ja, das ist eine gute Idee...“

Widerstandslos ließ LaCroix sich von der jungen Sterblichen aus dem Studio führen. Er war immer noch fassungslos, dass sie ahnte, was in ihm vorging. Nicht einmal die ihm nahe stehenden Vampire waren bisher seinem Geheimnis auch nur den Hauch einer Ahnung auf der Spur. Für sie war er lediglich der distanzierte, kühle Meister, dem sie Respekt zollten, aber es nicht wagten, sich für seine Vergangenheit zu interessieren.

„Corinne...“, begann er zögernd, als sie schließlich draußen waren. „Woher weißt du, dass ich an meine Tochter gedacht habe?“

„Das lag doch auf der Hand“, erwiderte sie. „Du hast mir am Anfang unserer Bekanntschaft erzählt, dass deine Frau und deine Tochter tot sind; und als ich gerade über das Verhältnis sprach, das zwischen mir und meiner Familie herrschte, muss dir ja eingefallen sein, dass du auch einmal Vater warst. – Ach, Lucien, es tut mir so leid, dass meine unbedachten Äußerungen dir Schmerz bereitet haben.“

„Es ist schon gut, Corinne“, murmelte er und drückte leicht ihre Hand. „Du musst mich nicht behandeln wie ein rohes Ei. Schließlich bin ich ein erwachsener Mann, der einige unerfreuliche Erlebnisse hinter sich hat. Damit werde ich schon fertig, keine Sorge.“

„Wenn ich dir nur irgendwie helfen könnte“, seufzte sie.

„Ich würde gerne allein sein“, erwiderte er und blickte sie eindringlich an. „Bist du mir böse, wenn ich dich jetzt heimschicke?“

„Natürlich nicht, Lucien.“

„Wir holen alles morgen Abend nach, einverstanden?“

„Setz dich nicht so unter Druck, Liebster“, sagte Corinne leise. „Ich kann durchaus verstehen, wenn man in seinem Schmerz allein sein will – ich habe das Gleiche durchgemacht. Wir treffen uns erst dann wieder, wenn dir danach ist.“

„Du bist wirklich sehr lieb, Corinne“, murmelte Lucien und küsste ihre Stirn. Dann winkte er ein Taxi heran und gab dem Fahrer Anweisung, wohin er die junge Dame bringen solle. Nachdem er dem Chauffeur einen Schein in die Hand gedrückt hatte, wandte er sich noch einmal an das Mädchen: „Ich würde dich wirklich sehr gerne morgen Abend sehen. Darf ich dich um halb neun abholen?“

„Natürlich, ich freue mich darauf!“

„Dann bis morgen, Corinne – und schlaf gut!“

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[1] In der vorletzten Folge der dritten Staffel von „Forever Knight“ (die in Deutschland nicht gelaufen ist), wird gezeigt, was sich zwischen LaCroix und seiner Tochter Divia abgespielt hat. Wer Interesse daran hat, kann dies auf der Fanseite cyberpursuits.com/heckifiknow/fk/default.asp
in englischer Sprache unter > Episode Transcripts < , Folge „Ashes to Ashes“ nachlesen

 

In dieser Nacht fiel es Corinne schwer einzuschlafen. Sie sorgte sich um Lucien. Er musste sehr darunter leiden, seine Familie verloren zu haben, denn er wirkte etwas verwirrt, als er sie nach Hause geschickt hatte. Sie bedauerte dies außerordentlich, denn sie hätte ihm gerne beigestanden und ihm Halt gegeben. Aber wenn er es nun einmal nicht wollte, musste sie es schweren Herzens akzeptieren. Ihr armer Lucien... ihr süßer Lucien... ihr Liebster...

Er stand plötzlich vor ihrem Bett, kniete sich nieder und streichelte sachte über ihr Haar. Sie spürte, wie heftig ihr Herz gegen ihre Brust schlug, während sie kaum imstande war, sich zu rühren.

„Du wirst für immer mein sein“, flüsterte er fast unhörbar, näherte seinen Mund ihrem Gesicht und küsste sie. Sanft erwiderte sie diesen Kuss, schloss die Augen und genoss die Liebkosungen, die er ihr mit seinen Lippen angedeihen ließ. Dabei wanderte er von ihrem Mund auf ihre linke Wange, die er nur hauchzart berührte, und hinunter zu ihrem Hals, saugte daran und begann, leicht hineinzubeißen.

„Oh... Liebster“, stöhnte sie leise. „Hmmm... was tust du...?“

Seine Hand streichelte ihre Wange, während die andere sich an ihrer Schulter festkrallte. Sie fühlte etwas Spitzes an ihrer Haut... plötzlich schüttelte er sie heftig...

„CORINNE, WACH AUF!“  drang wie aus weiter Ferne eine Stimme zu ihr, die ihr bekannt vorkam. Gleich darauf verwandelte sich Luciens Gesicht in das von Nathalie...

Allmählich kam Corinne wieder zu sich und blinzelte ihre Cousine irritiert an.

„Was ist denn los?“ fragte sie und schaute sich um. Ein Blick auf das offenstehende Fenster verriet ihr, dass es draußen noch dunkel war. „Warum weckst du mich?“

„Das nervtötende Schrillen deines Reiseweckers hätte eigentlich reichen müssen, damit du aus dem Bett fällst“, erwiderte Nathalie, die aufgeregt schien. „Jedenfalls war es das erste Geräusch, das mich eben empfing, als ich nach Hause kam, und daher hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als das Ding abzustellen.“

Die Ärztin musterte ihre jüngere Cousine eindringlich.

„Wie fühlst du dich, Corinne?“

„Gut. Weshalb fragst du?“

„Na ja, es ist schon merkwürdig, dass du den Wecker nicht gehört hast. Du musst total erschöpft sein – und dann dieses Stöhnen... Hast du irgendwelche Schmerzen, Corinne?“

„Nein...“, sagte das Mädchen und errötete leicht, als sie an ihren Traum dachte. „Ich habe wirklich gestöhnt?“

„Ja, sehr laut sogar“, klärte Nathalie sie auf. Dann erhob sie sich, ging zum Fenster und schloss es. „Draußen ist es allmählich doch etwas kühl.“

Corinne beobachtete sie und schwieg. Sie war sich ziemlich sicher, das Fenster nicht geöffnet zu haben, als sie zu Bett ging. Aber vielleicht war sie so sehr in Gedanken bei Lucien gewesen, dass sie es gar nicht bemerkt hatte.

„Wie spät ist es eigentlich, Nathalie?“

„Kurz vor 6.00 Uhr.“

„Was, so früh?“ wunderte sich Corinne. Warum, um alles in der Welt, hatte sie ihren Wecker auf eine so frühe Uhrzeit eingestellt? Dann fiel ihr jedoch ein, dass sie sich in Ruhe duschen und danach Kaffee aufsetzen sowie den Tisch decken wollte, bevor sie Brötchen für sich und Nathalie holte. Das gemeinsame Frühstück war in den letzten Tagen so etwas wie ein festes Ritual geworden, das sie nicht mehr missen wollte. Aber war Nathalie nicht auch etwas zu früh wieder zu Hause?

„Nick hat mich von einem Tatort gleich heimgefahren“, erklärte die Ärztin, bevor Corinne etwas fragen konnte. Dann schaute sie sie eindringlich an und fragte: „Dir geht es auch wirklich gut? Du hast nicht das Gefühl, dass du sehr erschöpft bist?“

„Aber nein!“ erwiderte Corinne und musste etwas lachen, weil Nathalie sie so besorgt anstarrte. „Wie kommst du nur darauf?“

„Die letzten Tage hattest du ziemlich viel um die Ohren...“, begann die Pathologin zögerlich.

„Ja, das stimmt“, gab Corinne schnell zu, da sie dem Ton ihrer Cousine entnahm, dass diese ein sogenanntes ‚ernstes Gespräch’ beginnen wollte – aber sie hatte weder Lust, darüber zu diskutieren, warum sie in Toronto bleiben wollte, noch über diverse andere Sachen. Deshalb fuhr sie auch gleich fort: „Und ich werde die nächsten Tage auch viel um die Ohren haben, da mich interessante Beiträge auf dem Kongress erwarten.“

Mit diesen Worten schlug sie die Decke zurück und schwang elegant ihre Beine über die Bettkante. Sie grinste Nathalie an und meinte: „Wird also Zeit für mich, aufzustehen. Komm, Nat, lass uns zusammen frühstücken!“

***

Nachdem es Corinne weitgehend gelungen war, Nathalies erneuten Versuch eines ‚ernsthaften Gesprächs’ während des Frühstücks abzuwehren und sich ihre Cousine danach ohnehin müde in ihr Schlafzimmer zurückzog, machte sie sich um 8.00 Uhr äußerst gut gelaunt auf den Weg in die Convocation Hall.

Kaum war sie dort eingetroffen, schaute sie sich neugierig um. Eva, die ebenfalls zu dem heutigen Vortrag zu kommen versprochen hatte, schien noch nicht da zu sein. Dafür kam nun Michael, der sie sogleich bei ihrem Eintritt erkannt hatte, auf sie zu. Ihre eben noch gute Laune verschlechterte sich zusehends und sie erstarrte innerlich zu einem Eisblock.

„Guten Morgen, Corinne“, begrüßte er sie mit unsicherer Stimme. „Ich habe dich gestern vermisst. Du warst wohl nicht auf unserem Vortrag?“

„Richtig!“ erwiderte sie knapp und in kühlem Ton. Dann schaute sie demonstrativ an ihm vorbei und erspähte vor einem der Bilder Myra Schanke, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt und ihm etwas erklärte. Ohne Michael eines weiteren Blicks zu würdigen, ging sie zu Dons Frau hinüber.

„Guten Morgen, Mrs. Schanke“, begrüßte Corinne sie und hielt ihr lächelnd ihre Hand hin.

„Oh, guten Morgen!“ erwiderte die Angesprochene den Gruß und ergriff die dargebotene Hand. Dann schob sie das kleine Mädchen vor sich, das neugierig die fremde Dame betrachtete, die soeben ihre Mutter begrüßt hatte. „Das ist unsere Tochter Jenny.“

Corinne ging vor der Kleinen in die Hocke und reichte ihr ebenfalls die Hand.

„Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Jenny. Ich bin Corinne. Wie gefällt es dir hier?“

„Gut!“ meinte die Kleine und vergrub ihr Gesicht in den Pullover ihrer Mutter, wobei sie die junge Dozentin mit einem verlegenen Lächeln anschaute und einen Finger in den Mund steckte. Mit freundlichem Blick auf Jenny erhob sich Corinne nun wieder und wandte sich Myra zu: „Schön, Sie hier zu sehen.“

„Ihr Vortrag vom Sonntag hat mich so sehr beeindruckt, dass ich unbedingt mehr über Kunst erfahren möchte, und da dieser Kongress ja auch allen Interessierten offensteht, nutze ich diese Gelegenheit“, erwiderte Schankes Frau. Sie sah mit einem zärtlichen Blick auf ihre Tochter hinunter und fügte hinzu: „Jenny kann es auch nicht schaden, etwas Neues zu sehen und zu hören.“

„Ich hoffe nur, dass sie bei dem Vortrag nicht unruhig wird“, meinte Corinne.

~

Mittlerweile traf auch Eva ein und konnte beobachten, wie Michael Fernandez die ganze Zeit zu Corinne hinüberstarrte, die mit Mrs. Schanke ins Gespräch vertieft war. Sie fand dieses Verhalten ihres ehemaligen Kommilitonen etwas seltsam und beschloss, ihn darauf anzusprechen. Mit energischen Schritten ging sie auf ihn zu.

„Hallo, Michael, was findest du denn so interessant daran, zwei Frauen im Gespräch zu beobachten?“

Erschrocken fuhr der junge Mann herum.

„Mein Gott, Eva, musst du dich so anschleichen?!“ zischte er sie dann an.

„Nicht gerade der Ton, um Freunde zu gewinnen“, erwiderte die Fotografin zynisch. „Mal ganz abgesehen von den Beleidigungen, die du Corinne an den Kopf geworfen hast, kannst du dir allein damit genügend Ärger einhandeln. Was ist nur los mit dir, Michael? Früher warst du doch ein ganz netter, junger Mann. Färbt das Verhalten Teicherts wirklich so sehr auf dich ab?“

„Entschuldige, ich habe mich halt erschrocken“, gab er mürrisch zurück und schaute wieder zu Corinne und Myra hinüber. Dann erstarrte er. Das Licht der Morgensonne, das durch eines der Fenster fiel, reflektierte den glänzenden Saphir, der am Ringfinger von Corinnes linker Hand blinkte. Auch Eva bemerkte dies und musste unwillkürlich lächeln. Wahrscheinlich war dieses Schmuckstück ein Geburtstagsgeschenk.

„Hat... hat sie... hat sie sich etwa... verlobt?“ kam es stockend von Michael.

„Keine Ahnung, aber das werde ich sicher gleich erfahren“, erwiderte Eva gut gelaunt, ließ ihren ehemaligen Kommilitonen stehen und ging zu ihrer Freundin hinüber, mit der sie Wangenküsschen austauschte.

Michael verspürte eine leichte Eifersucht auf die drei Menschen, die sich nun bei Corinne befanden. Dennoch konnte er den Blick nicht von ihr wenden. So bemerkte er es auch nicht, als Teichert neben ihn trat, dicht gefolgt von Inge.

„Ja, ja, es geht doch nichts über wahre Freundschaft“, spottete er leise. „Ich fürchte, wir beide haben bei Fräulein Lambert nicht die geringste Chance... Tja, eine Frau müsste man sein...“

„Was?!“ entfuhr es Michael und er starrte Teichert irritiert an. „Was soll das heißen?“

„Genau das, was Sie verstanden haben“, grinste sein Chef.

„Aber... aber nein, das kann nicht sein! Corinne war doch mit Marquardt zusammen!“

„Na und? Wer sagt Ihnen denn, dass diese Beziehung nicht nur zum Schein geführt wurde?“

„Wie kommen Sie auf so einen absurden Einfall, Wernher?“

„Nun, die meiste Zeit ist unsere reizende Corinne von Frauen umgeben – und es scheint ihr zu gefallen“, erwiderte Teichert, grinste breit, als er Michaels geschockten Gesichtsausdruck wahrnahm und ließ ihn dann stehen.

„Hör nicht auf ihn!“ wandte sich nun Inge ihrem Kollegen zu. „Er versucht seit gestern, irgendwelche Gerüchte über Corinne zu verbreiten, weil sie nichts von ihm wissen will.“

Michael, der nicht ahnte, dass die zierliche Blondine genau wie er das Gespräch zwischen Teichert und Corinne unfreiwillig belauscht hatte, nickte und schwieg. Er schaute zu seinem Chef, der sich einen Kaffee vom Buffet holte und dann einen interessierten Blick auf Corinne warf. Michael fühlte, wie Wut in ihm aufstieg. Zwar verdankte er Teichert viel, aber alles hatte seine Grenzen. Er fragte sich, wie dessen Frau es jahrelang mit ihm aushielt. Ob sie überhaupt etwas von seinen Affären ahnte?

Genau das Gleiche fragte sich mittlerweile auch Inge, der nicht entging, mit welch begehrlichen Blicken Wernher Corinne musterte. Warum nur war sie gestern Nacht wieder auf diesen verlogenen Macho hereingefallen? Schmerzhaft musste sie sich eingestehen, dass sie immer noch tiefe Gefühle für ihn empfand, sonst hätte sie wohl nicht mit ihm geschlafen.

Inge schaute mit traurigen Augen zu Eva und Corinne hinüber. Als die Fotografin sie erblickte, winkte sie ihr zu. Corinne war dem Blick ihrer Freundin gefolgt und lächelte sie ebenfalls freundlich an. Derart ermutigt ging die zierliche Blondine zu ihnen und begrüßte sie. Dabei wurde sie mit Myra und Jenny bekannt gemacht. Natürlich bemerkte auch Inge den Ring mit dem funkelnden Saphir an Corinnes Finger.

„Was für ein schönes Schmuckstück“, sagte das blonde Mädchen bewundernd. „Hat ihn jemand aus deiner Familie angefertigt?“

„Nein, diesmal nicht“, gab Corinne etwas verlegen zu und errötete leicht. „Es ist das Geburtstagsgeschenk meines neuen Freundes.“

„Ach, richtig! Sie haben ja heute Geburtstag“, meinte Myra und schüttelte ihr gleich darauf die Hand. „Herzlichen Glückwunsch und alles, alles Gute für Sie, Corinne.“

„Auch von mir die herzlichsten Glückwünsche“, schloss Eva sich an und umarmte ihre Freundin spontan.

„Ich gratuliere dir ebenfalls“, sagte Inge tonlos, die Corinne anstarrte, als wäre sie von einem anderen Stern. „Du hast einen neuen Freund?“

„Ja“, antwortete Corinne und schaute versonnen-lächelnd auf den Ring an ihrer Hand.

„Du hast also einen richtigen Freund?“ fragte Inge nochmals. Als die Gefragte sie verständnislos musterte, erklärte sie: „Ich meine... ihr seid zusammen? Ein Paar?“

Corinne nickte und murmelte: „Seit Sonntagnacht...“

„Ich freue mich so für Sie“, meinte Myra. „Die Liebe tut Ihnen offenbar gut, und Ihrem Freund müssen Sie wirklich sehr viel bedeuten, wenn er Ihnen solch ein wertvolles Geschenk macht.“

„Er ist ein fabelhafter Mann...“, wisperte Corinne, während sie immer noch auf den Ring blickte. Dann hob sie jedoch plötzlich den Blick und sagte in normaler Lautstärke: „Genug von mir! Eigentlich sind wir doch hier, um uns dem Thema des heutigen Vortrags zu widmen.“

„Es ist auch gleich 9.00 Uhr“, verkündete Eva, nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. Kaum war ihr Satz verklungen, öffneten sich die Türen des großen Vortragssaales. Die Besucher gingen hinein und setzten sich auf die Plätze, die sich unter den hohen Bögen befanden, wodurch die Mitte des Raumes völlig frei blieb. Corinne, Eva, Inge sowie Myra und deren Tochter ließen sich gleich auf den unteren, vorderen Sitzen nieder. Sie waren nahe beim Ausgang, damit Mrs. Schanke sofort hinausgehen konnte, falls Jenny quengelig werden sollte.

Als alle Besucher ihre Plätze eingenommen und es allmählich ruhig im Saal wurde, trat schließlich Professor Huus in die Mitte, begrüßte die Anwesenden und erklärte ihnen, dass es heute um Aktionskunst gehe, die ihnen von Anna Greta Tausol nahe gebracht werden würde. Als er den Namen der Künstlerin nannte, trat sie neben ihn und begrüßte ebenfalls das Publikum. Nachdem sie sich vorgestellt und ein wenig über ihre Arbeit erzählt hatte, erklärte sie: „Statt eines Vortrags erleben Sie gleich eine Performance. Wer hat Lust, daran teilzunehmen?“

Es meldeten sich ungefähr 25 Leute. Erfreut lud die Künstlerin sie ein, zu ihr in die Mitte des Raumes zu kommen und sich im Kreis aufzustellen. Als Michael sah, dass Corinne sich auch darunter befand, erhob er sich ebenfalls von seinem Sitz und tat es ihr gleich. Sein Chef grinste, als er beobachtete, dass sich der junge Mann direkt neben Corinne stellte. Diese nahm es mit ärgerlicher Miene zur Kenntnis, schwieg jedoch, da sie vor all den Leuten keine Szene machen wollte.

Anna Tausol begann nun, die im Kreis stehenden Personen mit einem dünnen, schwarzen Garn, dessen Knäuel sie in der Hand hielt, mehrmals zu umwickeln und sie auf diese Weise miteinander zu verbinden.

Corinne, die im Augenblick nichts daran ändern konnte, dass Michael sich immer noch neben ihr befand, versuchte, diesen weitgehend zu ignorieren. Aber das wurde erheblich erschwert, da Michael ihr unentwegt zuflüsterte, wie leid ihm sein dummes Verhalten tue und sie bat, ihm zu verzeihen.

„Es wird auch nie wieder vorkommen“, raunte er ihr zu. „Oh, Corinne, du kannst doch nicht ewig so tun, als ob es mich nicht gäbe.“

Sie vermied den Blickkontakt mit ihm und beobachtete stattdessen interessiert das Tun von Anna Greta Tausol. Mittlerweile waren alle Freiwilligen von dieser mit dem schwarzen Band mehrfach um Arme, Beine, Ober- und Unterkörper miteinander verschnürt worden und es sah noch nicht so aus, als ob sie damit aufhören wollte. Jetzt widmete sich die Künstlerin dem Kopfbereich, umwand vorsichtig Stirn, Nase oder Mundbereich, wobei sie sagte: „Ich bin vorsichtig! Bitte, haben Sie keine Angst!“

Schließlich war sie bei Michael angelangt und Corinne wandte sich an Anna Greta Tausol mit der Bitte: „Könnten Sie seinen Mund verschnüren, damit er mich nicht dauernd vollquasselt?“

Die Künstlerin lachte ein wenig und kam dieser Aufforderung nach. Ungläubig starrte Michael zu Corinne, während mehrere schwarze, dünne Fäden ihn am Sprechen hinderten. Dafür schaute das Mädchen ihn nun zum ersten Mal an und lächelte zufrieden.

Schließlich war Anna Greta Tausol fertig und ging nun von außen um den Kreis der verschnürten Menschen herum. Dabei fragte sie jeden, wie es ihm gehe. Als keine Klagen kamen, ging sie in die Ecke, aus der sie vorhin auch den Bindfaden geholt hatte, und kehrte mit einer Kamera zurück. Nun begann sie, ihr Werk aus mehreren Blickwinkeln zu fotografieren. Als sie genügend Bilder geschossen hatte, wandte sie sich endlich an das Publikum: „Wie wirkt das auf Sie?“

Die Menschen, die bisher gebannt und schweigend ihr Treiben beobachtet hatten, schienen aus einer Art Trance zu erwachen. Einige brachten ihr Befremden zum Ausdruck, denn das Tun der Künstlerin ergab für sie keinen Sinn. Ein paar andere sprachen von einem Netz, in dem die Freiwilligen gefangen seien.

„Sie waren wie eine Spinne, die ihre Opfer einwickelt“, ließ sich Myra laut vernehmen.

„Das ist wirklich ein interessanter Gedanke“, antwortete Anna Greta Tausol und nickte lächelnd.

„Und durch das schwarze Band wird das Ganze erst offensichtlich und wirkt damit auch irgendwie bedrohlich“, fuhr Myra, derart ermutig, fort. „Dabei scheint dieses dünne Bändchen zunächst harmlos zu sein...“

„Aber unsere Freiwilligen sind damit ganz schön verschnürt“, meinte Anna Greta und wandte sich dann an den Kreis in der Mitte. „Könnte sich jemand von Ihnen einmal ganz leicht bewegen?“

Eine der Frauen versuchte, ihren Arm zu senken, aber es fiel ihr schwer. Doch ihre Aktion bewirkte, dass die mit ihr Verschnürten sich ein wenig mitbewegten.

„Merken Sie etwas?“ fragte die Künstlerin nun ganz laut und meinte sowohl die Freiwilligen als auch das Publikum. Zunächst einmal schwiegen alle, dann sagte einer aus der Gruppe der Verschnürten: „Wir sind miteinander verbunden, ob wir wollen oder nicht. Wenn einer etwas tut, hat das Auswirkungen auf die anderen.“

„Aha! Und wie fühlen sich die anderen damit?“ wollte Anna Greta Tausol wissen.

„Unfrei!“ kam es spontan von Corinne, die begann, sich unwohl zu fühlen. Ein paar aus der Gruppe schien es ebenso zu gehen, denn sie bestätigten ihre Aussage mit Kopfnicken. Einer der Männer meinte dazu: „Es ist kein schönes Gefühl, gefangen zu sein!“

„Aber irgendwie vermittelt es auch Geborgenheit“, meinte eine der Frauen aus der Freiwilligengruppe. „Man ist nie allein...“

Allmählich entstand so etwas wie ein Gespräch zwischen den Freiwilligen, dem Publikum, das jetzt auch Fragen an die Verschnürten stellte, und der Künstlerin, die mit allen im Dialog stand.

Nach etwa einer Viertelstunde jedoch holte Anna Greta Tausol eine kleine Schere und schnitt das Band, das die Freiwilligen aneinander fesselte, auseinander. Die meisten ihrer ‚Opfer’ schienen das als Befreiung zu empfinden, denn viele atmeten auf. So auch Corinne, die sich, sobald sie befreit war, zu Eva flüchtete, um vor Michael Ruhe zu haben.

In der Vortragshalle herrschte nun reges Stimmengewirr, da alle miteinander sprachen. Vor allem die Freiwilligen wurden befragt, wie diese merkwürdige Erfahrung war. Daher scharten sich außer ihren Bekannten nun auch mehrere andere Personen um Corinne, so dass Michael, der eigentlich gehofft hatte, mit ihr sprechen zu können, einsehen musste, dass er dies für heute wohl vergessen konnte. Traurig verließ er das Gebäude.

***

Während Corinne sich lebhaft mit einigen anderen über ihre gemeinsame Erfahrung austauschte, durch einen Faden miteinander verbunden zu sein, nahm Eva Inge beiseite und sagte leise: „Du solltest ihn dir wirklich aus dem Kopf schlagen.“

„Wen?“ fragte die Blondine erstaunt.

„Du weißt genau, von wem ich spreche“, erwiderte die Fotografin. „Ich habe doch gesehen, wie du ihn die ganze Zeit angestarrt hast.“

„Ich habe keine Ahnung, was du meinst“, widersprach Inge, obwohl sie genau wusste, dass von Wernher die Rede war. Sie hatte ihn während der ganzen Performance beobachtet, ohne dass er sie eines Blickes gewürdigt hätte. Seine Augen hingen nur an Corinne, was Inge zum wiederholten Male zutiefst verletzte und schmerzte. Es war offensichtlich, wie sehr er die kleine Lambert begehrte, obwohl diese ihn beleidigt und abgewiesen hatte. Aber vielleicht war er gerade deswegen so verrückt nach ihr?

„Wenn du dich gefühlsmäßig nicht von Teichert löst, gehst du vor die Hunde“, ermahnte Eva sie leise. „Bist du dir denn nicht zu schade, dich von ihm ausnutzen zu lassen?“

„Deine Sorgen sind völlig unnötig!“ behauptete Inge und setzte ein kühles Lächeln auf.

„Okay, wenn du meinst...“, murmelte Eva, die sich von ihrer Bekannten jedoch nicht täuschen ließ. Sie überlegte einen Augenblick, wie sie ihr drastisch vor Augen führen konnte, auf was sie sich da einließ, und fuhr schließlich fort: „Meinst du wirklich, du bist die einzige Frau, mit der er schläft? Und hast du eigentlich mal daran gedacht, dass dieser Mistkerl eine Ehefrau und zwei fast erwachsene Kinder hat?“

Inge erblasste und senkte ihren Blick. Sie starrte schweigend auf den Boden und hatte große Mühe, nicht loszuheulen. Doch sie wollte sich hier vor Eva und all den Leuten keine Blöße geben.

„Bitte, Inge, ich meine es nur gut mir dir“, murmelte die Fotografin. „Natürlich verstehe ich, dass man nicht groß nachdenkt, wenn man verliebt ist. Da macht man dann schon einmal die eine oder andere Dummheit...“

„Etwa so wie Corinne?!“ entfuhr es Inge und sie sah wieder zu Eva auf. „Sie hat sich ja ziemlich schnell mit einem neuen Mann getröstet...“

„Also eigentlich finde ich, dass sie nach fast fünf Monaten genug gelitten hat; und außerdem scheint es ihr neuer Freund ernst mit ihr zu meinen. – Aber bei dir, meine Liebe, verhält es sich anders. Du wirkst ziemlich niedergeschlagen. Der Umgang mit Teichert tut dir nicht gut. Daher wäre es besser, wenn du dir eine andere Stelle suchst, sobald du wieder in Frankfurt bist.“

„Na klar! Die Jobs als wissenschaftliche Assistentin bekommt man ja auch nachgeschmissen“, höhnte Inge, obwohl sie Eva innerlich Recht gab. Wernher liebte sie nicht und sie litt darunter. Dennoch war ihr der Gedanke unerträglich, sich von ihm zu trennen. Denn ihre Gefühle für diesen Mann waren dermaßen stark, dass sie einfach nicht die Hoffnung aufgeben wollte, ihn eines Tages doch noch für sich zu gewinnen. Sie wollte es wenigstens versuchen. Aber all das war ihre Privatsache und ging niemanden etwas an.

„Bitte, Eva, mach dir keine Sorgen um mich! Ich komme schon klar mit Teichert!“

Die Fotografin seufzte resigniert und nickte. Dann holte sie aus ihrer Handtasche eine Visitenkarte und reichte Inge diese mit den Worten: „Wenn du mal jemanden brauchst, bin ich für dich da – als Freundin. Vergiss das bitte nie!“

„Danke!“ sagte die zierliche Blondine und starrte überrascht auf die Karte. Irgendwie berührte es sie, dass sie Eva – mit der sie doch während ihrer Studienzeit kaum Kontakt hatte – anscheinend nicht gleichgültig war. Aber sie würde deren Angebot wahrscheinlich niemals in Anspruch nehmen. Schließlich war die Fotografin die beste Freundin von Corinne, der sie nicht über den Weg traute...

 

LaCroix näherte sich nachdenklich dem Hochhaus, in dem sich die Wohnung von Nathalie Lambert befand und in der bestimmt schon seine junge Freundin auf ihn wartete. Das süße Mädchen, das er gestern eigentlich zu seiner dunklen Gefährtin hatte machen wollen. Doch zuerst hinderte ihn die Erinnerung an seine Tochter daran und später, als er seine Emotionen wieder im Griff hatte, störte ihn Dr. Lambert. Er war so nahe daran gewesen, Corinne zu beißen... warum nur musste diese Ärztin unbedingt früher nach Hause kommen?

Beinahe schien es so, als ob das Schicksal nicht wollte, dass Corinne ihm auf ewig gehörte.

Schicksal! Ein verächtliches Lächeln glitt über seine Züge. Früher, als er noch ein Mensch war, hatte er solchen Unsinn für die Wahrheit gehalten. Mittlerweile glaubte er nicht mehr daran, dass das Leben irgendeinen höheren Sinn enthielt. Der einzige Zweck des Daseins schien im Überleben zu bestehen. Doch für Vampire galt selbst das nicht mehr, denn sie waren unsterblich - mit der Einschränkung, das Sonnenlicht zu meiden. Aber damit konnte man sich arrangieren. Schließlich war er selbst der beste Beweis dafür...

Missmutig verscheuchte LaCroix diese Gedanken. Nun galt es, sich um die Gegenwart zu kümmern. Und diese Gegenwart hieß Corinne und befand sich in dem Hochhaus, vor dem er stand. Ungeduldig drückte er auf die Klingel.

„Ja?“ hörte er die Stimme der geliebten Frau.

„Ich bin es – Lucien!“

Die Tür wurde sofort geöffnet und wenig später fand er sich vor dem Eingang von Dr. Lamberts Wohnung, an dessen Rahmen Corinne lehnte und auf ihn wartete. Kaum war er bei ihr angekommen, umarmte und küsste sie ihn. Wieder fühlte er ein unglaubliches Glücksgefühl. Es war schön, von jemandem geliebt zu werden.

„Bitte, komm rein, Liebster“, forderte das Mädchen ihn auf. „Nathalie ist vor einer halben Stunde fortgegangen und wir sind ganz unter uns.“

„So, so...“, murmelte LaCroix und grinste. „Soll das etwa heißen, dass...?“

„Frag nicht soviel, sondern komm einfach rein“, antwortete Corinne lächelnd und zog ihn in die Wohnung. Er leistete keinerlei Widerstand, sondern fühlte einfach nur die Lust in sich, ein Mann zu sein...

***

Nicholas, der während seines Tagesschlafes unter furchtbaren Alpträumen gelitten hatte, in deren Mittelpunkt das Raven, Janette und LaCroix standen, suchte im Laufe der Nacht Nathalie auf.

„Wie geht es deiner Cousine?“ fragte er gespannt, erwartete aber keine positive Antwort. Umso erstaunter war er, als seine Kollegin ihm berichtete, dass Corinne ziemlich gut drauf sei. Irgendetwas stimmte hier nicht...

„Ich muss dir unbedingt etwas sagen, Nathalie“, begann er schließlich in bedrücktem Ton.

Als sie ihn daraufhin neugierig anschaute, seufzte er laut und fuhr dann schließlich fort: „Deine eigenwillige, kleine Cousine war gestern Nacht mit LaCroix zusammen...“

„Nein!“ entfuhr es Nathalie. „Das kann nicht sein, Nick! Sie schlief tief und fest, als ich heimkam. Und sie war heute früh auch ziemlich ausgeruht. Du musst dich irren.“

„Leider ist es so, wie ich sage“, erwiderte Nicholas in ernstem Ton. „Ich habe gestern Nacht die Sendung des  >Nachtfalters<  gehört. Corinne war dort und ich sprach sogar mit ihr, aber LaCroix hat uns gleich unterbrochen...“

„Ich verstehe das nicht“, murmelte die Pathologin und schüttelte den Kopf. „Wenn das stimmt, müsste sie doch sehr müde sein, oder? Aber sie wirkte heute Morgen so munter. Es passt einfach nicht zusammen.“

„Mir ist es ebenfalls unerklärlich“, gab Nicholas zu. „Aber es gefällt mir nicht! LaCroix scheint irgendetwas im Schilde zu führen, obwohl ich keine Idee habe, was genau... Es muss einen Grund geben, warum er sie bis jetzt verschont hat.“

„Vielleicht... vielleicht hat er doch so etwas wie ein Gewissen?“ mutmaßte Nathalie. „Wäre es nicht denkbar, dass wir ihm Unrecht tun, Nick? Allem Anschein nach scheint er sie wirklich zu mögen...“

„Es fällt mir schwer, das zu glauben. Ich kenne den Alten schon sehr lange und kann mich nicht erinnern, dass er je echte Sympathie für eine andere Person hatte...“, Nick unterbrach seinen Redefluss, denn er erinnerte sich schmerzhaft daran, dass Janette und sein Meister ihn vor circa 800 Jahren – kurz, nachdem er ein Vampir geworden war – zum Stammsitz derer von Brabant begleitet hatten, weil er ein letztes Mal seine menschliche Familie sehen wollte. Dabei lernten sich seine Schwester Fleur und LaCroix kennen und schienen sich ineinander zu verlieben. Er konnte seinen Meister nur mit großer Mühe davon abhalten, Fleur ebenfalls auf die dunkle Seite zu bringen. Aber sowohl damals als auch heute fiel es ihm schwer zu glauben, LaCroix wäre dazu fähig, jemanden wirklich zu lieben. Dessen Verliebtheit in Fleur hatte er nur für eine vorübergehende Laune gehalten, die mit der Zeit sicher vorbeigegangen wäre...

„Corinne muss aus Toronto verschwinden, Nathalie!“ sagte Nicholas laut, da ihn dieser Gedankengang schmerzte.

„Sie will nicht!“ erklärte Nathalie. „Mein Onkel meint, es liege daran, dass sie nicht an Thomas’ Tod erinnert werden will.“

„Wohl eher daran, dass man diesen Fall nicht aufklärt“, berichtigte Nick.

„Fall?“

„Ja, es sieht ganz so aus, dass Corinnes Freund wirklich ermordet worden ist. Zuerst bekam ich einen vagen Hinweis und als ich daraufhin begann, ein wenig zu recherchieren, fand ich einige interessante Details heraus. Bei dem Wagen, mit dem Marquardt überfahren wurde, könnte es sich um Teicherts schwarzen Mercedes handeln, der einen Tag vorher als gestohlen gemeldet worden war. Ich habe den Kollegen in Deutschland bereits einen entsprechenden Hinweis gegeben und sie werden der Sache nachgehen...“

„Was?! Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass dieser Teichert etwas damit zu tun hat?! Welchen Grund sollte er haben, Thomas zu ermorden?“

„Eifersucht, Nat!“

„Eifersucht?!“

„Soviel ich erfuhr, war dieser Professor ganz scharf auf deine Cousine und scheint es immer noch zu sein!“

„Das... das kann ich kaum glauben!“

„Teichert ist ein ziemlich widerlicher Typ“, meinte Nicholas. „Ich habe Sonntagabend selbst mitgekriegt, wie er sich gegenüber seiner Mitarbeiterin benommen hat. Diesem Menschen ist alles zuzutrauen!“

„Du sprichst von ihm in derselben Weise wie sonst über LaCroix“, bemerkte Nathalie.

„Ja - und ich weiß nicht, wer von beiden der Schlimmere ist“, erwiderte Nicholas. „Am meisten macht mir jedoch Sorgen, dass deine Cousine LaCroix zu mögen scheint und ihm vertraut. Vielleicht ließe sie sich dazu überreden, nach Hause zu fliegen, wenn ich ihr erzähle, dass man wahrscheinlich den Fall ihres ermordeten Freundes wieder aufnehmen wird.“

„Dazu müsstest du erstmal wissen, wo Corinne sich gerade aufhält.“

„Ich glaube, ich weiß es“, meinte Nick selbstsicher. „Hoffentlich schenkt mir das Mädchen nun endlich Gehör...“

***

Corinne lag lächelnd in Luciens Armen, den Kopf auf seine Brust gelegt. Sie hatten sich gerade geliebt und es war genauso schön gewesen wie Sonntagnacht. Sie warf einen zärtlichen Blick auf ihren Freund. Er schien zu schlafen. Ach, es war so schön, hier in seinem Arm zu ruhen, endlich allein mit ihm... wenn es doch ewig so dauern könnte...

Das schrille Klingeln der Türglocke schreckte sie auf. Lucien brummte verschlafen. Corinne gab ihm einen Kuss auf die Wange, flüsterte: „Bleib ruhig liegen“ und stand auf. Rasch zog sie ihren Morgenmantel über, ging in Richtung Wohnungstür und fragte durch die Sprechanlage: „Wer ist da?“

„Hier ist Nicholas Knight, Miss Lambert. Ich muss Sie dringend unter vier Augen sprechen“.

„Mr. Knight! Wissen Sie, wie spät es ist?“

„Tut mir wirklich sehr leid“, sagte er in entschuldigendem Ton. „Aber es ist unbedingt notwendig, dass wir miteinander sprechen. Ich habe einige Neuigkeiten, die Sie bestimmt interessieren. Also bitte, Miss Lambert, lassen Sie mich rein.“

Missmutig betätigte Corinne den Knopf, der die Haustür unten öffnete. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie Lucien wecken sollte, ließ es dann jedoch bleiben. Ihr Freund schien ziemlich erledigt zu sein und sie wollte ihm diese Ruhe gönnen. Falls sie ihn brauchte, konnte sie sich immer noch an ihn wenden.

Es klopfte gegen die Tür und Corinne öffnete. Draußen stand Nicholas mit schiefem Lächeln.

„Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich Sie aus dem Schlaf gerissen habe“, entschuldigte er sich nochmals. „Zuerst habe ich Sie ja im Raven gesucht, aber Janette teilte mir mit, dass Sie heute noch nicht da gewesen seien. Zum Glück finde ich Sie hier...“

„Ich hoffe nur, dass Sie mir wirklich etwas Wichtiges zu sagen haben“, meinte Corinne in ärgerlichem Ton und ließ ihn eintreten. „Am besten, wir gehen in die Küche.“

Nicholas folgte dem Mädchen dorthin und setzte sich auf ein Zeichen von ihr auf die Eckbank.

„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee, Kaffee oder Wasser?“ fragte sie.

„Nein, danke! – Ich möchte Sie nicht lange aufhalten“, erwiderte Nick.

„Schön, dann sagen Sie mir jetzt bitte, weswegen Sie hier sind“, forderte Corinne ihn auf und ließ sich ihm gegenüber auf einem Stuhl nieder.

„Sie erinnern sich bestimmt noch, dass wir gestern kurz miteinander gesprochen haben?“ wollte Nick dann wissen und beobachtete aufmerksam die junge Frau. Als diese nickte, fuhr er fort: „Meine Warnungen vor Professor Teichert scheinen berechtigt zu sein, Miss Lambert. Ich bekam einen wichtigen Hinweis von einem Zeugen, der mir erzählte, dass Teichert Sie zu erpressen versucht hat. Entspricht dies der Wahrheit?“

Corinne starrte Nicholas überrascht an.

„Woher... wer ist dieser Zeuge?“

„Sie verstehen sicher, dass ich das nicht preisgeben kann. Aber Ihrer Reaktion entnehme ich, dass es stimmt.“

„Ja, das ist richtig! Na und? Herr Teichert musste einsehen, dass sein Erpressungsversuch nicht das Gewünschte zur Folge hatte.“

„Man berichtete mir auch, dass er Sie seit Jahren belästigt. Entspricht dies ebenfalls der Wahrheit?“

„Teichert belästigt fast jede Studentin, die ihm gefällt und in irgendeiner Weise von ihm abhängig ist. Meistens hat er mit seinen Komplimenten und Versprechungen Erfolg. Deshalb fällt es ihm ja auch so schwer zu begreifen, dass er manchmal nicht bekommt, was er will!“

„Könnten Sie sich vorstellen, dass er dann mit Rachegedanken spielt, Miss Lambert?“

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen“, gab Corinne zu.

„Wie weit, glauben Sie, würde er gehen?“

„Keine Ahnung! Sicherlich versucht er, der Person, die nicht seinen Wünschen entspricht, Steine in den Weg zu legen. Er ist ein widerlicher Intrigant.“

„Hm... mehr trauen Sie ihm nicht zu?“ fragte Nicholas vorsichtig. Er ahnte, dass er ihr mit dem, was er zu sagen hatte, sicherlich wehtat. Aber es musste sein. „Halten Sie es für möglich, dass Teichert einen Mord begangen haben könnte?“

„Auf keinen Fall!“ entfuhr es dem Mädchen spontan. „Dazu ist er nicht fähig. Er redet zwar viel, wenn der Tag lang ist, aber das ist alles nur heiße Luft.“

Nicholas beugte sich nun ein wenig zu ihr vor.

„Miss Lambert, ich muss Ihnen jetzt etwas sehr Unangenehmes mitteilen... es fällt mir ziemlich schwer...“

Corinne blickte ihn gespannt an. Sie begann, sich unwohl zu fühlen, als sie seinem ernsten Blick begegnete.

„Dann... dann sollten Sie es jetzt hinter sich bringen“, meinte sie nach einer Weile und schluckte. „Was haben Sie mir also zu sagen?“

„Aufgrund eines Hinweises habe ich über Wernher Teichert ein wenig im Internet nachrecherchiert. Wussten Sie, dass sein Wagen gestohlen wurde, und zwar einen Tag, bevor man Thomas Marquardt überfuhr? – Nun, ich fand das etwas seltsam und habe meinen Kollegen in Frankfurt  diesen Umstand mitgeteilt. Sie wollen jetzt noch einmal das Alibi Teicherts überprüfen...“

„Moment!“ unterbrach Corinne ihn laut. Sie hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. „Moment, Mr. Knight! Sie... Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes... Nein, nein, das kann nicht sein! Das glaube ich nicht! – Sie wollen behaupten, dass... er... Teichert... er soll es gewesen sein, der Thomas...?! – Oh, nein... nein, das ist unmöglich!“

„Nun, im Augenblick haben wir noch nichts Konkretes“, sagte Nick mit ruhiger Stimme. „Aber meinem Gefühl nach und nach allem, was ich über Teichert erfuhr, spricht einiges dafür, dass er es gewesen sein könnte...!“

Corinne schüttelte den Kopf. Ein paar Tränen flossen aus ihren Augen.

„Es kann nicht sein...“, brachte sie mühsam hervor. „Nein, Teichert würde es nicht tun... so wichtig bin ich ihm nicht... so wichtig ist ihm niemand... er mag zwar ein Arschloch sein, aber ich glaube nicht, dass er jemanden umbringt... allein seine Karriere... Nein, am meisten liebt er sich selbst! Und seine Karriere ist ihm überaus wichtig!“

„Es tut mir leid. - Corinne, wenn ich etwas für Sie tun kann...?“

„Finden Sie den wahren Mörder von Thomas!“ sagte sie. Mittlerweile hatte sie sich wieder etwas gefangen.

„Genau das will ich!“ erklärte Nicholas. „Warum, glauben Sie, bin ich so daran interessiert, dass die Kollegen in Frankfurt den Fall Ihres toten Freundes wieder aufrollen? Und auch, wenn Sie es nicht glauben können, so sieht es meiner Meinung nach doch so aus, als ob Ihr ehemaliger Professor der Täter ist. Er hat als einziger ein Motiv...“

„Ach, was für ein Motiv sollte das denn sein?“ fragte Corinne. „Wenn Sie glauben, dass er etwas für mich übrig hat, dann befinden Sie sich in einem Irrtum, Mr. Knight. Wernher Teichert liebt niemanden außer sich selbst!“

„Davon bin ich auch überzeugt“, antwortete Nick. „Aber gekränkte Eitelkeit und Rachegefühle sind ebenfalls starke Mordmotive, Miss Lambert.“

„Unsinn! Teichert würde niemals seine Karriere aufs Spiel setzen; und außerdem können Sie mir ruhig glauben, dass dieser Mensch sich nichts daraus macht, von einer Frau einen Korb zu kriegen. Er geht einfach zur nächsten – und es gibt viele, die ihn äußerst charmant finden. Warum also sollte sich dieser Mann soviel Mühe machen, Thomas umzubringen? – An mir hat er sich gerächt, indem er meine schriftliche Arbeit schlechter benotete als sie ist – und damit war für ihn der Fall erledigt.“

„Dann verraten Sie mir doch mal, Miss Lambert, warum er versucht hat, Sie am Sonntag zu erpressen, seine Geliebte zu werden!“

„Oh, Ihr Zeuge muss ziemlich gute Ohren und ein gutes Versteck haben!“ sagte Corinne. „Aber Spaß beiseite: Er hat mich wiedergesehen und es einfach versucht, das ist alles! Teichert ist eben so!“

„Na ja, wenn Sie meinen“, erwiderte Nick. „Jedenfalls wird der Fall Ihres Freundes bestimmt bald wieder neu untersucht werden. Finden Sie nicht, dass das Grund genug ist, nach Frankfurt zurückzukehren? Vielleicht braucht man Sie als wichtige Zeugin.“

„Mal sehen“, wich Corinne aus. Dann erhob sie sich. „Entschuldigen Sie, Mr. Knight, aber ich muss das alles erst Mal verdauen! Würden Sie jetzt wohl die Güte haben, zu gehen?“

„Natürlich!“ Nicholas stand ebenfalls auf. Er spürte, dass die junge Frau sich miserabel fühlte und allein sein wollte. Da er dies gut nachvollziehen konnte, ging er rasch zur Tür, drehte sich an der Schwelle jedoch noch einmal zu ihr um und bot an: „Falls ich Ihnen irgendwie helfen kann, wenden Sie sich bitte an mich!“

„Das ist sehr freundlich, vielen Dank“, wehrte Corinne ab. Sie schaute ihm nach, bis er verschwunden war, schloss dann die Tür und lehnte sich mit dem Kopf dagegen, während sie ihren Tränen nun freien Lauf ließ. All die Bilder, die sie die ganze Zeit erfolgreich verdrängt hatte, kamen ihr wieder zu Bewusstsein. Sie sah Thomas, sie sah das gleißende Licht der Scheinwerfer, sah ihren Freund in ihren Armen sterben... und sie konnte nichts tun, um ihn zu retten... es tat so weh...

Zwei große Arme schlangen sich von hinten um sie und die dunkle Stimme Luciens flüsterte: „Komm, lass uns in die Küche zurückgehen, Corinne!“

Sie nickte und ließ sich von ihm dorthin führen. Er setzte sie behutsam auf die Eckbank und sich daneben. Dann legte er einen Arm um sie und meinte: „Warum hast du mir nicht erzählt, dass dich dieser Teichert belästigt, Liebling? Ich hätte mich schon in angemessener Weise um ihn gekümmert.“

„Ach, der Typ ist unwichtig“, schluchzte Corinne. „Aber Thomas’ Mörder läuft immer noch frei herum... Thomas, ich vermisse ihn so... Lucien, du bist doch deswegen nicht böse, oder?“

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte er sanft. „Schließlich hast du ihn geliebt... er war vor mir da. Und außerdem könnte ich niemals auf ein so liebenswertes Geschöpf wie dich böse sein.“

Die junge Frau sah Lucien unter Tränen an und murmelte mit erstickter Stimme: „Ich habe Thomas sicherlich genauso geliebt wie du deine Frau und deine Tochter...“

LaCroix zog Corinne heftig an sich, verbarg sein Gesicht in ihrem dunklen Haar und raunte: „Dein Freund und meine Familie – das ist Vergangenheit. Jetzt sind wir zusammen und ich... ich liebe dich...“

Daraufhin schmiegte sich das Mädchen noch enger an ihn und fragte nach einer Weile: „Wie ist es möglich, wieder so tief zu empfinden, nachdem geliebte Menschen von uns gegangen sind, Lucien? Ist es nicht ein Verrat an ihnen?“

„Nein, Corinne, denn wir behalten die Erinnerungen an die geliebten Menschen in unseren Herzen. Aber das Leben geht weiter. Glaub mir, weder dein Freund Thomas noch meine Frau würden wollen, dass wir uns in unserer Trauer vergraben. Sie hätten sicherlich nichts dagegen, dass wir zusammen sind.“

„Meinst du wirklich, Lucien?“ Corinne sah ihn zweifelnd an.

„Ja, mein Liebling“, erwiderte er und lächelte sie zärtlich an. Dann sagte er leise: „Ich liebe dich so sehr, Corinne...“

Daraufhin brach die junge Frau erneut in Tränen aus, was den alten Vampir verwirrte.

„Was ist denn, meine Kleine?“ fragte er besorgt. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Nein, nein, ganz im Gegenteil, Lucien“, schluchzte sie. „Ich liebe dich auch... es gibt auf der ganzen Welt wohl keinen besseren Mann als dich.“

„Nun, nun, das ist etwas übertrieben...“, wehrte er ab, während unwillkürlich ein Lächeln über sein Gesicht huschte. „Ich war und bin bestimmt kein Heiliger und habe genügend Fehler...“

„Dennoch bist du für mich der beste Mann der Welt“, sagte Corinne und blickte mit feuchten Augen zu ihm auf.

„Das Gespräch mit Nicholas hat dich sehr aufgewühlt“, erwiderte LaCroix, ohne weiter auf dieses Thema einzugehen, das ihn äußerst unangenehm berührte. „Du solltest dich noch ein wenig hinlegen, meine Kleine.“

„Vielleicht hast du recht“, gab Corinne nach. Sie fühlte sich plötzlich sehr müde. Lucien hob sie auf seine Arme und trug sie zu ihrem Bett zurück. Sie schlief bereits tief, als er sie hineinlegte. Behutsam deckte er die junge Frau zu und küsste sie auf die Stirn. Dann betrachtete er sie nachdenklich und stellte wieder einmal fest, wie schön er sie fand. Zum Glück konnte er ihr aufgrund seiner hypnotischen Fähigkeiten einen ruhigen Schlaf verschaffen und sich von dem inneren Schmerz befreien, den er eben empfunden hatte, als sie unter ihren schrecklichen Erinnerungen litt.

Warum musste Nicholas, dieser unsensible Idiot, auch hier auftauchen und alte Geschichten aufwärmen? Das war unnötig und würde zu keinem Ergebnis führen, da Teichert nicht der Täter war. Dennoch, dieser Mensch hatte es gewagt, seiner geliebten Corinne nahe zu treten. Das sollte er bereuen...

LaCroix verließ das Schlafzimmer seiner Freundin und öffnete die Balkontür des Wohnzimmers. Er ließ seinen Blick über die Gegend schweifen und schien in sich hineinzuhorchen. Nein – es war nichts davon zu spüren, dass Fernandez in der Nähe war. Wenigstens musste er sich darüber im Moment keine Sorgen machen...

 

Inge stand vor der Tür des Hotelzimmers von Teichert und atmete ein paar Mal tief durch. Schließlich klopfte sie energisch an die Tür und hörte einen Augenblick später: „Kommen Sie rein!“

Als das zierliche Mädchen ins Zimmer trat, fand sie ihren Chef, nur mit einer Unterhose bekleidet, im Bett vor. Dieser schien über ihren Anblick genauso überrascht zu sein wie sie über den seinen. Er schien jemand anderen erwartet zu haben. Doch er fing sich rasch wieder und fragte erstaunt: „Was gibt es denn, dass du mich jetzt noch störst?“

„So? Ich störe dich also?“ gab sie sarkastisch zurück. „Gestern klang das aber noch ganz anders aus deinem Mund. Da erzähltest du mir, wie sehr zu mich schätzt...“

„Das tue ich!“ seufzte Teichert und verdrehte genervt die Augen in Richtung Decke. Dann wandte er sich wieder seiner Assistentin zu. „Aber manchmal muss auch ich einfach Mal ein bisschen Abstand von allem haben, um mich zu entspannen.“

„Hm... und wen hast du erwartet?“

„Den Zimmerservice, Inge, wen sonst? – Und nun verrate mir endlich, was du hier willst!“

„Es gibt ein paar Dinge, die ich nicht verstehe, und ich hoffe, dass du sie mir erklären kannst“, erwiderte das blonde Mädchen.

„Gern! Setz dich doch!“ Teichert schien erleichtert und klopfte nun mit der Hand neben sich auf den Bettrand. Inge kam dieser Aufforderung nach. „Nun, was willst du von mir wissen?“

„Was findest du so Besonderes an Corinne Lambert, Wernher?“

„Das ist eine merkwürdige Frage! Dieses freche Ding kann mir gestohlen bleiben!“ erwiderte Teichert in ärgerlichem Ton und starrte seine Assistentin wütend an. „Was soll das, Inge?“

„Ich habe dich genau beobachtet. Du konntest deinen Blick kaum von Corinne wenden...“

„Es ist nicht verboten, sich eine hübsche Frau anzusehen...“, wehrte er ab und lachte ein wenig abfällig.

„Dir gefällt sie also?“ fragte Inge unsicher.

„Na klar! Sie sieht gut aus...“

„Hast du ihr deswegen meine Stelle angeboten, Wernher?“

„Ich habe ihr nicht deine Stelle angeboten, Inge! Das habe ich dir schon einmal erklärt! Und jetzt hör auf damit, mich mit solch absurden Fragen zu nerven. Die kleine Lambert hat mein Angebot abgelehnt und damit ist der Fall für mich erledigt. Sie interessiert mich nicht!“

„Warum machst du dann überall Stimmung gegen sie?“

„Du hast wirklich eine blühende Phantasie, Inge!“

„Aber ich habe doch gehört, wie du versucht hast, sie vor anderen schlechtzumachen...“

„Das ist deine Interpretation! Es ist mein gutes Recht, ihre Vorgehensweise und ihr Verhalten mir gegenüber zu kritisieren. – Und jetzt lass mich bitte allein, ich will schlafen...“

„Ich könnte dir Gesellschaft leisten, Wernher.“

„Nein, heute nicht, Mäuschen!“

„Warum nicht?“

„Weil ich ins Bett will...“

Als ob sie auf diesen Satz gewartet hätte, fragte nun eine fremde, weibliche Stimme, die aus dem Badezimmer kam: „Bist du endlich soweit, Süßer?“

Inge starrte zuerst Teichert an, dann die Tür des Bades. Von dort blickte jetzt eine hochgewachsene, schlanke und stark geschminkte, schwarzhaarige Frau, die Wernhers Morgenrock lose um ihren Körper geschlungen trug, so dass man die Ansätze ihrer großen Brüste gut erkennen konnte, gelangweilt auf die beiden.

„Du bekommst die Stunden, die du hier verbringst, gut bezahlt!“ wies Teichert sie zurecht. „Also halt den Mund und verschwinde wieder ins Bad, bis ich dich rufe! Ich habe mit meiner Assistentin noch einiges zu klären.“

„Schon gut! Ist ja dein Geld, Süßer“, meinte die Schwarzhaarige und verschwand wieder.

Inge, die die Fremde unentwegt angestarrt hatte, wandte sich nun wieder Wernher zu. Sie schien entsetzt zu sein.

„Du... du hast... du hast... ?“

„Ja, ich habe eine Nutte bei mir – na und ?“ unterbrach Teichert sie in rüdem Ton. „Ich bin ein Mann mit besonderen Bedürfnissen!“

„Aber... aber ich könnte...“

„Nein, Inge, kannst du nicht! Was ich und die Dame gleich tun werden, geht über deine Kleinmädchenträume hinaus...“

„Oh, Wernher... warum...?“

„Bitte, Inge, lass endlich deine albernen Fragen und verschwinde“, meinte Teichert ungehalten. „Oder hast du Lust, neue Erfahrungen zu sammeln? Möchtest du einen flotten Dreier erleben?“

„Aber, Wernher! Du hast es doch nicht nötig, die Nacht mit Prostituierten zu verbringen“, sagte Inge in verzweifelt klingendem Ton und sah ihn flehentlich an.

„Kann schon sein!“ Teichert grinste sie an und murmelte dann: „Dir ist bestimmt aufgefallen, dass die Nutte genau die gleiche Haarfarbe hat wie die kleine Lambert, nicht?“

„Also doch! Du träumst davon, mit Corinne zu schlafen, nicht wahr? Dass ich dich liebe, ist dir gleichgültig“, jammerte Inge.

„Aber, Mäuschen, ich dachte immer, dir sei klar, dass die Sache zwischen uns nur eine lockere Affäre ist“, erwiderte Wernher. „Wenn ich gewusst hätte, dass du sie so ernst nimmst, hätte ich nie etwas mit dir angefangen!“

„Und ich habe wirklich geglaubt, dass ich dir wichtig bin...“

„Oh, du bist eine hervorragende Assistentin!“

„Mehr nicht?“ fragte Inge und starrte ihn enttäuscht an.

Er lachte trocken auf.

„Was denn sonst noch, Inge?“

„Du hast niemals daran gedacht, dich offiziell zu mir zu bekennen, oder?“

„Wie kommst du nur auf so einen absurden Einfall? Natürlich nicht! Ich gefährde doch nicht meine Karriere wegen einer unbedeutenden, kleinen Affäre. Aber du scheinst das wirklich geglaubt zu haben, was?“

Teichert musterte Inge erstaunt, bevor er fortfuhr: „Du bist wirklich ein naives Mäuschen! Ich werde mich niemals scheiden lassen. Mir gefällt mein Leben so, wie es ist.“

„Und was sagt deine Frau dazu?“

„Dagmar hat sich damit abgefunden“, erklärte Teichert und lachte gehässig. „Nun ja, ihr bleibt schließlich nichts anderes übrig! Sie ist finanziell von mir abhängig und ich biete ihr ein gutes Leben an meiner Seite. Sie wird den Teufel tun, mich zu verlassen. - Im Übrigen bist du meiner Göttergattin sehr ähnlich, Inge. Ihr beide hängt euren Kleinmädchenträumen von der großen Liebe nach.“

„Die Liebe zu einem anderen Menschen ist für dich also nichts weiter als ein Kleinmädchentraum?“

„Romantischer Schnickschnack, der das Leben unnötig verkompliziert!“

„Fast jede Frau hängt solch einem Traum nach – auch Corinne!“

„Ja, ich glaube, die kleine Lambert tickt auch so. Aber das hätte ich ihr mit der Zeit ausgetrieben. Täte diesem eingebildeten, kleinen Miststück gut, einmal mit der Realität konfrontiert zu werden...“

„Deswegen wolltest du sie wohl auch zu deiner Geliebten machen, was?“ giftete Inge ihn plötzlich an. Ihr war schlagartig klargeworden, welch einem schäbigen Exemplar von Mann sie ihr Herz geschenkt hatte. „Corinne hat recht: Du bist der widerlichste Mensch der Welt!“

„So?!“ fragte Teichert, der seine Augenbrauen bedrohlich zusammengezogen hatte und sich nun mit wutverzerrtem Gesicht seiner Assistentin näherte. „Wenn das so ist, dann mach dich mal gleich auf die Suche nach einem neuen Job, Dummchen! Aber glaub ja nicht, dass ich dir ein gutes Zeugnis ausstelle!“

„Das ist wirklich gemein!“ schnaubte Inge. „Nach all dem, was ich für dich getan habe!“

„Selbst schuld!“ meinte Wernher ungerührt. „Es ist die Aufgabe einer Assistentin, ihrem Chef die Arbeit abzunehmen.“

„Ich habe mehr als das getan!“ gab Inge in heftigem Ton zu bedenken. „Ich habe dich geliebt, ich hätte alles für dich gegeben... sogar mein Leben!“

„Dein Körper hat mir vollauf genügt“, erwiderte Teichert und ließ sich grinsend in die Kissen zurücksinken. „Im Übrigen hatte ich schon bessere Liebhaberinnen als dich, aber na ja, du hast dir wenigstens alle Mühe gegeben, um mich zu befriedigen – es ist dir nur nicht immer gelungen.“

„Oh, du... du...!“  Inge fiel es schwer, ihre Empörung in Worte zu fassen.

„Finde dich damit ab, dass ich dich benutzt habe, Dummchen! Außerdem hattest du doch sicherlich auch deinen Spaß“, sagte Teichert. Dann rief er laut: „Hey, Baby, du kannst jetzt aus dem Bad kommen!“

Im selben Augenblick erschien die Schwarzhaarige im Zimmer und fragte: „Hast du irgendwelche besonderen Vorlieben, Süßer?“

Sie deutete auf Inge.

„Spielt Blondie mit?“

„Ich denke nicht“, meinte Wernher und wandte sich dann an seine Assistentin: „Oder hast du es dir inzwischen anders überlegt, Blondie? Wenn nicht, dann verschwinde endlich!“

Mit versteinertem Gesicht erhob sich Inge und verließ das Zimmer...

***

Es war kurz vor Mitternacht, als es an Michaels Tür klopfte. Der junge Mann, der wie gebannt vor seinem Notebook saß, rief, ohne sich umzusehen: „Komm rein, Inge!“

Die blonde Frau trat gleich darauf ein und fragte: „Kann ich mir mal dein Adressbuch ausleihen? Ich soll Wernhers Frau Blumen wegen ihres Hochzeitstags schicken und...“

„Schon gut!“ unterbrach ihr Kollege sie ungehalten. „Mein Adressbuch liegt auf dem Nachttisch. Du kannst es ruhig mitnehmen und mir morgen im Laufe des Tages wiedergeben.“

„Danke!“ sagte Inge und holte sich das kleine, rote Büchlein. Sie wollte gerade das Zimmer verlassen, als Michael sie zurückhielt.

„Sag mal, Inge, du kannst dich doch sicher noch an die Leute im Raven erinnern, oder?“

„Eigentlich möchte ich nicht mehr an diese unheimlichen Typen denken“, erwiderte die Angesprochene und schüttelte sich.

„Und die Band, die in der Convocation Hall am Sonntagabend spielte, war ihnen doch ähnlich...?“

„Wahrscheinlich kommen alle aus derselben Szene...“

„Dir ist bestimmt auch aufgefallen, wie blass diese Leute waren, oder? Und ihre Vorliebe für schwarze Kleidung... scheinbar bevorzugen sie auch die Nacht als Tageszeit. Fällt dir dabei nichts ein?“ fragte Michael und schaute nun zum ersten Mal seine Kollegin an. Diese dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf.

„Nun, dieser Gedanke war für mich zunächst auch absurd, dennoch - könnte es nicht möglich sein, dass sie Vampire sind?“

„Was?!“ Inge glaubte, sich verhört zu haben. „Es gibt keine Vampire, Michael! Das sind Hirngespinste!“

„Aber diese Leute... sie verfügen über enorme körperliche Kraft...!“ widersprach ihr Kollege, der sich mit Schaudern daran erinnerte, wie der Sänger der Flying shadows und LaCroix mit ihm umgegangen waren.

„Ich glaube, du solltest dich unbedingt ausruhen, Michael“, sagte Inge in ruhigem Ton. „Du scheinst total überarbeitet zu sein. – Und nun entschuldige mich, aber ich muss jetzt wirklich fort. Die Sache mit Wernhers Frau ist absolut dringend!“

Damit wandte sich das zierliche Mädchen zur Tür und verschwand aus dem Zimmer. Michael schaute ihr seufzend nach. Er wusste selbst, wie verrückt es klang, doch nachdem er seit ungefähr viereinhalb Stunden im Internet recherchiert hatte, bot sich ihm keine passendere Erklärung als die, dass es sich zumindest bei LaCroix und diesem Sänger mit der Stachelfrisur um Vampire handeln musste. Es war ja nicht nur die körperliche Stärke der beiden, sondern auch die Plötzlichkeit, mit der LaCroix, den er selbst mit Corinne im Haus verschwinden sah, auf einmal hinter ihm gestanden hatte, obwohl es dafür keinerlei rationale Erklärung gab. Und dann dieser eiskalte Blick seiner grausamen Augen, als er ihn würgte...

Unwillkürlich griff sich Michael bei dieser Erinnerung an den Hals und gestand sich ein, dass er großes Glück gehabt hatte, dass LaCroix ihn damals laufen ließ – obwohl er sich nicht erklären konnte, weshalb. Es wäre für den Vampir –  hier schüttelte Michael selbst den Kopf über sich, dass er LaCroix bereits so betitelte  – ein Leichtes gewesen, ihn zu töten und verschwinden zu lassen. Doch vielleicht war er an jenem Abend gerade satt...?

Es war eigentlich unerklärlich, weshalb Corinne keinerlei Angst in Gegenwart dieser Typen verspürte. Himmel, Corinne! Wenn es sich bei LaCroix und dieser Band wirklich um Vampire handelte, war sie in großer Gefahr!

Michael beugte sich wieder zu seinem Bildschirm hinunter und tippte in die Suchmaschine ‚Abwehrmaßnahmen gegen Vampire’ ein. Zunächst fand er die Dinge dort vor, die auch in den meisten Filmen gegen diese Bluträuber verwendet wurden. Allerdings war er sich noch nicht sicher, was er davon halten sollte. Schließlich fand sich eine Abneigung gegen den Geruch von Knoblauch auch bei den meisten Menschen. Kruzifix und Weihwasser als Mittel gegen Vampire waren ihm ebenfalls geläufig und es konnte gewiss nicht schaden, wenigstens immer ein Kreuz bei sich zu tragen. 

Endlich stieß Michael auf eine Seite über die Abwehr gegen Wiedergänger in Osteuropa, wo er den Hinweis las, dass man einen Vampir auch mit Hilfe eines einfachen Eisennagels, den man ihm in den Mund, die Seite oder gar das Herz trieb, unschädlich machen konnte. Ein allerletztes Mittel – und das war sogar das Beste, um den Blutsauger für immer zu vernichten – war, seinen Körper zu verbrennen.

Michael dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, dass es kaum Umstände machte, neben einem Kruzifix immer einige Eisennägel mit sich zu führen, um sie zu gegebener Zeit als Waffe gegen einen Angriff von LaCroix oder einem anderen dieser merkwürdigen Gestalten im Raven einsetzen zu können. Zwar war ihm immer noch mulmig bei dem Gedanken, LaCroix wiederzubegegnen, aber endlich hatte er eine Möglichkeit gefunden, sich eventuell gegen ihn zur Wehr setzen zu können – wenn man den Aussagen der Osteuropäer trauen durfte...

***

Nicholas kehrte nach seinem Gespräch mit Corinne ins Raven zurück und hoffte, dort LaCroix zu treffen. Zumindest war er froh gewesen, die Kleine alleine in Nats Wohnung vorgefunden zu haben

„Nicholas! Welche Überraschung, dich so schnell wiederzusehen“, begrüßte Janette ihn, als er an den Tresen trat. „Was verschafft mir die Ehre?“

„Ich will mit LaCroix sprechen“, erwiderte er trocken.

„Ich weiß nicht, ob er heute noch hier auftaucht“, meinte die Vampirin und lächelte kühl.

„Egal! Ich warte auf ihn!“

„Darf ich dir derweil etwas zu trinken anbieten? Mal etwas anderes, als deine Tiefkühlnahrung...“

„Nein, danke!“ wehrte Nick ab und schaute sich dann interessiert um. Auch in dieser Nacht war der Club voller Gäste. „Der Laden läuft zur Zeit wohl recht gut?“

„Ja, ich kann nicht klagen“, erwiderte Janette.

„Mich wundert, dass LaCroix nicht mit Miss Lambert hier ist. Ich hätte gedacht, die beiden würden gerne den Klängen der Band lauschen, die sie protegiert haben“, fuhr Nick in möglichst belanglosem Ton fort, während er gespannt auf irgendeine Reaktion Janettes über diese Bemerkung wartete. „Übrigens eine perfide Idee von dem Alten, eine Vampirband auf einer derartigen Veranstaltung auftreten zu lassen, die vor allem Menschen besuchen...“

„Oh, es gibt viele unserer Art, die sich für Kultur interessieren“, widersprach Janette. „Allerdings war es nicht Lucien`s Idee, sondern der Einfall der jungen Sterblichen.“

„LaCroix scheint sehr gut mit Miss Lambert befreundet zu sein“, meinte Nick. „Wie weit geht eigentlich ihre Freundschaft?“

„Ich mische mich nicht in die Beziehungen anderer ein!“ wies ihn die Vampirin in strengem Ton zurecht und funkelte ihn mit den Augen böse an. Dann lächelte sie plötzlich spöttisch und fragte: „Apropos Beziehungen – was macht eigentlich Nathalie Lambert? Verzehrt sie sich immer noch voller Sehnsucht nach dir?“

„Hör endlich auf mit diesem Unsinn!“ erwiderte Nicholas unwillig.

„Das Gleiche wollte ich dir auch sagen!“ vernahm er dicht hinter sich die tiefe Stimme seines Meisters und drehte sich erschrocken herum. LaCroix starrte ihn ärgerlich an und fuhr fort: „Wirklich, Nicholas, du bist auf dem Holzweg, was diesen Teichert betrifft!“

„Demnach kommst du also gerade von Miss Lambert?“ stellte Nick fest und wurde unruhig. „Wie geht es ihr? Du hast sie hoffentlich nicht angerührt?“

Der alte Vampir warf ihm einen verächtlichen Blick zu und ließ sich neben ihm nieder.

„Bring mir etwas zu trinken!“ bat er Janette und wandte sich dann wieder Nick zu. „Corinne war ziemlich aufgebracht von deinem unnötigen Geschwätz! Warum konntest du sie nicht in Ruhe lassen, Nicholas? Die Kleine hat schon genug Leid erfahren.“

„Höre ich etwa Mitgefühl aus deinen Worten, LaCroix?“

Sein Meister erwiderte nichts darauf und wandte den Blick von ihm ab. Er lächelte Janette, die ihm ein Weinglas mit roter Flüssigkeit hinstellte, an.

„Du scheinst tatsächlich was für Corinne Lambert übrig zu haben“, sagte Nick erstaunt.

„Natürlich! Das habe ich nie bestritten!“

„Na schön! Und was bedeutet das konkret? Dass du dir länger Zeit als sonst damit lässt, sie umzubringen?!“

„Ich habe nicht vor, sie umzubringen!“ knurrte LaCroix ärgerlich.

„Ach komm! Deine Worte im Radio waren eindeutig genug!“

„Meine Worte im Radio? Welche Worte...?“

„Das Geschenk der Unsterblichkeit“, erwiderte Nicholas in vorwurfsvollem Ton.

„Ach so... das...“, LaCroix lächelte etwas. „Wenn du genau zugehört hättest, wüsstest du, dass Corinne dem ziemlich ablehnend gegenübersteht. Um genau zu sein: Sie glaubt nicht an Vampire!“

„Was dich keineswegs daran hindern wird, sie umzubringen!“

„Du verwechselt etwas, Nicholas“, meinte sein Meister in ruhigem Ton und schaute ihn nun wieder ernst an. „Wenn ich Corinne tatsächlich auf die dunkle Seite hole, dann ist das kein Mord, sondern ein Geschenk... sie wird leben können, ohne Angst vor dem Tod zu haben.“

„Aber um den Preis, andere töten zu müssen!“ stieß Nick hervor.

„Nun, mein Lieber, du selbst hast jahrhundertelang nichts anderes getan“, spottete LaCroix. „Also spiel dich hier nicht so auf! – Im Übrigen hast du dich dafür entschieden, Polizist zu sein und solltest dich lieber um echte Mörder kümmern, statt sinnlos diesem Teichert nachzujagen.“

„Woher willst du so genau wissen, dass er unschuldig ist?“ fragte Nicholas heftig.

„Ich weiß es“, brummte LaCroix unwillig. „Nach allem, was Corinne erzählt, passt es nicht zu diesem Mann, ein Schwerverbrechen zu begehen.“

„Immerhin schreckt dieser Typ nicht davor zurück, seinen Willen mit Drohungen und Erpressungen durchzusetzen, wobei Letzteres eine kriminelle Handlung ist. Teichert hat sich demnach schlecht in der Gewalt und es ist schwer abzuschätzen, wie weit er gehen würde, um etwas zu kriegen, das er unbedingt haben will!“

„Glaub mir, Nicholas, ich kenne solche Menschen wie Teichert. Er mag zwar seine Macht zu seinem Vorteil missbrauchen, aber zu einem Mord aus Eifersucht ist er nicht fähig. Dazu fehlt ihm die Leidenschaft für eine andere Person. Er kann nicht lieben, niemand bedeutet ihm wirklich etwas... für ihn sind seine Mitmenschen einfach Sachen, die er benutzt und wegwirft, wenn er genug von ihnen hat.“

„LaCroix, er hat versucht, Miss Lambert zu erpressen!“

„Das weiß ich!“ zischte Lucien daraufhin. „Ich weiß es, Nicholas!“

Das Gesicht des alten Vampirs verdüsterte sich, seine Augenfarbe wechselte von eisblau zu einem grün-gelblichen Ton. Nicholas und Janette warfen sich einen raschen Blick zu. Sie wussten, dass ihr Meister jetzt in einem äußerst gefährlichen Zustand war und jedes Wort zu viel ihn zu einer rasenden Bestie machen konnte. Schweigend warteten sie daher einige Minuten, bis LaCroix’ normale Augenfarbe zurückkehrte. Ein Zeichen dafür, dass er sich nun wieder unter Kontrolle hatte. Er stürzte gleich darauf die rote Flüssigkeit in einem Zuge hinunter und wandte sich dann erneut Nicholas zu.

„Teichert wird seiner Strafe nicht entkommen“, sagte LaCroix in ruhigem Ton.

Janette drückte kurz den Arm ihres Meisters, worauf er sie ansah und lächelte. Nick, dem dies keineswegs entging, bekam ein mulmiges Gefühl und fragte: „Was wird hier eigentlich gespielt?“

„Nichts, was dich noch etwas anginge, Nicholas!“ wies der alte Vampir ihn in sachlichem Ton zurecht. „Du hast dich von uns abgewandt, um wieder sterblich zu werden - und ich muss deine Entscheidung akzeptieren, muss mich mit deiner Undankbarkeit abfinden...“

„Undankbarkeit?!“ empörte sich Nick. „Was nennst du Undankbarkeit, LaCroix?! Den Umstand, dass du mich in eine blutrünstige Bestie verwandelt hast? Dafür sollte ich dir dankbar sein?“

„Du warst es doch, der unbedingt unsterblich werden wollte“, gab sein Meister ihm zu bedenken. „Janette liebte dich, sie wollte dich als Gefährten und du hast ihren Wunsch geteilt. Hast du selbst mich nicht angefleht, dich zu einem Geschöpf der Nacht zu machen?“

Nick schwieg, denn LaCroix sprach die Wahrheit.

„Siehst du, Nicholas, und lange Zeit störte es dich keineswegs, dich von menschlichem Blut zu ernähren“, fuhr der alte Vampir nach einer Weile, in der er den jüngeren eingehend gemustert hatte, fort. „Woher also stammt dein absurder Wunsch, wieder sterblich werden zu wollen?“

„Mir ist schon klar, dass du mich nicht verstehst“, murmelte Nicholas.

„Ich verstehe es auch nicht“, wandte sich nun Janette in ernsthaftem Ton an ihn und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Verwunderung. „Wir haben uns doch einmal geliebt. Warum hast du dich von mir abgewandt?“

„Es tut mir leid, Janette – es war einfach irgendwann vorbei“, erwiderte er und senkte den Blick. Er konnte seiner früheren Gefährtin nicht in die Augen sehen, ebenso wenig wie er ihr erklären konnte, dass er die Daseinsform, zu der sie beide verdammt waren, verachtete... wie sehr er sich selbst und sie verachtete, weil sie Vampire waren. Seit jenem Augenblick, in dem sein Gewissen wieder erwacht war und ihn die Schändlichkeit seines Tuns erkennen ließ, kämpfte er gegen seinen Trieb an, menschliches Blut zu trinken. Und er hasste LaCroix dafür, dass er sich darüber lustig machte – er hasste Lucien für jeden Augenblick, in dem dieser ihm vorgeführt hatte, wie schwach er war, wie sehr er selbst noch der Vampir war, den er in sich zu bekämpfen versuchte – und er hasste seinen Meister auch dafür, dass dieser es ganz in Ordnung fand, zu töten, um zu überleben... und dass er manchmal wie eine Katze mit seinen Opfern spielte, bevor er sie umbrachte...

„Sag mal, LaCroix“, wandte sich Nicholas, den diese Vorstellung zutiefst anekelte, nun wieder an seinen Meister. „Macht es dir eigentlich Spaß, mit den Gefühlen einer jungen Frau zu spielen?“

„Das tue ich keineswegs!“ widersprach der alte Vampir.

„Ach nein? Was soll dann das Ganze? Weshalb triffst du dich mit ihr, weshalb präsentierst du sie deinen Zuhörern? Was genau hast du mit der Kleinen vor, LaCroix?“

„Was zwischen mir und Corinne ist, geht außer uns beiden niemanden etwas an!“ wies der Angesprochene Nicholas zurecht. „Und außerdem wäre ich dir sehr verbunden, wenn du sie zukünftig in Ruhe lässt!“

„Das kann ich leider nicht versprechen“, gab Nick zurück und erhob sich. „Um den Mord an ihrem Freund aufzuklären, werde ich gewiss die Hilfe von Miss Lambert benötigen.“

„Ich bin sicher, dass du alles dafür Erforderliche in den Polizeiakten findest“, knurrte LaCroix. „Du musst lediglich eins und eins zusammenzählen, Nicholas. Es ist also völlig unnötig, Corinne weiterhin aufzuregen!“

„Schönen Abend noch“, murmelte der Polizist, nickte Janette zu und verließ das Raven. Sein Meister blickte ihm missmutig nach, dann wandte er sich der Vampirin zu und sagte leise: „Ich werde jeden bestrafen, der Corinne in irgendeiner Form Schmerz zufügt – und wenn Nicholas das ebenfalls tut, werde ich ihn keineswegs verschonen.“

Janette berührte vorsichtig die Hand ihres Meisters und meinte: „Dir bedeutet diese junge Frau wohl sehr viel?“

LaCroix zog seine Hand zurück und fragte: „Weißt du, wo dieser Teichert zur Zeit wohnt?“

„Nein, aber ich kann es für dich herausfinden, Lucien.“

„Dann tue es, Janette. Dafür wäre ich dir wirklich dankbar...“

Die Vampirin lächelte und griff nach dem Telefon. Langsam wählte sie eine Nummer und wartete einen Augenblick. Schließlich schien jemand am anderen Ende der Leitung abzunehmen.

„Guten Abend, Arthur, hier ist Janette“, gurrte sie ins Telefon. „Ich hätte eine Bitte an dich – ich brauche den Aufenthaltsort einer bestimmten Person...“

Am nächsten Morgen erschien Michael, noch etwas übernächtigt von seiner Internetrecherche, im Restaurant des Hotels, wo er mit Wernher Teichert und Inge zum Frühstück verabredet war. Dieser saß bereits am Tisch und trank einen Kaffee.

„Guten Morgen“, begrüßte Michael ihn.

„Guten Morgen“, erwiderte Teichert den Gruß und schaute ihn ein wenig verwundert an. „Wo ist Frau Riedel?“

„Ich dachte, sie sei schon hier“, meinte der junge Mann.

„Na ja, sicher kommt sie gleich. Warten wir also noch einen Augenblick, bevor wir mit der Teambesprechung anfangen.“

Michael setzte sich an den Tisch, schenkte sich einen Kaffee aus der Kanne ein, die auf dem Tisch stand, und genoss einige Schlucke des heißen Getränks. Dann wandte er sich wieder seinem Chef zu, der gerade angefangen hatte, eine Zeitung zu lesen.

„Verzeihen Sie, Wernher“, sprach er Teichert an. „Aber finden Sie nicht, dass Sie Inge zu viel aufhalsen?“

Der Angesprochene blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf.

„Frau Riedel wusste, dass eine Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin bei mir mit viel Arbeit verbunden ist. Sie selbst sind ja auch reichlich mit Arbeit eingedeckt, Michael.“

„Nein, nein, das meine ich nicht“, sagte sein Mitarbeiter und fügte erklärend hinzu: „Mir ist nur aufgefallen, dass Inge neben ihrer normalen Tätigkeit auch noch viele private Sachen für Sie erledigt, Wernher.“

„Was meinen Sie genau?“ fragte Teichert mit lauerndem Unterton und blickte sein Gegenüber gespannt an.

„Nun ja, beispielsweise ist sie jetzt vermutlich gerade dabei, Ihrer Frau in Ihrem Auftrag Blumen zu schicken.“

„Blumen für meine Frau?“ Teichert starrte Michael verständnislos an.

„Ja, wegen Ihres Hochzeitstages“, erklärte dieser und musste lächeln. „Sie kam noch gestern Abend zu später Stunde in mein Zimmer, um sich mein Adressbuch auszuleihen, damit die Blumen an die richtige Adresse geliefert werden.“

Wernher hörte seinem Assistentin erstaunt zu, dann glitt plötzlich ein Grinsen über sein Gesicht.

„Natürlich... mein Hochzeitstag“, meinte er dann. „Sehen Sie, Michael, ich habe sogar schon wieder vergessen, dass ich Frau Riedel diesen Auftrag gab. Was würde ich nur ohne meine tüchtige Assistentin machen, nicht wahr?“

Teichert warf rasch einen Blick auf seine Armbanduhr und fuhr fort: „Ich glaube, Frau Riedel ist damit den ganzen Morgen beschäftigt. Lassen Sie uns also kurz besprechen, was für heute zu tun ist.“

„Wir müssen in etwa zwanzig Minuten aufbrechen, wenn wir pünktlich zur Tagung kommen wollen“, gab Michael zu bedenken.

„Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen“, sagte Teichert. „Sie müssen heute Morgen allein dorthin gehen. Ich habe noch einigen Schriftverkehr zu erledigen, wobei mir Frau Riedel helfen muss. Deshalb bitte ich Sie, ein Protokoll über den Vortrag zu führen und es mir bis heute Abend um 22.00 Uhr zu schreiben. Das wäre erst Mal alles für den Vormittag. Ich denke, wir treffen uns zum Mittagessen wieder hier, okay?“

„Gut, Wernher!“ Michael nickte, trank seinen Kaffee aus und verabschiedete sich dann. Sein Chef schaute ihm nachdenklich hinterher. Er dachte an Inge und ahnte, dass sie irgend etwas vorhatte, um ihm zu schaden. Es war nötig, herauszufinden, was das war.

Teichert gestand sich selbst ein, dass er diesem naiven Mädchen in seiner schlechten Laune gestern Nacht wohl einige unschöne Dinge an den Kopf geworfen hatte. Wenn er daran dachte, wie viel Inge als seine persönliche Assistentin von ihm wusste, war das sehr unklug von ihm gewesen. Daher schien es angebracht, sich bei ihr zu entschuldigen und sie wieder zu beruhigen. Bis jetzt war ihm das immer geglückt und er hegte keinen Zweifel daran, dass es ihm auch weiterhin gelingen würde. Schließlich war Inge total vernarrt in ihn. Ihre Gefühle waren sein Vorteil, den er zu seinen Gunsten ausnutzen würde...

***

Als Corinne an diesem Morgen erwachte, stellt sie enttäuscht fest, dass Lucien bereits gegangen war. Dann fiel ihr wieder ein, welchen unglaublichen Verdacht Mr. Knight hegte. Sie selbst jedoch hielt die Möglichkeit, dass ihr ehemaliger Professor Thomas ermordet haben sollte, nach wie vor für völlig absurd. Aber obwohl sie versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf und quälte sie fortwährend. Sogar auf dem Weg zur Convocation Hall, den sie zu Fuß zurücklegte, um ein wenig zur Ruhe zu kommen, begleitete er sie unentwegt.

Als die junge Frau die Vorhalle des Gebäudes gegen 8.30 Uhr betrat, waren dort nur sehr wenige Leute anwesend. Leider befand sich kein einziger ihrer Bekannten darunter. Deshalb schlenderte Corinne zwischen den Ausstellungsstücken umher, betrachtete sich einige Skulpturen, Fotografien und Gemälde und blieb schließlich mit den Augen an dem Druck der bekannten Grafik ‚Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer’ von Francisco Goya hängen. Früher hatte sie sich nie besonders mit diesem Bild auseinandergesetzt, aber nun fühlte sie sich mit dem Mann, der dort über einem Tisch gebeugt schlief und von bedrohlich aussehenden Eulen und Fledermäusen umschwirrt wurde, sehr verbunden. Die dunklen Tiere interpretierte sie als schwere, deprimierende Gedanken, die den Schläfer bzw. Träumer peinigten – so wie sie von ihren eigenen Gedanken, die um den Tod ihres Freundes kreisten, gequält wurde. Und ebenso wie Goyas Schläfer fand sie keinen Ausweg aus dieser Pein.

Corinne vertiefte sich in die Betrachtung dieser Grafik und fragte sich gerade, ob der schlafende Mann nach seinem Erwachen wieder ein freier Mensch sein würde, der unbelastet von schweren Gedanken weiterleben könnte, dass sie Michael, der auf sie zukam, gar nicht bemerkte. Entsprechend erschrak sie dann auch, als er sie ansprach.

„Guten Morgen, Corinne!“

Sie fuhr herum und erblickte ihren ehemaligen Studienkollegen.

„Mein Gott, Michael, hast du mich erschreckt!“

„Tut mir leid“, sagte er in entschuldigendem Ton. „War nicht meine Absicht. Wie geht es dir?“

„Geht so!“ erwiderte sie unfreundlich und wandte sich dann wieder der Grafik zu.

Michael stellte sich neben sie, warf einen kurzen Blick auf das Bild und meinte dann: „Sieht aus, als hätte der Mann Alpträume.“

Die junge Frau schwieg.

„Geht es dir gut, Corinne?“ fragte Michael und betrachtete sie besorgt. Sie erschien ihm müde und traurig. „Soll ich dir einen Kaffee holen?“

Aber er erntete wieder nur Schweigen. Doch Michael ließ sich nicht mehr so schnell von ihrem unfreundlichen Verhalten abschrecken. Er wähnte sie in Gefahr und war entschlossen, sie zu schützen.

„Sag mal, Corinne, trägst du eigentlich ein Kreuz?“ fragte er plötzlich.

Die junge Frau warf ihm kurz einen erstaunten Blick zu und erwiderte in kühlem Ton: „Wir sind keine Katholiken!“

„Aber... aber, ich dachte... kommt deine Familie nicht ursprünglich aus Frankreich?“

„Richtig! Meine Vorfahren mussten nach Deutschland fliehen, weil sie Hugenotten waren.“

Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und ging schnell in eine andere Richtung, um ihn loszuwerden. Doch Michael folgte ihr. Corinne seufzte innerlich und beschloss, ihn zu ignorieren. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit daher dem Bild, das vor ihr hing. Doch sobald sie darauf blickte, erschrak sie. Die Abbildung zeigte einen nackten Mann auf einem Felsen. Ein vogelartiges Wesen mit Menschenkopf, an dessen Flügeln Hände den Abschluss bildeten, blickte sein Opfer mit großen, gierigen Augen an. Es hatte seine riesigen Krallen in dessen Brust geschlagen, während es mit spitzen Zähnen in die Kehle des Mannes biss, der ihm rettungslos ausgeliefert war. Das Gemälde stammte von Boleslas Biegas und hieß  >Der Kuss des Vampirs< .

Corinne konnte ihren Blick kaum von dem Bild wenden. Es irritierte sie sehr.

Den Biss des Ungeheuers als Kuss zu bezeichnen schien ihr grausame Ironie. Den Mann, den der Vampir anscheinend geraubt und auf den Felsen getragen hatte, konnte man keineswegs als ein geliebtes Wesen sehen. Vielmehr war er die Beute eines erbarmungslosen Jägers, der ihm nicht nur das Blut aussaugen wollte, sondern ihn gleichsam mit seinen gierigen Augen zu verschlingen schien.

Ja, diese Augen. Sie waren es, die Corinnes Aufmerksamkeit fesselten. Sie erinnerten sie an etwas, aber sie wusste im Moment nicht woran. Es kam ihr beinah so vor, als ob sie solche Augen schon einmal gesehen hätte – aber bei wem?

Mitten in ihre Überlegungen hinein fragte Michael, der neben ihr stand, sie leise: „Möchtest du einem derartigen Wesen ausgeliefert sein?“

„Nein“, murmelte Corinne, die einen Augenblick vergaß, dass sie eigentlich böse auf ihren Bekannten war.

„Dann solltest du dich von diesem LaCroix fernhalten“, fuhr der junge Mann fort.

„Ich denke ja gar nicht daran!“ wies das Mädchen ihn zurecht. „Ich liebe Lucien!“

Michael starrte sie an.

„Was?!“

„Ja“, sagte sie und nickte. „Ich liebe Lucien LaCroix und er liebt mich!“

„Dann... dann ist dieser Ring... von ihm?“ fragte Michael, der sie immer noch fassungslos ansah.

„Ja, er ist von ihm!“ bekräftigte sie und lächelte.

„Das ist bestimmt nur eines seiner Mittel, damit er dich an sich binden kann. – Oh, Corinne, bitte, trenn dich von dem Kerl. Er ist gefährlich – Mr. Knight hat es mir bestätigt...!“

„So, Mr. Knight...”, kam es gedehnt von Corinne. „Aha, daher weht also der Wind? Dieser Knight hat nicht nur meine Cousine gegen meinen Freund aufgehetzt, sondern jetzt auch noch dich... alles klar! – Verschwinde endlich!“

„Bitte, Corinne, hör mich an! Ich kann ja verstehen, dass du immer noch böse auf mich bist, weil ich unverzeihliche Worte zu dir gesagt habe, aber das ist mir nur über die Lippen gekommen, weil ich dich schützen will!“ sagte Michael in eindringlichem Ton. „Dieser LaCroix und diese Musiker und wahrscheinlich ganz viele dieser Leute im Raven, einschließlich der Türsteher, sind gefährlich – sie sind...“

Hier stockte der junge Mann, da ihm bewusst wurde, dass sie ihn für verrückt erklären würde, wenn er ihr erklärte, dass es sich bei diesen unheimlichen Gesellen um Vampire handelte.

„Was sind sie?“ fragte das Mädchen gleich darauf in ärgerlichem Ton.

Michael fing sich schnell wieder und erwiderte: „Sie sind... nun... ähm... kein guter Umgang für eine junge Dame wie dich. Wer weiß, vielleicht sind sie in kriminelle Machenschaften verstrickt.“

„Hör endlich auf mit diesem Unsinn!“ blaffte Corinne ihn an. „Ich liebe Lucien und niemand wird es schaffen, uns auseinanderzubringen.“

„Du kennst diesen LaCroix gar nicht!“ widersprach Michael. „Meiner Meinung nach ist ein Typ wie er nicht dazu fähig, jemanden zu lieben; und ich möchte nicht, dass er dir wehtut!“

„...sprach der Mann, der mich in der Öffentlichkeit maßlos verletzt hat“, führte Corinne seinen Satz in spöttischem Ton zu Ende. Dann zischte sie ihn plötzlich mit zornfunkelnden Augen an: „Lass mich in Ruhe, Michael, und verschwinde endlich aus meinem Leben. Denn ich werde dir deine Worte niemals verzeihen!“

Sie ließ ihn stehen und hastete hinunter in die Damentoilette, damit niemand ihre aufsteigenden Tränen sah...

***

Mit einer Mischung aus Ärger und Besorgnis blickte Michael der davoneilenden Corinne nach. Gleichzeitig war ihm klargeworden, dass sie ihn hasste und er es schwer haben würde, sie für sich zu gewinnen. Er fragte sich gerade, was er nur tun konnte, um sie wieder zu versöhnen, als Inge zu ihm trat.

„Guten Morgen, Michael“, begrüßte Inge ihn. „Was ist mit Corinne los?“

„Wenn ich das wüsste...“, seufzte er und schaute nun sie an. „Wo warst du eigentlich heute Morgen? Wernher hat dich vermisst.“

„Wie bitte?!“ fragte Inge und runzelte verständnislos die Stirn. „Er hat mich vermisst?“

„Ja, heute früh war doch eine Teambesprechung beim gemeinsamen Frühstück angesetzt“, erklärte Michael. „Sag bloß, du hast das vergessen?“

„Eigentlich nicht“, erwiderte das Mädchen. „Aber ich dachte, ich wäre... Wernher hätte..“

„Ach, ist ja auch egal“, unterbrach ihr Kollege sie. „Wernher erwartet dich jedenfalls im Hotel, damit du ihm hilfst, seinen Papierkram zu erledigen.“

„Wirklich?“ fragte Inge erstaunt. Sie war seit gestern Abend davon ausgegangen, dass Teichert sie entlassen hatte. Aber Michaels Worte ließen einen anderen Schluss zu.

Als er ihr nun noch aufmunternd zunickte, machte sie sich auf den Weg zum Hotel. Zumindest interessierte es sie, was Wernher wieder vorhatte.

*

Teichert stand gerade an der Rezeption und schaute seine Post durch, als Inge das Hotel betrat. Kaum hatte er sie erblickt, kam er eilig auf sie zu.

„Inge! Wo warst du denn? Ich habe dich beim Frühstück vermisst!“ rief er ihr in freundlichem Ton zu.

„Ja, das hat Michael mir bereits mitgeteilt“, erwiderte sie und schaute ihren Chef misstrauisch an. „Aber es wundert mich eigentlich. Hast du mich gestern denn nicht entlassen?“

„Du musst da etwas völlig missverstanden haben“, behauptete Teichert in freundlichem Ton und lächelte sie mild an. „Warum sollte ich eine so gute Assistentin wie dich denn entlassen?“

„Vielleicht, weil ich nicht damit einverstanden bin, dass du merkwürdigen Damenbesuch auf deinem Zimmer empfängst“, antwortete Inge.

„Lass uns das oben bei mir besprechen“, schlug Teichert, immer noch freundlich lächelnd, vor. „Komm, Inge, ich habe viel zu erledigen.“

Erstaunt über seine Freundlichkeit folgte ihm das zierliche Mädchen hinauf in sein Hotelzimmer, war aber immer noch auf der Hut. Sie verstand nicht, wie er sich von dem gestrigen Ekelpaket in das angenehme Wesen verwandeln konnte, als das er ihr jetzt begegnete.

Als sie sich an den Arbeitstisch setzte, der sich in Teicherts Hotelzimmer befand, wandte sich ihr Chef wieder in milden Worten an sie.

„Hör zu, Inge, es tut mir leid, wenn ich dich gestern Nacht schockiert habe. Aber es war auch äußerst unklug von dir, mich in solch einem Augenblick zu stören und mir dann noch merkwürdige Fragen zu stellen. – Dennoch war es meine Schuld, wie mir heute Morgen erst klar geworden ist. Ich hätte dich sofort wegschicken sollen, statt dich mit einer Dame des horizontalen Gewerbes zu konfrontieren. Dafür möchte ich mich in aller Form bei dir entschuldigen.“

„Gut...“, kam es zögerlich von Inge, die ihn immer noch misstrauisch beäugte.

„Du bist die beste Assistentin, die ich je hatte“, fuhr Wernher fort, sie zu umschmeicheln. „Es tut mir wirklich leid, dass ich gestern so ungerecht zu dir war. Und natürlich ist es Unsinn, dass du dir einen neuen Job suchen musst. Aber versprich mir, Corinne Lambert in Zukunft zu meiden. Ich möchte mit dieser Frau nichts mehr zu tun haben – und für dich als meine rechte Hand ist sie auch kein guter Umgang. Willst du mir versprechen, dich von diesem frechen Ding fernzuhalten, Mäuschen?“

„Corinne ist keineswegs das Biest, als das du sie immer darstellst“, erwiderte Inge in ärgerlichem Ton. „Sie scheint vielmehr ein gutes Herz zu besitzen. Als es mir schlecht ging, hat sie mir ihre Hilfe angeboten, während du in dieser Zeit hin und wieder hässlich zu mir warst. Aber vermutlich hieltest du das für notwendig, damit ich meine Kleinmädchenträume verliere, nicht wahr?!“

„Ach Inge, leg doch nicht jedes meiner Worte auf die Goldwaage“, bat Teichert in demütigem Ton und warf ihr einen treuherzigen Blick zu. „Ich gebe ja zu, dass meine Wortwahl gestern Abend äußerst unglücklich war...“

„Nein, das finde ich gar nicht“, widersprach ihm das Mädchen. „Genau das hat mir die Augen über dich geöffnet. Darüber, wie sehr du die Menschen verachtest, die andere wirklich lieben, die eine echte Beziehung anstreben... und es hat mir klargemacht, wie sehr du mich verachtest... und wie sehr du deine Frau verachtest... wahrscheinlich verachtest du jeden außer dir.“

„Übertreib doch bitte nicht so, Kleines“, versuchte Teichert sie zu beschwichtigen. „Und von Verachtung würde ich auch nicht sprechen. Es ist halt nunmal so, dass ich finde, dass dieser ganze romantische Gefühlskram total überschätzt wird... weiter nichts.“

„Ja, das sagtest du gestern bereits“, gab Inge in kühlem Ton zurück.

„Hm... ich scheine dich sehr verletzt zu haben“, murmelte Wernher und legte ihr seine Hände auf die Schultern. „Bitte, Kleines, es tut mir leid! Warum kannst du mir nicht einfach verzeihen? Ich brauche dich doch...“

„Du hast ja noch Michael!“ sagte Inge, erhob sich vom Stuhl und wollte gerade das Zimmer verlassen, als er sie am Arm zurückhielt, plötzlich an sich zog und ihr einen Kuss auf die Lippen drückte. Zwar versuchte sie im ersten Moment, sich aus seiner Umarmung zu befreien, aber es gelang ihr nicht... und schließlich gab sie nach, gab sich ihm abermals hin in der erschreckenden Gewissheit, dass sie ihm hörig war, dass sie ihm niemals würde wiederstehen können... zu tief waren ihre Gefühle für Wernher...

***

Corinne hatte einige Zeit gebraucht, um sich nach dem Gespräch mit Michael zu beruhigen. Als sie wieder in die Vorhalle kam, hatte die Tagung bereits angefangen. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Großen Saal und schlüpfte leise hinein. Sie setzte sich in die letzte Reihe, wo es noch einige freie Stühle gab und versuchte, dem Vortrag zu folgen, der sich mit dem Thema Fotografie und Leiblichkeit beschäftigte. Aber ihre Gedanken schwirrten immer wieder fort zu der absurden Verdächtigung Knights und zu Michael, der offensichtlich versuchte, einen Keil zwischen sie und Lucien zu treiben. Verwundert fragte sie sich, warum er das tat. Es hatte fast den Anschein, als ob er selbst etwas von ihr wollte. Aber das war natürlich blanker Unsinn! Seit ihrer Studienzeit waren sie nichts weiter als gute Bekannte gewesen und Michael hatte nie auch nur erkennen lassen, dass er mehr von ihr wollte.

Diese Gedanken waren Corinne überaus unangenehm, zumal ihr einfiel, dass Lucien bereits die Vermutung geäußert hatte, Michael könne in sie verliebt sein.

„Alles Quatsch!“ dachte das Mädchen und versuchte, sich auf den Vortrag zu konzentrieren. Als sie zur Tribüne hochsah, bemerkte sie erstaunt, dass ihre Freundin gerade sprach. Hatte Eva ihr davon erzählt, dass sie heute ein Referat hielt – und wenn ja, wann? Mit schlechtem Gewissen gestand Corinne sich ein, dass diese Neuigkeit wohl deshalb in Vergessenheit geraten war, weil ihre Freundin sich vor allem ihr und ihren Problemen gewidmet hatte. Wie es Eva eigentlich ging und was sie zur Zeit machte, war dabei völlig untergegangen.

„Ich sollte zur Abwechslung mal nicht immer nur an mich denken“, schalt sich Corinne in Gedanken und beschloss, sich nach dem Vortrag um ihre Freundin zu kümmern.

Aber aus diesem Vorsatz wurde nichts. Zwar tauschten Corinne und Eva kurz Grüße aus, aber danach wurde die Fotografin von einer Menge Leute umlagert, von denen einige potenzielle Auftraggeber zu sein schienen. Darum hielt Corinne es für das Beste, sich zurückzuziehen. Schließlich konnte sie sich später noch mit Eva unterhalten.

 

Die junge Frau ging langsam zum Buffet und nahm eine Tasse Kaffee zu sich, während sie überlegte, ob sie gehen sollte, da sie sich ohnehin nicht auf die Veranstaltung konzentrieren konnte. Immer wieder quälten sie die Gedanken an Knight, Michael und Lucien und das, was sie jeweils von sich gegeben hatten. Am liebsten hätte sie sich jetzt mit ihrem neuen Freund getroffen und sich in seine Arme geflüchtet, aber sie wusste nicht einmal, wo Lucien wohnte.

„Miss Lambert! Schön, Sie zu sehen!“ vernahm Corinne plötzlich hinter sich eine weibliche Stimme, drehte sich um und erblickte Myra, die mit strahlendem Lächeln auf sie zukam.

„Guten Tag!“ erwiderte das Mädchen deren Gruß und lächelte ihr ebenfalls zu. Dann schaute sie sich suchend im Raum um. „Wo haben Sie denn Jenny gelassen?“

„Die Kleine verbringt den Tag bei einer ihrer Freundinnen und übernachtet auch bei dort“, erzählte Myra und seufzte dann. „Zu dumm, dass mein Mann erst am Freitag frei hat, sonst hätten wir heute einen Tag für uns allein gehabt und wären mal wieder irgendwohin verreist. Das haben wir lange nicht mehr gemacht.“

„Ich könnte am Freitag auf Jenny aufpassen!“ bot Corinne spontan an.

„Das würden Sie wirklich tun?“ fragte Myra.

„Aber ja, ich bin ein erfahrener Babysitter“, antwortete die junge Frau.

„Das wäre wirklich großartig! Don wird ebenfalls begeistert sein.“

„Dann ist es also abgemacht, Mrs. Schanke?“

„Gerne! Und bitte, meine Liebe, nenn mich Myra.“

„Gut, Myra, ich bin Corinne. Wenn es dir recht ist, hole ich Jenny am Freitag um 8.30 Uhr bei euch ab und gehe mit ihr zum letzten Vortrag dieser Tagung.“

„Nein, nein, das brauchst du nicht. Don und ich bringen Jenny gegen 9.00 Uhr zur Convocation Hall und geben dir unsere zweiten Hausschlüssel. – Im Übrigen habe ich nichts dagegen, wenn dein neuer Freund dich besucht, sobald Jenny abends eingeschlafen ist.“

„Oh, das ist wirklich nett. Vielleicht sollte ich ihn tatsächlich einladen. Aber das überlege ich mir noch.“

„Wenn du willst, komm doch nachher einfach mit zu mir nach Hause. Dann kannst du dich schon einmal mit der Wohnung vertraut machen, während ich uns etwas Schönes koche“, schlug Myra vor.

„Ja, das ist eine gute Idee!“ meinte Corinne und nickte.

***

Inge lag neben Teichert in dessen Bett und betrachtete ihn nachdenklich. Er hatte die Augen geschlossen und lächelte sichtlich zufrieden, während sich seine Atmung allmählich wieder normalisierte.

„Warum hast du das getan, Wernher?“ fragte das Mädchen.

Der Angesprochene öffnete die Augen und wandte sich ihr erstaunt zu.

„Eine merkwürdige Frage, Mäuschen“, raunte er. „Ich hatte Lust, mit dir zu schlafen.“

„Das ist mir schon klar, aber ich verstehe nicht, warum. Bin ich dir denn nicht zu langweilig?“

„Ach was! Du bist schon in Ordnung“, meinte Teichert und streichelte ihren Unterarm.

„Meinst du das ehrlich?“

„Natürlich, Kleines!“

„Weshalb lässt du dich dann mit Prostituierten ein?“

„Bitte, Inge, fang nicht schon wieder damit an. Ich sagte dir bereits gestern, dass ich bestimmte Bedürfnisse habe, die eine normale Frau nicht erfüllen würde“, erwiderte Teichert missmutig und setzte sich auf. Er betrachtete seine Assistentin einen Augenblick und fragte dann: „Michael hat gemeint, du wolltest meiner Frau Blumen zum Hochzeitstag schicken. Woher weißt du, wann ich Dagmar geheiratet habe?“

Inge senkte schuldbewusst den Blick und murmelte: „Weiß ich gar nicht!“

Dann erhob sie sich mit einem Mal plötzlich aus dem Bett und begann hastig, sich anzuziehen.

„Sag mir sofort, was du getan hast!“ forderte Teichert sie in strengem Ton auf.

Doch das zierliche Mädchen schwieg, bis sie sich vollständig angezogen hatte. Erst dann antwortete sie: „Gestern Nacht war ich sehr verletzt...“

„Und?“ fragte er lauernd.

„Deine Frau... nun, ich fand, dass sie genau so ein Opfer ist wie ich...“

„Was hast du getan?!“

„Wernher, ich liebe dich wirklich...“, sagte Inge leise. „Ich liebe dich sogar noch jetzt, obwohl ich mittlerweile erkannt habe, dass... dass du... du verdienst meine Liebe nicht... und dennoch... ich würde immer noch alles für dich tun... sogar lügen... aber gestern, diese Frau! Und die Sache mit Corinne! Dass du sie erpresst hast... alles das war zuviel! Ich musste etwas unternehmen, damit ich von dir loskomme...!“

„Inge! Was hast du getan?! WAS?!“

„Ich habe deine Frau davon in Kenntnis gesetzt, dass wir uns lieben!“

„Du hast was?!“ schrie Teichert auf und starrte seine Assistentin böse an.

„Ja, ich habe ihr ein Telegramm geschickt, weil ich für klare Verhältnisse bin!“ gab Inge zu. „Du hast gestern doch selbst gemeint, dass es gut sei, wenn man sich von Kleinmädchenträumen verabschiedet!“

Mit einem Satz war Teichert aus dem Bett gesprungen und versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht. Die junge Frau hielt sich schmerzend ihre Wange, die feuerrot anlief, während ihr Tränen in die Augen traten.

„Ich habe nichts anderes von dir erwartet...“, wisperte sie.

„Du undankbares, kleines Nichts!“ schrie ihr Geliebter. „Wer gibt dir das Recht, dich in meine Ehe einzumischen?!“

„Ich liebe dich, Wernher“, sagte Inge leise. „Ich will nichts weiter, als mit dir zusammen sein!“

„Du dummes, kleines Ding! Wenn meine Karriere durch dein dämliches Verhalten ruiniert wird, betrifft dich das doch genauso!“

„Was auch immer geschieht – ich bin bereit, es mit dir durchzustehen, Wernher!“

„Aber ich nicht! Glaubst du wirklich, dass ich mich wegen unserer kleinen Affäre scheiden lassen werde?! Niemals! Hörst du, niemals! – Das einzige, was ich von dir wollte, war ein bisschen Spaß... und ich glaube, du bist dabei auch voll auf deine Kosten gekommen, nicht wahr? Warum also machst du jetzt alles kaputt?“

„Ich will klare Verhältnisse“, erklärte Inge leise.

„Die kannst du haben!“ zischte Teichert und durchbohrte sie mit einem so eisigen Blick, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. „Zwischen uns ist es aus!“

„Aber, Wernher! Das kannst du doch nicht machen!“

„Und ob ich das kann, Frau Riedel! Sehen Sie zu, wie Sie alleine klarkommen! Und verlassen Sie bitte innerhalb von zwei Stunden dieses Hotel! Sie sind fristlos entlassen!“

„Nein, Wernher, tue mir das bitte nicht an!“ flehte Inge. „Wo soll ich denn hin?“

„Das hätten Sie sich überlegen müssen, bevor Sie meiner Gattin ein Telegramm schickten, Frau Riedel!“ herrschte er sie wütend an. „Gehen Sie mir jetzt aus den Augen!“

„Bitte, Wernher, schick mich nicht weg! Ich liebe dich doch so sehr!“

„Raus!“ brüllte Teichert und sah sie dabei mit soviel Hass an, dass Inge es vorzog, so schnell wie möglich den Raum zu verlassen. Erst draußen im Flur wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass es zwischen ihr und Wernher endgültig aus war. Warum nur hatte sie nicht ihre Klappe halten können? Das hätte ihr wenigstens die Rückreise nach Frankfurt gesichert. Jetzt allerdings besaß sie nicht einmal so viel Geld, um sich ein Hotelzimmer leisten zu können. Aber das Schlimmste war für sie, dass sie Wernher für immer verloren hatte. Egal, was für einen miesen Charakter er hatte. Sie liebte ihn und würde ihn immer lieben... gegen ihre Gefühle war sie einfach machtlos... Ohne Wernher hatte das Leben für sie keinen Sinn mehr...

Wernher Teichert hatte wenige Minuten nach Inges Geständnis versucht, seine Frau telefonisch zu erreichen. Aber sie schien nicht zu Hause zu sein, was ihn ein wenig nervös machte, da er nicht wusste, wie Dagmar auf das Telegramm seiner Assistentin reagieren würde. Er überlegte einen Augenblick und beschloss dann, ihr zu erzählen, dass Inge Riedel sich in ihn verliebt und versucht hatte, ihn zu erobern. Da er sich jedoch nicht auf sie einlassen wollte, hätte sie aus Eifersucht dieses absurde Telegramm abgeschickt.

Teichert atmete auf. Ja, genau das würde er seiner Gattin erzählen; und er war sich ziemlich sicher, dass Dagmar ihm diese Geschichte abnahm. Immerhin führten sie nach außen hin eine gute Ehe und sie hatte ebenso wenig Interesse daran wie er, dass sich dies änderte.

Nachdem ihm diese Lösung eingefallen war, ging es ihm bedeutend besser und er hatte wieder Lust, unter Leute zu gehen. Frisch geduscht und fein angezogen machte er sich deshalb eine halbe Stunde später auf den Weg zur Convocation Hall. Entgegen der Verabredung von heute früh hatte er spontan beschlossen, das Mittagessen mit Michael in einem Lokal außerhalb des Hotels einzunehmen. An Inge verschwendete er keinen Gedanken mehr...

***

Corinne kehrte erst gegen 19.00 Uhr nach Hause zurück, da sie mit zu Myra gegangen war, dort gegessen und sich angeregt mit ihr unterhalten hatte.

„Ach, da bist du ja endlich!“ empfing Nathalie sie.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, erwiderte Corinne spöttisch. „Was soll diese merkwürdige Begrüßung?“

„Entschuldige bitte, aber du hattest Besuch“, erklärte die Pathologin. „Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich davon halten soll.“

„Besuch?“ fragte Corinne erstaunt und runzelte die Stirn. „Wer?“

„Michael Fernandez hat mich vor etwa drei Stunden aus dem Bett geklingelt und war völlig aufgelöst, da du beim Nachmittagsvortrag gefehlt hast.“

„Der Typ hat echt ´ne Macke!“ sagte das Mädchen ärgerlich. „Was bildet er sich eigentlich ein? Führt sich auf wie meine selbsternannte Gouvernante!“

„Es ist doch sehr nett von ihm, sich Gedanken um dich zu machen“, versuchte Nathalie ihre Cousine zu besänftigen. „Außerdem bedrückt es ihn, dass du immer noch böse auf ihn bist.“

„Daran ist er selbst schuld!“

„Meinst du nicht, du bist ein bisschen zu hart mit ihm? Mir scheint dieser Michael ein netter, junger Mann zu sein – und er mag dich sehr.“

„Hat er das etwa gesagt?“ fragte Corinne fassungslos. Als Nathalie nickte, brach sie in ein kurzes, trockenes Lachen aus. Auf den verwunderten Blick ihrer Cousine fuhr sie fort: „Aber er hat dir sicherlich verschwiegen, dass er mich beleidigt hat.“

„Er hat dich beleidigt? Das kann ich mir gar nicht vorstellen“, meinte Nathalie. „Was hat er denn gesagt?“

„Das werde ich nicht wiederholen! Aber sei versichert, dass es ziemlich gemein war.“

„Sicher handelt es sich um ein Missverständnis, das man aus der Welt schaffen kann. Jedenfalls tut es ihm überaus leid, Corinne!“

„Nein, Nathalie, es ist nichts, das man einfach so verzeihen kann – und das weiß Michael auch, sonst würde er nicht über dich versuchen, mich weich zu kochen. Deshalb bitte ich dich, halt dich aus dieser Sache raus.“

„Also gut“, seufzte Nathalie ergeben. „Die Angelegenheit zwischen dir und dem jungen Mann geht mich nichts an. Aber was spielt sich zwischen dir und Mr. LaCroix ab?“

„Wir sind befreundet“, gab Corinne zu. „Mehr brauchst du nicht zu wissen.“

„Du gestehst mir jedoch zu, dass ich mir Gedanken um dich mache? Schließlich hat LaCroix nicht den besten Ruf.“

„Welchen Ruf hat er denn eigentlich, Nat?“

„Na ja, er ist gefährlich...“, kam es zögernd von der Pathologin. Sie konnte ihrer jüngeren Cousine ja schlecht verraten, dass LaCroix ein Vampir war. Das Mädchen würde es ohnehin nicht glauben.

„Was soll das heißen, er ist gefährlich?“ fragte Corinne ungehalten. Als Nathalie darauf nichts erwiderte, fuhr sie fort: „Gib zu, dass du nur die Meinung deines Freundes Mr. Knight übernommen hast, ohne dir die Mühe zu machen, Lucien überhaupt kennenzulernen.“

„Genau das ist es, was mich vorsichtig sein lässt“, erwiderte die Ärztin. „Er hält sich bedeckt und niemand weiß genau, was er tut. Wo hält er sich beispielsweise tagsüber auf?“

„Wahrscheinlich in seinem Bett“, meinte das Mädchen achselzuckend. „Nachts arbeitet er nämlich als Moderator beim Radio. Daran kann ich nichts Ehrenrühriges finden. – Wirklich, Nat, du solltest deine Vorurteile über ihn vergessen. Lucien ist in Ordnung und ich mag ihn sehr.“

„Hast du denn keine Angst, dass er nur mit dir spielt, Corinne?“ Nathalie schaute ihre jüngere Cousine besorgt an. „Was, wenn er ein Casanova ist?“

„Aber nein! Das ist er ganz und gar nicht!“ nahm das Mädchen ihn in Schutz. „Ein Casanova wäre niemals für mich da gewesen, als es mir schlecht ging, sondern hätte sich schnellstens verzogen. Doch Lucien blieb bei mir, hat mich getröstet und versucht, mir in jeder Hinsicht ein guter Freund zu sein. Er ist wirklich einer der anständigsten Männer, die ich kenne.“

Nathalie starrte Corinne an und konnte nicht glauben, was sie hörte. Die Schilderung des Mädchens über LaCroix war völlig konträr zu ihrem eigenen angstvollen Gefühl, das sie in der Gegenwart des alten Vampirs empfunden hatte. Aber vielleicht hatte Corinne recht und sie war nur durch die einseitige Schilderung Nicks über seinen Meister gegen diesen voreingenommen. Denn LaCroix schien ihre kleine Cousine sehr zu mögen, sonst würde er sich ihr gegenüber nicht so zuvorkommend verhalten. Außerdem sprach es für ihn, dass er Corinne bis jetzt nichts Schlimmes zugefügt hatte – dennoch...

„Bitte, pass auf dich auf!“ bat Nathalie das Mädchen.

„Mach dir keine Sorgen um mich“, meinte Corinne. „Ich komme sehr gut allein zurecht. Geh ruhig zur Arbeit.“

„Bleibst du heute Abend zu Hause?“ fragte die Pathologin.

„Ich weiß noch nicht“, wich ihre Cousine aus und fragte dann unvermittelt: „Ist ein Päckchen für mich angekommen?“

„Nein, aber ein großer, gepolsterter Briefumschlag von deiner Schwester. Ich habe ihn auf den Nachttisch im Gästezimmer gelegt.“

„Danke, Nat“, erwiderte Corinne und verschwand in ihr Zimmer. Seufzend blickte Nathalie ihr nach und machte sich dann auf den Weg zur Arbeit.

***

Wernher Teichert hatte nach dem Ende der heutigen Tagung wiederum vergeblich versucht, seine Frau zu erreichen. Es war äußerst merkwürdig, dass Dagmar sich um 18.00 Uhr immer noch nicht zu Hause befand. Dieser Umstand beunruhigte ihn zusehends. Um sich abzulenken, ging er in die nächstbeste Kneipe, die er fand, und genehmigte sich einen Cognac. Er hoffte, dass Dagmar wegen Inges Telegramm nichts unternahm, das ihn teuer zu stehen kommen würde – aber bei solchen gefühlsbetonten Frauen musste man mit allem rechnen. Warum nur hatte er nicht die Finger von der kleinen Riedel lassen können? Schließlich konnte jeder erkennen, wie naiv und verträumt diese junge Frau war – und er war selbst schuld daran, dass er sie unterschätzt hatte.

Das Klingeln seines Handys unterbrach seine Gedanken.

„Ja?“

„Guten Abend! Spreche ich mit Professor Wernher Teichert?“ fragte eine ihm unbekannte männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

„So ist es. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Mein Name ist Arthur McDonavan. Ich bin Antiquitätenhändler und habe gehört, dass Sie Sammler erotischer Kunstgrafiken sind.“

„Ja, das ist richtig“, gab Teichert zu. „Von wem haben Sie diese Information?“

„Solche Sachen sprechen sich in Sammlerkreisen herum, Mr. Teichert. Und da Sie gerade in Toronto sind, bietet es sich an, mich in meinem Laden aufzusuchen. Ich habe ein paar sehr schöne Grafiken hereinbekommen. Sind Sie interessiert?“

„Natürlich! Ich würde mir die Werke gerne ansehen. Wann haben Sie auf?“

„Die ganze Nacht. Wenn Sie wollen, können Sie gleich vorbeikommen. Meine Adresse ist...“

Rasch notierte Teichert Straße und Hausnummer, bezahlte dann und machte sich auf den Weg in den Antiquitätenladen McDonavans. Da er sich in Toronto nicht auskannte, nahm er ein Taxi, das ihn in wenigen Minuten in eine düstere, kleine Straße fuhr und vor einem Geschäft absetzte, bei dem man schon von weitem durch einen Blick auf die Schaufensterauslage erkannte, dass dort alte Sachen verkauft wurden.

Teichert bezahlte den Taxifahrer und betrat dann den kleinen Laden, dessen Inneres nur spärlich beleuchtet war. Hinter der Theke saß ein bärtiger Mann mit rötlichem Haar und musterte ihn interessiert.

„Mr. Teichert?“ fragte der Rothaarige, worauf der Angesprochene nickte. Über das Gesicht des Rothaarigen glitt ein Lächeln. Er stand auf und reichte dem Neuankömmling die Hand.

„Ich bin Arthur McDonavan. Freut mich wirklich sehr, dass Sie so schnell gekommen sind, Mr. Teichert. Damit habe ich gar nicht gerechnet.“

„Nun ja, ich hatte gerade Zeit und wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mir die Kunstgrafiken anzusehen, die Sie mir anzubieten haben.“

„Selbstverständlich. Warten Sie hier einen Moment, ich hole die Sachen nur rasch aus dem anderen Zimmer“, erwiderte McDonavan und verschwand aus dem Raum.

Teichert blickte dem Antiquitätenhändler nach. Dieser kam ihm bekannt vor und er überlegte sich, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Doch er kam zu keinem Ergebnis. Daher fragte er, als McDonavan mit zwei Bildern wieder im Laden erschien: „Kennen wir uns nicht von irgendwo her?“

„Möglich“, meinte Arthur, der eines der Bilder auf die Theke legte. „Wahrscheinlich sind wir uns auf diesem Kongress über den Weg gelaufen.“

„Hm, das könnte sein“, murmelte Teichert, den diese Antwort zufrieden stellte. Dann warf er einen Blick auf die Grafik. Diese zeigte ein junges Mädchen, das gerade einem Teich entstiegen war und sich mit einem Handtuch abtrocknete. Dabei sah man nur die Andeutung ihrer Brüste, während die Scham ganz verdeckt war. „Wirklich, sehr schön...“

„Ja, nicht wahr?“ sagte der Rothaarige und zeigte ihm dann die zweite Grafik, welche nackte Frauen mit offenen, wehenden Haaren bei einem Tanz im Wald darstellte. Teichert las die darunter stehende Schrift  >Tanz der wilden Weiber<  und musste lächeln. „Zwar auch ganz hübsch, aber doch nicht mein Fall. Das erste Bild gefällt mir besser.“

In diesem Augenblick trat ein anderer Mann neben ihn und meinte sarkastisch: „Das kann ich mir vorstellen! Sie stehen mehr auf junge Mädchen, nicht wahr?“

Überrascht schaute Teichert neben sich und erkannte den großen, blonden Mann, in dessen Gesellschaft sich Corinne Lambert nach ihrem Vortrag am Sonntagabend länger aufgehalten hatte; und nun fiel ihm auch wieder ein, dass McDonavan bei ihnen gestanden hatte.

„Was wollen Sie von mir?“ fragte Wernher, der zu ahnen begann, dass dieses Treffen wahrscheinlich inszeniert war. Er schaute von LaCroix zu McDonavan und begann, sich unwohl zu fühlen, als er den kalten Blicken der beiden Männer begegnete.

„Es ist kein angenehmes Gefühl, bedroht zu werden, nicht wahr?“ fragte LaCroix und grinste. Der Professor sah, wie sich dessen Augen gelblich verfärbten, und flüchtete zur Tür. Als er sie aufreißen wollte, stellte er mit Schrecken fest, dass sie fest verschlossen war. Angstvoll warf er einen Blick zurück und sah McDonavan und LaCroix auf sich zukommen. Ehe er es sich versah, hatten sie ihn an die Theke zurückgeschleudert, an der er zu Boden glitt und dort sitzen blieb.

„Was wollen Sie von mir?“ fragte er mit lauter Stimme, in der die Panik unverkennbar war.

„Die Zeit ist gekommen, um deine Strafe zu empfangen!“ verkündete ihm LaCroix.

„Meine Strafe? Ich verstehe nicht...“, erwiderte Teichert mit zitternder Stimme. „Was habe ich Ihnen getan?“

„Du hast meine Freundin belästigt“, klärte der alte Vampir ihn auf.

Einen Augenblick starrte Teichert ihn an, dann jedoch sagte er hastig: „Das... das tut mir sehr leid... wirk... wirklich! Ich verspreche Ihnen, dass ich Frau Lambert nie wieder zu nahe treten werde...“

„Ja, weil du keine Gelegenheit mehr dazu haben wirst“, knurrte LaCroix und beugte sich nun dicht zu dem Professor hinunter. McDonavan tat es ihm gleich. Dann entblößten die beiden Vampire langsam ihre Fangzähne.

„Das... das... muss... ein Alptraum... sein“, murmelte Teichert.

„Ein Alptraum, aus dem du nicht mehr erwachst“, murmelte der Rothaarige und bohrte dann gleichzeitig mit LaCroix seine Zähne in den Hals ihres Opfers, das keine Zeit mehr dazu hatte, um Hilfe zu schreien...

***

Das Raven war bereits voller Gäste, als Corinne gegen 20.00 Uhr dort eintraf. Sie schaute sich suchend um und bahnte sich dann langsam einen Weg zum Tresen, an dem Janette stand.

„Guten Abend, Corinne“, begrüßte die Vampirin sie. „Wie geht es Ihnen?“

„Ach, es geht so“, erwiderte das Mädchen. „Ist Lucien noch nicht da?“

„Nein, bis jetzt nicht. Sind Sie mit ihm verabredet, Corinne?“

„Eigentlich nicht, aber ich dachte, ich kann ihn hier treffen.“

„Lucien kommt nur ab und zu, doch ich weiß nicht wann. Tut mir leid, meine Liebe.“

„Sie können ja nichts dafür“, meinte Corinne. „Darf ich trotzdem auf ihn warten?“

„Natürlich“, sagte Janette freundlich und lächelte sie an. „Ich bin sicher, dass Sie nicht lange allein sein werden. Jamie ist eben auf die Bühne gekommen.“

„Jamie?“

„Ja, die Flying shadows singen diese Woche in meinem Lokal“, erklärte Janette. „Seit ihrem Auftritt in der Convocation Hall sind sie sehr bekannt. Deshalb ist der Club zur Zeit auch so gut besucht. Das haben wir nur Ihnen zu verdanken, Corinne. Aus diesem Grund lade ich Sie heute Abend ein. Was möchten Sie trinken?“

„Zu einem Glas Cola würde ich nicht Nein sagen“, murmelte die junge Frau.

Janette stutzte kurz, dann jedoch verschwand sie in die Küche und kehrte einen Augenblick später mit dem gewünschten Getränk an die Theke zurück.

Währenddessen hatte sich Corinne der Bühne zugewandt und lauschte dem Lied, das Jamie, der sie inzwischen erblickt hatte und seine Augen nicht von ihr wenden konnte, sang:

 

Deine Augen sind die schönsten Augen dieser Welt.

du schaust mich an und verzauberst mich,

verwandelst meine Dunkelheit in ein Hoffnungsfeld.

 

Du bist wie der Sonnenschein,

hell und warm,

ein Lichtstrahl in der Finsternis,

verzauberst mich mit deinem Charme.

 

Du schöne Zauberin,

du Königin der Nacht.

Ich bete dich an,

ich gebe dir Macht –

die Macht, mich zu verwandeln,

ich gebe mich dir ganz hin.

Was kann ich anderes tun,

da ich gefangen bin?

 

Du hast mich gefangen mit deinen Augen,

den schönsten Augen dieser Welt.

Doch will ich gar nicht vor dir fliehen,

denn ich weiß, die Zeit mit dir ist nur geliehen.

 

So wie die Sonne zum Tag gehört,

gehörst du in deine Welt und musst gehen.

So wie der Mond zur Nacht gehört,

gehöre ich der Dunkelheit und muss gestehen:

 

Du schöne Zauberin,

du Königin der Nacht.

Ich bete dich an,

ich gebe dir Macht –

die Macht, mich zu verwandeln,

ich gebe mich dir ganz hin.

Was kann ich anderes tun,

da ich gefangen bin?

 

Ich genieße jeden Augenblick mit dir,

denn irgendwann müssen wir uns trennen,

doch bitte glaube mir:

Immer werde ich davon träumen,

dein Gefangener zu sein.

 

Janette beobachtete die beiden jungen Leute und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass zwischen ihnen mehr als bloße Freundschaft im Spiel war. Lucien würde dies bestimmt nicht gefallen, auch wenn er behauptet hatte, nicht eifersüchtig zu sein. Sein Verhalten gestern Nacht ließ andere Schlüsse zu. Aber es war nicht ihre Sache, sich in seine Beziehung zu der jungen Sterblichen einzumischen.

Wie sie vermutet hatte, kam Jamie nach Beendigung seines Liedes zu ihnen an die Theke und wandte sich mit strahlendem Lächeln an das Mädchen.

„Guten Abend, Corinne, schön dich zu sehen“, sagte der Sänger und küsste ihr die Hand. Dann musterte er sie aufmerksam. „Du scheinst bedrückt zu sein. Was ist los?“

„Ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen“, erwiderte die junge Frau und wich seinem Blick aus. Sie starrte in die Cola und versuchte, sich zusammenzureißen. Der Einzige, dem sie sich anvertrauen wollte, war Lucien.

„Aber du kannst mir alles sagen“, meinte Jamie und drückte ihre Hand.

„Lass sie in Ruhe“, ermahnte Janette ihn.

Der Sänger warf ihr einen ärgerlichen Blick zu und wandte sich dann wieder an Corinne.

„Wie hat dir das Lied gefallen?“

„Es war schön und traurig“, murmelte das Mädchen, ohne ihn anzusehen. „Warum nur muss man sich überhaupt trennen? Warum, Jamie? Kannst du es mir sagen?“

„Es ist der Lauf der Welt“, erklärte er in ruhigem Ton. „Man kann nicht Tag und Nacht zusammenkleben. Schließlich ist jeder ein Individuum. Aber Menschen, die sich sehr mögen, sind immer miteinander verbunden – egal, wie weit sie physisch voneinander entfernt sind.“

„Glaubst du das wirklich, Jamie?“ fragte Corinne und sah ihn jetzt mit glänzenden Augen an. „Manchmal zweifle ich daran, dass es sich so verhält.“

„Warum?“

„Mein... mein Freund Thomas... er ist tot... ich habe ihn geliebt, aber... jetzt... er ist fort... so weit fort... ich spüre ihn nicht mehr in meiner Nähe... und früher... nun... ich habe mich immer mit ihm verbunden gefühlt... als er gestorben ist, ist... ist die Verbindung... sie war... einfach weg...“

Corinne hatte dies alles stockend hervorgebracht und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten. Jamie drückte erneut ihre Hand und meinte leise: „Du hast einen Schock erlitten, deshalb kam es dir so vor, als ob die Verbindung zwischen euch so abrupt abgebrochen ist. Aber ich bin mir sicher, dass sie noch besteht.“

„Wie kannst du dir so sicher sein, Jamie?“

„Du leidest immer noch schrecklich unter seinem Tod“, erklärte der Sänger. „Der Gedanke an ihn schmerzt dich sehr, das ist unverkennbar. Du hast ihn noch nicht losgelassen.“

„Aber eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, über seinen Tod hinweg zu sein“, widersprach Corinne. „Sieh mal, Jamie, ich habe mich sogar in Lucien verliebt und bin jetzt mit ihm zusammen. Ist das denn nicht ein Zeichen dafür, dass ich mich von Thomas abgewandt habe?“

„Nein“, widersprach Jamie und schüttelte dabei langsam den Kopf. „Du hast dich in die Arme von Lucien geflüchtet, weil du Halt brauchst. – Natürlich kann es sein, dass du Lucien liebst, aber dennoch hast du den Tod deines ehemaligen Freundes nicht überwunden. Vielleicht solltest du dich nicht so schnell auf eine neue Beziehung einlassen, Corinne.“

„Aber ich bin gern mit Lucien zusammen. Er macht mich glücklich!“

„Dann sprich mit ihm! Er sollte wissen, wie sehr du immer noch unter dem Tod deines Freundes leidest.“

„Er weiß es und er meint, ich solle ruhig weinen, wenn mir danach ist.“

„Lucien hat recht“, sagte Jamie. „Der Schmerz muss raus! Und bitte, hab kein schlechtes Gewissen, weil du wieder jemanden liebst.“

„Danke!“ murmelte Corinne und nahm einen Schluck Cola. Sie beruhigte sich etwas und lächelte nach einer Weile sogar. „Musst du nicht auf die Bühne?“

„Später“, erwiderte Jamie. „Im Moment möchte ich dich nicht allein lassen.“

„Sie ist nicht allein“, mischte sich nun Janette, die dem Gespräch der beiden gelauscht hatte, ein. „Ich bin ja noch da und habe ein Auge auf sie. Du kannst also ruhig wieder hinaufgehen und das tun, weswegen du heute Abend hier bist.“

„Wäre das wirklich in Ordnung für dich?“ fragte Jamie Corinne, ohne Janette anzusehen.

„Natürlich“, sagte das Mädchen und lächelte schwach.

„Also gut, aber ich komme wieder“, versprach der Sänger und verschwand auf die Bühne, wo er gleich darauf ein neues Lied begann. Corinne richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn und die Band, während Janette sie nachdenklich betrachtete. Die Kleine sah ziemlich erschöpft aus. Verständlich, dass Lucien wütend auf Nicholas war, der mit dem Mädchen über den Mord an ihrem Freund gesprochen hatte. Doch diese Tatsache allein konnte kaum der Grund dafür sein, dass sie so aufgewühlt wirkte.

„Es wäre vielleicht besser, wenn Sie nach Hause gehen und sich hinlegen würden“, meinte Janette zu Corinne. Diese wandte sich der Vampirin zu und schüttelte den Kopf.

„Nein, ich kann nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisen immer um dieselben Dinge. Ich wäre jetzt einfach gerne mit Lucien zusammen und hoffe natürlich, dass er heute noch hier auftaucht.“

Janette nickte und schaute dann wieder auf, da es sie interessierte, was die übrigen Gäste machten. Überrascht erkannte sie, dass Nicholas geradewegs auf sie zukam.

„Guten Abend“, sagte er, als er am Tresen stand, und wandte sich dann mit freundlichem Lächeln an Corinne. „Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten, Miss Lambert?“

„Haben Sie denn nichts zu tun?“ antwortete Corinne mit einer Gegenfrage. „Zum Beispiel, den echten Mörder meines Freundes zu finden?“

„Ich weiß, dass es ein unerfreuliches Thema für Sie ist“, sagte Nicholas. „Ich weiß auch, dass Sie sich nicht vorstellen können, dass Ihr ehemaliger Professor der Täter ist, aber ich habe einige interessante Neuigkeiten aus Frankfurt erhalten, die meinen Verdacht erhärten.“

„Tatsächlich?“ fragte Corinne erstaunt und schaute ihn interessiert an.

„Ja, die Kollegen aus Deutschland teilten mir mit, dass Frau Dagmar Teichert zu Protokoll gab, ihr Mann sei in der fraglichen Nacht nicht zu Hause gewesen und sie wisse nicht, wo er sich aufgehalten habe. Zudem hat man seinen angeblich gestohlenen Wagen stark zerbeult auf einem Schrottplatz entdeckt und konnte ihn klar als seinen identifizieren.“

„Das klingt alles merkwürdig, Mr. Knight. Warum findet man diesen Wagen erst jetzt?“

„Das liegt einzig und allein daran, dass vorher keiner auf die Idee gekommen ist, dass Wernher Teichert etwas mit dem Mord an Ihrem Freund zu tun haben könnte. Inzwischen hat sich die Sachlage geändert und in etwa einer Stunde liegt ein Haftbefehl gegen den Herrn Professor vor. Es wird mir und meinem Kollegen Schanke ein Vergnügen sein, Mr. Teichert in Arrest zu nehmen und alles Weitere zu veranlassen, damit er so schnell wie möglich den deutschen Behörden übergeben wird.“

„Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Teichert der Mörder von Thomas sein soll“, murmelte Corinne. „Bestimmt handelt es sich dabei um einen Justizirrtum.“

„Aber alles spricht dafür, dass Teichert Ihren Freund auf dem Gewissen hat. Ihm fehlt das Alibi, niemand weiß, wo er sich zu der fraglichen Zeit aufhielt. Dann das zerbeulte Auto, welches von den Kollegen in Frankfurt gerade auf Spuren untersucht wird – sofern diese nicht schon verwischt sind - und sein reges Interesse an Ihrer Person, Miss Lambert, sowie der Erpressungsversuch.“

„Bitte, Mr. Knight, messen Sie diesen Indizien nicht so viel Aufmerksamkeit bei, sondern finden Sie den echten Mörder meines Lebensgefährten. Ich habe keine Ruhe, solange ich annehmen muss, dass dieser Mensch auf freiem Fuß ist. Hinzu kommt, dass wir das Mordmotiv nicht kennen...“

Das Klingeln ihres Handys unterbrach Corinnes Ausführungen. Sie verspürte ein unruhiges Gefühl in ihrer Brust, als sie den Apparat aufklappte.

 

 

 „Ja?“ fragte sie gespannt.

„Corinne, hier ist Eva“, hörte sie die Stimme ihrer Freundin. „Es ist etwas Schreckliches passiert. Inge wollte sich das Leben nehmen. Wir haben sie gerade noch rechtzeitig gefunden, bevor sie verblutet ist.“

„Nein!“ entfuhr es Corinne erschrocken und sie blickte dabei direkt in die Augen von Nicholas, der sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtete. „Was ist passiert?“

„Das weiß im Augenblick niemand so genau, da Inge immer noch bewusstlos ist.“

„Schwebt sie in Lebensgefahr?“

„Jetzt nicht mehr. Die Blutung konnte noch vor Ort gestoppt werden. Im Krankenhaus erhielt Inge dann eine Transfusion. Sie liegt im Augenblick auf der Intensivstation.“

„Wo bist du jetzt, Eva?“

„Im städtischen Krankenhaus“, erwiderte die Fotografin. „Ich bin als Begleitung mitgefahren, da Inge hier ja niemanden hat. Könntest du gleich herkommen? Ich brauche jemanden zum Reden... ich bin so aufgewühlt!“

„Natürlich! Ich bin in ein paar Minuten bei dir. Bis dann!“

Corinne klappte das Handy zu und erhob sich vom Stuhl.

„Was ist passiert, Miss Lambert?“ fragte Nicholas. „Hoffentlich nichts Schlimmes?“

„Doch... doch...“, stotterte das Mädchen. „Verzeihen Sie, aber ich muss jetzt gehen!“

„Es muss etwas Grauenhaftes vorgefallen sein“, meinte Janette mitfühlend, da sie die Bestürzung der jungen Frau deutlich spüren konnte. „Soll ich Lucien etwas ausrichten, falls er hier auftaucht?“

„Ja... natürlich...“, murmelte Corinne, schien jedoch nicht ganz bei der Sache zu sein. Dann brach sie plötzlich in Tränen aus.

„WAS IST HIER LOS?!“

Die laute Stimme LaCroix’ bewirkte, dass Janette und Nicholas ihre Köpfe der Richtung zuwandten, aus der sie sie hörten. Ihr Meister stand aufrecht vor ihnen und warf ihnen zornige Blicke zu, bevor er sich mit sanfter Stimme zu der jungen Sterblichen hinunterbeugte und fragte: „Was ist los, Corinne? Hat Nicholas dich wieder mit unangenehmen Fragen gequält?“

„Nein, nein...“, schluchzte sie und warf sich in seine Arme. „Inge... Inge hat versucht... sie hat versucht, sich umzubringen...“

„Was?“ entfuhr es nun Nicholas und er sprang vom Stuhl. „Inge ist doch die zierliche, blonde Frau, die bei Professor Teichert arbeitet, nicht wahr?“

„Das ängstliche Mädchen, das sich in deiner Begleitung befand, als du das erste Mal das Raven besucht hast?“ fragte LaCroix leise, worauf Corinne wortlos nickte und ihr Gesicht in seine Brust vergrub, wo sie unentwegt weiterschluchzte. Er strich ihr zärtlich durch die Haare und ließ sie gewähren.

„Weiß man, warum sie es getan hat?“ wollte Nicholas nach einer Weile wissen, als Corinne etwas ruhiger zu werden schien.

„Nein“, brachte die junge Frau mühsam hervor, nahm dann das Taschentuch, das Lucien ihr reichte, und trocknete sich damit die Augen. Ihren Kopf immer noch an die Brust ihres Freundes gelehnt, wandte sie sich Nick zu. „Es hat bestimmt etwas mit diesem Mistkerl Teichert zu tun. Inge ist verliebt in ihn... ich hätte mich einfach mehr um sie kümmern sollen... es ist alles meine Schuld...“

„Das ist doch Unsinn, Corinne“, widersprach LaCroix.

„Ganz meine Meinung“, bekräftigte Nicholas. „Dieser Teichert hat Ihre Bekannte behandelt wie den letzten Dreck. Ich habe es selbst mitbekommen. Wenn sich einer Vorwürfe machen müsste, dann ist es Ihr ehemaliger Professor!“

„Vielleicht weiß Eva mittlerweile mehr“, murmelte das Mädchen und löste sich aus Luciens Armen. „Sie wartet im städtischen Krankenhaus auf mich und eigentlich wollte ich längst bei ihr sein. Entschuldigt bitte, aber ich muss jetzt gehen!“

„Ich begleite dich selbstverständlich!“ sagte LaCroix in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, wie Nicholas verärgert registrierte. Doch Corinne schien sich nicht daran zu stören. Sie nickte und schien froh über die Begleitung des alten Vampirs zu sein.

„Ich komme mit!“ verkündete der Polizist daraufhin ebenfalls, was ihm einen erstaunten Blick der jungen Frau und einen ärgerlichen seines Meisters eintrug.

„Warum denn, Mr. Knight?“ fragte das Mädchen.

„Mir geht das Schicksal Ihrer Bekannten ziemlich nah, Miss Lambert“, erklärte Nick.

Diese Worte ließen Janette überrascht aufhorchen.

„Du kennst diese Frau doch gar nicht, Nicholas!“ bemerkte sie mit harter Stimme und beäugte ihn äußerst misstrauisch. In ihrer Erinnerung tauchte das Bild der kleinen Blondine auf und sie musste sich selbst ärgerlich eingestehen, dass es ein äußerst apartes Mädchen war.

„So, wie ich es sehe, scheint diese junge Frau dringend Hilfe zu brauchen“, sagte Nick. „Vielleicht ist sie mittlerweile wach und froh, mit einem Menschen sprechen zu können.“

„Dann sind Eva und ich da“, wies Corinne ihn zurecht.

„Verzeihen Sie, Miss Lambert“, erwiderte der Polizist. „Aber ich muss darauf bestehen, Sie ins Krankenhaus zu begleiten. Immerhin könnte mir Ihre Bekannte wichtige Detailinformationen über Teichert liefern.“

„Inges Selbstmordversuch hat nichts mit Ihren absurden Untersuchungen zu tun“, widersprach die junge Frau ärgerlich.

„Das kann ich erst beurteilen, wenn ich mit Inge gesprochen habe, Miss Lambert.“

Bevor Corinne etwas darauf erwidern konnte, wandte LaCroix sich an sie und meinte: „Vielleicht hat Nicholas recht. Soll er uns doch ruhig begleiten; und wenn deine verzweifelte Freundin tatsächlich wach ist und sich mit ihm unterhalten will, spricht nichts dagegen, oder?“

„Ich möchte nur nicht, dass Sie sie aufregen, Mr. Knight“, ermahnte Corinne ihn mit bösem Blick, während sie sich in einen Arm Luciens einhakte und so ihre Zugehörigkeit zu diesem demonstrierte.

„Keine Sorge, Miss Lambert, ich werde sehr behutsam sein“, versprach Nicholas.

Ein paar Minuten später saßen alle drei in seinem Wagen und fuhren Richtung Krankenhaus.

***

Eva erwartete ihre Freundin bereits im Vorraum der Klinik. Sie war kaum erstaunt, dass diese mit ihrem neuen Freund erschien. Allerdings hatte sie den anderen Mann, der sich in ihrer Begleitung befand, nicht erwartet.

„Gibt es etwas Neues?“ fragte Corinne.

„Wie bereits gesagt, befindet Inge sich außer Lebensgefahr“, antwortete Eva, die sehr blass aussah.

„Schläft sie immer noch?“ wollte Nicholas wissen.

Die Fotografin musterte ihn und blickte dann fragend zu ihrer Freundin.

„Mr. Knight war gerade bei mir, als dein Anruf kam, und hat uns hergefahren“, erklärte Corinne.

„Ja, und außerdem gehöre ich zur hiesigen Polizei und interessiere mich für die Person Wernher Teicherts“, führte Nicholas weiter aus. „Vielleicht könnte Ihre Freundin Inge mir einiges über diesen Herrn berichten.“

„Schlecht möglich, da sie derzeit nicht ansprechbar ist“, meinte Eva. Dann wandte sie sich an Corinne. „Ich muss dich unter vier Augen sprechen. Lass uns kurz in den Aufenthaltsraum gehen. Er ist zur Zeit leer.“

„Natürlich!“ erwiderte Corinne und löste ihren Arm aus demjenigen Luciens, dem sie zumurmelte: „Entschuldige bitte!“

„Schon gut“, sagte er und lächelte.

Die beiden jungen Frauen verschwanden in einem kleinen Zimmer, das sich in der Nähe befand, so dass sich LaCroix mit Nicholas allein im Flur des Krankenhauses befand.

„Einer der seltenen Augenblicke, in denen wir uns einig sind“, meinte der alte Vampir.

Nick sah ihn misstrauisch an und fragte: „Wie meinst du das?“

„Nun ja, wir beide halten diesen Teichert für einen schlechten Menschen“, erklärte LaCroix sachlich.

„Es gibt mir schon zu denken, dass du auf meiner Seite bist“, sagte Nick. „Warum warst du vorhin eigentlich dafür, dass ich mit dieser Inge spreche? Miss Lambert hatte doch etwas dagegen.“

„Ich bin nicht auf deiner Seite, ich wollte nur verhindern, dass Corinne sich noch mehr aufregt“, antwortete Lucien mit ruhiger Stimme. „Außerdem war abzusehen, dass ihre Bekannte nicht wach sein würde. Sicherlich haben die Ärzte das Mädchen mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Die Fahrt hierher war für dich also unnötig.“

„Nicht ganz, LaCroix. Immerhin konnte ich damit verhindern, dass Miss Lambert mit dir allein ist.“

„Ach, Nicholas, das ist so albern. Falls es dir entgangen sein sollte: Ich mag Corinne sehr gern! Genau aus diesem Grund würde ich ihr kein Haar krümmen!“

„Ein Haar vielleicht nicht, aber eine kleine Verletzung in der Nähe ihrer Halsschlagader könnte schon drin sein, nicht wahr? - Wo warst du übrigens die ganze Zeit, während Miss Lambert auf dich im Raven gewartet hat?“

„Ich habe mit einem Bekannten zu Abend gespeist“, erwiderte Lucien und grinste Nicholas an. „Wir hatten übrigens ein echtes Mahl wie es sich für Vampire geziemt.“

„Hats geschmeckt?“ fragte Nick mit angeekeltem Gesichtsausdruck.

„Wir sind beide satt geworden“, bestätigte LaCroix und nickte. „Deine Besorgnis um Corinnes Sicherheit war also völlig unnötig.“

„Als ob es der Hunger allein wäre, der dich töten lässt“, flüsterte Nick ihm wütend zu.

Sein Meister grinste und murmelte: „Du kennst mich gut, mein Sohn.“

„Verdammt, nenn mich nicht so!“

„Aber warum denn nicht, Nicholas? Du bist für mich so etwas wie mein Sohn, denn ich habe dich zu dem gemacht, was du heute bist – ein Vampir!“

„Eines Tages werde ich mich für immer von dir befreien, LaCroix!“

„Das ist eine Illusion, Nicholas“, wisperte der alte Vampir mit spöttischem Lächeln. „Eines Tages wirst du dies endlich einsehen müssen. Es gibt keine Erlösung für uns, höchstens gute Gefährten...“

*

Während die beiden Vampire im Flur geblieben waren, hatten sich Eva und Corinne in den Aufenthaltsraum zurückgezogen. Die Fotografin holte ihr Mobiltelefon aus der Handtasche und wandte sich an ihre Freundin: „Hör dir mal die Nachricht an, die ich mir gegen zwei Uhr nachmittags, als ich wieder Ruhe hatte und das Handy einschaltete, über die Mail-Box abgerufen habe.“

Damit drückte Eva auf einen Knopf und hielt Corinne den Apparat ans Ohr. Letztere erkannte kurz darauf Inges Stimme, die irgendwie leer klang:

 „Hallo, Eva, hier ist Inge. Schade, dass ich nicht mehr persönlich mit dir sprechen kann. Doch ich wollte nicht gehen, ohne mich wenigstens von dir zu verabschieden. Danke, dass ich dir so wichtig war, dass du mich vor Wernher gewarnt und mir sogar deine Hilfe angeboten hast.

Natürlich hattest du mit allem, was du sagtest, recht – aber ich liebe Wernher und kann ohne ihn nicht leben. – Bitte grüß auch Corinne von mir. Ihr beiden wart hier wirklich sehr nett zu mir und falls ich eine von euch verletzt haben sollte, tut mir das leid. Alles Gute für euch. Lebt wohl!“

Corinne starrte ihre Freundin sprachlos an. Diese nickte und klappte ihr Handy zu.

„Ich hatte bereits ein ungutes Gefühl, während ich mir diese merkwürdige Botschaft anhörte“, sagte Eva. „Also verlor ich keine Zeit und fuhr sofort in das Hotel, in dem Inge wohnt. Nachdem ich den gerade anwesenden Portier darüber informierte, dass ich eine Art Notruf von Frau Riedel erhalten habe, begleitete dieser mich auf ihr Zimmer. Wir fanden Inge dann im Bad mit aufgeschnittenen Pulsadern. Sie hatte zwar schon viel Blut verloren, aber der Portier war so geistesgegenwärtig, zuerst den Hotelarzt zu rufen, der die Blutung sofort stoppen konnte. Danach kam gleich der Rettungswagen und brachte Inge ins Krankenhaus. Sie ist dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen.“

„Mein Gott, ich hätte nie gedacht, dass sie sich etwas antun könnte“, flüsterte Corinne und begann sofort wieder zu weinen. Auch Eva bekam feuchte Augen, beherrschte sich aber. Sie wartete ein paar Minuten, bis ihre Freundin sich etwas beruhigt hatte, und meinte dann: „Teichert ist schuld an ihrem Selbstmordversuch. Das verrät der Satz  >Ich liebe Wernher und kann ohne ihn nicht leben< doch ganz genau. Was hat dieses Arschloch Inge nur angetan, dass sie derart verzweifelt war und keinen anderen Ausweg als den Tod sah?“

„Ach, Eva, ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich Inges Schwärmerei für Teichert nicht so ernst genommen habe. Warum nur habe ich mich nicht mehr um sie gekümmert? Dann wäre sie vielleicht niemals so verzweifelt gewesen... sie muss sich sehr allein gefühlt haben...“

„Du bist nicht daran schuld, Corinne“, sagte Eva mit fester Stimme. „Inge ließ doch niemanden an sich heran. Erst kürzlich sprach ich mit ihr wegen ihrer Liebe zu Teichert und sie leugnete es vehement ab, etwas mit ihm zu haben. Dabei konnte ich ihr an der Nasenspitze ablesen, wie überaus unangenehm ihr dieses Thema war.“

„Glaubst du etwa, der alte Schleimbeutel hatte eine Affäre mit ihr?“ fragte Corinne und starrte ihre Freundin ungläubig an.

„Natürlich! Ich habe Inge genau beobachtet“, antwortete Eva. „Sie war bis über beide Ohren verliebt in Teichert und ließ ihn kaum aus den Augen. Er jedoch würdigte sie keines Blickes, obwohl er früher dauernd mit ihr herumgeflirtet hat. Ein deutlicheres Zeichen, dass er mittlerweile sein Ziel bei ihr erreicht hat, kann es kaum geben. Wahrscheinlich machte er ihr klar, dass sein Interesse an ihr erloschen war – und Inge hat die Nerven verloren.“

„Und in ihrer Not fand sie keinen Freund...“, murmelte Corinne.

„Ja, sie kann einem wirklich leid tun“, meinte Eva und schüttelte traurig den Kopf. „Ausgerechnet heute musste ich den Vortrag halten und hatte deshalb das Handy ausgeschaltet. Aber wer ahnt denn schon, dass so etwas passiert?“

„Wie können wir ihr helfen?“

„Das müssen wir abwarten, Corinne. Bis jetzt weiß niemand, was genau passiert ist.“

„Hat sie denn keinen Abschiedsbrief oder etwas Ähnliches geschrieben?“

Eva schüttelte den Kopf und erwiderte: „Inge schwebte in Lebensgefahr. Da verschwendet man keinen Gedanken an solche Dinge.“

„Natürlich nicht, du hast recht...“

In eben diesem Augenblick klopfte es gegen die Tür und die beiden jungen Frauen wandten erschrocken ihre Köpfe in deren Richtung. Im Rahmen stand Nicholas und lächelte verlegen.

„Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich hätte noch ein paar Fragen an Ihre Freundin, Miss Lambert“, erklärte er.

Die Angesprochene wechselte einen fragenden Blick mit Eva. Diese nickte dem Polizisten zu.

„Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann tue ich es gerne, Mr. Knight.“

„Dann lasse ich euch am besten allein“, meinte Corinne und erhob sich.

„Nein, nein, Sie können ruhig alles hören“, sagte Nick rasch, doch die junge Frau schüttelte leicht den Kopf und eilte hinaus. Besorgt sah er, wie sie zu LaCroix ging. Da er im Moment nichts dagegen tun konnte, zwang er sich, seine Aufmerksamkeit der jungen Fotografin zuzuwenden, die ihn aufmerksam betrachtete.

„Nun, Mr. Knight, was wollen Sie wissen?“ fragte sie ihn direkt.

Er ließ sich ihr gegenüber nieder.

„Ihre Freundin Inge tut mir überaus leid“, begann er. „Sie scheint ein sehr sensibles Mädchen zu sein. Am Sonntagabend habe ich beobachten können, wie sie von diesem Teichert abgekanzelt wurde. Könnte es sein, dass ihr Suizidversuch unmittelbar damit zusammenhängt, Miss Hoffmann?“

„Das könnte durchaus sein, Mr. Knight“, erwiderte die Fotografin. „Allerdings weiß ich nicht genau, was vorgefallen ist. Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang sinnvoller, Teichert selbst zu befragen.“

„Natürlich werde ich mir diesen Herrn vorknöpfen“, versprach Nicholas und sein Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken an den Professor. „Sie haben doch auch bei ihm studiert, nicht wahr?“

„Nur einige Pflichtseminare“, sagte Eva.

„Dennoch können Sie mir bestimmt etwas über seinen Charakter berichten, oder?“

„Was genau interessiert Sie, Mr. Knight?“

„Man erzählte mir, dass er sehr großes Interesse an seinen Studentinnen zeigte und mit ihnen... hm... engere Beziehungen einging.“

„Das ist richtig! Es war ein offenes Geheimnis“, bestätigte Eva.

„Warum hat denn keiner seiner Fachkollegen oder die Universitätsleitung etwas gegen ihn unternommen?“ fragte Nicholas erstaunt.

Die Fotografin lachte verhalten und antwortete dann: „Sind Sie wirklich so weltfremd, Mr. Knight? Er gilt in seinem Fach als Kapazität und kommt mit seinen Kollegen bestens aus. Solange es keinerlei Beschwerden über ihn gibt, interessiert man sich nicht für seine kleinen Affären. Glauben Sie, dass er der einzige Mann an der Universität ist, der sich für seine weibliche Umwelt interessiert? Niemand an der Hochschule hat ein Interesse daran, sich mit derlei Dingen zu befassen. Das würde nur dem Ruf der Universität schaden.“

„Das ist wirklich unglaublich!“ entfuhr es Nicholas. „Dieser Mann kann also machen was er will, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden. Weshalb setzen sich die Studentinnen gegen einen solchen Typ nicht zur Wehr?“

„Weil den meisten von ihnen sein Interesse an ihrer Person überaus schmeichelt“, erklärte Eva geduldig. „Außerdem kann er durchaus charmant sein, sonst hätte er nicht so viele Affären.“

Nicholas schnaubte ärgerlich.

„Weshalb interessieren Sie sich eigentlich für Teichert?“ wollte die junge Frau wissen und musterte den Polizisten aufmerksam. „Hat er etwas angestellt?“

„Könnte man so sagen“, gab Nick zu. „Ist er denn schon darüber informiert worden, dass seine Assistentin hier im Krankenhaus liegt?“

„Keine Ahnung“, meinte Eva. „Ich nehme an, dass sich die Hotelleitung darum kümmert.“

„Gut, dann vielen Dank erst Mal, Miss Hoffmann.“

„Keine Ursache“, erwiderte die Fotografin und erhob sich. Zusammen mit Nicholas trat sie in den Flur hinaus, um zu Corinne und LaCroix zurückzukehren. Aber die beiden waren nirgendwo zu sehen.

„Verdammt!“ entfuhr es Nick. „Sie sind weg!“

„Das ist merkwürdig“, meinte Eva. „Normalerweise ist es nicht Corinnes Art, einfach zu verschwinden, ohne sich zu verabschieden. Vielleicht sind die beiden ja draußen und warten auf uns.“

Ohne davon überzeugt zu sein, folgte Nicholas der jungen Frau aus dem Krankenhaus. Umso überraschter war er, dass er unweit des Eingangs auf einer Bank LaCroix sitzen sah, an dessen Schulter sich Corinne angelehnt hatte. Als er und Eva näher auf die beiden zugingen, sah er, dass Nathalies Cousine schlief.

„Was ist mit ihr?“ Eva schaute besorgt auf ihre Freundin.

„Der Selbstmordversuch eurer gemeinsamen Bekannten sowie die Tatsache, dass die Untersuchung über den Tod ihres Freundes wieder aufgenommen wurde, hat sie ziemlich erschüttert“, erklärte LaCroix mit ruhiger Stimme.

„Der Unfall von Thomas wird nochmals untersucht?“ fragte Eva verständnislos. „Warum denn das?“

„Fragen Sie doch den Mann, der neben Ihnen steht“, erwiderte der alte Vampir verärgert. „Er hat dies nämlich zu verantworten.“

„Bitte, Mr. Knight, was soll das?“ wandte sich die Fotografin daraufhin an Nick.

„Es gibt Hinweise darauf, dass Herr Marquardt ermordet worden ist“, erklärte er.

„WAS?!“ Eva starrte den Polizisten entsetzt an. Mitleidig blickte sie dann erneut auf ihre schlafende Freundin und murmelte: „Kein Wunder, dass Corinne völlig fertig ist.“

„Am besten ist es, wenn ich Sie und Miss Lambert nach Hause fahre“, bot Nick sofort an. „Sie sehen auch so aus, als könnten Sie ein wenig Erholung gebrauchen, Miss Hoffmann.“

„Das ist nett, aber ich werde die Nacht im Krankenhaus verbringen“, erwiderte Eva. „Wenn Inge wach wird, möchte ich so schnell wie möglich bei ihr sein, damit sie merkt, dass sie nicht allein ist.“

„Gut, das verstehe ich“, sagte Nick. „Aber Miss Lambert scheint vollkommen erschöpft zu sein...“

„Ich kümmere mich schon um Corinne“, brummte LaCroix missmutig. „Du kannst also ruhig deinen Pflichten nachgehen, Nicholas. Wir brauchen dich nicht.“

„Auf keinen Fall lasse ich die junge Dame allein in deiner Obhut“, protestierte Nick mit etwas lauterer Stimme, so dass Corinne, deren Schlaf ohnehin leicht gewesen war, erwachte.

„Was ist los?“ murmelte sie und brauchte einen Moment, um sich wieder in der Gegenwart zurechtzufinden. Sie hob ihren Kopf von LaCroix’ Schulter und ermahnte Nick mit leiser Stimme: „Schreien Sie hier nicht so herum, Mr. Knight! Es ist Nacht und wir befinden uns in der Nähe eines Krankenhauses.“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Nick. „Kann ich Sie nach Hause bringen?“

„Nein, ich bleibe hier“, antwortete Corinne und schaute zu Eva. „Vielleicht werde ich noch gebraucht.“

„Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich schon um Inge“, meinte ihre Freundin in beruhigendem Ton. „Aber du solltest jetzt wirklich heimgehen und dich ausruhen. Du wirkst sehr erschöpft, Corinne.“

„Aber ich will auch für Inge da sein“, protestierte das Mädchen schwach.

„Natürlich willst du das“, mischte sich nun LaCroix mit sanfter Stimme ein. „Ich warte gerne hier mit dir.“

Bevor Eva oder Nicholas etwas dazu sagen konnten, warf er beiden einen warnenden Blick zu, worauf sie schwiegen. Corinne hingegen schien zufrieden zu sein, lehnte ihren Kopf wieder an die Schulter des alten Vampirs und schloss die Augen. Einige Sekunden später schlief sie erneut. LaCroix schaute sie zärtlich an, dann wandte er sich den beiden anderen zu und flüsterte: „Wie schon gesagt, ich kümmere mich um sie. - Gehen Sie ruhig in die Klinik zurück, Eva, aber versprechen Sie mir, Corinne anzurufen, sobald Ihre gemeinsame Bekannte erwacht ist.“

„Das mache ich“, wisperte Eva, strich ihrer Freundin noch einmal über die Wange und meinte: „Versprechen Sie mir, dafür zu sorgen, dass Corinne sich ausruht?“

LaCroix nickte, worauf sich die Fotografin zurück in die Klinik begab. Nicholas jedoch rührte sich nicht von der Stelle.

„Was ist?“ fragte der alte Vampir leise. „Hast du nichts zu tun?“

„Im Moment sehe ich es als meine Pflicht an, Nathalies Cousine zu beschützen“, antwortete Nick. „Und ich lasse dich auf keinen Fall allein mit ihr!“

„Wenn es dir Spaß macht“, meinte LaCroix gleichmütig, wandte sich dann Corinne zu und drückte sie fester an sich, da sie zu zittern begann.

Nicholas beobachtete seinen Meister irritiert. Er verhielt sich der jungen Frau gegenüber äußerst fürsorglich. Diese Seite an ihm war ihm völlig fremd.

„Es ist jetzt doch recht kühl geworden“, meinte LaCroix einen Augenblick später. „Wird Zeit, die Kleine nach Hause zu bringen.“

Der alte Vampir nahm das schlafende Mädchen auf seine Arme und erhob sich.

„Wir fahren mit meinem Wagen!“ sagte Nicholas in forderndem Ton, was ihm einen bösen Blick seines Meisters eintrug. Dieser starrte ihn einen Moment lang an und nickte dann.

„Gut, ich bin einverstanden“, gab LaCroix nach. „Aber nur, weil ich befürchte, dass Corinne sich während des Flugs erkälten könnte.“

Diese Antwort verblüffte Nicholas erneut. Mit leicht geöffnetem Mund blickte er nun seinerseits den alten Vampir an, dann wandte er sich um und ging wortlos zu seinem Wagen. Er öffnete die Tür und murmelte: „Setz Miss Lambert auf den Vordersitz.“

Doch als niemand seiner Aufforderung Folge leistete, drehte er sich verwundert um.

LaCroix war mit Corinne verschwunden...

 

 

Versteckt im Schatten hinter einer Krankenhausfassade beobachtete LaCroix, wie Nicholas sich suchend nach ihnen umsah, dann laut fluchte und endlich mit seinem Wagen davonfuhr.

Erst danach machte sich der alte Vampir auf den Weg zu dem Haus, in dem sich das Appartement befand, das er gemietet hatte. Da es in der Nähe des Krankenhauses war, konnte er Corinne, die immer noch in seinen Armen schlief, zu Fuß dorthin tragen.

Als er mit ihr die Wohnung betrat, setzte er sie behutsam auf das Bett, befreite sie vorsichtig von ihrem Mantel, den er achtlos auf einen der Stühle warf, die in der Nähe standen, und ließ ihren Körper dann auf die Tagesdecke gleiten, mit der die Schlafstätte abgedeckt war.

Während er sich nun daranmachte, ihr die Schuhe auszuziehen, warf er immer wieder einen nachdenklichen Blick auf die junge Frau. Im Schein der Nachttischlampe wirkte ihr Gesicht sehr blass und war noch immer feucht von all den Tränen, die sie heute Abend vergossen hatte. Der Selbstmordversuch ihrer Bekannten hatte ihr nach all dem Schmerz über die Erinnerung an den Tod ihres früheren Lebensgefährten den Rest gegeben. Sie war keineswegs so stark wie sie immer vorgab zu sein.

„Mein armer Liebling“, flüsterte LaCroix, beugte sich über die Schlafende und küsste sie auf die Stirn. Ihn überkam dabei plötzlich so viel Zärtlichkeit zu ihr, dass er wünschte, sie würde nie wieder von seiner Seite weichen. Was hinderte ihn eigentlich daran, seinen Wunsch in die Tat umzusetzen? Sie schlief und würde sicherlich kaum etwas merken...

Schon saugten sich seine Lippen an ihrem Hals fest und er biss leicht in ihre Haut, ohne sie jedoch mit seinen Zähnen zu verletzen.

Corinne stöhnte kurz auf.

LaCroix hielt einen Moment inne, aber sie schien nicht erwacht zu sein. Erleichtert darüber bohrte er jetzt sachte seine Zähne in ihren Hals und fing die ersten Tropfen ihres Blutes mit der Zunge auf. Ungeachtet der Tatsache, dass er heute schon getrunken hatte, überkam ihn wilde Gier nach dem roten Lebenssaft und er saugte nun heftiger am Hals seiner Geliebten.

Einen Augenblick später schrie sie schmerzhaft auf und schlug nach ihm. Sofort ließ er von ihr ab und drehte sein Gesicht zur Seite, um eventuelle Spuren der begonnenen Blutmahlzeit vor ihr zu verbergen.

Corinne blinzelte einen Augenblick orientierungslos, erblickte den Rücken Luciens, der auf der Bettkante saß, und fragte leise: „Wo bin ich?“

„In unserem Appartement, Liebling“, antwortete er im Flüsterton, wobei er sich mit einem Taschentuch seinen Mund sauber wischte.

„Aber... aber, ich wollte doch...“

„Scht... nicht aufregen, kleiner Schmetterling“, wisperte er in ruhigem Ton und wandte ihr nun wieder sein Gesicht zu, während er sich erneut über sie beugte. Sie musterte ihn aufmerksam, dann strich sie mit einer Hand zärtlich über seine Wange und seufzte.

„Oh, Lucien, ich hatte eben einen schrecklichen Traum.“

„So? Was hast du denn geträumt?“

„An eine genaue Handlung kann ich mich nicht erinnern, aber bevor ich erwachte, hatte ich das Gefühl, ein Raubtier zerreißt meine Kehle. Es tut immer noch weh...“

Bei diesen Worten fuhr sie unwillkürlich mit der anderen Hand an die schmerzende Stelle, bemerkte mit Entsetzen, dass es dort feucht war, und betrachtete dann mit aufgerissenen Augen das Blut an ihren Fingern.

„Was ist das?“ entfuhr es ihr und der alte Vampir spürte deutlich ihren heftigen Herzschlag. „Himmel, Lucien, blute ich sehr stark?“

„Nein, nein“, erwiderte LaCroix in sanftem Ton und streichelte ihr über den Kopf. „Es ist kaum etwas zu sehen. Du musst dir irgendwo eine kleine Verletzung zugezogen haben, nichts Ernstes. Tut es sehr weh?“

„Ach, es geht“, meinte Corinne, die sich zu beruhigen schien. „Ich war nur so erschrocken...“

„Kein Wunder, nach allem, was du zur Zeit durchmachst“, sagte Lucien. „Schlaf noch ein bisschen.“

„Was ist mit Inge?“

„Eva hat versprochen, dass sie dich anruft, wenn es etwas Neues gibt. Zerbrich dir im Moment nicht den Kopf über deine Bekannte. Sie ist außer Lebensgefahr.“

„Oh, Lucien, ich gewinne langsam den Eindruck, dass ich mir nahe stehende Menschen in Gefahr bringe“, murmelte sie, wandte dann ihr Gesicht von ihm ab und weinte leise.

„Wie kommst du denn nur auf einen solchen Unsinn?“ fragte er und strich ihr behutsam über das Haar.

„Erst Thomas... jetzt Inge...“, schluchzte sie leise. „Wer weiß, was als nächstes passiert?“

„Nichts wird passieren, Liebling“, redete er beruhigend auf sie ein. „Du kannst weder etwas dafür, dass dein Partner ums Leben kam, noch trägst du die Schuld daran, dass sich deine Bekannte umbringen wollte. – Jetzt beruhige dich doch, Corinne. Alles wird wieder gut.“

„Weißt du noch, Lucien, worüber wir in deiner letzten Sendung gesprochen haben?“

„Ja, meine Schöne, aber du solltest jetzt schlafen“, ermahnte er sie liebevoll. „Wir können uns ein andermal darüber unterhalten.“

„Wir sprachen vom Tod...“

„Scht... schlaf jetzt, mein Liebling...“

„Leben und Tod gehören zusammen...“

„Corinne, bitte beruhige dich doch. Vergiss im Moment Mal die Sendung!“

„Was passiert mit Selbstmördern?“

„Inge lebt! Bitte, vergiss sie doch Mal für eine Weile.“

„Das kann ich nicht. Immer wieder frage ich mich, ob ich es nicht hätte verhindern können“, sagte das Mädchen und blickte mit verheulten Augen zu LaCroix hoch.

„Wie hättest du diesen Selbstmordversuch verhindern können, mein Liebling? Als ich sie das erste Mal sah, hatte ich nicht den Eindruck, dass ihr beiden gut miteinander befreundet seid. Außerdem glaube ich, dass sie schwer jemanden an sich heranlässt.“

„Ja, das stimmt allerdings“, gab Corinne zu. Sie spürte die Wärme von Luciens Hand, die sanft immer wieder über ihr Gesicht strich und dazu beitrug, dass sie sich allmählich etwas besser fühlte; doch ihr schlechtes Gewissen blieb. „Genau deswegen mache ich mir ja solche Vorwürfe. Ich kannte sie doch! Ich hätte sehen müssen, dass sie in einer Notlage war... aber ich war so egoistisch! Hab immer nur an mich gedacht!“

„Bitte, ma chère, hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Du hättest es nicht verhindern können, glaub mir“, raunte LaCroix ihr zu. Seine dunkle Stimme sowie seine zärtliche Geste verfehlten nicht ihre Wirkung. Corinne wurde ruhiger und er fuhr kurz danach in leicht ironischem Ton fort: „Wenn du nicht damit aufhörst, dich selbst anzuklagen, muss ich mir ernsthafte Sorgen um dich machen, Liebling. Findest du nicht, dass es auch sehr egoistisch von dir ist, deinen Lucien so zu quälen?“

Die junge Frau lachte ein wenig und griff nach seiner Hand, die auf ihrem Gesicht ruhte, führte sie zu ihren Lippen und küsste sie.

Ermutigt durch ihre Initiative beugte sich der alte Vampir tiefer zu ihr herab, begehrte mit seinem Mund Einlass in ihren und fand ihn. Sein heftiges Verlangen, sich in diesem Augenblick mit ihr zu vereinen, übertrug sich auf Corinne und lenkte sie vorerst von ihren schwarzen Gedanken ab...

***

Als Nick ins Revier zurückkehrte, wurde er schon sehnsüchtig von seinem Kollegen erwartet.

„Da bist du ja endlich!“ begrüßte ihn Schanke und wedelte mit einem Papier. „Hier ist der Haftbefehl für Mr. Teichert. Lass uns endlich zu ihm fahren und es hinter uns bringen. Die Sache ist unangenehm genug.“

Die beiden Polizisten machten sich auf den Weg ins Hotel, in dem Teichert und seine beiden Assistenten gemeldet waren. Als sie sich beim Portier nach dem Professor erkundigten, erfuhren sie zu ihrem Erstaunen, dass dieser noch außer Haus sei.

„Wann ist Mr. Teichert denn weggegangen?“ fragte Nicholas.

„Kurz vor zwölf“, berichtete der Portier.

„Wissen Sie auch, wohin er gegangen ist?“

„Es ist nicht üblich, dritten Personen Auskunft über unsere Gäste zu erteilen“, antwortete der Hotelangestellte etwas von oben herab.

„Vielleicht ändert das Ihre Meinung?“ erwiderte Nick und hielt ihm seinen Dienstausweis vor die Nase. Schanke tat es ihm gleich.

„Polizei?“ fragte der Portier misstrauisch. „Ich verstehe nicht ganz. Was wollen Sie von einem so renommierten Wissenschaftler wie Herrn Professor Teichert?“

„Das teilen wir dem feinen Herrn schon selbst mit“, ließ sich nun Schanke vernehmen, dem das vornehme Gehabe des Mannes hinter der Rezeption auf die Nerven ging. „Also, wohin ist Mr. Teichert gegangen?“

„Er wollte auf den Fachkongress“, verriet ihm der Portier etwas widerwillig.

„Der Kongress begann bereits vormittags“, meinte Nick daraufhin. „Warum verließ Teichert erst so spät das Hotel?“

„Woher soll ich das wissen?“ antwortete der Portier ungehalten. „Wir pflegen unsere Gäste nicht auszufragen. Aber vielleicht kann Ihnen Mr. Fernandez weiterhelfen? Er ist ein enger Mitarbeiter von Herrn Professor Teichert und befindet sich im Haus.“

„Dann melden Sie uns bitte bei ihm“, sagte Nick.

„Natürlich“, versprach der Hotelmitarbeiter, wählte eine Telefonnummer und teilte kurz darauf seinem Gesprächspartner mit: „Hier sind zwei Herren von der Polizei, die einige Fragen an Sie haben, Mr. Fernandez. Soll ich sie zu Ihnen hinaufschicken?“

Mit ausdruckslosem Gesicht hörte sich der Portier die Antwort an, legte dann auf und teilte Nick und Schanke mit: „Mr. Fernandez wird gleich bei Ihnen sein. Nehmen Sie bitte solange dort drüben Platz.“

Damit wies er auf eine edle Couchgarnitur in der Mitte der Hotelhalle. Die beiden Polizisten ließen sich dort nieder und warteten. Einige Minuten später erschien Michael bei ihnen.

„Entschuldigen Sie, aber ich hatte mich gerade geduscht, als der Portier mich über Ihre Anwesenheit informierte“, erklärte der junge Mann und setzte sich ihnen gegenüber. „Was kann ich für Sie tun, meine Herren?“

„Wir suchen Professor Teichert“, erwiderte Nick daraufhin und betrachtete ihn prüfend. „Wissen Sie vielleicht, wo er sich derzeit aufhält?“

„Ist er denn nicht in seinem Zimmer?“ fragte Michael erstaunt.

„Wenn das der Fall wäre, säßen wir bestimmt nicht hier mit Ihnen herum“, antwortete Schanke giftig und brachte damit überdeutlich zum Ausdruck, dass er das Gespräch mit Fernandez für reine Zeitverschwendung hielt.

Nicholas warf seinem Kollegen einen ärgerlichen Blick zu, bevor er sich wieder Michael zuwandte.

„Demnach wissen Sie also nicht, wo wir ihn finden können?“

„Nein, Mr. Knight, tut mir leid.“

„Vielleicht wissen Sie vielleicht, wo er gegen 12.00 Uhr mittags war?” fragte Nick weiter. „Der Portier behauptet, Ihr Chef wäre auf dem Weg zum Kongress gewesen.“

„Ja, er war da“, bestätigte Michael. „Wir haben uns dort getroffen und sind mittagessen gegangen.“

„Und danach?“

„Wir haben uns zusammen die Vorträge am Nachmittag angehört und dann getrennt. Ich glaube, mein Chef wollte noch etwas trinken gehen. Genaueres hat er mir aber nicht verraten. Doch vielleicht kann Ihnen meine Kollegin, Frau Riedel, helfen?“

„Das glaube ich kaum, Mr. Fernandez! Inge Riedel liegt im Krankenhaus und ist nicht ansprechbar“, klärte Nicholas ihn auf.

Diese Nachricht ließ Michael von seinem Sitzplatz aufspringen. Er starrte Nick überrascht an.

„Sie ist im Krankenhaus?“ rief er dann aus, ohne auf seine Umgebung zu achten. „Was genau ist passiert?“

„Es hat den Anschein, als ob Ihre Kollegin sich das Leben nehmen wollte.“

„NEIN!“ entfuhr es Michael und Schanke gleichzeitig.

Diesmal sah sich der Portier genötigt, einen Angestellten zu ihnen zu schicken und sie darum zu bitten, aus Rücksicht auf die anderen Gäste etwas leiser zu sein.

„Tut uns leid!“ entschuldigte sich der junge Mann. Dann wandte er sich an die beiden Polizisten und schlug ihnen vor, in seinem Zimmer weiterzureden. Wenig später befanden sie sich in dem kleinen Raum, wo Nicholas seinem Kollegen und dem erstaunten Michael alles über den Selbstmordversuch Inges mitteilte. Letzterer konnte es kaum fassen.

„In welchem Krankenhaus liegt Frau Riedel?“

„Im städtischen, Mr. Fernandez, und ich hoffe sehr, dass sich Ihre Kollegin wieder erholt“, sagte Nick. „Was mich im Moment aber noch mehr interessiert: Wo ist Teichert? Und inwieweit hat er zu dem Suizidversuch Ihrer Kollegin beigetragen?“

„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Wernher etwas damit zu tun hat, Mr. Knight?!“ rief Michael aus und starrte ihn ungläubig an.

„Teichert traue ich mittlerweile so ziemlich alles zu“, erwiderte der Angesprochene.

„Sie befinden sich in einem Irrtum“, nahm der junge Mann seinen Chef in Schutz. „Er schätzt Inge und ihre Arbeit sehr.“

„Ach, wirklich?“ fragte Nick spöttisch. „Sonntagabend gewann ich aber einen anderen Eindruck. Er hat sie in der Öffentlichkeit abgekanzelt. Behandelt man so eine geschätzte Mitarbeiterin, Mr. Fernandez?“

„Ich verstehe das nicht“, sagte Michael und schüttelte den Kopf. „Verzeihen Sie, meine Herren, aber mir dreht sich der Kopf. Alles, was ich eben durch Sie erfahren habe, ist für mich           einfach unglaublich...“

„Durchaus verständlich, Mr. Fernandez. – Nun, wenn Sie uns nichts über den Aufenthalt Ihres Chefs verraten können, werden wir Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen“, meinte Nick und verließ zusammen mit Schanke das Zimmer.

Als sie draußen auf dem Flur standen, fragte sein Kollege leise: „Glaubst du diesem Früchtchen etwa?“

„Ja, warum nicht?“

„Er könnte seinen Chef decken!“

„Unwahrscheinlich“, erklärte Nick mit gedämpfter Stimme. „Fernandez hat vor kurzem gegen ihn ausgesagt, sonst wäre ich kaum auf die Idee gekommen, dass Teichert etwas mit dem Unfall von Marquardt zu tun haben könnte.“

Schanke pfiff leise durch die Zähne.

„Sieh mal einer an“, murmelte er. „Wenn es so ist, steckt bestimmt irgendeine Frauengeschichte dahinter, oder?“

„Du bist auf dem richtigen Weg“, bestätigte Nick.

„Das arme Mädchen kann einem leidtun“, fuhr Schanke dann fort.

Sein Kollege runzelte die Stirn und fragte: „Von wem redest du?“

„Na ja, von Miss Riedel“, erklärte Don. „Es geht doch bestimmt um sie. Vermutlich hängt der Suizidversuch damit zusammen. Eine Frau, zerrissen zwischen der Liebe zu zwei Männern.“

„Schaust du dir mit Myra etwa zu viele italienische Opern an?“

„Du brauchst gar nicht so zynisch zu sein, Nick! Menschen lassen sich nun einmal von großen Gefühlen beherrschen! Warst du denn noch nie verliebt?“

„Diese Diskussion führt zu nichts!“ meinte Nick unwillig. „Aber du bringst mich auf eine Idee. Wir könnten im Zimmer von Miss Riedel nach einem Abschiedsbrief suchen. Dann stehen wir wenigstens nicht nutzlos in der Gegend herum, während wir auf Teichert warten.“

„Aber wir haben keinen Durchsuchungsbefehl“, gab Don zu bedenken.

„Das stimmt! Doch wenn mich nicht alles täuscht, ist die Hotelleitung noch so irritiert von den aktuellen Ereignissen, dass uns der Portier sicherlich gerne dabei behilflich ist, den Grund für den Selbstmordversuch herauszufinden.“

***

Eva wartete immer noch im Krankenhausflur, als Michael dort eintraf.

„Wie geht es Inge?“ fragte er außer Atem, ohne sie zu begrüßen.

Die Fotografin schaute kurz zu ihm auf.

„Sie schläft“, sagte sie dann und musterte ihn. „Wo kommst du eigentlich her?“

„Vom Hotel... Mr. Knight hat mich erst vor kurzem darüber informiert, was passiert ist.“

„Hast du denn gar nicht mitbekommen, dass der Notarzt deine Kollegin abgeholt hat?“

„Ich habe den Rettungswagen zwar gehört, aber nicht weiter darauf geachtet“, gab Michael zu.

„Merkwürdig, dass du nicht bemerkt hast, wie sehr Inge litt“, murmelte Eva. „Ich dachte immer, ihr zwei versteht euch gut.“

„Das tun wir – deswegen bin ich doch so erschüttert“, verteidigte sich der junge Mann. „Als ich ihr heute Morgen in der Convocation Hall begegnet bin, machte sie auf mich keineswegs den Eindruck einer Selbstmörderin. Sie schien vielmehr ausgeglichen.“

„Und du hast auch keinerlei Idee, was sie zu ihrer Verzweiflungstat getrieben haben könnte, Michael?“

„Nein, wirklich nicht.“

„Hatte sie vielleicht Streit mit Teichert?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Gerade heute früh versicherte er mir noch, wie froh er über eine so tüchtige Assistentin wie Inge ist.“

„Und wie hat er sich zu ihrem Selbstmordversuch geäußert?“ fragte Eva gespannt.

„Vermutlich weiß er noch gar nichts davon“, klärte Michael sie auf. „Bis jetzt ist er jedenfalls nicht mehr im Hotel aufgetaucht.“

„Bleibt er öfter die ganze Nacht weg?“ erkundigte sich die Fotografin mit lauerndem Unterton.

„Keine Ahnung! Ich überwache ihn doch nicht unentwegt“, sagte Michael.

„Richtig! Du tust das ja lieber anderweitig, nicht wahr? Zum Beispiel bei Corinne...“

„Quatsch! Ich mache mir nur Sorgen um sie, das ist alles! Weißt sie eigentlich, dass...?“

„Ich hab sie längst informiert!“ schnitt Eva ihm das Wort ab.

„Und wo ist Corinne?“ fragte Michael.

„Ihr neuer Freund hat sie nach Hause gebracht“, erklärte die Fotografin. „Sie war völlig mit den Nerven am Ende. Hast du schon gehört, dass eine neue Untersuchung über den Unfall von Thomas Marquardt eingeleitet wird?“

„Nein, das höre ich zum ersten Mal“, erwiderte er. Dann stutzte er kurz und fragte: „Du sagtest, dass ihr neuer Freund sie heimgebracht hat. Meinst du damit etwa diesen LaCroix?“

Eva nickte wortlos.

„Dann sind sie also wirklich zusammen?“ meinte er fassungslos.

„Ja, sie sind ein Paar!“ bestätigte ihm die Fotografin in sachlichem Ton.

„Was findet sie nur an diesem Mann?“ entfuhr es Michael.

Eva horchte überrascht auf. Er klang gerade so, als sei er eifersüchtig auf den neuen Partner ihrer besten Freundin.

„Nun ja, LaCroix ist ohne Zweifel eine eindrucksvolle Erscheinung“, antwortete sie dann.

Der Blick, den ihr daraufhin ihr ehemaliger Kommilitone zuwarf, erschreckte sie etwas. Ein derart wilder Ausdruck war ihr an ihm fremd – und es passte auch gar nicht in das Bild, das er der Welt bislang von sich geboten hatte. In seinen Augen vermeinte sie ein merkwürdiges Flackern zu sehen, dass in ihr spontan die Assoziation von einem Wahnsinnigen hervorrief.

„Findest du ihn etwa anziehend?“ zischte er sie leise an.

„Das nicht gerade“, begann Eva, die sich rasch wieder gefasst hatte. „Aber er scheint ein echter Gentleman zu sein und kümmert sich rührend um Corinne. Kein Wunder, dass sie sich in ihn verliebt hat...“

„Ihr Frauen habt doch echt einen Knall!“ erwiderte Michael wütend, erhob sich vom Stuhl und ging aufgeregt hin und her. Dann blieb er schließlich vor der Fotografin stehen und ballte die Hände zu Fäusten. „Ihr lasst euch alle von seinem Gehabe täuschen! Dieser LaCroix ist ein Monster! Er wird Corinne etwas antun, das weiß ich genau!“

„Nun übertreib mal nicht“, ermahnte ihn Eva in ruhigem Ton.

„Ich übertreibe keineswegs!“ sagte der junge Mann. „Du ahnst gar nicht, mit wem wir es hier zu tun haben! Ich muss ihn aufhalten... ich muss einfach!“

„Du verrennst dich da in eine verrückte Idee, Michael! LaCroix wird Corinne ganz gewiss nicht schaden. Er liebt sie nämlich!“

„Du spinnst total, Eva! Woher willst du das so genau wissen?“

„Jedem, der die beiden genauer beobachtet, muss es doch auffallen, wie zärtlich er sie anschaut und wie er sich ihr gegenüber verhält“, erklärte die Fotografin. „Außerdem wäre da noch der wertvolle Ring zu erwähnen, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hat. So etwas schenkt man einer Frau nur, wenn sie einem wirklich sehr viel bedeutet.“

„Dieser Ring!“ schnaubte Michael verächtlich. „Seid ihr Frauen alle so käuflich?“

„Jetzt wirst du unverschämt“, stellte Eva in strengem Ton fest. „Auf diese Art und Weise gewinnst du niemals das Herz einer Frau! – Außerdem ist Corinne nicht käuflich! Sie war es nie!“

„Es sieht aber ganz danach aus!“

„Corinne hat es nicht nötig, Michael! Sie stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus!“

Der junge Mann starrte Eva nun an, als hätte sie ihm eine Ungeheuerlichkeit verkündet. Als er die Sprache wiederfand, murmelte er: „Was bin ich nur für ein Idiot!“

„Ja, das kann man wohl sagen!“ pflichtete die Fotografin ihm bei.

„LaCroix will sie entführen und ihre Eltern erpressen“, erklärte er gleich darauf der verblüfft dreinblickenden Eva. „Er ist also doch ein Krimineller, genau wie ich vermutet habe.“

„Das ist blanker Unsinn!“ versuchte sie ihm zu widersprechen. „Er ist sehr gut mit diesem Knight bekannt.“

„Na und? Mr. Knight hält ebenso wenig von ihm wie ich. Vermutlich sucht er einen Weg, um ihn endlich hinter Gitter bringen zu können. Es wird mir ein Vergnügen sein, Knight dabei zu helfen. – Wohin, sagtest du, wollte LaCroix mit Corinne?“

„Nach Hause“, antwortete Eva. „Das heißt also, in die Wohnung ihrer Cousine.“

„Gut, dann werde ich jetzt auch genau dorthin gehen und ihn stellen“, verkündete Michael.

„Ich bin davon überzeugt, dass du einen großen Fehler machst“, sagte die Fotografin. „An deiner Stelle wäre ich äußerst vorsichtig. Es ist bestimmt gefährlich, LaCroix zum Feind zu haben.“

„Aha! Du gibst also endlich zu, dass er dir unheimlich ist?!“

„Wie ich bereits sagte, ist er eine äußerst eindrucksvolle Erscheinung. Er wirkt wie ein mächtiger Mann und hat sicherlich sehr viele einflussreiche Beziehungen. Sogar Mr. Knight scheint ein wenig Angst vor ihm zu haben. Das sagt doch alles, oder?“

„Niemand kann mich aufhalten“, erwiderte Michael. „Ich denke, dass ich gut gegen LaCroix gerüstet bin; und ich werde versuchen, Corinne aus seinem Bann zu befreien. Denn ich bin überzeugt, dass er sie irgendwie hypnotisiert hat.“

Michael schritt mit entschlossenem Gesichtsausdruck aus der Klink. Eva blickte ihm wortlos nach und schüttelte den Kopf. Es war offensichtlich, dass ihr ehemaliger Kommilitone aus Eifersucht auf einen anderen Mann seinen Verstand verloren hatte. Dabei ließ sein bisheriges Verhalten kaum erkennen, dass er in ihre beste Freundin verliebt war – ganz im Gegenteil... oder? Plötzlich begriff Eva, weshalb er Corinne dermaßen beleidigt hatte. Auch dies war nur eine Reaktion seiner unangemessenen, krankhaften Eifersucht, die ihm eigentlich nicht zustand. Schließlich war er nicht Corinnes Partner. Doch das würde ihm Lucien LaCroix mit Sicherheit klarmachen...

 

 

„Nathalie, du wirst draußen am Apparat verlangt!“ rief eine der Kolleginnen der Pathologin zu. „Der Anrufer behauptet, dass es dringend sei!“

Verwundert säuberte sich die Ärztin daraufhin rasch die Hände und eilte in den Raum nebenan, wo sich das Telefon befand.

„Lambert“, meldete sie sich, sobald sie den Hörer ans Ohr geführt hatte.

„Guten Abend, Dr. Lambert. Hier ist Michael Fernandez“, antwortete es am anderen Ende der Leitung. „Tut mir leid, dass ich Sie bei Ihrer Arbeit störe, aber ich mache mir wirklich ernsthafte Sorgen um Corinne.“

„Was ist passiert?“ fragte Nathalie beunruhigt.

„Ich befürchte, Ihre Cousine ist mit LaCroix allein in Ihrer Wohnung“, berichtete Michael. „Auf mein Klingeln öffnete jedoch niemand.“

„Und Sie sind sich absolut sicher, dass die beiden sich dort befinden?“

„Laut Aussage von Eva wollte LaCroix Corinne nach Hause bringen; und sie wohnt doch derzeit bei Ihnen, oder nicht?“

„Natürlich wohnt sie bei mir“, bestätigte Nathalie ihm. Sie fühlte sich äußerst unruhig. „Warten Sie auf mich. Ich bin in etwa zehn Minuten da.“

Die Ärztin ließ den Hörer auf die Gabel knallen und suchte so schnell wie möglich ihre Vorgesetzte auf. Nachdem sie dieser in aufgeregtem Ton erklärte, dass sie dringend nach Hause müsse, da es ihrer Cousine nicht gut gehe, war sie einige Minuten später bereits mit ihrem Wagen unterwegs nach Hause. Dabei betete sie unentwegt, Corinne möge nichts passiert sein. Himmel, sie hatte doch geahnt, dass man LaCroix nicht trauen konnte.

*

Michael erwartete sie bereits vor der Eingangstür des Hochhauses.

„Was für ein Glück, dass Sie so schnell gekommen sind“, begrüßte er sie.

Nathalie nickte ihm kaum merklich zu und eilte in den Fahrstuhl. Michael folgte ihr wortlos. Zusammen fuhren sie hinauf bis zur siebten Etage. Mit zitternden Händen schloss Nathalie ihre Wohnungstür auf, knipste sofort das Licht an und rief laut: „Corinne!“

Niemand antwortete ihr. Sie warf einen fragenden Blick zu Michael, der hinter ihr stand, und rief nochmals ihre Cousine. Wieder erfolgte keine Antwort.

Nathalie nahm nun ihren ganzen Mut zusammen und schritt entschlossen zuerst ins Wohnzimmer und dann in ihr Gästezimmer. Dabei rief sie immer wieder den Namen ihrer Cousine. Schließlich kehrte sie zur Wohnungstür zurück, wo Michael immer noch stand, und sagte: „Es ist niemand hier, Mr. Fernandez!“

„Wirklich nicht?!“ fragte er ungläubig und starrte sie an.

„Nein, keine Menschenseele“, erwiderte Nathalie.

„Aber, ich... ich war mir so sicher, dass die beiden hier sind“, stammelte Michael.

„Was immer LaCroix auch erzählt haben mag – weder er noch Corinne befinden sich in dieser Wohnung“, sagte Nathalie. „Und nun kommen Sie endlich herein, Mr. Fernandez! Sie scheinen verwirrter zu sein als ich.“

Als der junge Mann zögerte, zog die Ärztin ihn mit sanfter Gewalt in ihre Wohnung hinein und verfrachtete ihn in die Küche auf die Eckbank. Dann setzte sie sich ihm gegenüber auf einen Stuhl und musterte ihn eingehend.

„Jetzt erzählen Sie mir Mal, was überhaupt vorgefallen ist“, forderte sie ihn in strengem Ton auf.

„So ganz genau weiß ich es auch nicht...“, begann Michael zögerlich.

„Sie sagen mir auf der Stelle, was Sie wissen!“ befahl Nathalie. „Schließlich sind Sie dafür verantwortlich, dass ich meinen Dienst unterbrochen habe, um hierher zu kommen.“

„Schon gut, ich erzähle Ihnen alles“, versuchte der junge Mann zu beschwichtigen. „Mr. Knight tauchte heute Abend bei uns im Hotel auf und suchte meinen Chef. Dabei erfuhr ich, dass meine Kollegin versucht hat, sich das Leben zu nehmen...“

„Mein Gott, wie furchtbar!“

„Keine Sorge, Dr. Lambert, Inge konnte gerettet werden“, beruhigte Michael sie. „Jedenfalls war das für mich Grund genug, sofort in die städtische Klinik zu fahren. Dort traf ich Eva, die mir erzählte, dass Corinne mit LaCroix nach Hause gegangen sei. Natürlich nahm ich an, dass sich die beiden in Ihrer Wohnung befinden, und kam sofort hierher.“

„Das hört sich nicht besonders gut an“, murmelte Nathalie, deren Nervosität sich verstärkte. Sie machte sich zunehmend Sorgen um Corinne. Wohin konnte LaCroix sie nur verschleppt haben?

Kurzerhand erhob sie sich vom Stuhl, eilte ins Wohnzimmer und wählte die Dienstnummer von Nick. Niemand ging an den Apparat, was bedeutete, dass er und Schanke nicht auf dem Revier waren.

„Wie war der Name Ihres Hotels, Mr. Fernandez?!“ rief sie in die Küche. Michael nannte es ihr und sie ließ sich daraufhin von der Auskunft mit dem Portier verbinden.

„Guten Abend. Mein Name ist Nathalie Lambert. Befindet sich Mr. Knight noch in Ihrem Haus? Ich muss ihn dringend sprechen.“

„Selbstverständlich, gnädige Frau, einen Moment bitte“, sagte der Portier höflich. Sie hörte, wie er jemandem etwas zurief, und eine Minute später meldete sich die wohlvertraute Stimme Nicks.

„Was gibt es, Nat?“

„Corinne ist verschwunden!“

„Was? Hat der Alte sie etwa nicht nach Hause gebracht?!“

„Du... du hast es gewusst?!“ fragte Nathalie fassungslos. Dann schrie sie ihn an: „Wie konntest du sie nur mit LaCroix allein lassen?!“

„Es geschah nicht mit Absicht“, verteidigte sich Nick. „Der Alte ist einfach mit ihr verschwunden. Aber da er sich die ganze Zeit fürsorglich um sie gekümmert hat und versprach, sie heimzubringen, dachte ich, dass er sein Wort hält. Schließlich ist Corinne bis jetzt auch immer wohlbehalten nach Hause gekommen, nicht wahr?“

„Du selbst warst es doch, der mir eingebläut hat, LaCroix nicht zu vertrauen!“ schrie Nathalie. „Wer weiß, was er inzwischen mit Corinne gemacht hat!“

„Bitte, beruhige dich, Nat“, versuchte Nicholas seine Kollegin zu beschwichtigen. „Wir müssen nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Ich verspreche dir, mich sofort auf die Suche nach der Kleinen zu machen.“

„Schön! Und was soll ich deiner Meinung nach solange tun?!“ fauchte sie.

„Bleib zu Hause“, bat er sie in ruhigem Ton. „Vielleicht kommt Corinne ja noch!“

Er hörte, wie es auf der anderen Leitung klickte, und dachte einen kurzen Augenblick, dass Nathalie genauso temperamentvoll sein konnte wie ihre kleine Cousine. Einen Vorgeschmack davon hatte er ja Sonntagabend schon präsentiert bekommen, als die Ärztin angefangen hatte, lebhaft mit LaCroix zu streiten. Die Verwandtschaft zwischen ihr und Corinne war nicht zu leugnen. Aber er hatte keine Lust darauf, diese wilde Seite seiner bislang ausgeglichenen, netten Kollegin näher kennenzulernen, was wohl der Fall sein würde, wenn es ihm nicht gelang, ihre Cousine zu finden und wohlbehalten bei ihr abzuliefern.

Nick seufzte leise und kehrte in Inge Riedels Unterkunft – denn Zimmer konnte man dieses Kämmerchen beim besten Willen nicht nennen – zurück. Schanke war gerade dabei, ein an Michael Fernandez adressiertes Schreiben in den dazugehörigen Umschlag zu stecken. Die beiden Polizisten nahmen an, dass es sich dabei um den gesuchten Abschiedsbrief der verhinderten Selbstmörderin handelte.

„Was schreibt sie?“ erkundigte sich Nicholas interessiert.

„Woher soll ich das wissen? Ich kann kein Deutsch“, erwiderte Schanke. „Und Fernandez traue ich nicht. Wir werden wohl einen Übersetzer bemühen müssen.“

„Ja, das ist sicher das Beste“, meinte Nick.

„Ist Teichert inzwischen da?“ fragte Schanke dann.

Sein Kollege schüttelte den Kopf und sagte: „Es hat keinen Zweck, länger auf ihn zu warten. Der Portier soll einfach auf dem Revier anrufen, sobald er hier auftaucht. Schließlich ist es egal, ob er von uns oder den Kollegen verhaftet wird.“

„Okay, dann bringe ich das Fundstück aufs Revier. Unsere Schicht ist gleich um.“

„Wir sehen uns dann morgen Abend wieder, Don. Jetzt entschuldige mich, ich hab noch etwas Dringendes zu erledigen“, erklärte Nicholas und verließ so schnell wie möglich das Hotel. Er machte sich direkt auf den Weg ins Raven, wo er hoffte, Corinne und LaCroix zu finden. Ihm fiel sonst kein anderer Ort ein, an dem die beiden sich aufhalten könnten. Zudem war in einer Stunde Sonnenaufgang. Es blieb also nicht mehr viel Zeit – weder für ihn noch für seinen Meister...

***

Als Nick im Raven ankam, hielten sich dort nicht mehr viele Leute auf. Es war still im Club und auch die Bühne war inzwischen leer. Nur Jamie, der Sänger der Flying shadows, saß mit einem Glas voll dunkelroter Flüssigkeit am Tresen und schaute niedergeschlagen vor sich hin. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.

Nicholas setzte sich neben ihn.

„Nicht mehr viel los, hm?“ sprach er den Musiker an.

Jamie wandte uninteressiert den Kopf und nickte ihm schweigend zu.

„Wo ist denn Ihre Schwester?“ fragte Nick.

„Schon gegangen, Mann“, murmelte der Sänger. „Frauen kommen und gehen einfach, wie es ihnen gefällt... ohne Abschied...“

Nick runzelte die Stirn.

„Haben Sie Liebeskummer, James?“

„Hm... nein... weiß nicht“, brummte der Angesprochene und starrte in sein Glas. „Aber es ist doch keine Art und Weise, einen Freund einfach sitzen zu lassen... wenigstens dachte ich immer, dass ich ihr Freund sei...“

„Wie heißt denn die junge Dame?“ erkundigte sich Nick mitfühlend.

„Unser lieber Jamie trauert der hübschen Cousine deiner Dr. Lambert nach“, antwortete ihm statt des Sängers nun Janette, die gerade an den Tresen zurückkehrte. „Es macht ihm sehr zu schaffen, dass sie einfach mit Lucien und dir verschwunden ist.“

„Du hättest ihm ja erklären können, was passiert ist“, meinte Nicholas in vorwurfsvollem Ton. Dann wandte er sich wieder Jamie zu und erklärte: „Corinne erhielt einen Anruf und musste dringend weg. Eine gute Bekannte von ihr wäre beinahe gestorben und liegt nun im Krankenhaus.“

Der Sänger blickte von seinem Glas auf. Sein Blick traf denjenigen Janettes.

„Warum hast du mir das nicht gesagt?“ fragte er erstaunt.

„Es gab keinen Grund dafür“, erwiderte die Vampirin. „Meiner Meinung nach gehen dich Corinnes Angelegenheiten nichts an. Sie gehört Lucien.“

„Zunächst einmal gehört sie sich selbst“, widersprach Jamie ärgerlich. Dann drehte er sich halb zu Nick um und fragte mit besorgter Stimme: „Wie geht es Corinne?“

„Das letzte Mal, als ich sie sah, war sie ziemlich fertig“, sagte der Polizist. „Doch wie es ihr jetzt geht, kann ich nicht sagen, da LaCroix mit ihr verschwunden ist. - Du weißt nicht zufällig, wo er sich aufhalten könnte, Janette?“

„Nein, Nicholas. Unser Meister pflegt mich nicht in seine ureigensten Geheimnisse einzuweihen. Aber das müsste dir ja bekannt sein.“

„Verdammt! Er könnte überall sein!“ zischte Nick. „Wie soll ich ihn nur finden?“

„Er will vermutlich gar nicht gefunden werden“, meinte Janette mit hämischem Lächeln. Ihre Augen begannen böse zu funkeln. „Endlich ist er allein mit seiner kleinen Freundin... unserem zukünftigen Schwesterchen...“

Und bevor einer der beiden Männer etwas darauf erwidern konnte, wandte sie sich mit warnendem Unterton an Jamie: „Sieh es endlich ein, dass Corinne unserem Meister gehört. Sie ist seine Königin der Nacht!“

„Es nicht richtig, wenn er sie jetzt verwandelt“, sagte der Sänger. „Es geht ihr nicht gut... so sollte es nicht sein, wenn man eine Sterbliche zu seiner Gefährtin macht.“

„Glaubt ihr beiden wirklich, dass er das heute Nacht tun wird?“ fragte Nick nervös.

„Warum sonst wäre er mit ihr untergetaucht?“ gab Janette in ungeduldigem Tonfall zurück.

Als der Polizist daraufhin zu Jamie blickte, nickte dieser und murmelte: „Ich fürchte, an ihren Worten ist etwas dran!“

„Nein! Nein!“ rief Nicholas aus und sprang vom Stuhl. Als er die Blicke der übrigen Gäste bemerkte, die ihn neugierig musterten, setzte er sich wieder und fuhr in aufgeregtem Ton fort: „Aber wenn Corinne ihm so wichtig ist, müsste er sie dann nicht erst fragen, ob sie die Ewigkeit mit ihm verbringen will?“

„Eigentlich gibt es keine feste Regel dafür“, antwortete der Sänger. „Im Prinzip jedoch tut man das von sich aus; und LaCroix hat dies auch getan. Jeder, der seine Radiosendung verfolgt, könnte Ihnen das bestätigen, Nicholas. Er machte ihr das Angebot, unsterblich zu werden...“

„Ja... ja, ich erinnere mich“, gab der Polizist zu. „Doch wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, hat sie es abgelehnt.“

„Na ja, sie glaubte damals nicht an Vampire“, fuhr Jamie in ernstem Ton fort. „Vielleicht hat sie mittlerweile ihre Meinung geändert. Zumindest ist sie schrecklich verliebt in LaCroix.“

„Genau aus diesem Grund wird sie auch nichts dagegen haben, wenn er sie zu einer der unseren macht“, warf Janette in triumphierendem Ton ein.

„Der Zeitpunkt dafür ist denkbar ungünstig“, teilte der Sänger nochmals seine Bedenken mit. „Wenn man einen Menschen auf die dunkle Seite holt, um mit ihm die Ewigkeit zu verbringen, dann sollte man dies möglichst in einem Moment tun, in dem beide Partner glücklich sind.“

„Dummes Zeug!“ meinte Janette. „Es spielt keine Rolle! Lucien versteht es sicher, sie zu trösten und aufzumuntern, bevor er sie rüberholt.“

„Wenn er sie wirklich liebt, wird er sie nicht verwandeln, solange sie so niedergeschlagen ist“, sagte Jamie in ernstem Ton. „Ansonsten hat er sie nicht verdient.“

„Du musst dir die Kleine ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen, mein Lieber!“ fuhr Janette ihn an. „Wie du selbst schon bemerkt hast, liebt sie Lucien.“

„Trotzdem kann ich mir Gedanken um sie machen“, gab der Sänger ärgerlich zurück. „Wir sind befreundet und ich verehre Corinne. Das kann mir niemand verbieten – nicht einmal LaCroix!“

„Wie dem auch sei – weder Nicholas noch du könnt etwas daran ändern, was in der heutigen Nacht geschieht“, höhnte Janette.

Die beiden Männer starrten sie entsetzt an, dann warfen sie sich gegenseitig einen Blick zu.

„Ich glaube nicht, dass Lucien so herzlos ist, wie Janette uns weismachen will“, flüsterte Jamie. „Vielleicht hat er sie wirklich nur an einen stillen Ort gebracht, an dem sie zur Ruhe kommen kann.“

Seine Worte riefen Nicholas in Erinnerung, wie fürsorglich sein Meister sich gegenüber der jungen Frau verhalten hatte. Wenn Jamie recht hatte – und im Moment wünschte sich Nick, dass es so wäre -, dann verbarg LaCroix das Mädchen nur deshalb, um sie zu schützen. Aber dies würde den Schluss nahe legen, dass der Alte tiefere Gefühle für Corinne Lambert hegte...

Dieser Gedanke beruhigte Nicholas ebenso sehr wie er ihn erschreckte.

Wenn LaCroix die Kleine wirklich liebte, dann würde er nicht einfach wie ein wildes Raubtier über sie herfallen, sondern Rücksicht nehmen. Sein bisheriges Verhalten gegenüber dem Mädchen sprach dafür. Andererseits war die Liebe eines Vampirs gefährlich: Die Auserwählte würde über kurz oder lang selbst ein Kind der Nacht werden. Sie hatte kaum eine Möglichkeit, diesem Los zu entkommen. Jedenfalls kannte Nick keinen einzigen Fall dieser Art, in dem es dem auserwählten Opfer eines Vampirs geglückt wäre – und er konnte sich nicht vorstellen, wie Corinne diesem Schicksal entrinnen sollte. Schließlich handelte es sich bei ihr nur um eine junge Sterbliche, die nichts davon ahnte, dass sie mit einem alten, mächtigen Vampir zusammen war, dem sie wohl kaum gewachsen wäre...

***

Corinne befand sich allein in einem großen Saal, der bis auf eine bequeme Couch, in der sie saß, völlig ohne Möbel war, und blickte vor sich auf eine riesige Kinoleinwand.

„Schau genau hin“, sagte jemand, der plötzlich neben ihr saß. Als sie sich erschrocken nach dem Sprecher umsah, erkannte sie, dass es ihr Freund Thomas war.

„Thomas!“ rief sie voller Freude aus und fiel ihm um den Hals. Er drückte sie einen Augenblick an sich und schob sie dann sanft wieder weg. Dabei sah er ihr tief in die Augen und lächelte.

„Bleibst du bei mir?“ fragte die junge Frau hoffnungsvoll.

Thomas schüttelte mit einem bedauernden Gesichtsausdruck den Kopf und drückte leicht ihre Hand.

„Das kann ich leider nicht, Corinne. Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden und dir viel Glück für dein weiteres Leben zu wünschen. Bitte, mein Liebling, lass mich endlich gehen! Du trägst keine Schuld an meinem Tod“, sagte er. „Doch bevor ich gehe, möchte ich dir etwas zeigen.“

Er deutete auf die Kinoleinwand und sie schaute nach vorn. In diesem Moment verdunkelte sich der große Saal, während der Film begann.

Sie sah die altbekannte Szene: Thomas schloss seine Galerie ab. Dann begann er, die Straße zu überqueren. In diesem Augenblick kam ein schwarzer Wagen herangerast, der sein Licht erst kurz vor dem Moment aufblitzen ließ, als er Thomas überrollte.

„NEIN! NEIN!“ schrie Corinne und wandte ihren Blick gequält ab, doch ihr toter Freund, der nun neben ihr saß, hielt sie an den Schultern fest und raunte ihr zu: „Sieh hin, Liebes, sieh genau hin!“

Die junge Frau gehorchte und blickte erneut auf die Kinoleinwand. Die Kamera fuhr jetzt näher an die Frontscheibe des schwarzen Wagens heran und sie konnte die Umrisse eines männlichen Profils erkennen. Interessiert beugte sie sich näher vor und hoffte, den Mörder ihres Lebensgefährten zu sehen. Aber es war zu undeutlich.

„Es ist zu dunkel“, murmelte sie enttäuscht.

„Corinne, du darfst deine Augen nicht vor dem Offensichtlichen verschließen, selbst wenn es dir noch so viel Angst einjagt“, ermahnte sie Thomas mit leiser Stimme. „Der Mann am Steuer ist kein Unbekannter. Bitte, halte die Augen auf und erkenne, vor wem du dich in Acht nehmen solltest!“

„Kannst du es mir denn nicht sagen, Thomas?“

„Es wurde dir schon einmal angedeutet, doch du wolltest es nicht glauben... aber die Wahrheit kommt immer näher. Deine Freunde können dir helfen...“

Thomas erhob sich nun vom Sofa.

„Ich muss jetzt gehen, Corinne!“

„Nein, nein! Bitte, bleib bei mir! Bleib bei mir!“ rief sie und versuchte, ihn festzuhalten.

„Werde glücklich, mein Schatz“, sagte Thomas, lächelte wehmütig und löste sich langsam in Luft auf. „Bitte, pass auf dich auf, Corinne! Der Feind gibt sich bald zu erkennen! – Leb wohl!“

„Oh nein, bitte bleib doch bei mir!“ rief sie aus und Tränen stürzten ihr aus den Augen. Aber ihre Hände, die eben noch versucht hatten, ihn zu halten, waren leer. Er war verschwunden.

„Oh nein... nein! Bitte, verlass mich nicht, Thomas! THOMAS!!!“

 

„Corinne! Corinne! Komm zu dir!“  hörte sie eine dunkle, wohlklingende Stimme aus weiter Ferne. Dann fühlte sie, wie ihr Körper heftig hin und her geschüttelt wurde. Erschrocken fand sie sich in der Gegenwart wieder und blickte mit nassen Augen in das Gesicht von Lucien. Sie brauchte nur einen Augenblick, um zu erkennen, dass das soeben Erlebte ein Traumbild gewesen war. Kaum wurde ihr das bewusst, klammerte sie sich zitternd an den Körper ihres Geliebten und weinte hemmungslos. Lucien ließ sie schweigend gewähren, streichelte ihr über das Haar und den Rücken und wartete ab, bis sie sich wieder beruhigte.

„Es war so schrecklich... ein Alptraum...“, brachte sie schließlich schluchzend hervor.

„Hm, hab ich mir schon gedacht“, wisperte LaCroix und drückte sie fester an sich. „Aber jetzt ist alles wieder gut, mein kleiner Liebling. Ich bin bei dir. Hab keine Angst.“

„Ich bin so froh, dass du da bist“, sagte sie leise, während sie immer noch zitterte. „Ach, Lucien, es war ein schrecklicher Traum...“

„Worum ging es denn?“ fragte der alte Vampir

„Um... um den Unfall, bei dem Thomas...“, sie begann wieder zu weinen.

„Du brauchst nicht darüber zu sprechen, wenn du nicht willst“, meinte LaCroix sanft. „Ich dachte nur, dass es dich erleichtert..“

„Vielleicht... tut es... das...“, schluchzte Corinne, doch es dauerte eine Weile, ehe sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Ihr tränenverschmiertes Gesicht an seine Brust geschmiegt, schaute sie zu ihrem Geliebten auf. „Es ist gut, dass du bei mir bist. Ohne dich wäre ich vollkommen verlassen.“

„Na, na... nicht übertreiben, kleiner Schmetterling. Du hast viele Leute um dich herum, die dir zu helfen versuchen.“

„Du hast recht, Lucien“, gab sie mit leiser Stimme zu. „Ich habe es einen Moment lang vergessen. Aber dieser Traum eben... ich hatte das Gefühl, völlig verlassen zu sein. Thomas war bei mir, aber er wollte nicht bleiben. Er hat sich einfach in Luft aufgelöst.“

„Dein Traum scheint dir sagen zu wollen, dass du deinen toten Freund endlich loslassen solltest“, erklärte LaCroix behutsam, während er versuchte, ihr mit einer Hand die Tränen aus den Augen zu wischen.

„Ja, er hat sich von mir verabschiedet“, erzählte das Mädchen. „Ich verstehe nur nicht, weshalb er mir nicht den Namen seines Mörders verraten hat. Stattdessen wurde mir die Großaufnahme des Fahrers gezeigt, der Thomas auf dem Gewissen hat. Aber die Beleuchtung reichte nicht aus, um sein Gesicht zu erkennen. Klar ist nur, dass es sich um einen Mann handelt.“

„Das Gespräch mit Nicholas beschäftigt dich also immer noch“, stellte der alte Vampir fest. „Es verfolgt dich bis in deine Träume.“

„Meinst du wirklich, dass der Alptraum daraus resultiert, Lucien?“

LaCroix nickte und warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem kleinen Nachttisch stand. Es war fast Viertel vor fünf. Langsam wurde es Zeit für ihn, zu verschwinden. Allerdings fiel es ihm schwer, Corinne in ihrem jetzigen Zustand allein zu lassen. Sie war so aufgewühlt und er wusste auch nicht, welche Wirkungen sein kleiner Biss nach sich zog. Verdammt, er hätte sie vorhin lieber in die Wohnung ihrer Cousine bringen sollen statt in dieses Appartement. Aber er glaubte, dass sie hier eher zur Ruhe kommen würde. Und so, wie sie aussah, schien sie es dringend zu brauchen.

„Alles, was mit dem Tod deines Freundes Thomas zusammenhängt, belastet dich immer noch stark“, erklärte er dann. „Du wirkst sehr erschöpft, und darum bitte ich dich, lass die morgige Tagung ausfallen und schlaf dich lieber einmal gründlich aus. Bitte, versprich mir, dass du hier in der Wohnung bleibst, Corinne!“

„Aber...“, versuchte sie einzuwenden, doch er unterbrach sie mit eindringlicher Stimme, während er sie intensiv anblickte: „Versprich mir, die Wohnung tagsüber nicht zu verlassen. Versprich es mir – bitte!“

Sie war zunächst erstaunt, verlor sich dann aber in seinen blauen Augen.

„Corinne, ich muss bald gehen! Aber ich habe keine ruhige Minute, ehe du mir nicht das Versprechen gegeben hast, hier in der Wohnung zu bleiben und dich auszuruhen.“

„Kannst du denn nicht bleiben, Liebster?“ fragte sie zaghaft.

„Nein – es geht leider nicht. Ich muss weg“, sagte er leise, während sein Blick den ihren festzuhalten schien. „Schlaf tief, mein Liebling, und ruh dich aus. Bitte, versprich mir, diese Wohnung nicht zu verlassen, ehe ich dich abhole. Bitte, tue es mir zuliebe – du bedeutest mir sehr viel, Corinne...“

„Also gut, ich verspreche es“, gab das Mädchen endlich nach.

LaCroix atmete erleichtert auf. Dann küsste er sie, erhob sich vom Bett und kleidete sich an.

„Wie lange wirst du weg sein, Lucien?“

„Ich versuche, so schnell wie möglich wiederzukommen“, antwortete der Vampir und schenkte ihr ein Lächeln. „Ich bin gern mit dir zusammen.“

Er beugte sich erneut zu der jungen Frau hinunter und küsste sie.

„Wirst du noch da sein, wenn ich komme?“ fragte er dann leise.

„Ja... ich verspreche es“, hauchte sie und fühlte, wie angenehme Müdigkeit von ihrem Körper Besitz ergriff.

„Gut“, brummte er liebevoll, streichelte über ihre Wange und blickte ihr erneut tief in die Augen. „Schlaf jetzt, mein Liebling. Ich wünsche dir angenehme Träume.“

Nathalie war immer noch aufgebracht, als sie in die Küche zurückkehrte. Michael, der dort auf einem Stuhl saß, sah sie gespannt an.

„Wollen Sie auch einen Tee?“ fragte ihn die Ärztin unfreundlich, während sie sich daranmachte, einen Kessel mit Wasser zu füllen.

„Gern, wenn es Ihnen keine Umstände bereitet, Dr. Lambert.“

„Macht es nicht!“ zischte sie leise und stellte geräuschvoll den gefüllten Kessel auf die Herdplatte.

„Bitte, Dr. Lambert, setzen Sie sich“, bat Michael sie und erhob sich. „Wenn Sie erlauben, werde ich mich um den Tee kümmern. Sie selbst scheinen dazu kaum in der Verfassung zu sein. Gibt es schlechte Neuigkeiten?“

Nathalie stützte sich mit den Händen am Herd ab und begann zu weinen. Besorgt ging Michael zu ihr und legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter.

„Frau Dr. Lambert“, sprach er sie vorsichtig an. „Was ist passiert?“

„Aber das wissen Sie doch!“ schluchzte sie. „Corinne ist verschwunden... mit LaCroix...“

„Verzeihen Sie, aber wen haben Sie eben angerufen?“ wollte Michael wissen.

„Nick... Mr. Knight... er hat mir versprochen, sich sofort auf die Suche nach ihr zu machen...“, brachte sie mühsam hervor.

„Mein Gott, Ihre Knie zittern ja“, stellte der junge Mann fest. „Sie sollten sich wirklich lieber hinsetzen.“

Nathalie nickte und ließ sich von ihm zur Eckbank geleiten, wo sie sich niederließ. Dann wandte sie sich erneut an Michael, der gerade eben die Herdplatte anstellte, um das Wasser zum Kochen zu bringen: „Was genau hat Eva gesagt, wohin die beiden gegangen sind?“

„LaCroix wollte Corinne angeblich heimbringen“, erwiderte Michael. „Mehr wissen wir nicht.“

„Ach... ich verstehe wirklich nicht, warum meine Cousine diesem Mann vertraut“, jammerte Nathalie. „Wie hat er sie nur dazu gebracht?“

„Ja, er ist ein zwielichtiger Typ, nicht wahr?“ schlug ihr Gast sofort in diese Kerbe ein. „Ich glaube, Sie sind neben Mr. Knight und mir eine der wenigen Personen, die ihm misstrauen.“

Die Ärztin blickte den jungen Mann überrascht an.

„Finden Sie wirklich, Mr. Fernandez? Ich dachte immer, jeder müsste sich in Gegenwart von LaCroix unwohl fühlen.“

„Corinne ist der beste Beweis dafür, dass es sich nicht so verhält. Sogar Eva scheint von diesem Kerl angetan zu sein.“

„Sie ist sehr eng mit Corinne befreundet und hält natürlich zu ihr“, meinte Nathalie. „Hat Eva vielleicht sonst noch etwas über die Beziehung von meiner Cousine und LaCroix gesagt?“

„Die beiden sollen ein Paar sein“, erzählte Michael.

„NEIN!“ entfuhr es Nathalie. „Das glaube ich nicht! Eva muss sich irren!“

„Ich fürchte, sie hat recht“, widersprach der junge Mann. „Corinne selbst hat mir gestern Vormittag erst gesagt, dass sie LaCroix liebt. – Also, wenn Sie mich fragen, Dr. Lambert, an der Sache ist irgendetwas faul.“

„Wie meinen Sie das?“ fragte Nathalie und schaute ihn verständnislos an.

„Nun ja, ich finde es nicht normal, dass sich eine junge Frau wie Corinne in einen viel älteren, zwielichtigen Typ, den sie kaum kennt, verliebt und ihm völlig vertraut. Es scheint so, dass die beiden sehr viel Zeit miteinander verbringen. Doch niemand weiß, was dieser Kerl genau treibt“, erklärte Michael. „Im Internet findet sich jedenfalls nichts über ihn - nicht einmal eine Adresse. Das ist doch äußerst merkwürdig, oder?“

„Nicht jeder hat eine Homepage“, erwiderte Nathalie. „Und soviel ich weiß, lebt LaCroix sehr zurückgezogen.“

„Genau das macht mich stutzig“, führte Michael weiter aus. „Warum hält er sich bedeckt, wenn er nichts zu verbergen hat? Meiner Meinung nach handelt es sich bei LaCroix um einen sehr unseriösen Zeitgenossen...“

„Möglich“, räumte Nathalie ein. „Aber Sie scheinen eine ganz bestimmte Vermutung zu haben?“

„Das ist richtig!“ gab er zu. „Nachdem ich von Eva erfuhr, dass Corinnes Eltern reich sind, ist mir erst klar geworden, was LaCroix im Schilde führt. Er hat Ihre Cousine jetzt vermutlich entführt und wird demnächst ein Lösegeld von Ihrem Onkel fordern, Frau Dr. Lambert.“

Nathalie starrte den jungen Mann einen Augenblick verblüfft an. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Sie irren sich, Mr. Fernandez“, widersprach sie. „Erstens ist mein Onkel nicht reich, sondern der Inhaber einer Goldschmiedewerkstatt und eines daran angeschlossenen Juweliergeschäftes, von dem er und seine Familie zugegebenermaßen sehr gut leben, und zweitens ist LaCroix keineswegs der Kriminelle, für den Sie ihn anscheinend halten...“

„Aber Sie selbst mögen ihn doch nicht“, wandte Michael ein.

„Ja, das stimmt“, gab sie zu. „Er ist mir äußerst unangenehm und ich fühle mich in seiner Gegenwart nicht wohl. Dennoch weiß ich, dass er sich weder für Geld interessiert noch kriminell ist.“

„Und woher wissen Sie das?“

„Mein Kollege, Mr. Knight, ist sehr gut mit ihm bekannt.“

„Er mag LaCroix ebenso wenig wie ich!“

„Nun ja, das liegt daran, dass die beiden... eine Art gespanntes Vater-Sohn-Verhältnis haben“, erklärte Nathalie. Dann schloss sie die Augen und atmete tief durch.

Michael starrte die Pathologin an.

„Dr. Lambert, wollen Sie damit etwa andeuten, dass Mr. Knight sein Sohn ist?“

„Nicht wirklich... er ist nicht sein leiblicher Sohn...“, sagte Nathalie zögerlich. „Ich weiß nur soviel, dass Nick und LaCroix wohl einmal gut befreundet waren. Aber das hat sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt.“

„Was den Schluss nahe legt, dass LaCroix einen unheilvollen Einfluss besitzt“, behauptete Michael. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, seine Vampir-Theorie zu offenbaren, ließ es dann jedoch sein. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass Dr. Lambert ihm glaubte – mittlerweile zweifelte er ja selbst an seiner These, dass LaCroix ein Vampir sei. Dennoch war es nicht von der Hand zu weisen, dass dieser Mann über außergewöhnliche Kräfte verfügte, auf die er die Ärztin hinweisen wollte, damit sie die Gefährlichkeit seines Rivalen erkannte. „Ich fürchte, LaCroix hat Corinne auf irgendeine Art und Weise hypnotisiert, damit sie ihm hörig ist.“

„Ach nein, das glaube ich nicht“, widersprach die Pathologin. „Mir gefällt zwar auch nicht, dass meine Cousine mit diesem Mann zusammen ist, doch sie scheint noch genauso zu sein wie immer...“

„Wie kommt es dann, dass sie meint, LaCroix zu lieben? Das ist doch nicht normal!“

„Glauben Sie mir, Mr. Fernandez, so etwas ist genau das, was zu Corinne passt. Sie war schon immer ein recht eigenwilliges Geschöpf, das unkonventionelle Dinge liebt.“

In diesem Augenblick pfiff der Kessel und Nathalie erhob sich, um ihn von der heißen Herdplatte zu ziehen und Tee in einer bereitstehenden Kanne aufzubrühen, während Michael sie mit offenem Mund anstarrte und eindeutig nicht fassen konnte, was ihm soeben eröffnet worden war.

Nathalie hingegen schien sich beruhigt zu haben. Tatsächlich trug die Nachricht, dass Corinne und LaCroix eine Liebesbeziehung haben sollten, dazu bei. Die Pathologien verband damit nämlich die Hoffnung, dass der alte Vampir ihre jüngere Cousine dann verschonen würde.

„Wir sollen also einfach abwarten?“ fragte Michael, als er sich nach einer Weile wieder gefangen hatte. „Wir sollen Corinne wirklich diesem LaCroix überlassen, weil sie es unkonventionell mag und sich einbildet, ihn zu lieben? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Frau Dr. Lambert!“

„Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig“, erwiderte Nathalie resigniert. „Niemand weiß, wo die beiden sich aufhalten. Wenn ich wenigstens wüsste, wie es Corinne geht.“

Kaum hatte sie den Satz beendet, klingelte das Telefon. Nathalies Herz begann wild zu klopfen. Sie raste ins Wohnzimmer, riss den Hörer von der Gabel und meldete sich mit atemloser Stimme: „Lambert!“

„Guten Morgen, Dr. Lambert“, hörte sie die Stimme LaCroix’. „Ich hoffe, Sie fühlen sich durch meinen Anruf zu so früher Stunde nicht gestört?“

„Lassen Sie das Geplänkel!“ schrie sie den alten Vampir an. „Wo ist Corinne?!“

„Bitte, beruhigen Sie sich“, antwortete ihr Gesprächspartner mit sanfter Stimme. „Ich wollte Ihnen eigentlich nur mitteilen, dass Ihre Cousine bei mir schläft. Rechnen Sie heute nicht mehr mit ihrem Erscheinen.“

„Was soll das heißen?“ fragte Nathalie besorgt. „Was haben Sie mit ihr gemacht, LaCroix?“

„Nichts, Dr. Lambert. Die Ärmste ist nur völlig mit den Nerven herunter und bedarf dringend der Ruhe. In meiner Wohnung ist es still, niemand wird ihren Schlaf stören – und glauben Sie mir, Corinne muss schlafen, sonst dreht sie durch.“

„Bitte, tun Sie Ihr nichts an, LaCroix...“, Nathalies Stimme hatte einen leisen, bittenden Ton angenommen. „Sie ist doch noch so jung...“

„Meine liebe Dr. Lambert... Nathalie“, die Stimme des alten Vampirs klang väterlich. „Ihre Sorgen um Corinne sind zwar rührend, aber völlig unbegründet. Ich versichere Ihnen, dass ich keineswegs der böse Teufel bin, den Nicholas Ihnen geschildert hat. Es gibt mit Sicherheit andere Leute, die Ihrer jungen Cousine schaden können oder wollen, doch ich gehöre nicht dazu... das würde ich niemals tun...“

Die Ärztin horchte auf. Dann fragte sie: „Stimmt es... stimmt es wirklich, dass Sie mit ihr... zusammen sind?“

Sie hörte verhaltenes Lachen am anderen Ende der Leitung; es klang glücklich und gelöst... ein freundliches Lachen.

„Ja, Dr. Lambert“, antwortete ihr LaCroix einen Augenblick später. „Mein Herz gehört Corinne.“

Nach diesen Worten legte er auf und Nathalie, die immer noch ungläubig den Hörer an ihr Ohr hielt, ließ das leere Tuten eine Minute an sich abprallen. Dann kam sie wieder zu sich und legte den Hörer auf die Gabel zurück.

LaCroix liebte Corinne also.

Nathalie wusste zwar nicht warum, aber sie nahm dem alten Vampir dieses Geständnis ab.

LaCroix liebte Corinne und es ging ihr gut. Er hatte lediglich dafür gesorgt, dass das Mädchen sich endlich ausruhen konnte. Vermutlich meinte er, sie beschützen zu müssen. Das bedeutete ja wohl, dass ihr von ihm keinerlei Gefahr drohte.

Ein Lächeln glitt über die Züge der Ärztin. Sie fühlte sich ungeheuer erleichtert und war davon überzeugt, dass Corinne wohlbehalten wieder zu ihr zurückkommen würde, sobald sie sich ausgeruht hatte.

Derart beruhigt ging Nathalie in die Küche zurück. Michael hatte mittlerweile zwei Tassen mit dampfendem Tee gefüllt und sich wieder an den Tisch auf einen Stuhl gesetzt.

„Gibt es Neuigkeiten?“ fragte er.

„Corinne geht es gut“, antwortete sie und setzte sich ihrem Gast gegenüber, den sie nun nachdenklich musterte. Der junge Mann tat ihr ein bisschen leid, denn sie wusste, wie sehr er selbst in ihre Cousine verliebt war. Er hatte es zwar nie direkt gesagt, aber seine Worte und sein Verhalten verrieten ihn. Warum sonst machte sich dieser Michael die Mühe, immer wieder hier aufzutauchen und sie zu bitten, zwischen ihm und Corinne zu vermitteln? Weswegen sonst hatte er seinerzeit im Revier angerufen und ihr mitgeteilt, dass das Mädchen sich im Raven aufhielt? Und weshalb saß er jetzt hier bei ihr und versuchte ihr eindringlich klarzumachen, in welch großer Gefahr Corinne schwebte, weil sie mit LaCroix zusammen war? Sein Pech war nur, dass das Mädchen seine Gefühle nicht erwiderte. Doch wie sollte man das einem verliebten, jungen Mann schonend beibringen?

„Wo ist sie?“ fragte Michael gerade.

„Bei einem guten Freund“, erklärte Nathalie. Diese vage Aussage war nicht einmal gelogen, denn LaCroix war schließlich wirklich der neue Freund von Corinne. Doch das musste der Junge nicht erfahren. Warum sollte man einem so netten Burschen weh tun?

„Ein Bekannter von Ihnen?“ wollte Michael wissen.

„Ja, ein alter Bekannter“, behauptete die Pathologin. Sie kannte LaCroix fast so lange wie Nicholas – aber nicht gut genug, um ihn Freund nennen zu können. Dennoch vertraute sie ihm nach dem letzten Gespräch. „Er rief eben an, um mir Bescheid zu sagen, dass Corinne bei ihm schläft und ich nicht auf sie warten muss. Ich kann also endlich auch zu Bett gehen.“

„Demnach sind Sie davon überzeugt, dass es Corinne bei Ihrem Bekannten gut geht?“

„Natürlich! Sie können beruhigt in Ihr Hotel zurückkehren, Michael. Und nochmals vielen Dank, dass Sie mich über Ihren Verdacht benachrichtigt haben.“

„Aber das ist doch selbstverständlich, Frau Dr. Lambert“, meinte der junge Mann und erhob sich. Er schien jedoch nicht zufrieden zu sein. „Wo wohnt denn Ihr Bekannter?“

„Das geht Sie wirklich nichts an“, erwiderte die Ärztin mit einem bedauernden Lächeln. „Tut mir leid, aber Corinne soll im Moment nicht gestört werden. Das verstehen Sie doch?“

Michael nickte, verabschiedete sich und verließ dann schnell das Haus. Nathalie blickte ihm mitleidig nach. Sie würde ihm wohl bald schonend klarmachen müssen, dass er sich ihre Cousine aus dem Kopf schlagen sollte...

***

LaCroix legte den Hörer auf die Gabel des Telefons, das sich auf der Theke des Raven befand, und starrte nachdenklich auf den Apparat. Zwar hatte er Nathalie versichert, dass alles in Ordnung war, er selbst jedoch machte sich große Sorgen um Corinne und bereute es, sie alleine in dem Appartement gelassen zu haben. Dabei hatte er vorsichtshalber die elektrischen Fensterrolläden gesperrt, so dass kein Lichtstrahl in die kleine Wohnung eindringen konnte und sie beide vor der Sonne geschützt gewesen wären. Er hätte unbesorgt bei der geliebten Frau bleiben und auf sie achten können. Corinne war so verzweifelt gewesen, so verwirrt. Wie hatte er es nur über sich bringen können, sie allein zu lassen? Es war umso unverzeihlicher, da er nicht wusste, welche Wirkungen sein Biss auf sie haben würde, denn seine bisherigen Opfer hatte er entweder zu Vampiren gemacht oder getötet. Aber nie zuvor war er in eine Situation geraten, in der er eine angebrochene  >Mahlzeit<  nicht beendete. Was passierte mit einem solch Angefallenen? Blieb er sterblich oder verwandelte er sich ebenfalls in einen Vampir?

Da er die letzte Möglichkeit nicht ausschließen konnte, hatte ihm Corinne versprechen müssen, in der Wohnung zu bleiben, denn er wollte ihr weder zumuten, ihn in den Keller des Raven zu begleiten – wo sie angesichts der vielen Särge zweifellos einen Schock bekommen würde – noch wollte er sie der Gefahr aussetzen, vom Sonnenlicht verbrannt zu werden.

Sicherheitshalber hatte er sie erneut hypnotisiert, damit sie tief schlief und sich erholte. Doch war es wirklich ausgeschlossen, dass sie trotz der Hypnose einen ähnlichen Alptraum haben würde wie heute früh? Wenn das passierte, wäre niemand da, um sie zu beruhigen. Sie könnte in ihrer Angst die Wohnung verlassen, weil sie zu ihrer Cousine flüchten wollte - und wenn sie dann schon kein Mensch mehr war...

Innerlich verfluchte sich LaCroix selbst dafür, nicht bei ihr geblieben zu sein, um das zu verhindern. Einen kurzen Moment überlegte er, zu ihr zurückzukehren, doch dann fiel sein Blick auf die Uhr über der Tür: 6.23 Uhr. Es war eindeutig zu spät für ihn, um das Gebäude zu verlassen. Er konnte nur hoffen, dass sich Corinne an ihr Versprechen hielt und in der Wohnung blieb, bis er wieder bei ihr wäre. Wenn er sie durch seine eigene Unachtsamkeit verlor, würde er sich das niemals verzeihen, niemals...

„Lucien! Komm endlich!“ rief Janette ihm von unten zu. „Du musst dich ausruhen.“

Unwillig gestand er sich ein, dass sie recht hatte, und folgte der Aufforderung. Aber er nahm sich vor, einen anderen Zufluchtsort für den Tag zu finden, denn der Aufenthalt im Keller des Raven war auf die Dauer nichts für ihn, da er gerne allein seinen Gedanken nachhing; und Corinne würde es sicherlich auch nicht gefallen, ihre Schlafstätte mit vielen anderen zu teilen. Bestimmt zöge sie es vor, den Tag an einem sicheren, ruhigen Platz zu verbringen, wo sie allein mit ihm war. Es wäre auch viel angenehmer, wenn er sie in seiner eigenen Ruhestätte verwandeln würde... dann könnte er auch bei ihr sein...

***

Am späten Nachmittag erwachte Inge allmählich und war sehr überrascht, sich in einem Krankenbett wiederzufinden. Danach wunderte sie sich über drei Vasen mit jeweils einem Blumenstrauß, die auf einem Tisch standen, der sich in einigem Abstand direkt gegenüber ihrem Bett befand.

Die junge Frau musste einen Moment überlegen, warum sie hier lag, aber dann erinnerte sie sich wieder schmerzlich an die hässliche Szene mit Wernher, der nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Dabei war sie selbst schuld an ihrem Dilemma. Sie hätte seiner Frau niemals ein Telegramm schicken dürfen – das war ein großer Fehler gewesen. Nichts, nichts machte sie richtig... und ihr Selbstmord schien auch gescheitert zu sein. Fand diese Qual, die man das Leben nannte, denn niemals ein Ende?

Mit tränenverhangenem Blick musterte sie den Schlauch, der an ihrem Arm hing. Doch sie fühlte sich zu schwach, ihn einfach abzureißen. Aber selbst das würde nichts daran ändern, dass sie immer noch lebte.

Dunkel erinnerte sich Inge daran, dass Eva heute früh an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten hatte. Dabei sagte sie so etwas wie „...du kannst solange bei mir bleiben...“ und „...alles wird wieder gut...“  und ähnliche Dinge, als ob sie ihre Freundin wäre. Zu schön, um wahr zu sein, denn Evas Anwesenheit war vermutlich nur ein Traum gewesen.

Inge schloss die Augen und überließ sich ihren Gedanken. Wie sollte es jetzt nur weitergehen ohne Geld und ohne Job... und ohne Wernher? Aber halt, wer hatte sie eigentlich in ihrem Zimmer gefunden und gerettet?

In der jungen Selbstmörderin keimte die Hoffnung auf, dass es ihr Geliebter gewesen sei, dem sein Verhalten ihr gegenüber leid getan und er sie deswegen in ihrem Zimmer aufgesucht und gefunden hatte. Vielleicht wurde tatsächlich noch alles gut zwischen ihr und Wernher?

Sie hielt immer noch an dieser Hoffnung fest, als Michael Fernandez einen Augenblick später an die Tür klopfte und in das Krankenzimmer eintrat. Er registrierte erfreut, dass seine Kollegin wach war, ging auf sie zu und küsste sie vorsichtig auf die Stirn.

„Hallo, Inge, wie fühlst du dich?“

„Danke, ein wenig müde, aber es geht. Schön, dass du da bist.“

Michael holte sich einen Stuhl aus der Ecke und setzte sich neben das Krankenbett. Dann wandte er sich mit ernster Miene an die junge Frau und sagte in besorgtem Ton: „Mein Gott, Inge, du hast uns allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Wenn Eva dich nicht rechtzeitig gefunden hätte... nicht auszudenken!“

„Eva?“ fragte Inge erstaunt, wobei jedem, der genauer hingehört hätte, die Enttäuschung, die in ihrer Frage mitschwang, nicht entgangen wäre. Doch Michael war für so etwas unempfänglich. Er nickte nur und ergriff ihre Hand.

„Es muss etwas sehr Schlimmes gewesen sein, dass dich eine solche Verzweiflungstat begehen ließ, Inge. Warum hast du mir denn nichts gesagt? Du weißt, dass ich dir immer helfen würde.“

Dankbar drückte das Mädchen seine Hand und erwiderte: „Dabei hättest du mir nicht helfen können... niemand hätte mir helfen können...“

„So ein Unsinn, Inge! Schließlich warst du nicht allein in Toronto. Ich dachte, wir wären zusammen mit Wernher ein Team?“

„Wie geht es Wernher? Hat ihn mein Selbstmordversuch sehr getroffen?“

„Wenn er es wüsste, wäre er sicherlich sehr erschüttert“, gab Michael zögerlich zu. Auf den fragenden Blick seiner Kollegin fuhr er fort: „Die Sache ist die: Wernher ist seit gestern Abend verschwunden und niemand weiß, wohin. Die Polizei sucht ihn bereits.“

„Wahrscheinlich finden sie ihn in einer Bar oder in einem...“, Inge stockte ein wenig und sagte dann in verächtlichem Ton: „Etablissement.“

„Glaubst du das wirklich?“ fragte Michael ungläubig. „Ich meine... er ist ein angesehener Mann mit guter Reputation und wird doch nicht einfach hier...“

„Ach, Michael, du hast keine Ahnung!“ unterbrach ihn Inge und begann zu weinen.

„Bitte, reg dich nicht so auf“, bat der junge Mann und fühlte sich hilflos angesichts dieser labilen Frau, die sich nicht beruhigen konnte. Einen Augenblick überlegte er, eine Krankenschwester zu Hilfe zu holen, aber das war unnötig, denn eben klopfte es wieder an die Tür und Eva betrat das Zimmer. Sofort eilte sie auf die weinende Inge zu und streichelte ihren Rücken.

„Was ist denn los?“ fragte sie mitfühlend und reichte ihr ein Papiertaschentuch, das Inge dankbar ergriff. Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und schnäuzte sich. Dann bat sie Eva: „Könntest du das Kopfteil etwas höher stellen?“

„Na klar“, erwiderte die Fotografin, schaute sich am Bett um und fand gleich darauf einen Schalter mit mehreren Symbolen für die Bedienung, der per Kabel mit dem Metallgerüst verbunden war. Ein Fingerdruck genügte, damit sich das Kopfteil langsam und leise summend nach oben bewegte. Erst als Inge ihre Hand hob und „danke, es reicht“ sagte, nahm Eva ihren Finger von dem entsprechenden Knopf. Dann setzte sie sich zu ihr auf das Bett und fragte in behutsamen Ton: „Möchtest du mir erzählen, warum du eben geweint hast?“

„Ich... ich habe mich nur wieder... an Wernher... erinnert“, brachte Inge stockend hervor und bemühte sich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Ich... habe mich daran erinnert, was... nun ja...“

Sie schaute wieder zu Michael und fuhr fort: „Das mit der Reputation, das kannst du vergessen... Wernher hat... er hat sich Prostituierte ins Hotel bestellt...“

„Was? Das ist ja unglaublich!“ meinte der junge Mann in entrüstetem Tonfall. „Und du bist dir absolut sicher?“

„Ich habe eine dieser... hm... Damen... selbst gesehen und gehört“, berichtete Inge. „Außerdem hat Wernher sich vor mir damit gebrüstet, dass er auf... ausgefallene...“

„Schon gut, wir haben es verstanden“, unterbrach Eva sie und warf Michael einen bösen Blick zu. „Du musst es nicht im Detail erzählen. Aber das ist doch nicht der Grund, weshalb du so verzweifelt warst, oder?“

„Nicht direkt“, gab Inge zu und schniefte. „Es hängt mit so vielem zusammen. Ich... ich war so empört über Wernher, dass ich seiner Frau ein Telegramm geschickt habe. Eigentlich dürfte ich mich dann nicht wundern, dass Wernher mich entlassen hat, oder?“

„Weshalb hast du seine Frau informiert?“ fragte Michael verständnislos. „Uns geht es schließlich nichts an, was unser Chef in seiner Freizeit macht.“

„Du warst seine Geliebte, stimmts?“ mischte Eva sich ein.

„Quatsch!“ verteidigte der junge Mann seine Kollegin und warf der Fotografin einen empörten Blick zu. „Inge mag Wernher zwar sehr, aber darauf würde sie sich niemals einlassen.“

„Doch, genau das habe ich getan“, gestand die blonde Frau. „Ich war so verliebt in Wernher und dumm genug zu glauben, er erwidere meine Gefühle.“

Michael starrte sie fassungslos an. Als er die Sprache wiederfand, meinte er: „Aber du wusstest doch bestimmt, dass er nichts anbrennen ließ. Das ist jedem in der Uni bekannt.“

Inges Gesicht verzog sich zu einem schmerzhaften Lächeln.

„Ach, Michael, ich war blind vor Liebe und habe dem Gerede über ihn und seine Affären keine Beachtung geschenkt, weil ich es einfach für blödes Geschwätz hielt. Mittlerweile weiß ich es besser... leider... und dennoch liebe ich ihn immer noch. Wie soll ich nur ohne ihn weiterleben?“

Der junge Mann war blass geworden. Er erhob sich vom Stuhl, entschuldigte sich und verließ das Krankenzimmer. Draußen auf dem Flur atmete er zunächst einmal tief durch und suchte dann den Ausgang, denn er brauchte unbedingt frische Luft.

Michael war Wernher Teichert dankbar gewesen, dass er ihn bisher immer gefördert hatte. Was dessen Frauengeschichten betraf, so hatten sie ihn – bis auf Corinne – nie sonderlich interessiert. Aber Corinne wusste sich zu wehren und brauchte keinerlei Hilfe. Doch im Fall Inge war Teichert eindeutig zu weit gegangen. Er war so gewissenlos gewesen, dieses naive, hilflose Mädchen bedenkenlos zu benutzen und hatte sich dann, als sie mehr von ihm forderte und sich nicht mehr seinem Willen fügte, ihrer durch Entlassung und wahrscheinlich auch Drohungen entledigt. Für einen gefühlvollen, sensiblen Menschen wie Inge, der sich nicht zu wehren wusste, musste dies der Todesstoß gewesen sein, der sie dann zu dem Selbstmord trieb. Aber selbst das würde Teichert kaum berühren, wenn er davon erführe.

„Man muss ihn zur Verantwortung ziehen“, dachte Michael wütend. Er bedauerte, dass er selbst Inge, die derzeit völlig verstört war, nicht helfen konnte. Wenn er nur wüsste, wo sein Chef sich aufhielt, würde er ihn ohne mit der Wimper zu zucken an die Polizei verraten – selbst, wenn dieser am Tod von Thomas Marquardt unschuldig war...

 

 

Als Corinne erwachte und die Augen aufschlug, umgab sie völlige Dunkelheit. Verwirrt fragte sie sich, wo sie sich befand, aber allmählich kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Sie musste eingeschlummert sein, als Lucien sie geküsst und gestreichelt hatte. Danach hatte er vermutlich das Licht gelöscht, damit sie in Ruhe schlafen konnte.

Inge... Himmel... wie mochte es ihr gehen?

Das Mädchen tastete nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe und knipste sie an. Dann erhob sie sich und ging zu dem Stuhl, auf den Lucien ihre Sachen ordentlich hingehängt hatte. Ihre kleine Handtasche befand sich auch dort. Sie griff hinein, holte ihr Mobiltelefon heraus und klappte es auf. Das Display verriet ihr, dass ihr zwei Anrufe entgangen waren. Aus Sorge um Inge wählte Corinne sofort die Mailbox und erfuhr, dass ihre Cousine Nathalie sie bat, sich sofort bei ihr zu melden. Der zweite Anruf war von Eva, die ihr mitteilte, dass es Inge laut Aussage des behandelnden Arztes besser ging. Sie war kurz erwacht, hatte mit Eva gesprochen und war danach viel ruhiger wieder eingeschlafen.

Erleichtert über diese Neuigkeit, wählte Corinne die Nummer von Nathalie. Sie musste es ein paar Mal klingeln lassen, ehe sich die verschlafene Stimmer ihrer Cousine meldete: „Ja?“

„Hallo, Nathalie, ich bins“, antwortete das Mädchen. „Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht. Ich habe bei einem Freund übernachtet...“

„Hm, ich weiß. LaCroix hat mir heute Morgen Bescheid gesagt, damit ich nicht ewig auf dich warte.“

„Wie gut, dass Lucien an alles denkt. Ich habe es völlig vergessen. Tut mir leid, Nat. Aber es ist etwas Furchtbares geschehen und...“

„Ich hab schon von dem Suizidversuch deiner Bekannten gehört“, fiel Nathalie ihr ins Wort. „Gibt es etwas Neues?“

„Sie ist nicht mehr in Lebensgefahr“, erwiderte Corinne.

„Na, wenigstens etwas“, meinte Nathalie, machte eine kleine Sprechpause und fuhr dann fort: „LaCroix deutete an, dass du völlig erschöpft warst. Geht es dir mittlerweile besser?“

„Ich fühle mich eigentlich ganz erholt – als ob ich viele Stunden geschlafen habe.“

„Das hast du auch. Sehen wir uns noch, bevor ich zur Arbeit fahre?“

„Zur Arbeit? Ist es denn schon so spät?“

Nathalie lachte unwillkürlich und fragte: „Hast du etwa noch nicht auf die Uhr gesehen?“

„Ehrlich gesagt – nein“, gab Corinne zu, warf einen raschen Blick auf das Display ihres Handys und las, dass es bereits 17.00 Uhr war, bevor sie den Apparat wieder an ihr Ohr hielt. „Ist es wirklich schon fünf?“

„Ja, meine Liebe. Du hast fast den ganzen Tag verschlafen“, klärte ihre Cousine sie auf. „Also, kommst du heute nochmal nach Hause?“

Corinne wollte spontan bejahen, aber dann fiel ihr ein, dass sie Lucien versprochen hatte, in der Wohnung auf ihn zu warten.

„Ich fürchte, das schaffe ich nicht.“

„Was hindert dich denn daran?“ fragte Nathalie besorgt. „Bist du zu müde? Soll ich dich abholen?“

„Nein, nein, keine Sorge“, erwiderte Corinne schnell. „Ich möchte mich nur noch duschen, etwas essen und dann Inge im Krankenhaus besuchen.“

„Das kannst du auch alles bei mir tun.“

„Das stimmt, Nat, aber ich bin eigentlich hier mit Lucien verabredet.“

„Findest du nicht, dass du Mr. LaCroix etwas zu viel von deiner Zeit schenkst?“

„Ach, Nathalie, ich war vollkommen erledigt und er hat mich in seiner Wohnung übernachten lassen. Was ist so schlimm daran?“

„Schon gut, aber das muss die Ausnahme bleiben. Ich möchte dich morgen früh wieder bei mir in der Wohnung sehen, hast du verstanden?“

„Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass du dir Sorgen um mich machst“, sagte Corinne in gereiztem Ton. „Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, so mit mir zu sprechen. Ich bin kein unmündiges Kind, sondern eine erwachsene Frau! Und wenn ich bei meinem Freund übernachten will, dann tue ich das!“

„Entschuldige, ich hab es wirklich nicht böse gemeint“, erwiderte Nathalie in versöhnlichem Ton. „Aber ich möchte dich halt wenigstens gerne einmal am Tag sehen, damit ich weiß, wie es dir geht. Das verstehst du doch, oder?“

„Ja, natürlich“, gab das Mädchen nach und klang etwas freundlicher. „Wir sehen uns dann also morgen beim Frühstück – versprochen, Nat!“

Corinne legte auf und starrte nachdenklich auf das Mobiltelefon in ihrer Hand. Sie konnte es kaum fassen, dass sie so lange geschlafen hatte. Anscheinend setzte ihr all das, was sie in Toronto erlebte, mehr zu als sie hatte wahrhaben wollen - und damit waren nicht nur die unerfreulichen Dinge sondern auch die angenehmen gemeint. Im Geist ließ sie sie Revue passieren: Ihr Vortrag, das Zusammentreffen mit Teichert, die merkwürdigen Verhaltensweisen von Michael Fernandez, ihre Förderung durch den Kongressleiter, die Stellenangebote, das Wiedersehen mit ihrer besten Freundin, Inges Selbstmordversuch, ihr Auftritt im Radio, neue Freunde und ihre Liebe zu Lucien – und all das in einem Zeitraum von fast vierzehn Tagen. Es war schon sehr viel auf einmal gewesen und sie wäre vermutlich ohne die Hilfe von Lucien zusammengebrochen. Doch er war immer da, wenn sie ihn brauchte, auch gestern...

Ein warmes Gefühl erfüllte Corinne, wenn sie an ihren neuen Freund dachte. Es konnte kein Zufall gewesen sein, dass sie in ihrer ersten Nacht in Toronto seine Radiosendung gehört, dort angerufen und sofort durchgekommen war. Und als sie sich das erste Mal trafen, hatten sie sich auf Anhieb verstanden. Wenn sie außerdem daran dachte, dass sie davor von Lucien geträumt hatte, ohne ihn zu kennen, schien ihr die Begegnung mit ihm ein Wink des Schicksals zu sein, in Toronto zu bleiben und mit ihm ein gemeinsames Leben aufzubauen. Sie konnte sich keinen besseren Partner vorstellen und wollte auch keinen anderen. Allein die Vorstellung, mit ihm zusammenzuleben, machte sie glücklich.

Lächelnd legte sie das Handy auf den Nachttisch und ging ins Bad, um zu duschen. Danach zog sie sich an und untersuchte den Kühlschrank in der Mini-Küche auf etwas Essbares. Doch außer ein paar Eiern, etwas Milch, Käse und Butter befand sich dort nichts. Aber es reichte aus, um ein Rührei zu machen. Mit den Gewürzen in dem kleinen Holzregal neben der Herdplatte war es sogar recht schmackhaft und stillte fürs Erste ihren Hunger.

Dermaßen gestärkt beschloss Corinne, Inge einen Besuch im Krankenhaus abzustatten und später zurückzukehren. Wer wusste schon, wann Lucien kam? Sie hatte jedenfalls keine Lust, untätig in der Wohnung herumzusitzen und stundenlang auf ihn zu warten...

***

Corinne hatte sich gerade an der Rezeption des Krankenhauses erkundigt, in welchem Zimmer Inge Riedel lag und sich auf den Weg dorthin gemacht, als sie von weitem bereits die Gestalt Michaels auf sich zukommen sah. Dieser schien jedoch in Gedanken vertieft zu sein, denn er hatte den Kopf zu Boden gesenkt. Um einem Gespräch mit ihrem Ex-Kommilitonen aus dem Weg zu gehen, flüchtete sich Corinne in die nächstbeste Damentoilette, die sie sah, und beobachtete durch einen kleinen Türspalt, wann Michael verschwunden war. Sobald er das Krankenhaus verlassen hatte und außer Sichtweite war, verließ Corinne die Toilette und ging weiter, bis sie vor Inges Krankenzimmer stand.

Als sie an die Tür klopfte und eintrat, fand sie ihre Bekannte ins Gespräch mit Eva vertieft.

„Guten Abend“, grüßte Corinne die beiden, bevor sie sich an die Kranke wandte. „Blumen habe ich leider keine mitgebracht, aber wenn du sonst irgendetwas brauchst, besorge ich es dir gerne.“

„Im Moment benötige ich nichts, danke“, antwortete Inge und deutete dann mit ihrem Kinn in Richtung des Tisches, auf dem die drei Vasen mit den Sträußen standen.

„Wie ich sehe, bist du mit Blumen bestens versorgt“, stellte Corinne nach einem Blick darauf fest. „Von wem sind sie?“

„Keine Ahnung. Schau doch Mal nach“, forderte Inge sie auf.

Corinne ging also zu dem Tisch und zog die Karten, die sich bei den Sträußen befanden, jeweils heraus und las vor.

„Mit besten Genesungswünschen von der Hotelleitung. – Werde bald wieder gesund. Michael. – Glück und Segen für Sie. Ihr Nicholas Knight.“

„Wer ist Nicholas Knight?“ fragte Inge irritiert. „Ich kann mich nicht erinnern, einen Mann mit diesem Namen zu kennen.“

„Es ist einer der Kollegen meiner Cousine“, klärte Corinne sie auf, die ebenfalls erstaunt war, dass Knight ihrer Bekannten solch ein Präsent gesandt hatte. „Ein Kriminalbeamter.“

„Na gut, aber wie kommt er dazu, mir Blumen zu schicken? Er kennt mich doch gar nicht.“

„Oh doch, Inge“, sagte nun wieder Eva. „Du bist ihm am Sonntag auf dem Kongress aufgefallen; und gestern bekam er mit, dass du versucht hast, dir das Leben zu nehmen. Außerdem ist er auf der Suche nach Teichert.“

„Was will er denn von Wernher?“

„Keine Ahnung“, meinte Eva. „Ich glaube, er braucht ihn wegen einer Zeugenaussage.“

Die Fotografin warf ihrer Freundin einen fragenden Blick zu, aber Corinne zuckte die Schultern und behauptete: „Ich weiß es auch nicht. – Jedenfalls musst du Mr. Knight irgendwie beeindruckt haben, Inge.“

„Wirklich?“ fragte die blonde Frau ungläubig und blickte von Eva zu Corinne, die beide lächelten und ihr aufmunternd zunickten.

„Würde er dir sonst Blumen schicken?“ meinte die Fotografin.

„Ich weiß nicht... vielleicht ist es auch nur Mitleid?“ mutmaßte Inge zögernd.

„Mach dir nicht so viele Gedanken darüber, sondern freue dich einfach über diese kleine Aufmerksamkeit“, schlug Eva vor. „Vermutlich kommt Mr. Knight heute sowieso noch vorbei, da er mit dir sprechen will, sobald es dir wieder besser geht. Dann kannst du dich ja für die Blumen bedanken und erfährst vielleicht bei dieser Gelegenheit, was er sich dabei gedacht hat.“

„Ja, das ist das Beste“, pflichtete Corinne ihrer Freundin bei und setzte sich nun auf den Stuhl, auf dem Michael vorher gesessen hatte. „Mich interessiert jetzt aber vielmehr, wie du dich im Augenblick fühlst.“

„Sehr viel besser, seit Eva da ist“, erwiderte Inge. „Endlich konnte ich mich mit jemandem aussprechen, der mich nicht verurteilt.“

„Wer sollte dich denn verurteilen?“ fragte Corinne stirnrunzelnd.

„Na, zum Beispiel Michael“, antwortete Inge traurig. „Vorhin ist er einfach gegangen... er war so seltsam...“

„Ich glaube nicht, dass Michael dich verurteilt“, meinte Eva. „Wahrscheinlich ist er nur ein wenig geschockt von dem, was er erfahren hat und muss sich ein wenig beruhigen. Er war ziemlich blass, als er ging.“

„Warum sollte Michael dich denn verurteilen?“ wollte Corinne wissen.

„Weil ich... weil... ach...“, wieder füllten sich Inges Augen mit Tränen. „Ich... ich war... ich war so dumm... so dumm...“

„Mit Dummheit hat das nichts zu tun“, widersprach die Fotografin und drückte die Hand der Blondine. „Du bist einfach eine liebende Frau, die von dem Mann nicht loskommt, der ihr schadet. Und es ist kein Verbrechen, sich zu verlieben, Inge. Mach dir keine Gedanken mehr. Wenn du aus dem Krankenhaus entlassen wirst, kommst du zu mir ins Hotel und dann sehen wir weiter, einverstanden?“

„Ja, Eva, ich danke dir“, sagte Inge leise und schniefte ein bisschen.

„Keine Ursache. Erhol dich erst Mal. Wir lassen dich jetzt in Ruhe. Bis morgen, Inge.“

Die Fotografin erhob sich vom Bettrand und Corinne folgte ihrem Beispiel. Die beiden jungen Frauen verabschiedeten sich von ihrer Bekannten und verließen dann das Krankenzimmer.

Wortlos gingen sie eine Weile den Flur entlang, bis Corinne endlich fragte: „Was ist los mit Inge?“

„Nicht hier!“ meinte Eva. „Lass uns irgendwo hingehen, wo wir uns unter vier Augen unterhalten können, dann erzähle ich dir alles.“

„Gut, fahren wir zu Nathalie“, schlug Corinne vor. „Ich brauche sowieso frische Sachen.“

Als ihre Freundin sie fragend ansah, erklärte das Mädchen: „Ich habe bei Lucien übernachtet.“

Ein wissendes Lächeln glitt über das Gesicht der Fotografin.

„Na schön, wenn wir dort unter uns sind, wäre die Wohnung deiner Cousine sicher der geeignetste Ort, um dir zu erzählen, was Inge alles mitgemacht hat.“

Corinne nickte zufrieden und stieg in ein Taxi ein, das gerade jemanden im Krankenhaus abgeliefert hatte. Eva folgte der Freundin, und die beiden jungen Frauen waren innerhalb weniger Minuten vor der Wohnung von Nathalie.

~

Die Ärztin war zwar erstaunt, aber auch beruhigt, als Corinne in Begleitung ihrer Freundin bei ihr ankam. Ein Blick auf ihre jüngere Cousine überzeugte Nathalie davon, dass es ihr gut ging und alle Sorgen um sie überflüssig gewesen waren. Sie wechselten rasch ein paar Worte miteinander, bevor die beiden Mädchen ins Gästezimmer verschwanden und Nathalie das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren. Draußen dämmerte es bereits

Während Corinne sich neue Kleidung aus dem Schrank heraussuchte und sich umzog, erzählte Eva ihr, welche Erlebnisse Inge letztlich zu ihrem Selbstmordversuch getrieben hatten.

„Teichert ist wirklich noch schlimmer, als ich dachte“, meinte Corinne, nachdem ihre Freundin mit ihrem Bericht fertig war. „Und jetzt ist er einfach verschwunden?“

„Jedenfalls hat Michael dies Inge erzählt. Aber es passt gar nicht zu Teichert, dass er verschwindet, ohne jemandem Bescheid zu sagen, wo man ihn finden kann, wenn irgendetwas Wichtiges sein sollte“, sagte Eva. „Seine Karriere geht ihm schließlich über alles.“

„Ach, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Widerling wieder auftaucht. Der alte Schleimbeutel braucht doch seine Auftritte vor Publikum genauso wie ein Fisch das Wasser“, behauptete Corinne und zwang sich zu einem Lächeln. Aber innerlich begann sie bereits wieder, unruhig zu werden. Sie erinnerte sich plötzlich an ihren Alptraum von letzter Nacht und daran, welche Botschaft er ihr übermittelt hatte. Demnach war derjenige, der Thomas auf dem Gewissen hatte, ein Mann, den sie kannte. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass Knight mit seinem Verdacht recht hatte und Teichert der Mörder ihres Freundes war?

„Was ist los?“ fragte Eva.

„Ach nichts. Mich nimmt das alles nur ziemlich mit“, erwiderte Corinne. Sie merkte, wie ihr Kopf zu schmerzen begann und wie sehr ihr all das zusetzte. Sie wollte gar nicht mehr darüber nachdenken... jedenfalls nicht mehr heute Abend. „Bist du mir böse, wenn ich dich jetzt bitte, zu gehen? Ich möchte im Augenblick lieber allein sein.“

„Das kann ich gut verstehen“, meinte die Fotografin, erhob sich und umarmte die Freundin kurz. Besorgt musterte diese sie und meinte: „Für dich ist das alles zu viel, nicht wahr? Soll ich dich wirklich allein lassen?“

„Ja, ich möchte mich einfach nur noch hinlegen und schlafen.“

„Na gut, dann bis morgen. Gute Nacht, Corinne.“

***

Als Nathalie zur Dienststelle kam, erwartete Nicholas sie bereits angespannt. Er hatte schlecht geschlafen und sich selbst die größten Vorwürfe gemacht, dass er nicht genügend auf Corinne geachtet hatte.

„Ist die Kleine nach Hause gekommen?“ fragte er mit besorgtem Gesichtsausdruck, denn er befürchtete, dass genau das eingetreten war, was Janette ihm gestern Nacht prophezeit hatte.

„Ja, Nick, vor kurzem erst – und sie sieht recht erholt aus“, antwortete Nathalie.

„Wirklich?“ Nicholas konnte es kaum glauben.

„Ja, wirklich“, nickte ihm seine Kollegin lächelnd zu. „LaCroix hat mich sogar telefonisch davon unterrichtet, dass Corinne bei ihm übernachtet.“

„Was?!“ entfuhr es Nick, dem diese Nachricht höchst verdächtig erschien. „Wann ist deine Cousine denn nach Hause gekommen?“

„Nun ja, heute Abend, als es bereits dämmerte“, gab Nathalie zu.

„Und du bist dir wirklich sicher, dass es Corinne gut ging? Sie machte nicht etwa einen verwirrten Eindruck oder hatte eine auffallend blasse Hautfarbe?“

„Aber nein! Sie sah gut aus und verhielt sich wie immer“, sagte die Pathologin. Dann stutzte sie und starrte ihn an. „Du glaubst doch nicht etwa, dass LaCroix sie...?“

„Das liegt doch auf der Hand, wenn sie erst am nächsten Abend nach Hause kommt“, meinte Nick und wunderte sich, als Nathalie lächelnd ihren Kopf schüttelte.

„Ich glaube, wir tun LaCroix Unrecht“, verteidigte sie dann den alten Vampir. „Er gab mir deutlich zu verstehen, dass er Corinne sehr gern hat und sie beschützt. Vor ihm hat meine Cousine bestimmt nichts zu befürchten.“

„Er hat wirklich zugegeben, dass er etwas für die Kleine empfindet?“ wunderte sich Nick und wurde immer unruhiger, da Janettes Behauptungen für ihn tatsächlich den Beigeschmack der Wahrheit bekamen.

„Ja, und er versicherte mir, dass er ihr niemals schaden würde“, klärte Nathalie ihn auf. „Mir scheint, ich habe deinen Meister bislang in einem zu negativen Licht gesehen.“

„Nicht so voreilig, Nat“, widersprach Nicholas mit ernstem Gesicht. „Ich glaube, du begreifst die Denkweise LaCroix’ nicht. Wenn er sagt, dass er Corinne niemals schaden will, bedeutet das keineswegs, dass er sie verschont.“

„Ich verstehe nicht ganz, Nick? Dein Meister hörte sich freundlich an und ich nehme ihm ohne weiteres ab, dass er etwas für meine Cousine empfindet.“

„Es entspricht sicher der Wahrheit, wenn der Alte sich so weit herablässt, es zuzugeben“, bestätigte der Polizist. „Aber genau diese Zuneigung ist es, die mich beunruhigt, Nat. Wenn ein Vampir liebt, will er die Geliebte in der Regel bei sich behalten – und das bedeutet, dass er sie beißen und in ein Geschöpf seiner eigenen Art verwandeln wird, damit sie mit ihm die ewige Dunkelheit teilt.“

„Nein, Nick, LaCroix will Corinne nicht schaden – das hat er mir glaubhaft versichert. Wie kannst du da nur auf die Idee kommen, dass er sie zu einer Untoten machen will?!“

„Oh, Nathalie! Für den Alten ist das Vampirdasein kein Fluch, sondern ein Geschenk. Er nannte es im Radio  >das Geschenk der Unsterblichkeit<  und es gibt eine Menge Leute, die gehört haben, wie er es Corinne angeboten hat.“

„Aber er hat ihr nichts getan, Nick!“

„So? Woher willst du das wissen? Hast du dir ihren Hals genauer angesehen?“

Nathalie schüttelte langsam den Kopf.

„Du... du glaubst also, dass... dass sie...?“

„Das werde ich so schnell wie möglich herausfinden, Nat. Vermutlich trifft sie sich heute wieder mit LaCroix im Raven - und ich werde mich ebenfalls dort einfinden.“

„Und was ist, wenn du recht hast? Was, wenn Corinne wirklich...“

„Wenn der Alte sie wirklich auf die dunkle Seite geholt hat, können wir nichts mehr tun, um ihr zu helfen“, seufzte Nick. „Wollen wir hoffen, dass...“

Er unterbrach sich, da er laute Schritte auf sich zukommen hörte und gleich darauf die Stimme seines Kollegen Schanke.

„Hab mir doch gedacht, dass ich dich hier finde, Nick!“

Genervt rollte der Vampir seine Augen nach oben und wandte sich dann zu Don um.

„Was gibt es denn so Dringendes?“ fragte er.

„Es geht um den Fall, den du wieder ins Rollen gebracht hast“, gab Schanke zurück. „Und dein Hauptverdächtiger ist immer noch nicht aufgetaucht.“

„Merkwürdig“, murmelte Nicholas. „Es sieht ganz so aus, als ob er untergetaucht sei. Dabei kann er eigentlich nicht wissen, dass ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Wir deuteten nach außen lediglich an, dass es sich um eine Zeugenbefragung handelte.“

„Es wäre aber auch noch eine andere Möglichkeit denkbar“, erwiderte Don. „Unsere Kollegen von der Tagesschicht waren nicht ganz untätig. Zum einen gaben sie eine öffentliche Vermisstenmeldung nach Teichert heraus, ohne dass es wie eine Fahndung aussieht, und zum anderen liegt ihnen seit ein paar Stunden die Übersetzung des Abschiedsbriefes von Miss Riedel vor.“

Schanke machte eine kleine Pause und warf Nick und Nathalie einen erwartungsvollen Blick zu.

„Schön“, meinte der Vampir. „Und was bedeutet das nun genau?“

„Unsere kleine Selbstmörderin war leidenschaftlich in den Professor verliebt“, fuhr Don daraufhin fort, als könne er es nicht erwarten, diese Neuigkeit loszuwerden. „Anscheinend hatten die beiden sogar etwas miteinander, aber dann wollte er wohl nichts mehr von ihr wissen. Jedenfalls schreibt sie, dass sie ohne ihn nicht mehr leben könne...“

„Ja, das muss die Ärmste zu ihrer Verzweiflungstat getrieben haben“, räumte Nick ein, der wieder einmal heftiges Mitleid für die junge Frau empfand, jedoch nie verstehen würde, dass diese einen Mann liebte, der sie wie ein Stück Dreck behandelte.

„Vielleicht ist Teichert auch gar nicht untergetaucht...“, begann sein Kollege erneut.

„Aber er ist spurlos verschwunden, Don!“

„Na ja, aber vielleicht nicht freiwillig...“

„Was soll das heißen?!“

Nick warf Schanke einen verständnislosen Blick zu, worauf dieser fortfuhr: „Miss Riedel war sehr verzweifelt, dass Teichert sie von sich stieß. Es könnte doch sein, dass sie ihn im Affekt getötet und seine Leiche dann versteckt hat, bevor sie sich selbst umbringen wollte...“

„Was für ein Unsinn!“ rief Nicholas empört aus und schüttelte den Kopf. „Miss Riedel ist nicht einmal in der Lage, einer Fliege etwas zuleide zu tun.“

„Das kann schon sein, Nick, aber im Affekt...“

„Das ist wirklich das Absurdeste, was ich seit langem gehört habe, Don! Schau dir die Kleine doch an! Wie soll so ein zierliches Geschöpf einen großen Kerl wie Teichert denn verstecken?“

„Nun, ihr Kollege Fernandez könnte ihr geholfen haben. Würde mich nicht wundern, wenn er eine Schwäche für das Mädchen hat“, erklärte Schanke ernsthaft. „Ich habe ja gleich vermutet, dass ein Liebesdrama hinter all dem steckt.“

Nicholas schüttelte nur den Kopf und warf einen Blick zu Nathalie, die Schanke ungläubig anstarrte.

„Du solltest Dons Theorie nicht allzu ernst nehmen, Nat“, meinte er daraufhin. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich völlig anders verhält – zumal keine Leiche vorhanden ist.“

„Im Moment noch nicht“, gab Schanke mürrisch zu und schwieg dann. Er wirkte gekränkt.

„Findet ihr nicht, dass es albern ist, euch mit solchen Meinungsverschiedenheiten aufzuhalten, obwohl es noch keine konkreten Anhaltspunkte für die eine oder andere Theorie gibt?“ fragte Nathalie, der wieder ihre Cousine in den Sinn kam. „An eurer Stelle würde mich zunächst einmal um Dinge kümmern, die nachgeprüft werden können.“

Sie warf Nicholas einen bittenden Blick zu und er verstand.

„Du hast recht, Nat. Es wird Zeit, dass ich Corinne noch einmal vernehme.“

„Weswegen denn?“ fragte Schanke erstaunt. „Was hat Miss Lambert damit zu tun?“

„Immerhin wird Teichert des Mordes an dem Lebensgefährten meiner Cousine verdächtigt!“ erwiderte Nathalie in heftigem Ton.

„Das habe ich beinah vergessen“, gab Don zu. „Für Corinne ist das sicher alles andere als einfach, nicht wahr? Wie geht es ihr im Moment?“

„Schwer zu sagen“, antwortete die Pathologin. „Sie macht einen gefassten Eindruck.“

„Ich glaube, dass sie sich sehr beherrscht“, meinte Nicholas. „Als ich sie das letzte Mal sah, war sie völlig durcheinander. Deshalb möchte ich auch ein längeres Gespräch unter vier Augen mit ihr führen.“

„In Ordnung, Nick“, sagte Schanke. „Aber vorher müssen wir noch eine Zeugenbefragung vornehmen.“

„Zeugenbefragung?“

„Ja, denn auf unsere Vermisstenanzeige meldete sich ein Taxifahrer, der Teichert gestern Abend in ein Antiquitätengeschäft gebracht hat. Der Besitzer des Ladens wäre demnach die letzte Person, die ihn nach unserem Kenntnisstand lebend sah.“

„Hoffen wir, dass diese Spur richtig ist. Möglicherweise ist dieser Händler ein Bekannter Teicherts, der ihn versteckt hält. Wie lautet sein Name?“

„Es handelt sich um einen gewissen Arthur McDonavan“, erwiderte Schanke nach einem Blick auf seinen Notizblock, den er aus der Tasche gezogen hatte. Dabei bemerkte er nicht, wie Nicholas bei der Nennung dieses Namens unmerklich etwas zusammenzuckte. Aber Nathalie fiel es sofort auf.

„Was ist los?“ fragte sie leise, doch Nick schüttelte den Kopf und wandte sich dann wieder seinem Kollegen zu.

„Dann lass uns mal zu diesem McDonavan gehen, Don. Bin gespannt, was er uns berichten wird.“                    

 

Nachdem Eva gegangen war, hatte Corinne sich allein in das Gästezimmer zurückgezogen und endlich den Brief ihrer Schwester geöffnet. Er enthielt ein mehrfach in Papier eingeschlagenes, kleines Schächtelchen, in dem sich ein Paar silberner Ohrstecker befand. Es hatte die Form einer Blume mit einem runden, grünen Türkis in der Mitte. Anbei lag noch eine Grußkarte von Christine:

Alles Gute zum Geburtstag, Schwesterchen! Den Schmuck habe ich exklusiv für dich gefertigt, passend zu dem Schmetterlingsanhänger unseres Großvaters. Ich hoffe, dass er dir gefällt, und drück dich ganz fest.

Herzlichst Christine.

 

Normalerweise hätte Corinne sich über dieses Präsent gefreut, aber im Augenblick fühlte sie sich nur leer und erschöpft. Gedankenverloren starrte sie auf die hübschen Ohrstecker und glitt dabei allmählich in den Schlaf hinüber. Ihr Körper sank automatisch auf das Bett, wobei der Schmuck ihr aus den Händen fiel und auf die Decke rollte. Sie ahnte nicht, dass Lucien sie zu eben jenem Zeitpunkt durch das Fenster beobachtete und allmählich vom Zorn übermannt wurde.

~

Der alte Vampir hatte schlecht geschlafen, denn seine Sorgen um Corinne ließen ihn immer wieder erwachen. Voller Ungeduld erwartete er den Sonnenuntergang und flog sofort nach der Dämmerung in das gemietete Appartement. Erschrocken erkannte er, dass seine Geliebte fort war, ohne eine Nachricht für ihn hinterlassen zu haben. Mit einer Mischung aus Angst und Hoffnung führte der nächste Weg ihn in das Krankenhaus, in dem Inge Riedel lag. Aber auch hier fand er Corinne nicht. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken, dass sein kleiner Engel in der Sonne verglüht sein könnte, und er wollte sich schon verzweifelt in einen einsamen Winkel Torontos zurückziehen, als ihm einfiel, noch einmal in die Wohnung von Nathalie Lambert zu schauen. Ohne große Hoffnung darauf, Corinne jemals wiederzusehen, war er hingeflogen. Umso mehr freute er sich im ersten Moment über ihren Anblick. Doch dann bemerkte er die Ohrstecker in ihrer Hand und ihm kam der Gedanke, dass sie deswegen zu ihrer Cousine zurückgekehrt sein könnte. Dann fragte er sich plötzlich, von wem sie diese Schmuckstücke bekommen hatte. Derjenige schien offenbar so wichtig für Corinne zu sein, dass sie deswegen ihr Versprechen ihm gegenüber gebrochen und sich in Gefahr begeben hatte. Doch das würde er nicht so einfach hinnehmen. Niemand reizte ungestraft Lucien LaCroix – nicht einmal das Mädchen, das er liebte.

Maßlos verärgert über Corinnes vermeintliche Untreue landete er im Schatten des Hochhauses und begab sich zum Eingang desselben. Wütend musterte er die Reihe der Klingelknöpfe, drückte dann mit voller Wucht seinen Daumen auf die Klingel, neben der in gut lesbarer Schrift N. Lambert stand, und nahm ihn erst fort, als er die ängstliche Stimme seiner Geliebten hörte: „Ja? Wer ist da?“

„ÖFFNE MIR SOFORT DIE TÜR, CORINNE!“ schrie er zornig in die Sprechanlage.

„Lucien?“ fragte das Mädchen zuerst zaghaft, dann jedoch stellte es erleichtert fest: „Oh, Lucien, du bist es! Bitte, komm hoch!“

Mit Erstaunen hörte LaCroix, dass sie sich über seine Anwesenheit zu freuen schien und es kaum erwarten konnte, ihn zu sehen. Sein Zorn ebbte ein wenig ab. Dennoch eilte er leicht verärgert die Treppen hoch, bis er vor ihrer offenen Tür stand. Sie zog ihn in den Flur hinein, schloss die Tür und fiel ihm dann um den Hals.

„Ach, Liebster, ich bin so froh, dass du da bist!“ hauchte sie ihm ins Ohr.

Eigentlich hatte er lospoltern wollen, aber das war ihm jetzt nicht mehr möglich. Dieses süße Geschöpf, das er in seinen Armen hielt, besaß eine unglaubliche Macht über ihn. Einerseits beunruhigte ihn diese Tatsache, andererseits gestand er sich ein, dass Corinne zu einem Teil seines Lebens geworden war, den er nicht mehr missen mochte. Das bewies allein schon der Umstand, dass er fast krank vor Sorge um sie gewesen war.

„Ist ja schon gut“, hörte er sich mit leiser Stimme sagen. Dann schob er sie mit sanfter Gewalt von sich und musterte sie. „Nun verrate mir doch, mein Mädchen, warum du nicht in unserem Appartement geblieben bist, wie du es versprochen hast?“

„Es tut mir leid, Lucien“, erwiderte Corinne. „Aber ich habe mich um Inge gesorgt und sie deshalb im Krankenhaus besucht.“

„Tatsächlich? Wie spät war es?“ fragte LaCroix mit lebhaftem Interesse.

Die junge Frau warf ihm einen verwunderten Blick zu und antwortete: „Etwa halb sechs oder ein wenig später. Was spielt das für eine Rolle?“

LaCroix zog sie heftig an seine Brust.

„Es war unverzeihlich von mir, dich allein zu lassen“, murmelte er. „Du ahnst gar nicht, wie sehr ich mich um deine Sicherheit gesorgt habe.“

„Aber warum denn, Lucien?“

„Nun ja, Fernandez oder dieser Wernher Teichert könnten dich zum Beispiel wieder belästigen“, behauptete der alte Vampir, wobei er innerlich grinsen musste; schließlich hatte er maßgeblich dazu beigetragen, dass Teichert niemandem mehr schaden würde. Aber momentan brauchte er Corinne den wahren Grund seiner Besorgnis um sie nicht zu verraten. Um 17.30 Uhr war es noch Tag gewesen, und da sie zu dieser Zeit unbeschadet das Haus verlassen hatte, musste sie immer noch sterblich sein.

„Vielleicht... vielleicht ist Teichert ja tatsächlich...“, begann Corinne, ohne den Satz zu beenden.

„Ja? Was wolltest du sagen, Liebling?“

„Nun ja... er ist verschwunden“, erklärte sie. „Könnte er nicht doch der Mörder von Thomas sein?“

„Ich dachte, du hältst dies für Unfug?“ wunderte sich LaCroix.

„Ja, das war auch so“, gab Corinne zu. „Aber mittlerweile habe ich meine Meinung geändert. Findest du es nicht auch merkwürdig, dass er gerade jetzt verschwunden ist, kurz bevor die Polizei sich für ihn interessierte?“

„Möglicherweise hat das nichts miteinander zu tun“, tat der Vampir dies ab. „Dieser Mann verhält sich nicht gerade so, als wolle er sich bei allen beliebt machen, oder?“

„Ja, da stimmt! Er setzt sich über vieles hinweg... vor allem über die Gefühle anderer Menschen...“, murmelte das Mädchen traurig. „Hauptsächlich besteht sein Interesse darin, alles zu erreichen, was er will. Dabei geht er über Leichen...“

„Wie kommt es, dass du ihm nun so etwas zutraust, Corinne?“

„Inge wollte wegen ihm ihr Leben fortwerfen, Lucien! Teichert ist es gelungen, ihre Persönlichkeit derart zu zerstören, dass sie ihn quasi wie einen Gott verehrte und ihm zu Willen war. Sie ertrug seine Launen und all die Kränkungen, die er ihr zufügte – dennoch liebte sie ihn abgöttisch.“

„Das ist etwas nur allzu Menschliches“, erklärte Lucien mit leisem Spott.

„Also ich könnte niemanden lieben, der mich so behandelt“, meinte Corinne und schüttelte den Kopf. „Würdest du noch mit jemandem schlafen, nachdem er dich in Gegenwart einer Prostituierten beleidigt hat?“

„Bei mir würde es gar nicht soweit kommen, denn zuvor...“, LaCroix hielt rechtzeitig inne, um sich nicht zu verraten. Doch natürlich spitzte seine Freundin die Ohren.

„Ja, Lucien?“

„Nun...“, er zögerte und schaute sie nachdenklich an. Ihm war klar, dass sie keine Ruhe gab, ehe sie eine Antwort erhielt. „Von so einem Menschen würde ich mich schneller trennen, als er  >A<  sagen kann. Warum sollte ich mit dieser Person meine Zeit verschwenden?“

„Und wenn du dermaßen starke Gefühle hättest, dass dir eine Trennung unmöglich ist?“

„Ach, Corinne!“ seufzte LaCroix. „Es ist müßig, sich über dieses Thema den Kopf zu zerbrechen. Es gibt nun einmal Menschen, die einem anderen hörig sind. Man kann ihnen nicht helfen -  auch du nicht, Liebes.“

„Aber...“

„Nein, nein! Kein Wort mehr über die seelischen Nöte deiner schüchternen Bekannten. Glaubst du etwa, Teichert ist wegen ihr verschwunden?“

„Das nicht gerade – doch nach all dem, was Inge mit ihm erlebt hat, halte ich es nicht mehr für unmöglich, dass dieser Mann über Leichen geht. Ich verstehe nur nicht ganz, weshalb er Thomas ermordet haben sollte... es nützte ihm doch gar nichts!“

„Beruhige dich, Corinne“, sagte der alte Vampir. „Ich glaube nach wie vor nicht daran, dass Teichert ein Mörder ist – und du solltest dir auch nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen. Verrate mir lieber, warum du jetzt hier bist, statt nach deinem Krankenbesuch in das Appartement zurückzukehren, und warum du mir dann nicht wenigstens eine schriftliche Nachricht hinterlassen konntest.“

„Es tut mir wirklich leid, Lucien“, entschuldigte sich das Mädchen. „Ich wollte eigentlich in deine Wohnung zurückkommen, nachdem ich mich hier umgezogen habe, doch die Schilderungen Evas über Inge haben mich dermaßen aufgewühlt, dass ich alles andere vergessen habe.“

„Du bist also zum Kleiderwechseln hergekommen?“ fragte LaCroix erstaunt, dem die Ohrstecker wieder einfielen. „Ist das der einzige Grund gewesen?“

„Natürlich! Warum sonst sollte ich mich hier aufhalten, da wir doch bei dir miteinander verabredet waren?“

Der alte Vampir fühlte sich unglaublich erleichtert, als er das hörte.

„Schön, dass du dich wieder daran erinnerst“, meinte er dann und lächelte. „Wie wäre es, wenn wir zusammen ausgingen, damit du auf andere Gedanken kommst, Corinne?“

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“

„Natürlich – oder willst du dich ebenso wie diese Inge von der Person Teicherts beherrschen lassen?“

„Nein, aber...“

„Deine Schuldgefühle gegenüber deiner Bekannten entbehren auch jeder Grundlage, Liebling“, schnitt LaCroix ihr das Wort ab. „Es ist zwar tragisch, dass Inge sich aus Liebeskummer das Leben nehmen wollte, aber dafür kannst du nichts. Sie ist dem Kerl nun einmal hörig gewesen und das ist ganz allein ihr Problem – nicht deins!“

„Also gut, vielleicht hast du recht“, gab Corinne endlich nach. Sie merkte, dass seine Worte sie innerlich wieder beruhigten. Außerdem machte sich jetzt auch ihr Magen bemerkbar, der heute noch keine richtige Mahlzeit bekommen hatte. „Könnten wir etwas essen gehen, Lucien?“

„Alles, was du willst, mein kleiner Schmetterling“, erwiderte er und musste lächeln. Wenn sie hungrig war, deutete dies klar darauf hin, dass sie immer noch zu den Sterblichen zählte.

***

Arthur McDonavan saß hinter der Ladentheke und sah erstaunt auf, als Nicholas und Schanke sein Geschäft betraten.

„Guten Abend, meine Herren, was kann ich für Sie tun?“ fragte er und erhob sich.

„Wir brauchen nur eine kleine Auskunft“, antwortete Schanke und zeigte dem Antiquitätenhändler seinen Dienstausweis. Dieser warf einen kurzen Blick darauf und nickte. Dann schaute er neugierig zu Nicholas, den er manchmal im Raven gesehen hatte. Sie kannten sich kaum. Dennoch wusste er durch Janette, dass es sich bei dem jüngeren Mann um ihren früheren Gefährten handelte, der sie jedoch verlassen hatte, um einen Weg zu finden, wieder sterblich zu werden. Nachvollziehen konnte er den Wunsch dieses Nicholas ebenso wenig wie sein Verhalten gegenüber einer so schönen Frau wie Janette.

„Mein Kollege, Mr. Knight“, stellte Schanke ihn knapp vor und zog dann ein Foto von Wernher Teichert aus seiner Manteltasche, das er McDonavan zeigte. „Kennen Sie diesen Mann?“

Der Antiquitätenhändler ließ sich etwas Zeit, ehe er antwortete: „Ja, dieser Typ war gestern Abend in meinem Laden, um sich einige Grafiken anzusehen.“

„Ist er ein guter Bekannter von Ihnen, Mr. McDonavan?“

„Nein, lediglich ein Kunde. Außer seinem Nachnamen weiß ich nichts über ihn.“

„Wie kam er dann ausgerechnet darauf, Ihren Laden zu besuchen? Schließlich liegt das Geschäft nicht gerade auf der Hauptstraße und es sieht auch nicht danach aus, als würden Sie viel verkaufen“, meinte Schanke.

„Ich habe meine Stammkunden“, erwiderte Arthur in sachlichem Ton. „Einer von ihnen muss dem Mann, den Sie suchen, meine Adresse gegeben haben. Er wies sich mir gegenüber als Sammler bestimmter Grafiken aus und wollte wissen, ob ich nicht einige schöne Stücke für ihn hätte.“

„Um welche Art von Grafiken handelte es sich?“ mischte sich nun Nicholas ein, der das Gefühl nicht loswurde, dass McDonavan etwas verschwieg.

„Erotische Grafiken“, erklärte Arthur lächelnd. „Um genau zu sein: Er interessierte sich vor allem für weibliche Akte und ich zeigte ihm welche.“

„Hat er Ihnen etwas abgekauft?“ wollte Schanke wissen.

„Ich sollte ihm eine Grafik zurücklegen, die ihm gefiel“, behauptete der Händler. „Er verließ meinen Laden mit dem Versprechen, bald mit dem nötigen Geld wiederzukommen. Aber danach tauchte er nicht mehr hier auf. Hat er etwa irgendetwas ausgefressen?“

„Nein, er ist nur verschwunden“, sagte Nicholas und war sich sicher, dass McDonavan sie eben belogen hatte. „Sie haben wirklich keine Ahnung, was mit ihm passiert sein könnte?“

„Nein, leider nicht! Sie ahnen gar nicht, wie gern ich den Vermissten als neuen Kunden gewonnen hätte.“

„Kann jemand bezeugen, dass Mr. Teichert Ihren Laden wieder verlassen hat?“ fragte Nicholas in strengem Ton.

„Glücklicherweise war ein guter Freund von mir ebenfalls gestern Abend anwesend“, erwiderte Arthur gelassen. „Ich glaube, dass er Ihnen gut bekannt sein dürfte, Mr. Knight. Sein Name ist Lucien LaCroix.“

„Was?!“ entfuhr es Nick überrascht. „LaCroix war gestern Abend bei Ihnen?“

„Ja, daran ist doch nichts Ungewöhnliches. Ich habe ihn zum Dinner eingeladen“, gab Arthur lächelnd zurück. „Er kam gerade vorbei, als Mr. Teichert sich im Laden befand.“

„Gut! Ich werde das überprüfen“, erwiderte Nick und verließ das Geschäft.

Schanke starrte seinem Partner verwundert nach und wandte sich dann an Arthur: „Vielen Dank für Ihre Kooperation, Mr. McDonavan. Falls wir noch weitere Fragen an Sie haben, melden wir uns.“

„Ich helfe Ihnen gern, wenn ich kann“, versicherte der Antiquitätenhändler freundlich. „Schließlich handelt es sich bei Mr. Teichert um einen potentiellen neuen Stammkunden. Sie sehen also, dass es in unser beider Interesse ist, wenn Sie den Vermissten so schnell wie möglich finden.“

***

LaCroix saß mit Corinne an einem Tisch in einer stillen Ecke eines kleinen Restaurants und beobachtete erstaunt, mit welchem Appetit sie aß. Er selbst hatte sich nur ein Glas Wein bestellt, an dem er hin und wieder nippte, während er die junge Frau kaum aus den Augen ließ.

„Möchtest du wirklich nichts probieren, Lucien?“ fragte sie ihn.

„Mach dir keine Gedanken um mich“, erwiderte er. „Ich habe bereits sehr ausgiebig gespeist. Aber du scheinst ziemlich hungrig zu sein, Liebling. Hast du denn heute noch nichts gegessen?“

„Nur ein Rührei am Spätnachmittag, sonst nichts.“

LaCroix schüttelte den Kopf und murmelte: „Dann iss dich satt, meine Kleine. Wenn du noch etwas willst, dann bestell es ruhig.“

Er betrachtete Corinne und dachte daran, dass dies hier wahrscheinlich die letzte Mahlzeit sein würde, die sie zu sich nahm. Der tiefe Schmerz, den er bei ihrem Verschwinden empfunden hatte, ließ ihn vorhin zu dem Entschluss gelangen, sie so schnell wie möglich auf die dunkle Seite zu holen. Natürlich ahnte der kleine Engel, der ihm arglos gegenübersaß, nichts davon. Aber er liebte diese junge Frau und wollte ihre Gegenwart nicht mehr missen. Er hatte sowieso schon zu lange aus Rücksicht auf sie gezögert und fragte sich gerade, warum eigentlich. Er war sich ziemlich sicher, dass ihr eine Existenz als Vampir gefiele. Denn welcher Mensch würde nicht die Möglichkeit ergreifen, ewig jung und unsterblich zu bleiben, wenn sie sich ihm böte?

Und sie war schön, seine Corinne, so wunderschön, dass sie eigentlich keines Schmuckes mehr bedurfte. Dennoch harmonierten die Ohrstecker, die – wie er inzwischen wusste - ein Geschenk ihrer Schwester waren, sehr gut mit ihrem Schmetterlingsanhänger und seinem Ring – sie schienen drei Teile eines zusammengehörigen Ganzen zu sein. Zu ihren tiefgrünen Katzenaugen passten sie wunderbar; und er war so froh, wieder in diese schönen Augen blicken zu dürfen.

Spontan beugte er sich zu ihr vor und legte seine große Hand auf ihre feingliedrige.

„Ich wünschte, du bliebest für immer bei mir“, murmelte er.

Sie strahlte ihn an.

„Das tue ich, Lucien“, erwiderte sie mit sanfter Stimme. „Man hat mir nämlich eine Stelle an einer Privatschule angeboten und ich werde sie annehmen. Meinst du, dass wir zusammenziehen könnten?“

„Ja, mein Engel“, sagte er leise. „Ich bin gerade dabei, mich nach einer passenden Wohnung für uns beide umzusehen.“

„Dann hattest du also denselben Gedanken wie ich, Liebster?“

„Ja, mein Engel.“

LaCroix führte ihre Hand an seine Lippen und küsste sie.

„Ich wusste es...“, murmelte sie. „Wir gehören ganz eindeutig zusammen.“

Der alte Vampir nickte lächelnd und sah sie zärtlich an.

„Hast du denn schon eine Wohnung für uns im Auge?“ fragte sie aufgeregt.

„Leider noch nicht“, gab er seufzend zu. „Glaub mir, ich würde lieber heute als morgen mit dir zusammenleben.“

„Mir geht es genauso, Liebster“, sagte sie und entzog ihm wieder ihre Hand. „Vielleicht sollten wir uns mal bei deinen Bekannten im Raven umhören. Bestimmt weiß der eine oder andere, wo etwas frei wird.“

„Ach, ich weiß nicht...“, meinte er missmutig. „Ich wäre viel lieber mit dir allein, Corinne.“

„Wir brauchen ja nicht lange zu bleiben“, erwiderte sie. „Aber bevor wir ins Raven gehen, hätte ich Lust auf eine Mousse au chocolate. Was meinst du, Lucien?“

„Du kannst essen, was immer du willst, ma chère.“

„Schon, aber möchtest du nicht wenigstens einen Nachtisch, Liebster?“

„Nein, nicht diese Art von Nachtisch“, murmelte LaCroix, wobei seine eisblauen Augen für einen kurzen Moment aufblitzten. „Mir schwebt da etwas ganz anderes vor...“

Corinne lachte leise und errötete.

„Ich fürchte, da wirst du dich noch eine Weile gedulden müssen, Lucien. Denn ich bin fest entschlossen, ins Raven zu gehen.“

„Also schön, wenn du unbedingt willst, dann statten wir Janette einen Besuch ab“, gab er nach. Im Grunde war es keine schlechte Idee, sie – und damit alle anderen – darüber zu informieren, dass er eine andere Bleibe suchte, weil er mit Corinne zusammenleben wollte. Auf diese Weise stellte er endgültig klar, dass die junge Sterbliche seine Auserwählte und damit für alle anderen Vampire tabu war.

Janette stand allein hinter ihrem Tresen und rauchte genüsslich eine Zigarette, als Nicholas auftauchte.

„Allmählich wirst du Stammgast bei mir“, begrüßte sie ihn mit ironischem Unterton. „Kann ich etwas für dich tun?“

„Ich suche LaCroix und Miss Lambert“, teilte er ihr in knappen Worten mit.

„Sie sind nicht hier, Nicholas.“

„Aber ich muss beide sofort sprechen!“

„Dein Problem“, gab Janette kühl zurück. „Schließlich kann ich sie nicht herbeizaubern.“

„Dann verrate mir wenigstens, wo sich LaCroix gerade aufhält“, bat Nick sie.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass er mir nicht mitteilt, wohin er geht!“

„Ach komm, Janette! Du erwartest doch nicht etwa, dass ich dir das abnehme? Schließlich warst du jahrhundertelang seine Vertraute. Warum sollte sich daran etwas geändert haben? Zumal du dem Alten tagsüber Zuflucht in dem Keller dieses Clubs gewährst.“

„Das ist nicht verboten!“

„Sag mir sofort, wo LaCroix ist, sonst...“

„Was sonst?“

„Nun, ein kleiner anonymer Hinweis, dass sich in deinem Keller ein Drogenlager befindet, könnte euch einen Besuch der entsprechenden Beamten dieses Dezernats bescheren. Was, wenn sie tagsüber die Kellertür aufließen, während sie einen Sarg nach dem anderen öffnen, weil sie dort die versteckten Drogen vermuten? Meinst du nicht auch, dass ein winziger Sonnenstrahl deinen Teint verderben würde, Janette?“

„Das wagst du nicht!“ zischte die Vampirin.

„Darauf würde ich es an deiner Stelle nicht ankommen lassen“, meinte Nicholas kühl. „Also, wo ist LaCroix?“

Janette warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, den er ebenso erwiderte.

„Ich weiß es wirklich nicht!“ knurrte sie dann. „Vermutlich ist er bei seiner kleinen Freundin. Warum klingelst du nicht einfach Mal an der Wohnungstür von deiner Nathalie?“

Sie nahm wahr, dass zwei neue Gäste ihr Lokal betraten und richtete ihren Blick auf den Eingang. Dann fuhr sie mit kalter Stimme fort: „Du scheinst verdammtes Glück zu haben, edler Ritter! Die von dir gesuchten Personen sind soeben gekommen.“

Nicholas drehte sich um und sah, wie LaCroix Corinne zu einem großen Tisch in der linken Ecke des Clubs geleitete, an dem Danielle und Jamie saßen, die über den Anblick der beiden erfreut waren. Nachdem Lucien seiner Freundin galant einen Stuhl zurechtgerückt und sie sich auf denselben niedergelassen hatte, setzte er sich neben sie. Der zärtliche Blick, den er dabei der jungen Sterblichen schenkte, löste in Nicholas ein mulmiges Gefühl aus. Wenn er McDonavans Worte richtig interpretierte, so hatten dieser und LaCroix sich gestern Abend an dem Blut seines Hauptverdächtigen gütlich getan, was ihnen aber niemand nachweisen konnte. Und dennoch saß sein Meister jetzt hier und verhielt sich so, als ob nichts geschehen wäre.

Zu allem Überfluss tauchte nun auch noch McDonavan selbst auf, schaute sich um und ging dann wie selbstverständlich zu dem Tisch, an dem Corinne und LaCroix saßen. Er beugte sich ein wenig zu dem alten Vampir hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf dieser sich erhob und mit ihm in einen anderen Raum verschwand.

Nicholas erkannte seine Chance, Nathalies Cousine eventuell unbehelligt aus dem Club zu bringen. Er eilte an ihren Tisch und sprach sie direkt an.

„Guten Abend, Miss Lambert.“

„Mr. Knight?!“ rief Corinne überrascht aus. „Ist man vor Ihnen denn nirgendwo sicher?“

„Tut mir sehr leid, aber wäre es möglich, dass wir uns unter vier Augen unterhalten könnten?“ fragte Nicholas und sandte einen bittenden Blick an Jamie. Dieser nickte, stieß seine Schwester leicht mit dem Ellenbogen an, worauf sie sich mit ihm erhob und in der Menge verschwand. Sobald sie fort waren, setzte sich Nick an den Tisch und betrachtete sich Corinne eingehend.

„Warum schauen Sie mich denn so an?“ fragte das Mädchen verwundert. „Ich dachte, Sie wollten mit mir sprechen.“

„Wie fühlen Sie sich, Miss Lambert?“

„Es geht mir gut, Mr. Knight, kommen Sie endlich zur Sache!“

„Haben Sie heute schon etwas gegessen?“

„Warum stellen Sie mir so merkwürdige Fragen, Mr. Knight?“

„Glauben Sie mir, Corinne, diese Fragen haben alle einen ernsten Hintergrund“, erklärte er. „Also beantworten Sie sie bitte. Haben Sie heute schon gegessen?“

„Ja, ich hatte eine recht gute Mahlzeit“, erwiderte sie zögerlich, betrachtete ihn aber mit einem Blick, als zweifele sie an seinem Verstand. „Falls Sie also geplant haben, mich zum Dinner einzuladen, kommen Sie zu spät.“

„Und Sie fühlen sich auch kein bisschen müde oder gar erschöpft?“

„Ich sagte Ihnen bereits, dass es mir gut geht. Doch ich glaube, Sie verfolgen mit dieser Fragerei einen ganz bestimmten Zweck. Was steckt dahinter, Mr. Knight?“

„Das hier ist ein sehr gefährlicher Ort für eine junge Frau wie Sie, Corinne, und es wäre besser, wenn Sie mit mir diesen Club sofort verlassen. Kommen Sie!“

„Das werde ich auf keinen Fall tun!“ erklärte das Mädchen trotzig.

„Wenn Sie bleiben, sind Sie in großer Gefahr, Corinne“, sagte Nick eindringlich. „LaCroix mag ja ganz charmant zu Ihnen sein, aber er ist ein Dämon, der Ihnen das Leben nehmen wird.“

„Was reden Sie nur für einen Unsinn! Lucien liebt mich!“

„Ja, genau das sollen Sie glauben“, erklärte der Polizist. „Es ist ein Kennzeichen dämonischer Wesen, dass Sie äußerst verführerisch sind und es verstehen, die Menschen für sich einzunehmen.“

„Sie sind doch verrückt!“ meinte Corinne ungehalten und schüttelte den Kopf. „Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?“

„LaCroix ist ein Vampir, der es auf Sie abgesehen hat“, erwiderte Nick leise und sah sich gleich darauf vorsichtig nach allen Seiten um, ob niemand ihr Gespräch belauscht hatte. Da dies nicht der Fall zu sein schien, reichte er Corinne seine Hand und flüsterte: „Bitte, lassen Sie uns von hier verschwinden, bevor LaCroix wieder auftaucht.“

Aber die junge Frau starrte ihn nur einen Moment sprachlos an, lachte dann kurz trocken auf und zischte ihn plötzlich wütend an: „Ja, verschwinden Sie endlich aus meiner Nähe, Mr. Knight! Ich habe es wirklich satt, mir Ihre absurden Verleumdungen über Lucien anzuhören, und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir in Zukunft aus dem Weg gehen würden.“

„Gibt es etwa Probleme?“ ließ sich nun Janette vernehmen und trat mit einem großen Glas Cola zu den beiden an den Tisch, wo sie das kalte Getränk vor Corinne abstellte. Mit lieblichem Lächeln fragte sie das Mädchen: „Das ist doch recht so, oder?“

„Ja, vielen Dank!“ sagte Corinne und war froh, die Clubbesitzerin in ihrer Nähe zu haben. Mit einem Seitenblick auf Nick meinte sie dann: „Ich glaube, Mr. Knight möchte gehen.“

„Das kann er gerne tun“, erwiderte die Vampirin freundlich, ohne ihren früheren Gefährten anzusehen. „Niemand hält ihn auf.“

„Das könnte euch so passen! Aber ich bleibe, da ich ein ernstes Wort mit LaCroix wechseln muss!“

„Ach was! Gerade eben wollten Sie doch noch gehen“, spottete Corinne. „Woher der plötzlich Sinneswandel?“

„Ich versuche lediglich, ein eigensinniges, kleines Mädchen zu schützen“, antwortete er ärgerlich.

„Nun, ich kann kein Kind hier entdecken“, gab Corinne zurück.

„In diesen Club werden auch keine Kinder hereingelassen“, bestätigte Janette. „Du bist an diesem Ort also vollkommen überflüssig, Nicholas.“

„Ich gehe nicht eher, bis ich mit LaCroix gesprochen habe!“ erklärte der Polizist mit fester Stimme.

„So, so? Was willst du denn von mir, Nicholas?“

Lucien war mit  McDonavan gerade eben aus dem Nebenzimmer herausgekommen und hatte den letzten Satz des jüngeren Vampirs gehört. Dieser erhob sich, als er ihn erblickte, ergriff ihn am Arm und zog ihn ein wenig von dem großen Tisch fort. Dabei interessierte es Nick überhaupt nicht, dass Corinne, Janette und der Antiquitätenhändler ihn verständnislos anstarrten. Sobald er glaubte, außer Hörweite der drei zu sein, fragte er seinen Meister mit leiser Stimme vorwurfsvoll: „Schämst du dich eigentlich gar nicht, ein junges Ding wie Corinne zu verführen? Sie ist so arglos und scheint dich wirklich zu mögen.“

„Ja, ein lieblicher, kleiner Engel, nicht wahr?“ murmelte er und sah wieder mit zärtlichem Blick zu der jungen Sterblichen, der er ein Lächeln schenkte.

„Meinst du das im Ernst?“ fragte Nick und starrte seinen Meister fassungslos an.

„Natürlich, was glaubst du denn?“ erwiderte LaCroix und warf seinem Gegenüber einen erstaunten Blick zu. „Es gibt niemanden, den ich so gernhabe wie Corinne.“

„Wenn das tatsächlich der Fall ist, dann lass die Kleine gehen.“

„Warum sollte ich das tun, Nicholas? Sie ist meine Sonne in der Nacht – jemand, der mir die ewige Dunkelheit versüßt.“

„Wie kannst du nur so egoistisch sein, LaCroix?! Corinne hat doch noch das ganze Leben vor sich – warum willst du ihr das rauben?“

„Verschone mich mit deinem Pathos, Nicholas! Was heißt das schon, ein ganzes Leben vor sich zu haben? Die Zukunft ist unvorhersehbar und die menschliche Existenz äußerst fragil.“

Der alte Vampir hielt kurz inne und fuhr nach einem längeren Blick auf Nick fort: „Corinne und ich gehören zusammen wie Licht und Dunkelheit. Solange sie sterblich ist, wird sie ein zerbrechlicher Schmetterling sein, der leicht verletzt werden kann. Allein diese Vorstellung ist mir unerträglich – und genau deswegen werde ich sie zu meiner ewigen Gefährtin machen. Dann ist sie nicht mehr wehrlos der Willkür von Individuen ausgesetzt, die ihr zu schaden trachten. – Nein, ich lasse Corinne nicht gehen!“

„Eine fragwürdige Rechtfertigung hast du dir da zurechtgelegt“, zischte Nicholas ihn leise an. „Du willst mir weismachen, dass du etwas für das Mädchen empfindest, aber du bist nichts weiter als ein niederträchtiger, egoistischer Teufel!“

„Du irrst dich, Nicholas“, wies LaCroix ihn mit spöttischem Unterton zurecht. „In Wirklichkeit bin ich nur ein einsamer, alter Nachtfalter, dem es gelungen ist, die Liebe eines schönen Schmetterlings zu gewinnen. Und dieses anmutige Geschöpf erklärte mir, dass ein Nachtfalter nichts anderes ist als ein Schmetterling der Nacht.“

„Und dazu ein besonders gefährlicher, der sich hauptsächlich von Blut ernährt“, führte Nicholas in giftigem Ton weiter aus. „Dein hübscher Schmetterling ahnt sicher nichts davon, oder?“

„Es ist völlig unnötig, sie mit einem solchen Wissen zu ängstigen“, gab LaCroix zu. „Sobald sie verwandelt ist, wird sie von mir alles über ihre neue Existenzweise erfahren.“

„Eine Existenzweise, die sie meines Wissen abgelehnt hat, nicht wahr?“

„Sie wird sich schon daran gewöhnen“, meinte der alte Vampir leichthin. „Immerhin liebt sie mich und will mit mir zusammen ihr Leben verbringen.“

„Meinst du, sie würde diesen Wunsch noch hegen, wenn sie wüsste, dass du gemeinsam mit McDonavan Professor Teichert ermordet hast?“

„Aber, aber, Nicholas! Was sind denn das für Unterstellungen?“

„Dein Freund McDonavan erklärte mir und meinem Kollegen, dass er dich gestern zum Abendessen eingeladen hat.“

„Na und?“

„Just zu dem Zeitpunkt, da Wernher Teichert sich in dem Antiquitätenladen befand.“

„Das stimmt!“

„Außerdem behauptet McDonavan noch, dass du bezeugen könntest, dass Teichert seinen Laden verließ.“

„Auch das ist richtig!“ erklärte LaCroix. „Er wollte Geld besorgen, um eine bestimmte Grafik von Arthur zu erwerben.“

„Ihr beiden lügt!“ zischte Nicholas ihm leise zu. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Professor Teichert euer Abendessen war.“

LaCroix grinste ihn spöttisch an und fragte: „Kannst du das beweisen, Nicholas?“

Unwillig schüttelte der jüngere Vampir den Kopf, worauf sein Meister fortfuhr: „Dann ist diese Unterhaltung überflüssig. Und nun lass mich endlich in Ruhe! Ich möchte meine Zeit lieber mit meiner Freundin verbringen, als unergiebige Gespräche mit einer undankbaren Kreatur wie dir zu führen.“

Mit diesen Worten ließ der alte Vampir Nicholas stehen und kehrte an den großen Ecktisch zurück, an dem mittlerweile außer Corinne Arthur und Janette saßen.

„Nun, Lucien, hat Detective Knight dich in die Mangel genommen?“ fragte McDonavan.

LaCroix grinste ihn an und nickte, bevor er sich neben Corinne niederließ. Dann wandte er sich Janette zu und bat sie, für ihn und Arthur ein Glas Wein von der Hausmarke zu bringen. Die Vampirin erhob sich sofort und ging, um das Bestellte zu holen.

„Was wollte Mr. Knight von dir, Lucien?“ fragte Corinne nun und sah beunruhigt zu LaCroix.

„Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Liebling“, antwortete der Angesprochene und legte eine Hand auf ihre beiden Hände, die sie zusammengepresst hielt. „Nicholas ist immer noch auf der Suche nach Mr. Teichert und es verhält sich so, dass dieser Mann gestern Abend in Arthurs Laden war, wo ich mich zufällig auch gerade befand. Nicholas klammert sich verzweifelt an jeden Hinweis, den er kriegen kann, und es ist gut nachzuvollziehen, dass er von uns beiden wissen wollte, ob dein ehemaliger Professor etwas darüber geäußert hat, wo er hinwollte.“

„Und? Hat er?“ fragte Corinne aufgeregt.

„Nein, meine Liebe“, antwortete McDonavan anstelle von LaCroix. „Warum interessiert es Sie?“

„Es macht mich schon sehr nervös, dass Teichert irgendwo in dieser Stadt sein könnte und...“, sie stockte kurz, bevor sie zögerlich fortfuhr: „Wissen Sie, Arthur, es... es ist...“

„Lass gut sein, Liebes“, unterbrach LaCroix sie und wandte sich an McDonavan. „Es verhält sich nämlich so, dass Nicholas ernsthaft glaubt, Teichert habe Corinnes Freund auf dem Gewissen.“

„Du scheinst seine Theorie aber nicht zu teilen, oder?“ meinte der Antiquitätenhändler.

„Nein, tue ich nicht! Meiner Meinung nach macht Nicholas es sich zu leicht.“

„Aber, Lucien, wie kannst du dir nur so sicher sein?“ widersprach Corinne aufgeregt.

„Es ist einfach mein Instinkt“, erklärte der alte Vampir ihr ruhig. „Ich bitte dich, ma chère, hab keine Angst vor Teichert. Er kann dir nicht mehr gefährlich werden.“

„Jetzt wäre es doch sehr vorteilhaft, ein Vampir zu sein, nicht wahr?“ wandte McDonavan sich nun direkt an die junge Frau. „Als Kind der Nacht müssten Sie sich vor keinem Menschen mehr fürchten – es ist eher umgekehrt.“

„Ach bitte, Arthur, fangen Sie nicht schon wieder mit diesem Unsinn an“, sagte Corinne. „Es gibt keine Vampire.“

„Ich wollte Ihnen nur einen der Vorteile aufzeigen, die man als Vampir hat“, erklärte der Rothaarige und lächelte nachsichtig.

„Und was ist mit den Nachteilen?“ fragte das Mädchen angriffslustig, denn McDonavan ging ihr auf die Nerven.

„Es gibt kaum welche“, behauptete der Antiquitätenhändler. „Wir müssen lediglich darauf achten, nicht mit dem Sonnenlicht in Berührung zu kommen.“

„Das heißt also, Sie sind dazu verdammt, nur des Nachts zu existieren? Ist das nicht eine sehr eingeschränkte Lebensform?“

„Man kann sich gut damit arrangieren, da dieser kleine Nachteil die vielen Vorteile, die man als Vampir hat, nicht aufwiegt.“

„Welche Vorteile?“

„Man verfügt über übermenschliche Fähigkeiten, z. B. kann man sehr schnell fliegen. Aber auch eine unermessliche physische Kraft und die Gabe, Lebewesen zu beeinflussen, gehören dazu. Manche unserer Spezies können sogar Gedanken lesen. Sie sollten außerdem nicht die Tatsache außer Acht lassen, dass wir unsterblich sind.“

„Bei Ihrem Loblied vergaßen zu erwähnen, dass Vampire Blut trinken müssen, um zu überleben“, gab Corinne zu bedenken.

„Das ist nicht ganz richtig“, widersprach McDonavan amüsiert. „Selbst, wenn Vampire lange Zeit ohne Blut auskommen müssen, können sie nicht sterben, sondern werden lediglich von Hungergefühlen gequält. Man könnte sie mit Drogensüchtigen vergleichen, die keinen Stoff haben. Allerdings kann ein Vampir keine Entziehungskur machen, die ihn von seiner Gier nach Blut heilt.“

„Das hört sich ja schrecklich an!“ entfuhr es Corinne. „Demnach wäre ein Vampir ein verdammtes Geschöpf ohne Hoffnung auf Erlösung. Man kann ihm noch nicht einmal einen Vorwurf machen, wenn er...“

Wieder hielt das Mädchen kurz inne und die beiden Männer betrachteten sie interessiert, ohne das Wort zu ergreifen.

„Wissen Sie, Arthur, ich habe kürzlich eine Grafik gesehen, die mich sehr beschäftigte“, begann die junge Frau nach einer Weile wieder zu sprechen. „Es hieß  >Der Kuss des Vampirs<. Kennen Sie es vielleicht?“

„Von Boleslas Biegas?“ fragte der Rothaarige und grinste, als sie nickte. „Natürlich ist es mir bekannt. Was daran hat Sie besonders beeindruckt?“

„Wissen Sie, ein Kuss ist doch eigentlich ein Zeichen der Zuneigung. Aber dieses Wesen, dieser Vampir, der auf dem Bild dargestellt ist, sieht den Mann, den er in seinen Krallen gefangen hält, keineswegs liebevoll an. Er scheint kein Mitleid mit seinem Opfer zu haben, sondern starrt ihn nur mit grausamem Lächeln und großen, gierigen Augen an – und ich finde, diese Augen sind das Schlimmste an dem ganzen Bild...“

Arthur warf Lucien einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder an die junge Frau wandte: „Menschen haben oft eine falsche Vorstellung von Vampiren. Sie sollten sich davon nicht beeinflussen lassen, Corinne. Wir sind zu ebenso tiefen Gefühlen fähig, wie die Sterblichen es von sich behaupten.“

„Sie sollten derlei Behauptungen keinen Glauben schenken, Miss Lambert!“ ließ sich nun Nicholas von weitem vernehmen und näherte sich den dreien.

„Oh nein, nicht schon wieder“, stöhnte Corinne leise und wandte sich an LaCroix. „Bitte, Liebster, lass uns gehen!“

„Mit dem größten Vergnügen“, meinte Lucien, erhob sich und half ihr ebenfalls hoch. Doch bevor sie auch nur einen Schritt in Richtung Ausgang gehen konnten, stellte sich ihnen Nicholas in den Weg.

„Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, nach dem soeben geführten Gespräch auch nur eine Minute mit LaCroix allein sein zu wollen, Corinne? Ist Ihnen denn noch immer nicht klar, in welcher Gefahr sie schweben?“

„Es beunruhigt mich höchstens, dass Sie nicht Ihrer eigentlich Aufgabe nachkommen, den Mörder meines ehemaligen Lebensgefährten zu finden, sondern sich in meine Privatangelegenheiten einmischen, obwohl diese Sie nicht das Geringste angehen“, entgegnete das Mädchen, das nur mühsam seinen Zorn beherrschen konnte. Sie warf Nicholas böse Blicke zu, ergriff dann LaCroix’ Hand und zischte leise: „Lassen Sie uns endlich in Ruhe!“

Obwohl Nicholas fest entschlossen war, nicht nachzugeben, traf irgendetwas in ihrem Blick ihn in tiefstem Inneren und er kapitulierte.

„Also gut, wenn Sie es wünschen“, murmelte er resigniert, senkte seinen Kopf und trat zur Seite. Er starrte immer noch deprimiert zu Boden, als sein Meister und Corinne den Club schon längst verlassen hatten.

„Was ist mit Ihnen los, Mann?“ sprach McDonavan ihn schließlich an.

Endlich hob Nicholas seinen Kopf und sah dem Antiquitätenhändler direkt in die Augen.

„Das weiß ich selbst nicht“, gab er zu. „Dieses Mädchen... es ist mir unmöglich, sie aufzuhalten...“

„Ja, es ist schon vielen hier aufgefallen, dass sie etwas an sich hat, das andere bezwingt“, meinte McDonavan. „Doch trotz dieser geheimnisvollen Macht, von der sie nichts zu ahnen scheint, bleibt sie stets liebenswert. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Corinne für ein Geschöpf unserer Art halten. Überaus faszinierend...“

„Und überaus erschreckend“, murmelte Nicholas. „Weshalb fürchtet sie sich nicht davor, in den eigenen Untergang zu gehen? Spürt sie denn nicht, was LaCroix mit ihr vorhat?“

„Nun, sie liebt Lucien – und vielleicht ist das, was Sie als ihren Untergang betrachten, für die Kleine das größte Glück“, meinte Arthur. „Jeder empfindet anders, Nicholas. Sie sollten Ihre Sichtweise nicht zum Maßstab aller Dinge machen. Damit schaden Sie letztlich nur sich selbst und schaffen sich unnötigerweise Feinde. Akzeptieren Sie die Tatsachen, wie sie sind.“

„Das muss ich im Fall von Miss Lambert wohl tun“, seufzte Nick bedrückt. „Allerdings weiß ich nicht, wie ich Nathalie beibringen soll, dass ihre Cousine völlig LaCroix verfallen ist.“

„Die bezaubernde Corinne ist ein freies Geschöpf und niemand kann Ihnen einen Vorwurf daraus machen, wie die Kleine sich entschieden hat. Immerhin ist sie ein erwachsener Mensch“, erklärte McDonavan freundlich. „Kommen Sie, Nicholas, und trinken Sie einen Schluck Wein der Hausmarke mit mir. Das wird Ihnen gut tun.“

„Danke für die Einladung, aber ich muss los“, entschuldigte sich Nick und schickte sich an, das Raven zu verlassen. Doch Janette stellte sich ihm plötzlich in den Weg und murmelte: „Wage es ja nicht, noch einmal mein Lokal zu betreten!“

„Du erteilst mir Hausverbot?“ wunderte sich der Polizist. „Weswegen?“

„Ein Verräter, der mich und meine Gäste bedroht, ist hier unerwünscht!“

„Ich hätte meine Drohung doch niemals wahrgemacht“, versuchte Nick sie zu beschwichtigen. „Es hat mich nur maßlos geärgert, dass du mich zum Narren zu halten versuchst.“

„Wie auch immer – halte dich in Zukunft von diesem Ort fern!“ erklärte Janette mit kalter Stimme. „Denn wenn du es nicht tust, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du dies bitter bereust. – Adieu, Monsieur de Brabant!“

 

Corinne hielt immer noch Luciens Hand, als sie bereits einige Schritte vom Raven entfernt waren und lässig nebeneinander her schlenderten.

„Ich werde heute bei Nathalie schlafen“, teilte sie ihrem Freund nach einer Weile mit.

„Warum denn das?“ fragte LaCroix erstaunt. Ihr Wunsch passte ihm überhaupt nicht, da dies seinen eigenen Plänen entgegenstand. „Ich hatte gehofft, wir verbringen wieder eine schöne Nacht miteinander.“

„Das können wir auch bei Nat“, erwiderte das Mädchen. „Du weißt doch, dass wir bis morgen früh allein in der Wohnung sind. Im Übrigen will ich zeitig aufstehen, um pünktlich zum Kongress zu kommen, zumal ich dort mit der Familie Schanke verabredet bin. Ich habe Myra angeboten, den ganzen Tag auf ihre kleine Tochter aufzupassen, und ich freue mich schon darauf.“

„Dann ist es wohl besser, wenn ich gleich wieder gehe, nachdem ich dich in der Wohnung deiner Cousine abgeliefert habe“, meinte LaCroix, dessen Stimme deutlich seine Enttäuschung verriet. Ihm war klar, dass er noch eine ganze Nacht warten müsste, um seinen Plan, Corinne zu einer Vampirin zu machen, auszuführen. Erstens wollte er sie nicht des Vergnügens berauben, einen letzten Tag mit einer Tätigkeit zu verbringen, die ihr offensichtlich Freude bereitete, und zweitens würde es auffallen, wenn die Kleine ihre morgige Verabredung mit Myra Schanke nicht einhielt. Dann hätte er sicher wieder Nicholas auf dem Hals – äußerst ungünstig, wenn man jemanden auf die dunkle Seite holte. Ein Meister benötigte Zeit, um das neue Kind der Nacht zu nähren, zu beruhigen und es über alles zu unterrichten, was ein Vampir wissen musste. Jede Störung von außen könnte fatale Folgen haben.

„Aber nicht doch, Lucien“, protestierte Corinne. „Selbstverständlich kannst du bei mir schlafen.“

„Ich fürchte, das ist keine gute Idee, ma chère!“

LaCroix ahnte, dass er sich nicht würde beherrschen können, wenn er bei ihr blieb und ihn die Leidenschaft übermannte. Nein, ihm schwebte ein anderes Szenario vor, als seine Liebste in der Wohnung dieser Nathalie Lambert zu überwältigen.

„Aber warum denn nicht?“ fragte die junge Frau erstaunt.

„Es ist besser für dich, ausgeschlafen zu sein, wenn du ein kleines Mädchen betreust“, behauptete er. „Ich kann dich ja morgen Abend abholen, sobald deine Dienste als Babysitter nicht mehr benötigt werden, und wir gehen dann wieder in unser Appartement.“

„Wie wärs, wenn du dann gegen 21.00 Uhr vorbeikommst?“ schlug Corinne ihm vor. „Um diese Zeit schläft Jenny sicher schon und wir beide können es uns im Wohnzimmer der Schankes gemütlich machen. Myra hat mir erlaubt, dich einzuladen.“

„Wann wollten die Eltern deines Schützlings eigentlich wieder zu Hause sein?“

„Wir haben keine bestimmte Uhrzeit vereinbart, aber ich denke, dass sie vor Mitternacht wieder daheim sein werden.“

„Nicht gerade professionell, solche vagen Vereinbarungen zu treffen“, brummte LaCroix missmutig.

„Na ja, es ist auch eher ein Freundschaftsdienst als eine geschäftliche Abmachung“, sagte Corinne und schmiegte sich an ihn. Sie spürte seine Enttäuschung. „Ach komm, Lucien, die eine Nacht in der Wohnung meiner Cousine können wir doch verschmerzen, oder?“

Verwundert horchte er auf. Weshalb sprach sie von nur einer Nacht? Ob sie etwas ahnte?

„Wie kommst du darauf, dass du heute das letzte Mal bei Dr. Lambert schläfst?“ fragte er und erwartete gespannt ihre Antwort.

„Weil ich vorhabe, ab morgen nur noch in unserem Appartement zu wohnen“, erklärte sie. „Du könntest ja den Mietvertrag verlängern, dann hätten wir erst Mal eine gemeinsame Bleibe.“

„Das Appartement ist auf Dauer nichts für uns“, erwiderte der Vampir. „Nein, wir finden eine andere Lösung. Ich habe schon mit Arthur gesprochen und er wird sich nach einer geeigneten Unterkunft für uns umhören.“

„Eigentlich ist er ja ganz nett“, meinte Corinne. „Aber mit seinem seltsamen Humor komme ich nicht zurecht. Weshalb erzählt er mir immer wieder, dass er ein Vampir ist?“

„Weil er davon überzeugt ist, einer zu sein“, sagte LaCroix und betrachtete sie aufmerksam.

„Das ist ein Scherz, nicht wahr?“ fragte das Mädchen ungläubig und lachte ein wenig.

„Keineswegs! Arthur hält sich für einen Vampir – und er lebt auch so!“

„Dann sollte ich besser den Umgang mit ihm meiden“, kicherte Corinne, der die Vorstellung zu absurd vorkam, als dass sie ernst bleiben konnte.

LaCroix bedachte sie mit einem traurigen Blick.

„Du willst doch hoffentlich nicht auch den Umgang mit mir meiden?“ fragte er dann.

„Nein, natürlich nicht!“ rief die junge Frau erschrocken aus und hörte sofort auf zu lachen. „Wie kommst du auf eine so absurde Idee, Lucien? Ich liebe dich doch!“

„Ich weiß, dass du nicht an Vampire glaubst, mein süßer Schmetterling. Aber wenn ich einer dieser Untoten wäre, würdest du mich dann auch noch lieben?“

LaCroix blickte sie gespannt an und spürte überdeutlich sein Herz gegen die Brust schlagen.

Es wäre mir egal!“ erklärte Corinne energisch und fiel ihm um den Hals. Sie schmiegte sich eng an ihn und hauchte in sein Ohr: „Ich liebe dich über alles...“

Gerührt drückte er sie an sich und fragte leise: „Ist das wirklich wahr? Dir wäre es egal, ob ich ein Vampir bin oder nicht?“

„Ja“, flüsterte sie. „Ja, es wäre mir egal.“

„Obwohl dir Vampire eigentlich Angst machen, Liebling?“ ließ LaCroix nicht locker. Die junge Frau löste sich aus seinen Armen und schüttelte unwillig den Kopf.

„Sie machen mir keine Angst, weil es sie nicht gibt!“ widersprach sie heftig.

„Und diese Grafik, von der du sprachst, Corinne? Hat sie dich nicht äußerst beunruhigt?“

„Das war doch nur ein Bild – etwas, das sich ein Künstler ausgedacht hat. Die Abbildung eines Mythos, nichts weiter.“

„Und wenn dieser Mythos sich als Wahrheit erweisen würde?“

„Was habt ihr alle denn nur mit euren Vampiren?“ fragte das Mädchen. „Erst fängt Mr. Knight mit dem Quatsch an, dann McDonavan und du jetzt auch, Lucien. Weshalb seid ihr so versessen darauf, die Möglichkeit der Existenz dieser Fabelwesen in Betracht zu ziehen?“

„Nicholas hat damit angefangen?“ wunderte sich LaCroix, anstatt ihr zu antworten. „Wann war das?“

„Er ist bei mir aufgetaucht, nachdem du mit McDonavan in den Nebenraum gegangen bist, und wollte mich dazu überreden, mit ihm zu verschwinden.“

„WAS?!“

„Ja, er erklärte mir allen Ernstes, dass du ein Vampir bist und mich aussagen willst. Aber natürlich habe ich ihm diesen Unsinn nicht geglaubt!“

„Natürlich nicht“, echote LaCroix ungläubig. Er hätte nie gedacht, dass Nicholas jemals so weit gehen würde, ihr tatsächlich die Wahrheit zu sagen. Normalerweise würde das für jede andere Sterbliche das Todesurteil bedeuten, doch er vermochte es nicht, seinen kleinen Engel zu töten. Es war auch unnötig, da Corinne die Existenz Untoter für Humbug hielt und gar nicht ahnte, welchen Schutz das für sie darstellte. Es wäre also nichts dabei, ihr noch einen einzigen Tag zu schenken, bevor er sie endgültig auf die Nachtseite des Lebens herüberholte. Was machten schon ein paar Stunden aus, wenn man die Ewigkeit vor sich hatte?

„Komm, lass uns zu Nathalie fahren“, unterbrach das Mädchen seine Gedanken. „Ich hoffe, dass sich in ihrem Kühlschrank noch etwas Essbares findet.“

„Schon wieder Hunger? Du hast doch vor etwa einer Stunde erst etwas gegessen.“

„Na und? Ich habe halt wieder Appetit.“

LaCroix schüttelte lächelnd den Kopf und winkte ein Taxi heran, das ihn und Corinne wenig später vor dem gewünschten Zielort ablieferte. Sobald sie die Wohnung Nathalies betraten, eilte die junge Frau in die Küche, riss ungeduldig den Kühlschrank auf und holte einen Augenblick später eine große Packung Erdbeereis heraus. Erstaunt beobachtete der alte Vampir, der ihr gefolgt war, wie sie einen Esslöffel aus einer Schublade nahm, den Deckel der Eispackung öffnete und damit begann, sich schnell Stücke dieser Süßigkeit in den Mund zu schieben.

„Nicht so hastig, Corinne!“ ermahnte er sie. „Hier ist niemand, der dir etwas wegisst.“

Sofort hielt sie inne und schaute ihn an, als ob sie ihn jetzt erst wieder wahrnahm. Dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie senkte den Löffel erneut in die Eismasse, holte ein großes Stück heraus und ging damit tänzelnd auf LaCroix zu.

„Komm, iss auch etwas, Lucien!“ forderte sie ihn lachend auf.

Ehe er sich’s versah, hatte sie ihm den Löffel an die Lippen geführt, worauf er diese unwillkürlich öffnete und notgedrungen das Eisstück in seinen Mund aufnehmen musste. Während die kalte Köstlichkeit langsam auf seiner Zunge zerging, starrte er fassungslos auf seine Geliebte, die lächelnd meinte: „Schmeckt doch wirklich gut, nicht wahr?“

LaCroix schüttelte sich ein wenig, als er das Speiseeis hinunterschluckte, und erklärte dann in strengem Ton: „Das gehört nicht zu den Dingen, die ich gerne zu mir nehme.“

„Und ich dachte, jeder mag Erdbeereis so sehr wie ich“, seufzte sie. „Weißt du, ich möchte alles mit dir teilen, Liebster.“

„Schon gut“, brummte er. „Aber es wäre mir lieb, wenn du mich das nächste Mal fragst, bevor du mich fütterst.“

„Versprochen!“ erwiderte Corinne fröhlich, umarmte ihn und kehrte dann wieder zu ihrer Eispackung zurück.

„Du willst doch nicht etwa den ganzen Inhalt essen?“ fragte LaCroix erstaunt, als sie sich genüsslich das nächste Eisstück in den Mund schob.

„Hm... weiß noch nicht“, nuschelte das Mädchen und lächelte. Plötzlich jedoch ließ sie den Löffel sinken, legte eine Hand auf ihren Mund, während sie sich langsam vom Stuhl erhob und dann aus der Küche eilte. Der Vampir hörte, wie sie eine Tür aufriss und wieder zuschlug. Besorgt ging er ihr nach und fand sie im Badezimmer, wo sie über das Waschbecken gebeugt hing und sich übergab. Er schritt auf sie zu und hielt sie fest, bis schließlich alles vorbei zu sein schien.

„Gehts wieder, Corinne?“ fragte er leise. Als sie nickte, hob er sie auf beide Arme und brachte sie in ihr Zimmer, wo er sie behutsam auf das Bett legte und auszog.

„Na, es war doch ein wenig zuviel“, meinte er und streichelte zärtlich über ihr blasses Gesicht. Sie lächelte matt und schloss die Augen, während er sie zudeckte. Dann stand er von ihrer Bettkante auf und kippte das Schlafzimmerfenster, eher er sich wieder an Corinne wandte: „Ein wenig frische Luft wird dir sicher gut tun.“

„Danke“, hauchte sie mit schwacher Stimme und schlief danach sofort ein. Nachdenklich betrachtete LaCroix seine Freundin. Was war nur mit ihr los? Dass sie eine Heißhungerattacke überfiel, nachdem sie den ganzen Tag kaum etwas zu sich genommen hatte, konnte er noch nachvollziehen. Aber weshalb war sie dabei so aufgekratzt gewesen? War es eine Nachwirkung seines Bisses oder bedeutete es Corinne wirklich soviel, kleine Kinder zu betreuen? Doch vielleicht ließ sie auch die Aussicht darauf, bald mit ihm zusammenzuziehen, so übermütig werden. Ja, das konnte es sein! Sie war vorhin so glücklich darüber gewesen, dass er bei ihr bleiben und mit ihr leben wollte.

Zufrieden, eine plausible Erklärung für ihr Verhalten gefunden zu haben, beugte er sich nun zu der Schlafenden hinab, küsste sie sanft auf den Mund und flüsterte: „Wir sehen uns morgen Abend bei den Schankes, mein kleiner Liebling.“

***

Nicholas war seinem Instinkt gefolgt und wartete vor dem Hochhaus, in dem Nathalies Wohnung sich befand. Zwar hatte er kaum noch eine geistige Verbindung zu seinem Meister, aber meinte, dessen Gegenwart in der Nähe spüren zu können. Fünf Minuten später sah er, wie LaCroix aus der Eingangstür heraustrat. Aber wo hatte der Alte Corinne gelassen?

Eilig schritt er auf seinen Meister zu, der aufgrund dessen sofort seinen Kopf hob und grinste, als er ihn erkannte.

„Nicholas, was für eine Überraschung“, begrüßte er ihn spöttisch. „Du kommst zu spät, um Miss Lambert eine gute Nacht zu wünschen.“

„Was hast du mit ihr gemacht, LaCroix?!“ fuhr Nick ihn an. „Wo ist die Kleine?“

„Der süße Engel schläft wohlbehalten in der Wohnung von Dr. Lambert“, erklärte der Angesprochene in ruhigem Ton. Dann zog er seine Brauen zusammen und sagte mit drohendem Unterton: „Halte dich in Zukunft von Corinne fern! Sie ist gehört mir!“

„Wie bitte?!“ entfuhr es Nick überrascht. „Ich verstehe nicht ganz...“

„Ach komm! Hast du heute Abend nicht versucht, sie mir abspenstig zu machen, indem du ihr verrietest, was ich bin?!“ knurrte LaCroix.

„Das habe ich nur getan, um ihr Leben zu retten“, verteidigte sich Nick. „Glaubst du im Ernst, dass ich mich für ein so eigensinniges Geschöpf interessiere?“

„Warum denn nicht? Corinne ist eine bezaubernde, junge Frau.“

„Also mir geht sie auf die Nerven – und wenn sie nicht Nathalies Cousine wäre, dann...“

„Du würdest trotzdem versuchen, sie vor mir zu retten“, höhnte LaCroix. „Zum Glück hält sie die Existenz unserer Spezies auch weiterhin für blanken Unsinn.“

„Das heißt, du hast sie nicht...?!“

„Nein, Nicholas, sie ist immer noch eine Sterbliche.“

„Aber... aber warum? Vorhin wolltest du sie nicht gehen lassen...“, stotterte Nick, dann schwieg er einen Moment und starrte nachdenklich zu Boden. Endlich schaute er wieder auf und schenkte seinem Meister einen fassungslosen Blick. „Du... bist du wirklich... verliebt?“

LaCroix reckte hochmütig sein Kinn nach oben und erklärte in arrogantem Ton: „Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten!“

„Deine kleine Freundin gehört zu meinen Angelegenheiten“, sagte Nick. „Nathalie hat mich gebeten, sie zu schützen, und außerdem bearbeite ich noch den Fall ihres ehemaligen Partners. Es ist wirklich ärgerlich, dass sein Mörder verschwunden ist.“

„Er ist nicht verschwunden“, widersprach der alte Vampir.

„So? Dann verrate mir gefälligst, wo ich Teichert finden kann!“ forderte Nicholas ihn auf.

„Was willst du mit dem Professor? Ich denke, du suchst den Mörder von Thomas Marquardt?“

„Genau so ist es – und mein Hauptverdächtiger ist Wernher Teichert!“

LaCroix lachte trocken auf und erwiderte: „Nun, er mag dein Hauptverdächtiger sein, aber er ist nicht der Mörder, den du suchst!“

„Was redest du da?! Natürlich ist er es! Alles spricht dafür!“

„Du befindest dich in einem großen Irrtum, Nicholas! Überleg doch selbst: Wer könnte ein Interesse daran gehabt haben, den Lebensgefährten von Corinne umzubringen?“

„Die deutschen Behörden vermuteten zuerst einen geschäftlichen Konkurrenten, aber Marquardt besaß keinerlei Feinde. Er galt als fairer Verhandlungspartner und erfreute sich großer Beliebtheit. Deshalb wurde der Fall zu den Akten gelegt.“

„Da hätte er von mir aus auch weiterhin ruhen können“, murmelte LaCroix missmutig. „Aber Nicholas Knight musste ihn ja unbedingt wieder aufrollen.“

„Es wird Corinne glücklich machen, wenn der Mörder ihres Freundes endlich seine Strafe erhält“, behauptete Nick.

„Davon bin ich ebenfalls überzeugt“, meinte sein Meister. „Allerdings nur, wenn es sich um den wahren Täter handelt...“

„Teichert hatte ein Motiv: Er wollte sich an Corinne rächen, weil er sie nicht ins Bett bekam.“

„Dieser alte Schwerenöter ist viel zu leidenschaftslos, um eine solche Tat zu begehen. Nein, nein, Nicholas, du bist auf dem Holzweg, was den Professor betrifft.“

„Wie kannst du dir nur so sicher sein, LaCroix?“ fragte Nick ärgerlich. „Weißt du etwa, wer den Mord an Marquardt begangen hat?“

Der alte Vampir nickte unmerklich.

„Du... du weißt es?!“ rief der Polizist erstaunt aus.

„Ja, mein Sohn, und wenn du deine Natur nicht dauernd verleugnen würdest, wäre es dir selbst auch längst klar“, erklärte Lucien. „Es ist so offensichtlich, dass ich mich frage, warum weder ein Mensch noch ein abtrünniger Vampir darauf kommt.“

„Wer ist es?!“

„Finde es selbst heraus!“ meinte LaCroix. „Ich bin sicher, dass du dies innerhalb kürzester Zeit schaffst. Allerdings dürfte es schwierig werden, dem Mörder Marquardts die Tat nachzuweisen.“

„Verrate mir wenigstens, ob ich mit meiner Annahme, dass es ein Mord aus Leidenschaft war, richtig liege!“ bat Nicholas seinen Meister.

„Deine Annahme ist richtig!“ bestätigte der alte Vampir.

„Kenne ich den Mörder?“

„Ich glaube, du bist ihm schon ein paar Mal begegnet.“

„Und du willst mir wirklich nicht sagen, wie sein Name ist?“

„Viel Glück bei der Aufklärung des Mordfalles!“ erwiderte LaCroix, schaute sich nach allen Seiten um und flog dann blitzschnell nach oben, wo er im dunklen Nachthimmel verschwand, während Nicholas sich den Kopf darüber zerbrach, von wem der Alte gesprochen haben könnte...

 

 

Das Raumschiff glitt lautlos durch das Weltall. Corinne saß vorn an der Steuerung und genoss den angenehmen Flug. Dann warf sie einen Blick hinter sich und lächelte. Jenny schlief friedlich in einem großen Stuhl. Nur noch eine kleine Weile, dann mussten sie umkehren, weil Myra und Don sie gegen 12.00 Uhr auf dem Dach ihres Wohnhauses erwarteten.

Corinne schaute wieder nach vorne aus dem großen Fenster und bewunderte die Schönheit der Sterne, die hell in der Dunkelheit funkelten. Wie still und friedlich hier doch alles war.

Plötzlich begannen vor ihr auf dem Schaltpult einige Lämpchen rot zu blinken und eine Computerstimme verkündete: „Achtung! Achtung! Ein unbekanntes Raumschiff nimmt direkten Kurs auf uns! Zusammentreffen in 10 Sekunden!“

Links von ihr befand sich ein kleiner Bildschirm, von dem gleich darauf ein hohes Schrillen ausging. Erschrocken starrte Corinne darauf und das Bild Thomas’ erschien.

„Oh Gott, was hat das zu bedeuten?!“ rief sie aus.

„Pass auf, Liebling!“ rief Thomas ihr aus dem Bildschirm zu. „Jetzt ist äußerste Vorsicht geboten! Du musst dich und Jenny schützen! Verschließ die Türen gut und sende einen Notruf, damit du Hilfe bekommst. Allein bist du dem Feind nicht gewachsen!“

Der Bildschirm wurde wieder schwarz.

Hilflos schaute die junge Frau zu dem kleinen Mädchen hinter sich, das immer noch friedlich schlief. Es schien von den lauten Geräuschen nichts mitbekommen zu haben.

„Achtung! Achtung! Unbekanntes Raumschiff direkt vor uns!“ ertönte erneut die Computerstimme und Corinne wandte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn, um sich das metallisch-schwarze Flugobjekt zu betrachten. Sie überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollte, und sagte schließlich mit unsicherer Stimme: „Alle Türen schließen!“

Leise Geräusche um sie herum verrieten, dass ihr Befehl befolgt wurde.

„Notruf senden!“ wisperte die junge Frau ängstlich, während sie gespannt das schwarze Raumschiff beobachtete, das vor ihr zu parken schien. Es rührte sich nicht von der Stelle, während mit einem Mal einige Lichtsignale von ihm ausgingen. Der Bildschirm links neben Corinne begann erneut zu flackern und einen Augenblick später erschien das Antlitz von Michael Fernandez darauf.

„Hallo, Corinne!“ sagte er. „Ich bin gekommen, um dich zu schützen!“

 

Schreiend fuhr die junge Frau aus dem Bett hoch. Sie blickte verwirrt um sich und erkannte im Schein der kleinen Nachttischlampe erleichtert, dass sie sich in Sicherheit befand. Zum Glück war ihr Erlebnis im Raumschiff nur ein Traum gewesen, aber was hatte er zu bedeuten?

Ihr verstorbener Freund warnte sie vor jemandem, der sie offenbar angreifen wollte, aber es passierte nichts weiter, außer dass Michael auf ihrem Bildschirm erschien und versprach, sie zu beschützen. Doch es blieb weiterhin ein Geheimnis, vor wem sie sich in Acht nehmen musste. Warum nur verbarg ihr Traum denjenigen, der Thomas auf dem Gewissen hatte und jetzt allem Anschein nach eine Bedrohung für sie darstellte? Es musste sich um ein und denselben Täter handeln, da das Raumschiff die gleiche Farbe hatte wie das Auto, welches sie in dem letzten Warntraum gesehen hatte. Dass es sich dabei frontal vor sie stellte schien darauf hinzudeuten, dass sich der Mensch, der von Thomas als „Feind“ bezeichnet wurde, in ihrer unmittelbaren Umgebung befinden musste.

Corinne schloss die Augen, da ein heftiger Schmerz durch ihren Kopf fuhr.

„Lucien!“ rief sie leise, doch niemand erschien. Er musste bereits gegangen sein. Nun ja, sie hatte vorhin auch nicht gerade einen appetitlichen Anblick geboten, als sie über dem Waschbecken hing. Kein Wunder, dass er nicht geblieben war. Aus der schönen Nacht, die er sich zweifelsohne erhofft hatte, war nun nichts mehr geworden – und all das nur, weil sie die Gier nach etwas Süßem überkommen hatte. Ach, warum hatte sie dem auch nachgegeben und soviel Eis in sich hineingeschaufelt? Dennoch war es verwunderlich, dass ihr davon schlecht geworden war. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass sie Heißhunger auf etwas Süßes bekam und dem nachgab. Meistens geschah dies kurz vor ihrer Periode, doch die war eigentlich erst Ende nächster Woche fällig. Merkwürdig...

Wieder durchzuckte ein rasender Schmerz ihren Kopf und ihr traten Tränen in die Augen. Himmel, sie musste unbedingt etwas gegen diesen Migräneanfall tun. Wenn sie nicht alles täuschte, hing ein Arzneischrank hinter der Küchentür. Bestimmt fand sie dort geeignete Tabletten, um ihre Qual zu lindern.

Corinne öffnete die Augen und setzte sich vorsichtig in ihrem Bett auf. Doch sobald sie aufgestanden und einen Schritt gegangen war, überkam sie ein Schwindelgefühl. Sie ließ sich sofort auf die Bettkante sinken und verharrte dort einen Moment. Dann versuchte sie erneut, das Zimmer zu verlassen, doch wieder wurde ihr schwindelig. Erschöpft sank sie auf ihr Bett zurück, schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Vielleicht ging der Migräneanfall ja gleich wieder vorbei? Aber was, wenn nicht?

Langsam stieg ein panisches Gefühl in ihr hoch. Sie war ganz allein in der Wohnung und unfähig dazu, sich selbst zu helfen. Wenn doch nur Lucien hier wäre oder Nathalie...

Ach, warum war ihr Liebster denn schon gegangen?

„Lucien...“, stöhnte sie leise. „Lucien... bitte, hilf mir!“

Tränen stiegen ihr in die Augen, da der Schmerz in ihrem Kopf so intensiv wurde, dass sie das Gefühl hatte, ihr würde gleich der Schädel platzen. Zudem stieg langsam wieder ein Brechreiz in ihr auf. Hoffentlich ging er gleich vorbei... wenn doch nur Lucien da wäre und ihr helfen könnte... plötzlich sah sie seine Augen ganz deutlich vor sich und hatte den Eindruck, mit ihnen zu verschmelzen...

„Lucien!“ dachte sie eindringlich. „Hilf mir! Hilf mir!“

Ein starker Luftzug schien durch das Zimmer zu streifen... die kalte Luft tat gut...

„Corinne, was ist mit dir?“ hörte sie die leise, sonore Stimme ihres Liebsten, und fühlte seine kühle Hand auf ihrer Stirn. Doch sie war unfähig, ihm zu antworten, öffnete nur ihre mit Tränen gefüllten Augen und sah ihn an, während sie dachte: „Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in einem Schraubstock... der Schmerz ist unerträglich. Mir ist so schlecht... so schlecht...“

„Atme tief ein, das Fenster ist weit offen“, flüsterte er in ihr Ohr, während seine kühle Hand weiterhin auf ihrer Stirn lag. „Gleich wird’s dir besser gehen.“

Er legte die andere Hand auf ihren Bauch und wisperte noch leiser: „Ruhig... ganz ruhig... schön einatmen, mein Engel... ja, und nun wieder ausatmen. Lass dir Zeit, Liebling...“

Wie in Trance schien Corinnes Körper der tiefen Stimme des alten Vampirs zu gehorchen. Ihr Brechreiz verging mit jedem Atemzug, den sie nahm, und auch der Kopfschmerz ließ langsam nach. Nach einer Weile fühlte das Mädchen nur wohlige Müdigkeit. Scheinbar wusste Lucien genau, wie es ihr ging, denn er murmelte: „So, meine Kleine, schlaf jetzt schön weiter. Wenn du erwachst, geht es dir wieder gut.“

Er wickelte sie behutsam in ihre Bettdecke ein und küsste sie sanft auf die Wange, während sie allmählich wegdämmerte und nur noch ein leises „Gute Nacht, Corinne“ vernahm, bevor Morpheus sie in seine Arme schloss und ihr einen tiefen, erholsamen Schlaf schenkte...

***

Nathalie Lambert war alles andere als erfreut, als sie von der Nachtschicht nach Hause kam und auf ihrem Küchentisch eine offene Packung geschmolzener Eiscreme vorfand. Eigentlich sollte sie froh darüber sein, verriet es doch, dass mit Corinne alles in Ordnung war. Aber der süße Geruch der sahnigen Flüssigkeit rief Ekel in ihr hervor und sie wurde ärgerlich.

„Corinne!“ rief sie laut, doch nichts geschah. Dennoch war Nathalie davon überzeugt, dass ihre Cousine hier war. Sie stürmte in das Gästezimmer, fand das Mädchen selig schlummernd vor und rüttelte es rüde an den Schultern wach.

„Hm? Was ist denn...?“ fragte Corinne und lugte verschlafen unter der Bettdecke hervor.

„Steh sofort auf und räum die Sauerei in der Küche weg!“ forderte Nathalie sie in strengem Ton auf. Dann fiel deren Blick auf das weit offene Fenster. „Himmel, Mädchen! Ist dir denn nicht zu kalt?!“

„Eigentlich... nicht...“, gab Corinne zurück und folgte dem Blick ihrer Cousine. „Ich mache es gleich zu, Nat!“

„Das will ich auch hoffen! Und die Küche ist in zehn Minuten sauber, hörst du?“

Die Pathologin griff nach der Bettdecke und schlug diese mit einem Ruck zurück, so dass die nur mit Unterhemd und Slip bekleidete Corinne die Kälte am ganzen Leib mit einem Mal zu spüren bekam und unwillkürlich die Arme schützend um ihren Körper schlang.

„Musst du so rabiat sein, Nat?“

„Das beste Mittel, um wach zu werden!“ meinte die Ärztin und musste ein wenig grinsen. „Wer sich die ganze Nacht herumtreibt, ist selbst schuld, wenn er morgens gerädert erwacht! – Und nun steh endlich auf! Es ist das Mindeste, dass du die Küche sauber hinterlässt, nachdem du etwas gegessen hast!“

„Oh... die Eispackung...“, stöhnte Corinne und sprang aus dem Bett. „Ich habe sie ganz vergessen! Tut mir leid, Nat, mir war...“

Das Mädchen brach den Satz ab, ohne dass ihre Cousine, die schon fast das Zimmer verlassen hatte, etwas davon bemerkte. Besser, sie erzählte Nathalie nichts von ihrer nächtlichen Übelkeit, sonst würde diese wieder damit anfangen, sie behüten zu wollen und darauf bestehen, dass sie heute zu Hause blieb. Dabei freute sie sich schon darauf, den Tag mit Jenny zu verbringen.

Eilig schloss Corinne das Schlafzimmerfenster und beeilte sich dann, die Eispackung mit dem geschmolzenen Inhalt zu entsorgen. Als sie den Geruch desselben wahrnahm, fand sie ihn ebenso unangenehm wie Nathalie und schwor sich, so bald nicht mehr Erdbeereis zu essen.

***

Nachdem sie ihre Cousine beim Frühstück darüber informiert hatte, dass sie heute den ganzen Tag auf Jenny aufpassen würde, verließ Corinne das Haus und machte sich auf den Weg zur Convocation Hall. Heute war der letzte Tag des Kongresses und ein wenig Wehmut machte sich in dem Mädchen breit. Aber es war nicht so sehr der Tagungsbetrieb und die interessanten Menschen, die ihr fehlen würden, sondern der Umstand, dass Eva bald wieder abreiste. Sie wussten nicht, wann sie sich wiedersehen würden, denn ihre Freundin hatte einige interessante Aufträge erhalten, die sie ein halbes Jahr durch die Welt jetten ließen: Mailand, London, New York, München, Paris. Eva hätte sicher kaum Zeit, sich Mal bei ihr zu melden. Dafür wollten sie heute Nachmittag mit Jenny einen Stadtbummel machen und noch einmal richtig abschalten, bevor der Alltag sie wieder einholte.

Versunken in diese Gedanken kam Corinne vor der Convocation Hall an. Die Familie Schanke erwartete sie bereits und man begrüßte sich gegenseitig herzlich.

„Es ist Ihnen auch wirklich nicht zuviel?“ fragte Don besorgt, dem der Hinweis Nathalies noch immer im Ohr klang, dass Thomas Marquardt, dessen Mörder sie suchten, Corinnes früherer Lebensgefährte war.

„Aber nein!“ wehrte die junge Frau lächelnd ab. „Ich passe gern auf Jenny auf. Wir werden bestimmt einen schönen Tag haben!“

„Ich bin dir wirklich sehr dankbar“, sagte Myra und drückte ihr einen Schlüsselbund in die Hand. „Macht es euch gemütlich. Wir sind sicherlich vor Mitternacht wieder da; und wenn du willst, kannst du gerne bei uns übernachten, Corinne.“

„Danke für das Angebot, aber mein Freund holt mich ab“, erwiderte das Mädchen. „Ihr braucht euch also keinen Stress zu machen. Lucien wartet so lange mit mir, bis ihr wieder zu Hause seid. Genießt euren freien Tag. Bis heute Abend dann.“

Myra und Don umarmten noch einmal ihre Tochter und fuhren dann mit dem Wagen davon, während sich Jenny an Corinne hängte und diese strahlend ansah, was die junge Frau mit einem Lächeln erwiderte. Dann gingen sie in das Gebäude hinein.

Drinnen standen schon viele Menschen in Grüppchen zusammen, unterhielten sich und bedienten sich ab und zu von dem reichhaltigen Frühstücksbuffet, das auf einem langen Tisch aufgebaut stand. Jenny starrte mit großen Augen darauf, was Corinne unwillkürlich ein Lächeln entlockte.

„Möchtest du etwas davon?“ fragte die junge Frau ihren Schützling.

Erstaunt wandte ihr Jenny den Kopf zu und fragte ungläubig: „Darf ich?“

„Natürlich!“ erwiderte Corinne, was zur Folge hatte, dass sich die Kleine von ihrem Arm löste, zur großen Tafel eilte, dort stehen blieb und sich neugierig alles betrachtete, während ihre Betreuerin sie amüsiert beobachtete. Dabei wurde ihr mit einem Mal bewusst, wie sehr sie die Arbeit mit Kindern vermisste. Es sprach also alles dafür, wieder als Lehrerin zu arbeiten – egal wo.

„Guten Morgen, Corinne!“

Eva war soeben eingetroffen und hatte sich neben die Freundin gesellt. Dabei grinste sie sie an und deutete dann mit dem Kinn in Richtung Jennys, die sich soeben von einer freundlichen Frau einen Kakao einschenken ließ.

„Du kannst es einfach nicht lassen, Kinder zu betreuen, was?“

„Das tue ich doch gern“, antwortete Corinne. „Außerdem ist Jenny ein liebes Mädchen. Ich muss mich sowieso langsam wieder daran gewöhnen, mit Kindern zu arbeiten, da ich die Stelle in der Privatschule hier annehmen werde; und ich gestehe, dass ich mich darauf freue.“

„Das sind doch gute Neuigkeiten“, meinte Eva. „Was sagt eigentlich Lucien dazu?“

„Er sucht bereits eine Wohnung für uns beide“, verriet Corinne. „Und was macht Inge?“

„Physisch geht es ihr bereits wieder gut, aber ihre labile Seelenlage gefällt mir gar nicht. In ihrem jetzigen Zustand befürchte ich sogar, dass sie zu Teichert zurückkehrt, sobald er wieder auftaucht“, sagte die Fotografin.

„Das darf einfach nicht wahr sein!“ Corinne schüttelte verständnislos den Kopf.

„Sie sprach davon, dass sie auf den Job bei ihm angewiesen ist“, erklärte Eva. „Irgendwie kann ich das nachvollziehen. Wenn Inge eine andere Arbeit hätte, würde sie vielleicht von Teichert loskommen. Leider kann ich mir keine Assistentin leisten, sonst würde ich sie sofort einstellen.“

„Wenn Inge erst mal in Frankfurt ist, kommt sie schon wieder zu sich“, meinte Corinne zuversichtlich. „Michael wird sich bestimmt um sie kümmern.“

„Das glaube ich kaum, denn sein Chef hat Inge entlassen.“

„Na ja, aber das weiß doch niemand, solange Teichert verschwunden ist. Außerdem kann der Alte sie nicht von heute auf morgen rausschmeißen, sondern muss sich an Kündigungsfristen halten.“

„Das kommt ganz darauf an, wie er es begründet.“

„Nein, nein – Michael wird schon dafür sorgen, dass Inge ihr Rückflugticket benutzen darf!“

„Du solltest dich nicht zu sehr auf Michael verlassen“, meinte Eva mit warnendem Unterton. „In letzter Zeit scheint er nicht mehr er selbst zu sein. Hast du nicht auch den Eindruck?“

„Na ja“, gab ihre Freundin mit ernster Miene zu. „Es ist mir zum ersten Mal an jenem Abend richtig aufgefallen, als er mich beleidigt hat. Wahrscheinlich tut der Umgang mit Teichert seinem Charakter nicht allzu gut. Dennoch ist er Inges Freund und wird sie nicht im Stich lassen.“

„Ich hoffe, dass du recht hast“, murmelte Eva, warf Corinne aber einen besorgten Blick zu. „Dennoch sollest du vorsichtig sein, was Michael betrifft. Er hat sich in eine fixe Idee verrannt...“

„Welche fixe Idee?“

„Er ist fest davon überzeugt, dass Lucien einen schlechten Charakter hat und dir schaden will. Aber ich habe keine Ahnung, wie er darauf kommt.“

„Vergiss es! Michael konnte Lucien vom ersten Augenblick an nicht leiden. Doch das ist sein Problem! Kümmern wir uns einfach nicht mehr darum“, meinte Corinne in gleichgültigem Tonfall, während sie Jenny im Auge behielt. Diese hatte sich gerade ein belegtes Brötchen genommen und aß es langsam. Corinne ging zu ihr hin und sagte irgendetwas, worauf die Kleine nickte. Dann kam die junge Frau zu ihrer Freundin zurück.

„Komm, Eva, ich muss dir etwas zeigen!“

„Und was ist mit Jenny?“

„Sie hat mir versprochen, am Buffet zu bleiben, bis wir wiederkommen“, sagte Corinne, berührte ihre Freundin kurz am Ärmel und ging dann voraus. Eva folgte ihr zu einem großem Bild und wich, kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, unwillkürlich zurück. Die Darstellung eines dunklen, vogelartigen Wesens mit Menschenkopf, das einen nackten Mann in seinen Krallen hielt, machte ihr unwillkürlich Angst.

„Warum hast du mich hierher geführt, Corinne?“

„Diese Grafik berührt mich auf irgendeine Weise besonders stark!“ erklärte ihre Freundin, die den Blick keinen Moment von dem Bild abwandte. „Besonders die Augen – sie erinnern mich an etwas oder an jemanden. Geht es dir auch so?“

Eva schaute noch einmal auf die Abbildung des animalischen, menschenköpfigen Wesens und betrachtete sich dessen Gesicht genauer. Dann meinte sie: „Nun ja, in diesen Augen steht die blanke Gier geschrieben. Sie wirken auch irgendwie wollüstig - geradezu sadistisch angesichts des armen Menschen, den diese grauenhafte Gestalt wohl gleich töten wird.“

„Erinnern sie dich an jemanden?“

„Zum Glück nicht! Ich hoffe doch sehr, dass ich nie die Bekanntschaft mit jemandem mache, der solch einen Blick hat!“

„Dann spricht alles dafür, dass du über einen gesunden Menschenverstand verfügst!“ mischte sich nun eine männliche Stimme in das Gespräch der beiden jungen Frauen ein. Diese fuhren erschrocken herum und erkannten Michael, der leise von hinten an sie herangetreten war und ihnen zugehört hatte.

„Was meinst du damit?“ fragte Eva verwirrt.

Michael warf ihr und Corinne einen vielsagenden Blick zu und erklärte dann mit fester Stimme: „Dieses Wesen mit den gierigen Augen ist ein Vampir! Und solche Wesen sind bösartig, sadistisch und mordlustig und keineswegs dazu fähig, jemanden zu lieben. Das einzige, was sie interessiert, ist das Blut ihrer Opfer, nach dem sie sich voller Gier verzehren...“

Der junge Mann machte eine kurze Pause und wandte sich dann mit eindringlicher Stimme an Corinne: „Du fragst dich, an wen dich diese Augen erinnern? Ich kann es dir verraten. Es ist der Blick, mit dem LaCroix uns an dem Abend, an dem wir ihm das erste Mal begegnet sind, angeschaut hat.“

„Das ist doch Unsinn!“ wehrte Corinne in widerwilligem Ton ab und schüttelte den Kopf. „Er hat mich nie so angesehen – niemals...!“

„Ach ja?“ fragte Michael mit aggressivem Unterton. „Dann erinnere dich doch Mal genau! Inge wollte sofort gehen, nachdem er sich uns vorgestellt hat. Mir war auch äußerst unwohl in seiner Gegenwart, aber du... du warst wie hypnotisiert...“

„Du spinnst total!“ erwiderte Corinne ärgerlich. „Von Anfang an hattest du einfach etwas gegen Lucien, obwohl er dir überaus freundlich begegnet ist!“

„Oh ja, Vampire sind zuerst immer sehr freundlich – sie sind Verführer, Dämonen...“

„Es gibt keine Vampire!“ unterbrach Corinne ihn in heftigem Ton.

„Mag sein“, sagte Michael rasch und schaute sie mit flehendem Blick an. „Aber dieser LaCroix hat nichts Gutes mit dir vor! Ich bitte dich, halte dich von ihm fern und flieg übermorgen mit mir nach Frankfurt zurück!“

„Und was wird aus Inge?“ fragte Corinne gereizt. „Du willst sie doch wohl nicht einfach allein hier zurücklassen?“

„Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Inge muss noch einige Tage im Krankenhaus bleiben. Bevor ihr Flugticket verfällt, könntest du es doch nutzen!“

Corinne tauschte einen überraschten Blick mit Eva aus, bevor sie sich erneut in ärgerlichem Ton an ihn wandte: „Und wie, bitte schön, soll Inge dann nach Hause kommen?! Du kannst sie doch nicht einfach allein hier zurücklassen. Vor allem jetzt nicht, wo es ihr so schlecht geht.“

„Sobald ich den Termin ihrer Entlassung weiß, lasse ich Ihr ein Flugticket hinterlegen und sorge dafür, dass die Uni es bezahlt“, erklärte Michael.

„Du könntest auch einfach eure Tickets umbuchen lassen und solange in Toronto bleiben, bis es ihr wieder besser geht“, schlug Eva vor. „Und der Uni könntest du mitteilen, dass Inge einen Unfall hatte.“

„Nein! Teichert würde da nicht mitspielen“, erklärte der junge Mann.

„Im Augenblick ist er ja noch verschwunden“, meinte die Fotografin.

„Doch wenn er da wäre, würde er sich weigern, die Angelegenheit auf diese Weise zu handhaben“, sagte Michael. „Nein! Es ist besser, wenn Corinne und ich zusammen zurückfliegen und Inge erst in ein paar Tagen. Damit bleibt mir auch genügend Spielraum, um Wernher zu beruhigen, sobald er wieder auftaucht.“

„Du weißt nicht zufällig, wo er sich befindet?“ wollte Eva wissen.

„Nein, das ist ja das Merkwürdige“, erwiderte der junge Mann und schüttelte den Kopf. „Normalerweise teilt er mir immer mit, wenn er länger wegbleibt. Allmählich mache ich mir wirklich Gedanken, ob ihm etwas zugestoßen ist.“

„Vielleicht liegt er bei einer Schönheit im Bett und kann sich nicht von ihr trennen“, meinte Corinne in sarkastischem Ton. „Und da er seinen Vortrag hinter sich hat, braucht er sich auf dem Kongress nicht mehr blicken zu lassen. Wahrscheinlich taucht er kurz vor eurer Abreise wieder auf. Aber selbst, wenn nicht, ich fliege auf gar keinen Fall zurück nach Frankfurt – weder mit dir noch mit sonst jemandem – und schon gar nicht in Begleitung des alten Schleimbeutels!“

„Bitte, Corinne, ich will dich doch nur beschützen!“ sagte Michael in eindringlichem Ton und sah sie flehentlich an. „Glaub mir, es ist besser, wenn du dich von LaCroix fernhältst und so schnell wie möglich wieder nach Hause zu deinen Eltern zurückkehrst. Dort bist du in Sicherheit!“

„Ich bin auch hier in Sicherheit!“ erwiderte die Angesprochene in überzeugtem Ton. „Der Einzige, der mir das Gegenteil einzureden versucht, bist du. Lass mich endlich in Ruhe, Michael! Ich habe ein für alle Mal genug von dir! Lass mich in Ruhe! Und Lucien auch!“

Nach diesen Worten kehrte Corinne ihm den Rücken zu, hakte sich im Arm ihrer Freundin unter und ging mit ihr zum Buffet zurück. Michael blickte seiner Angebeteten besorgt hinterher. Sie wollte also nicht auf ihn hören. Dies sowie ihr abweisendes Verhalten ihm gegenüber waren sicherlich dem unheilvollen Einfluss von LaCroix zuzuschreiben. Michael war davon überzeugt, dass dieser sie hypnotisiert hatte. Doch er würde einen Weg finden, um Corinne davon zu befreien...

 

 

 

Als Michael gegen 14.00 Uhr ins Hotel zurückkam, teilte ihm der Portier mit, dass in der Eingangshalle bereits zwei Beamte der Mordkommission auf ihn warteten. Verwundert ging der junge Mann zu ihnen, stellte sich vor und erfuhr gleich darauf von einem der Polizisten, dass man die Leiche Wernher Teicherts gefunden habe. Obwohl Michael verärgert über seinen Chef gewesen war, erschütterte ihn diese Nachricht doch sehr.

„Wie... wie ist es passiert?“ fragte er tonlos. „Wie ist Wernher umgekommen?“

„Das wissen wir noch nicht so genau“, erwiderte einer der Beamten. „Seine Leiche muss erst von den Gerichtsmedizinern untersucht werden. Vermutlich ist Mr. Teichert ertrunken.“

„Ertrunken?“ fragte Michael und runzelte die Stirn. „Aber Wernher war ein sehr guter Schwimmer. Wie könnte er da ertrunken sein?“

„Das herauszufinden wird Sache unserer Pathologie sein. Wären Sie so freundlich, uns dorthin zu begleiten? Wir brauchen jemanden, der die Leiche von Mr. Teichert identifiziert.“

„Ja... ja, natürlich“, sagte der junge Mann. „Weiß eigentlich schon seine Ehefrau von dem Unglück?“

„Wir haben sie telefonisch davon in Kenntnis gesetzt“, antwortete der andere Beamte. „Sie war verständlicherweise entsetzt. Deshalb haben wir Abstand davon genommen, sie hierher zu bitten, zumal Sie als Assistent von Professor Teichert  ja ebenso gut in der Lage sind, uns die Identität des Toten zu bestätigen.“

Michael nickte und fuhr dann mit den beiden Polizisten zur Gerichtsmedizin. Er hoffte immer noch, dass es sich bei dem gefundenen Toten nicht um seinen Chef handelte. Doch als er mit dem Anblick der aufgedunsenen Leiche konfrontiert wurde, musste er der schrecklichen Wahrheit ins Gesicht sehen: Vor ihm lag der leblose Körper von Wernher Teichert. Mit blassem Gesicht und stockender Stimme bestätigte er den beiden Polizisten dessen Identität. Danach baten sie ihn zu einem kurzen Gespräch in ihr Büro, wo sie von ihm wissen wollten, ob er etwas über den letzten Aufenthalt seines Chefs wisse, wann er ihn zum letzten Mal gesehen hatte usw. Aber Michael konnte ihnen kaum weiterhelfen und durfte bald wieder ins Hotel zurückkehren, wo er unruhig hin und her lief. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass Teichert tot war. Es schien so unwirklich, so unpassend für die Person des Professors. Er war stets derjenige gewesen, der Dinge und Menschen nach seinem Gutdünken manipulieren konnte – und er sollte einfach so ausgelöscht sein? Ertrunken im Ontariosee? Das war unglaublich...

 ***

Nachdem die Tagung gegen 13.00 Uhr offiziell vorbei war und Professor Huus seine Abschiedsrede gehalten hatte, waren Corinne, Jenny und Eva mit einem Taxi zum CN Tower gefahren, da die Fotografin unbedingt einmal in dem rotierenden Restaurant, das sich dort befand, zu Mittag essen wollte und deshalb einige Tage vorher telefonisch einen Tisch für sich und ihre Freundin reserviert hatte. Jennys Anwesenheit war eigentlich nicht vorgesehen gewesen, aber es stellte kein Problem dar, wie ihnen der Kellner freundlich versicherte, als er sie zu ihrem Tisch führte. Nachdem sie die Karte studiert und sich etwas bestellt hatten, schauten sie aus dem großen Fenster auf die Stadt hinunter und genossen die Aussicht, die sich ihnen bot. Jenny, die noch nie hier oben gewesen war, klebte förmlich am Fenster und verlor sich in andachtsvoller, stummer Betrachtung.

„Na, bekommst du nicht doch ein wenig Heimweh?“ fragte Eva ihre Freundin.

„Ja, schon“, gab Corinne zu und erinnerte sich an jene Nacht, als sie allein mit Lucien auf der oberen Plattform gestanden hatte. Auch damals hatte sie Sehnsucht nach ihrer Familie gehabt. Allerdings war sie da noch nicht richtig mit Lucien zusammen gewesen. Dass sie jetzt ein Paar waren und zusammenziehen wollten, änderte die Sachlage ein wenig.

„Ich kann jederzeit nach Frankfurt fliegen, um meine Familie zu besuchen. Doch mein neues Leben wird hier in Toronto sein.“

„Ganz schön mutig von dir, auszuwandern und in einem fremden Land nochmal neu anzufangen“, meinte Eva.

„Wer nichts wagt, gewinnt nichts“, erwiderte ihre Freundin lächelnd. „Und was hält mich denn eigentlich noch in Frankfurt? Thomas ist tot und seine Galerie wird sicherlich auch bald einen guten Käufer finden. Dann bin ich endlich frei.“

„Was hast du mit Thomas’ Galerie zu tun?“ wunderte sich die Fotografin.

„Er hat sie mir vermacht“, erklärte Corinne, wobei sie ihre Augen senkte und auf das weiße Tischtuch starrte. Die Erinnerung an das Geschehene tat immer noch sehr weh, aber es überwältigte sie nicht mehr so stark. Sie atmete tief ein und blickte dann wieder ihre Freundin an. „Ich habe Philipp gebeten, die Galerie seines Bruders zu verkaufen.“

„Willst du das wirklich?“ fragte Eva zweifelnd und betrachtete Corinne besorgt. „Meinst du nicht, dass Thomas sich etwas dabei gedacht hat, ausgerechnet dir die Galerie zu vermachen?“

„Ach nein, das glaube ich nicht“, erwiderte ihre Freundin kopfschüttelnd. „Weder er noch ich haben damit gerechnet, dass uns etwas zustößt. Wahrscheinlich hat er der Form halber so etwas wie ein Testament gemacht, weil sein Bruder ihm dazu geraten hat.“

„Was ist eine Galarie?“ fragte Jenny plötzlich und wandte sich aufmerksam an die beiden jungen Frauen.

„Das ist ein Geschäft, in dem man Kunstgegenstände ausstellt, die man verkaufen möchte“, erklärte Corinne mit sanftem Lächeln.

„Aha!“ meinte die Kleine. „Und was sind Kunstgegenstände?“

„Zum Beispiel Bilder oder Statuen wie du sie mit deiner Mutter in der großen Halle gesehen hast. Erinnerst du dich?“

„Hm“, nickte das Kind. „Statuhn sind die weißen Menschen, nicht?“

Als Corinne daraufhin nickte, fragte das Mädchen weiter: Und dir gehört so eine Galarie?“

„Ja, im Moment gehört sie mir noch“, gab die junge Frau zu. „Aber ich will die Galerie verkaufen.“

Jenny runzelte verständnislos die Stirn.

„Ich dachte, du verkaufst dort Bilder und Statuhn, Corinne?“

„Im Moment ist die Galerie geschlossen.“

„Warum?“

„Weil sie verkauft werden soll“, erklärte Corinne geduldig. „Weißt du, Jenny, die Galerie ist in Frankfurt und ich werde doch bald in Toronto arbeiten und darum hierher ziehen. Deshalb muss ich die Galerie verkaufen. Das verstehst du doch, nicht wahr?“

„Ist Frankfurt denn weit weg von hier?“ wollte die Kleine wissen.

„Oh ja“, erwiderte Corinne und deutete mit einem Finger vom Fenster aus auf den Himmel. „Sehr, sehr weit weg über das Wasser.“

Jenny sah hinaus und blickte dann wieder mit großen Augen zu der jungen Frau. Sie schien beeindruckt zu sein. Eva, die die beiden die ganze Zeit amüsiert beobachtet hatte, hatte inzwischen ihre Kamera aus der Tasche geholt und schoss nun ein Foto, da sie den Blick der Fünfjährigen einfach entzückend fand und ihn festhalten wollte.

„Hey, das war nicht abgemacht!“ protestierte ihre Freundin, aber Eva lachte nur.

„Ich konnte nicht widerstehen“, verteidigte sich die Fotografin und steckte dann die Kamera weg. „Aber du und die Schankes bekommen einen Abzug von diesem Foto – versprochen!“

„Also, wenn du schon Fotos machen willst, dann tue es doch, wenn wir dort drüben sind“, meinte Corinne und deutete auf eine Inselgruppe, die gerade eben zu sehen war. „Lass uns  nachher mit einer Fähre nach Toronto Islands fahren. Man soll dort in den Parkanlagen wunderbare Spaziergänge machen können und einen herrlichen Blick auf Toronto haben. Wäre das nicht ein guter Ausklang für deinen hiesigen Aufenthalt?“

„Einverstanden“, sagte Eva. „Nach einem guten Essen wird uns ein ausgedehnter Spaziergang bei dem milden Wetter sicher gut tun.“

 ***

Inge, die immer noch allein in ihrem Krankenzimmer lag, erschrak, als Michael gegen 16.00 Uhr mit bleichem Gesicht in ihrem Zimmer erschien.

„Um Himmels willen!“ entfuhr es der zierlichen Frau erschrocken. „Was ist passiert?“

Ohne ihr eine Antwort zu geben, ließ Michael sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett sinken und starrte eine Minute auf den Boden. Dann sah er seine Kollegin an und meinte mit tonloser Stimme: „Ich... ich muss... dir... etwas sagen... Aber... aber... ich weiß nicht, wie... wie ich es dir beibringen soll...“

Inge sah ihren Besucher mit aufgerissenen Augen an, bevor sie zaghaft fragte: „Worum handelt es sich?“

„Tut mir leid... ich wollte dich nicht erschrecken“, entschuldigte sich Michael. Er schaute sie wiederum eine Weile stumm an und meinte dann mit gedehnter Stimme: „Nun... immerhin können wir jetzt gemeinsam nach Frankfurt zurückfliegen. Ich habe die Flugtickets umbuchen lassen. Die Uni weiß Bescheid. Es ist alles in Ordnung.“

„Hat Wernher... hat er deswegen Schwierigkeiten gemacht?“

„Nein, Inge, er wird nie wieder jemandem Schwierigkeiten machen.“

„Was... was soll das heißen?“ fragte das zierliche Mädchen mit ängstlichem Unterton. „Ist etwas mit ihm passiert?“

„So... könnte man es sagen...“

„Oh, Michael, jetzt rede endlich! Was willst du mir sagen?“

„Weißt du... Wernher war die ganze Nacht fort und ist auch heute Morgen nicht  aufgetaucht...“, begann der junge Mann zögerlich. „Aber das ist an sich kein Grund zur Besorgnis gewesen. Schließlich ist er ein erwachsener Mann. Doch heute Nachmittag habe ich erfahren, dass...“

„Was denn, Michael? Sag es endlich!“

„Nun, man hat... man hat Wernher gefunden, aber...“

„Aber...?“

„Es fällt mir wirklich schwer, es auszusprechen, Inge... Wernher... er ist... er ist...“

„Er ist was...?“

„Wernher Teichert ist tot.“

„NEIN!“ stieß die junge Frau laut hervor und augenblicklich wurde ihr Gesicht kreidebleich. „Nein, das kann nicht sein! Nein, nein, nein... Sag, dass das nicht wahr ist!“

„Leider ist es so“, antwortete Michael mit leichtem Bedauern in der Stimme, beobachtete aber seine Kollegin äußerst besorgt. Diese starrte ihn immer noch mit aufgerissenen Augen an und erwiderte nichts. Und er fühlte sich überaus unbehaglich. Wie sollte er nur am Besten mit ihr umgehen? Dass sie ihn mit schreckgeweitetem Blick schweigend anstarrte war bestimmt kein gutes Zeichen.

„Inge?“ fragte er sanft. „Inge...?“

Endlich schien sie aus ihrer Erstarrung zu erwachen.

„Ich glaube es einfach nicht...“, wisperte die zierliche Blondine. „Vielleicht... vielleicht ist es nur ein schrecklicher Irrtum...?“

Michael schüttelte langsam den Kopf und meinte behutsam: „Es tut mir leid, aber ich habe seine Leiche gesehen. Wernher ist wirklich tot – und wir müssen uns mit dieser traurigen Tatsache abfinden.“

„Er ist... wirklich... tot?“

„Ja, er ist wirklich tot.“

„OH NEIN!“ rief die junge Frau erneut laut aus und begann zu zittern, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. Eine Sekunde später hatte sie ihre Hände um die Bettdecke gekrallt, diese an ihr Gesicht gedrückt und weinte hemmungslos.

Michael ließ seine Kollegin gewähren und blieb einfach ruhig sitzen. Er wusste nicht, wie er Inge trösten sollte. Ihm hatte der Tod seines Professors schließlich selbst sehr zugesetzt. Dennoch bemühte er sich, einen kühlen Kopf zu bewahren, da er sich vorerst um die Angelegenheiten Wernhers kümmern musste. Als er nach seinem Besuch im Polizeirevier mit der Dekanatsverwaltung telefonierte, um sie von Teicherts Tod in Kenntnis zu setzen, hatte man ihn darum gebeten. Immerhin galt er als rechte Hand des Professors und dementsprechend mit all seinen Angelegenheiten vertraut. Sobald diese jedoch geregelt waren, wusste er nicht, was mit ihm und seiner Kollegin geschehen würde. Ohne ihren Vorgesetzten war mehr als fraglich, ob sie ihre Jobs behielten.

„Wie... wie ist es passiert?“ fragte Inge in Michaels Gedanken hinein.

„Was?“ fuhr der Angesprochene verstört auf.

„Wie ist Wernher ums Leben gekommen?“

„Das kann man noch nicht mit Gewissheit sagen.“

„Wie bitte? Das verstehe ich nicht“, meinte Inge und runzelte die Stirn.

„Man hat seine Leiche doch erst heute Morgen gefunden...“, begann Michael, hielt dann aber sofort inne. Er war sich nicht sicher, ob es richtig war, wenn er seiner Kollegin die Vermutung der Polizei mitteilte. Womöglich regte sie sich wieder auf und genau dies wollte er vermeiden. „Die Gerichtsmedizin muss sie zunächst untersuchen, um die Todesursache zu erfahren.“

„Gerichtsmedizin?“ fragte die junge Frau aufgebracht. „Weshalb denn das? Du verschweigst mir doch etwas, Michael...?“

„Wie kann ich dir etwas verschweigen, wenn ich selbst nichts weiß?“ wehrte der junge Mann ab.

„Hat... hat man...?“ Inge stockte kurz und fuhr dann schnell fort: „Hat man Wernher ermordet?“

Michael zuckte bei dieser Äußerung kurz zusammen und starrte seine Kollegin erschrocken an.

„Himmel, Inge, wie kommst du nur auf so einen Gedanken?“

„Du sagst, er ist heute Morgen gefunden worden... aber wo genau...? Bitte, Michael, sag mir die Wahrheit!“

„Also gut...“, seufzte dieser und ließ den Kopf hängen. „Man hat ihn aus dem Ontariosee herausgefischt. Scheint so, als sei er ertrunken...“

„Unmöglich, er war ein guter Schwimmer...“, meinte Inge.

„Genau derselbe Gedanke ging mir durch den Kopf“, bestätigte Michael ihren Einwand. „Aber es sieht nun einmal so aus, als sei er ertrunken. Ich werde nachher nochmal die Gerichtsmedizin aufsuchen. Vielleicht weiß man dann mehr über die Todesursache.“

Inge brach erneut in Tränen aus.

„Es ist einfach nur schrecklich“, schluchzte sie. „Auch, wenn er mir sehr weh getan hat, schmerzt mich Wernhers Tod.“

Dieser kleine Hinweis auf das schäbige Verhalten seines Professors genügte Michael jedoch, um die Erschütterung über dessen Tod in eine maßlos Wut zu verwandeln. Teichert hatte Inges Liebe zu ihm dazu benutzt, damit sie sich ihm sexuell hingab – und dann hatte er sie einfach ohne Gewissensbisse fallen gelassen, da sie ihm eigentlich völlig egal war. Sein Opfer jedoch saß hier im Krankenbett und vergoss Tränen um ihn.

Zu allem Überfluss murmelte Inge noch: „Wie sehr wünschte ich, dass er noch lebte...“

Michael starrte sie erstaunt an.

„Wie kannst du so reden nach all dem, was er dir angetan hat?“ fragte er.

„Ich liebe ihn... habe ihn geliebt...“ erwiderte sie.

„Euch Frauen werde ich niemals verstehen“, meinte der junge Mann und schüttelte den Kopf. „Was hatte Wernher nur an sich, dass du ihm immer noch nachtrauerst?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich immer noch sehr viel Liebe für ihn empfand“, erwiderte Inge und beruhigte sich ein wenig.

„Aber er war sehr viel älter als du. Was findet eine junge Frau wie du an solch einem Mann?“

„Nun ja, Wernher gab mir das Gefühl, begehrenswert zu sein...“

„Ich kann nicht glauben, dass das alles ist“, sagte Michael. „Wenn es wirklich so einfach wäre, dann würde die Frau, die ich über alles verehre, doch längst an meiner Seite sein.“

Inge seufzte leise.

„Ach, Michael, kannst du Corinne denn nicht vergessen? Schließlich ist sie wieder mit jemandem zusammen.“

Der Angesprochene vergrub sein Gesicht in den Händen und schüttelte schweigend den Kopf. Unwillkürlich tauchten dort Bilder auf, die ihm zeigten, wie Corinne mit diesem finsteren LaCroix  Zärtlichkeiten austauschte, und quälten ihn auf unerträgliche Weise. Er konnte nur mit Mühe seine Tränen zurückhalten.

Inge betrachtete ihren Kollegen voller Mitleid und ahnte, wie sehr er unter seiner unerwiderten Liebe zu Corinne Lambert litt.

„Ich kann gut nachvollziehen, wie schwer es ist, sich jemanden aus dem Kopf zu schlagen, in den man schrecklich verliebt ist“, meinte sie sanft. „Aber wir beide müssen es tun, sonst gehen wir daran zugrunde.“

Michael blickte Inge traurig an.

„Was habe ich nur falsch gemacht?“ fragte er leise. „Sie muss doch mittlerweile gemerkt haben, wie viel mir an ihr liegt.“

„Hast du ihr denn gesagt, was du für sie empfindest?“

„Nein. Ich wollte es, aber immer kam etwas dazwischen...“

„Na ja, vielleicht ist es auch besser so“, sagte Inge, die insgeheim ebenfalls davon überzeugt war, dass Corinne Michaels Zuneigung sicherlich bemerkt hätte, wenn sie an ihm nur ein bisschen interessiert gewesen wäre.

„Nein, es war ein großer Fehler von mir, ihr meine Gefühle zu verschweigen“, widersprach ihr Kollege. „Hätte ich doch nur früher meinen Mund aufgemacht.“

„Sie hat einen neuen Freund“, sagte Inge eindringlich. „Du musst Corinne vergessen. Mit der Zeit kommst du sicherlich über sie hinweg. Und du kannst jederzeit auf mich als eine gute Freundin zählen, wie du weißt...“

Die junge Frau stockte kurz und meinte dann leise: „Wenigstens war Corinne immer ehrlich zu dir... sie hat dir niemals falsche Gefühle vorgeheuchelt... sie hat dich niemals benutzt...“

Wieder brach Inge heftig in Tränen aus und holte Michael damit aus seiner Lethargie. Erneut erfüllte sich sein Inneres mit Wut auf Wernher Teichert und ließ in ihm die Frage aufkommen, ob ein Typ wie sein Chef den Tod nicht verdient hatte. Sicherlich blieb mit seinem Ableben vielen anderen jungen Frauen ein ähnliches Schicksal wie Inge erspart.

So schrecklich Michael diesen Gedanken einerseits fand, befriedigte er ihn andererseits auch. Nicht nur Inge würde ihre Ruhe vor Teichert haben, sondern auch seine geliebte Corinne. Und er würde sie nicht aufgeben, niemals. Keiner konnte seine Liebe zu Corinne zerstören. Weder ein Marquardt noch ein LaCroix. Sie waren nichts weiter als Episoden im Leben der Frau, die er liebte...

 

Als Nicholas an diesem Abend in sein Büro kam, fand er auf seinem Schreibtisch die aktualisierte Akte über Wernher Teichert vor und überflog rasch den Bericht über den Fund seiner Leiche sowie das Gutachten der Pathologie. Danach hatte der Professor zu tief ins Glas geschaut und war vermutlich in alkolisiertem Zustand ins Wasser gefallen und ertrunken.

„Verdammt!“ zischte Nick leise. Nun würde er diesen Kerl nicht mehr in die Mangel nehmen können, wie er es sich eigentlich schon ausgemalt hatte. Selbst wenn Teichert am Tod von Marquardt unschuldig gewesen war, so hätte er diesen wegen seines Verhaltens gegenüber Corinne Lambert zur Verantwortung ziehen können. Sexuelle Nötigung war schließlich auch ein Verbrechen. Es wäre Nick ein Vergnügen gewesen, ihn wenigstens wegen dieses Delikts dranzukriegen. So etwas hätte Teichert seine Stellung gekostet und ihn damit seiner Macht beraubt, andere Menschen zu blenden, zu verführen oder gar zu erpressen. Wenn Nick daran dachte, wie dieser hochmütige Kerl seine junge Mitarbeiterin behandelt hatte, stieg wieder Wut in ihm hoch, gleichzeitig aber auch das Bedürfnis, diese zierliche, blonde Frau zu beschützen. Doch nun war Teichert tot und er konnte ihn für keines seiner Vergehen zur Verantwortung ziehen.

Zornig starrte er auf die Akte und bemerkte nicht, dass seine Vorgesetzte sich ihm näherte.

„Wie ich sehe, wissen Sie bereits, dass Ihr Hauptverdächtiger im Fall Marquardt tot ist“, stellte Amanda Cohen nüchtern fest. „Sie können den Vorgang jetzt also abschließen.“

Nick erwachte wie aus einer Trance und schaute seine Chefin an.

„Scheint so“, murmelte er dann und blickte nachdenklich wieder auf die Akte. Aus der Sichtweise seiner Vorgesetzten schien es nur vernünftig zu sein, den Fall Marquardt abzuschließen, aber das könnte sich als fataler Fehler erweisen. Denn sollten LaCroix’ Behauptungen stimmen, lief Marquardts Mörder immer noch frei herum und stellte eine potentielle Gefahr für Corinne Lambert dar. Wenn er nur eine ungefähre Ahnung hätte, um wen es sich dabei handelte. Laut LaCroix war es eigentlich offensichtlich...

„Stimmt etwas nicht, Knight?“ rief die Stimme Cohens ihn in die Gegenwart zurück.

„Verzeihen Sie, aber meinem Gefühl nach sollte dieser Fall noch weiterverfolgt werden“, erwiderte Nick.

„Weshalb? Teichert ist tot.“

„Instinkt, Captain! Irgendetwas stimmt hier nicht! Was, wenn wir Teichert zu Unrecht verdächtigt haben?“

„Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie es waren, der den Fall Marquardt, mit dem unser Land überhaupt nichts zu tun hat, aufgerollt hat, weil Sie Professor Teichert des Mordes verdächtigten!“ wies Cohen ihn in strengem Ton zurecht. „Natürlich ist mir bekannt, dass Sie dies nur getan haben, weil Teichert Ihrer Meinung nach eine Verwandte Dr. Lamberts bedroht, die sich im Moment in Toronto aufhält. Deshalb – und ich betone: nur deshalb habe ich Ihre Handlungsweise geduldet, obwohl ich es zunächst für eine fixe Idee Ihrerseits hielt, Knight.“

„Mein Instinkt sagt mir, dass der Fall nicht gelöst ist“, meinte Nicholas in eindringlichem Ton und sah seiner Vorgesetzten fest in die Augen. „Bitte, Captain, lassen Sie mich in dieser Angelegenheit weiter ermitteln.“

„Mit welcher Begründung denn, Knight?“ fragte sie scharf. „Alle Indizien deuten darauf hin, dass der Tote der Mörder Thomas Marquardts ist. Doch man kann ihn für seine Tat jetzt nicht mehr zur Verantwortung ziehen. Und damit hat sich der Fall sowohl für uns als auch für die deutschen Behörden erledigt.“

„Aber wenn mein Anfangsverdacht gegen Teichert ein Irrtum war, läuft der wahre Mörder Marquardts immer noch frei herum und könnte ein weiteres Verbrechen begehen“, wandte Nicholas ein. „Bitte, Captain, lassen Sie mich weiter ermitteln. Vertrauen Sie einfach meinem Instinkt!“

„Na schön“, seufzte Cohen. „Sie sind ein guter Polizist und Ihr Instinkt hat sich in der Vergangenheit meistens als hilfreich erwiesen. Ich werde den Abschluss des Falls ein wenig hinauszögern, aber mehr als 24 Stunden sind nicht drin, Knight.“

„Ja – danke, Captain!“ sagte Nick. „Dann fange ich am besten nochmal an, mich im Umfeld Teicherts umzuhören. Ich bin mir sicher, dass die Lösung dort zu finden ist.“

„Viel Erfolg, Knight!“

***

Kurz vor 20.00 Uhr tauchte Michael in der Gerichtsmedizin auf und erklärte, dass er der Assistent von Professor Teichert sei. Daraufhin führte man ihn direkt in das Büro von Nathalie, die gerade noch etwas in den Computer eingab, während sie ihn kurz begrüßte und ihm mit einer Geste den Platz vor ihrem Schreibtisch anbot. Nach einer kleinen Weile wandte sie sich ihm endlich zu.

„Sie kommen wegen Professor Teichert, nicht wahr?“ fragte die Pathologin.

„Ja, das ist richtig“, erwiderte der junge Mann. „Er war mein direkter Vorgesetzter.“

„Sicherlich nicht einfach für Sie“, meinte Nathalie mitfühlend. „Man hat mich darüber informiert, dass sowohl Frau Teichert als auch Ihre Universitätsverwaltung Sie damit betraut hat, alle Angelegenheiten des Toten hier in Toronto zu regeln. Darüber hinaus mussten Sie die Leiche Ihres Chefs identifizieren. Das war bestimmt sehr schwer für Sie, nicht wahr?“

„Ja, das war es“, gab Michael zu. „Allerdings konnte man mir heute Nachmittag noch nichts über die genaue Todesursache verraten und verwies mich auf die Gerichtsmedizin. Deshalb bin ich jetzt hier und hoffe, von Ihnen mehr darüber zu erfahren, Frau Dr. Lambert.“

„Das ist verständlich. Meine Kollegin von der Tagschicht hat den Leichnam von Professor Teichert untersucht. Der Bericht darüber liegt mir vor und ich habe ihn auch gelesen. Allerdings weiß ich nicht, ob das Ergebnis Ihnen gefallen wird.“

„Ich kann die Wahrheit ertragen. Bitte, sagen Sie mir, woran Wernher gestorben ist.“

„Nun, man fand sehr viel Alkohol in seinem Körper und ist zu dem Schluss gekommen, dass Ihr Chef im Vollrausch in den Ontariosee gefallen und ertrunken ist“, klärte Nathalie ihn in nüchternem Ton auf.

„Das kann nicht sein!“ protestierte Michael. „Wernher war ein sehr guter Schwimmer.“

„Aber er war auch stark alkoholisiert und wahrscheinlich nicht mehr Herr seiner Reaktionen“, gab die Pathologin zu bedenken. „Es tut mir wirklich sehr leid, dass ein solch renommierter Wissenschaftler auf diese Weise den Tod findet. Aber die Untersuchung meiner Kollegin lässt keinen anderen Schluss zu.“

„Oh Gott, das kann ich doch seiner Frau nicht sagen“, entfuhr es dem jungen Mann. Er schaute Nathalie mit flehendem Blick an. „Ist es denn wirklich sicher, dass Wernher betrunken war?“

„Er war sehr stark betrunken“, erwiderte Nathalie mit Bedauern in der Stimme. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie unangenehm es für den Assistenten Teicherts war, der Witwe solch eine Nachricht zu überbringen und welche Konsequenzen das eventuell nach sich zog. Die Ehefrau des Toten könnte in ihm jemanden sehen, der den guten Ruf ihres Mannes nachträglich beschmutzen wolle, und sich über ihn bei der Universitätsleitung beschweren, obwohl Michael keinerlei Schuld daran trug, dass Teichert als Schnapsleiche an das Ufer des Ontariosees gespült worden war.

„Es ist so ein unwürdiger Tod“, murmelte der junge Mann. „Kann... kann ich ihn denn wenigstens noch einmal sehen, Frau Dr. Lambert?“

„Natürlich!“ erwiderte Nathalie und erhob sich. „Bitte, folgen Sie mir!“

Sie führte ihn in einen großen Raum, der sich nebenan befand. Auf einem OP-Tisch lag ein mit einem weißen Tuch bedeckter Toter, an den die Pathologin jetzt herantrat und den Stoff bis zu dessen Brustansatz aufschlug, Michael, der neben Nathalie stand, konnte sich nun noch einmal das Antlitz seines Chefs betrachten.

Wernher war kaum wiederzuerkennen. Sein jetzt aufgedunsenes Gesicht wirkte seltsam plump. Niemand würde bei diesem Anblick auf die Idee kommen, dass der Tote einst ein umschwärmter Casanova gewesen war, der nichts anbrennen ließ. Und wahrscheinlich war genau diese fatale Neigung zu erotischen Ausschweifungen in Verbindung mit starkem Alkoholgenuss der Grund für sein vorzeitiges Ableben.

Michael seufzte tief auf, während er Wernher weiterhin ansah. Dessen Tod war in mehrfacher Hinsicht bedauerlich. Nicht nur, dass er vor der Öffentlichkeit verschleiern musste, dass Teichert im Suff ertrunken war, um damit sowohl dessen Familie als auch den Ruf der Universität zu schützen, sondern auch, weil man den alten Schwerenöter nun nicht mehr diskreditieren konnte. Es wäre so einfach gewesen, ihn aufgrund seines leichtsinnigen Verhaltens ins Gefängnis zu bringen und ihn für einen Mord büßen zu lassen, den er nicht begangen hatte. Das wäre mehr als gerechtfertigt! Wernher hätte längst für seine Vergehen zur Verantwortung gezogen werden müssen. Allein, wie er Inge behandelt und sie damit beinah in den Tod getrieben hatte, war strafwürdig. Und dann hatte er es gewagt, Corinne zu nahe zu treten...

Michael fühlte eine Mischung aus Trauer und Wut in sich. Oh ja, es wäre ihm eine große Befriedigung gewesen, dabei behilflich zu sein, Wernher ins Gefängnis zu bringen. Doch diese Möglichkeit war ihm nun durch dessen überraschenden Tod genommen worden. Immerhin bestand die Hoffnung, dass Dagmar Teichert und Inge jetzt Ruhe fanden, und Corinne musste keine weiteren Übergriffe durch den Alten erdulden...

„Bitte, Frau Dr. Lambert, könnten Sie die Umstände des Todes meines Vorgesetzten für sich behalten?“ fragte Michael und wandte sich für einen Augenblick an sie.

„Ich unterliege ohnehin der ärztlichen Schweigepflicht und habe bei Ihnen nur deshalb eine Ausnahme gemacht, weil mir das schriftliche Einverständnis der Witwe als Fax vorliegt“, beruhigte ihn Nathalie. „Im Augenblick weiß kaum jemand vom Ableben Ihres Professors. Aber sobald dies bekannt wird, erwartet man von Ihnen sicher nähere Einzelheiten.“

„Ja, ich weiß“, erwiderte der junge Mann und ließ seinen Blick von ihr wieder auf den Körper des Toten gleiten. „Bestimmt kann ich es einige Tage lang geheim halten und mich bis dahin telefonisch mit der Universitätsleitung beraten, was zu tun ist. Wir werden es wahrscheinlich als Unfalltod hinstellen – und so ganz falsch ist diese Behauptung ja auch nicht. Allerdings braucht die Öffentlichkeit nicht zu erfahren, dass Professor Teichert betrunken war. Man sollte sein Ansehen, auch aus Rücksicht auf seine Frau und die Kinder, in Ehren halten.“

„Das hört sich vernünftig an“, meinte Nathalie und nickte. „Lassen wir den Toten also in Frieden ruhen.“

Sie wollte den Leichnam wieder zudecken, aber Michael hielt sie plötzlich zurück.

„Augenblick!“ rief er aus und starrte erschrocken auf seinen Chef, während er mit einem Finger auf diesen zeigte. „Was hat das zu bedeuten?“

„Was meinen Sie?“ fragte die Pathologin, die seiner Geste gefolgt war, aber nichts entdecken konnte.

„Sehen Sie es denn nicht, Frau Dr. Lambert? Schauen Sie genau hin!“

Nathalie hörte aus der Stimme des jungen Mannes leichte Panik heraus. Doch als sie sich erneut den Toten betrachtete, konnte sie den Grund dafür immer noch nicht ausmachen.

Mit gerunzelter Stirn wandte sie sich wieder Michael zu und schüttelte leicht den Kopf.

„Man kann sie wirklich kaum sehen“, murmelte dieser nun, beugte sich über den Toten und deutete direkt auf den Hals. „Diese kleinen Wunden hier... können Sie mir erklären, woher sie stammen?“

Nathalie beugte sich jetzt ebenfalls über den Leichnam und erkannte an jeder Seite des Halses zwei winzige, kreisförmige Narben. Sobald ihr klar wurde, welche Wesen dafür verantwortlich waren, überlief es sie siedend heiß. Gleichzeitig fragte sie sich, warum Vampire – die ihre Opfer problemlos verschwinden lassen konnten – den Tod Teicherts wie einen Unfall aussehen ließen. Sie würde mit Nick darüber sprechen, doch jetzt galt es erst einmal, Michael zu beschwichtigen.

„Ich habe solche Wunden noch nie gesehen“, log Nathalie. „Womöglich hat Teichert sich beim Rasieren geschnitten.“

„Nein, das glaube ich nicht!“ sagte Michael und blickte sie eindringlich an. „Frau Dr. Lambert, halten Sie es... nun... halten Sie es für möglich, dass... dass es so etwas wie Vampire gibt?“

„WIE BITTE?!“ entfuhr es der Pathologin, die ihn erschrocken anstarrte.

„Ich weiß, es klingt unglaublich, aber... diese Wunden...“, stotterte der junge Mann. „Sie... sie sehen genauso aus, wie ich mir Vampirbisse vorstelle.“

Nathalie schloss kurz die Augen, atmete einmal tief durch und schaute Michael dann wieder mit freundlichem Lächeln an.

„Es war heute alles ein bisschen zu viel für Sie“, meinte sie in sanftem Ton und deckte dann endlich den Körper Teicherts mit dem Tuch zu. „Ich schlage vor, Sie gehen jetzt in Ihr Hotel zurück und ruhen sich ein wenig aus.“

„Demnach glauben Sie nicht an die Existenz von Vampiren, Frau Dr. Lambert?“

„Aber, Michael, wir sind doch aufgeklärte Menschen.“

Der junge Mann seufzte und nickte dann. Natürlich konnte man von einer Ärztin nicht erwarten, dass sie die Existenz Untoter ernsthaft in Erwägung zog. Dennoch genügten ihm selbst die runden Narben an Wernhers Hals als Beweis dafür, dass es diese grausamen, blutrünstigen Dämonen gab – und LaCroix gehörte zu dieser Spezies. Seine stechenden, blauen Augen, sein gieriger Blick und diese übermenschliche Körperkraft. Ja, LaCroix war ohne Zweifel ein Vampir... und Corinne vertraute ihm. Himmel, Corinne! Sie war in Gefahr! LaCroix hatte sie unverkennbar unter seinen Einfluss gebracht, vermutlich mit Hilfe seiner hypnotischen Fähigkeiten, und würde sie erbarmungslos töten, sobald die Gier nach menschlichem Blut ihn übermannte – und dann war Corinne dieser Bestie wehrlos ausgeliefert. Sie hatte keine Chance gegen den Vampir.

„Wo ist Corinne?!“ fragte Michael aufgeregt.

Überrascht blickte Nathalie ihn an.

„Bitte, ich muss es wissen!“ flehte er. „Ich muss sie unbedingt sprechen. Es ist dringend!“

Nathalie betrachtete den jungen Mann nachdenklich. Er wirkte verzweifelt. Seine Gefühle für ihre Cousine waren augenscheinlich echt. Vielleicht würde das Geständnis seiner Liebe Corinne von ihrer unseligen Zuneigung zu LaCroix abbringen, dessen Ziel ihr Tod bzw. ein gemeinsames Leben in ewiger Dunkelheit war – jedenfalls schien Nick davon überzeugt zu sein.

Obwohl die Pathologin selbst es nicht so tragisch fand, ein Vampir zu sein, passte es ihr überhaupt nicht, dass es ausgerechnet dieser arrogante LaCroix war, der ihre junge Cousine als seine Gefährtin auserkoren hatte. Zwar behauptete er, Corinne zu lieben, und es hatte sich auch glaubhaft angehört, aber Nicks Ausführungen, was das konkret hieß, hatten wieder Zweifel an der Aufrichtigkeit des alten Vampirs in ihr aufkommen lassen. LaCroix war jemand, der es liebte, andere zu manipulieren und mit ihnen zu spielen... Corinne musste vor ihm geschützt werden; und ein junger Mann wie Michael würde besser zu dem Mädchen passen als ein Wesen, das so viel älter als sie war.

„Lieben Sie Corinne?“ fragte Nathalie unvermittelt.

„Ja, das tue ich!“ gab Michael ohne Umschweife zu.

„Dann sollten Sie ihr endlich sagen, was Sie für sie empfinden“, forderte die Ärztin ihn auf, was ihr einen erstaunten Blick seitens des jungen Mannes eintrug.

„Ich... ich habe es versucht“, erwiderte er dann traurig. „Allerdings geht sie mir aus dem Weg, sobald sie mich erblickt. Sie ist immer noch wütend auf mich und wird mir nicht zuhören.“

„Aber bisher sind Sie Corinne doch nur in der Öffentlichkeit begegnet, nicht wahr?“

„Das stimmt! Es ist schwer, sie ohne Freunde oder Bekannte anzutreffen.“

„Sie sollten versuchen, irgendwo allein mit ihr zu sein. Dann wird sie ihnen zuhören“, meinte Nathalie zuversichtlich.

„Das habe ich schon einmal versucht, aber sie hat einen Termin vorgeschoben und ist mir davongelaufen!“ erklärte Michael.

„Diesmal kann sie es nicht“, sagte die Pathologin. „Heute Abend betätigt sie sich als Babysitter bei der Tochter meines Kollegen. Wenn Sie sich gleich auf den Weg machen, sind Sie gegen 21.00 Uhr dort. Um diese Uhrzeit schläft das Kind bestimmt schon und Sie können sich in aller Ruhe mit Corinne aussprechen.“

Nathalie registrierte zufrieden, dass Michael über diese Nachricht erleichtert zu sein schien. Offenbar hatte sie ihm wieder Mut gemacht. Rasch schrieb sie ihm die Adresse von Don Schanke auf einen Zettel und reichte ihm diesen.

„Viel Glück, Michael.“

„Danke, Frau Dr. Lambert. Ich werde nie vergessen, dass Sie unsere Liebe unterstützt haben.“

Der junge Mann eilte aus dem Raum. Nathalie blickte ihm lächelnd nach und hoffte, dass sein Liebesgeständnis das Herz ihrer jüngeren Cousine rühren und sie ihm eine Chance geben würde...

***

Als Eva, Corinne und Jenny gegen Abend von ihrem Ausflug nach Toronto Islands mit der Fähre aufs Festland zurückkehrten, statteten sie Inge noch einen kurzen Besuch im Krankenhaus ab. Sie fanden die Blondine mit rotverweinten Augen vor und erfuhren von ihr, dass Teichert tot war. Nachdem Eva und Corinne ihr versicherten, dass sie diesen Umstand ebenfalls tragisch fanden, schien sich Inge ein wenig zu beruhigen.

„Wie geht es jetzt mit dir weiter?“ fragte die Fotografin dann.

„Laut den Ärzten kann ich das Krankenhaus wahrscheinlich in drei Tagen verlassen und werde mit Michael nach Frankfurt zurückfliegen. Er hat die Tickets entsprechend umbuchen lassen und niemandem davon erzählt, dass Wernher mich eigentlich gefeuert hat. Er meinte, dass müsse kein Mensch wissen, zumal Wernher es sicher nicht ernst gemeint hätte“, erzählte Inge. Bei der Erinnerung an ihr letztes Zusammentreffen mit Teichert füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen. „Allerdings weiß ich nicht, ob Michael und ich unsere Jobs behalten werden.“

„Darüber würde ich mir jetzt noch keine Gedanken machen“, versuchte Eva sie zu beruhigen. „Teicherts Stelle wird sicherlich erst einmal kommissarisch besetzt und derjenige, der sie übernimmt, wird kaum auf eure Mitarbeit verzichten wollen.“

„Vielleicht hast du recht“, gab Inge zu.

„Ich bin davon überzeugt, dass es so sein wird“, meinte die Fotografin zuversichtlich und warf dann einen Blick auf die Uhr. „Ach herrje, schon Viertel vor acht. Es wird jetzt wirklich Zeit für mich zu gehen.“

„Ja, für uns auch“, bekräftigte Corinne mit einem Blick auf Jenny. „Aber ich schaue morgen wieder bei dir vorbei, Inge.“

„Schade, dass ihr schon fortmüsst.“

„Ich verlasse Toronto bereits am frühen Morgen“, sagte Eva und reichte ihr die Hand. „Alles Gute, Inge. Versprich mir, dass wir in Kontakt bleiben.“

„Gern“, erwiderte die Blondine und verzog ihren Mund zu einem schmerzlichen Lächeln. „Ich melde mich bei dir, sobald es mir möglich ist. Gute Reise, Eva.“

 

Nachdem sich auch Corinne und Jenny von Inge verabschiedet hatte, verließen sie das Krankenzimmer.

„Diese Sache mit Teichert ist einfach unglaublich“, murmelte Eva ihrer Freundin zu. Diese nickte, neigte ihren Kopf aber in Richtung des kleinen Mädchens an ihrer Seite. Die Fotografin verstand. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um über dieses Thema zu sprechen.

„Wir telefonieren“, meinte Corinne dann.

„Ja, das wird das Beste sein“, erwiderte Eva. „Ich muss noch packen und lege mich dann gleich ins Bett.“

„Du könntest vorher eine Kleinigkeit mit uns essen“, schlug ihre Freundin vor.

„Nein, danke. Ich habe keinen Hunger und bin wirklich müde, Corinne.“

„Onkel Nick!“ rief Jenny plötzlich aus.

Erschrocken sahen die beiden jungen Frauen nach vorne und erkannten, dass Nicholas Knight geradewegs auf sie zukam. Jenny lief ihm entgegen und er fing sie lachend in seinen Armen auf.

„Was will der denn hier?“ flüsterte Corinne ihrer Freundin verwundert zu.

„Seine Ermittlungen durchführen“, meinte Eva leise. „Schon vergessen, dass er auf der Suche nach unserem alten Professor war und Inge über ihn ausfragen wollte?“

„Welchen Sinn sollte das jetzt noch haben?“

„Keine Ahnung, aber er wird schon wissen, was er tut.“

Die beiden Freundinnen gingen langsam auf ihn zu und begrüßten den Polizisten, der sich ihnen jetzt zuwandte und ihren Gruß erwiderte.

„Was führt Sie hierher?“ konnte sich Corinne ihre Frage nicht verkneifen.

„Ich wollte nur Mal nach Miss Riedel sehen“, behauptete Nicholas, entließ dann Jenny aus seinen Armen und nickte den beiden jungen Frauen lächelnd zu. „Einen schönen Abend noch.“

Dann ging er direkt auf Inges Zimmertür zu und klopfte.

„Herein!“ hörte er gleich darauf und trat ein.

„Guten Abend, Miss Riedel“, sagte Nick lächelnd. „Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser?“

Als er ihren erstaunten Blick sah, fuhr er schnell fort. „Mein Name ist Nicholas Knight. Ich bin von der Mordkommission und hätte ein paar Fragen bezüglich der Person Wernher Teicherts.“

„Also doch!“ rief Inge nun aufgebracht aus. „Es ist also doch so, wie ich vermutet habe!“

Nick runzelte die Stirn.

„Was meinen Sie, Miss Riedel?“

„Man hat Wernher ermordet, nicht wahr?“ sagte sie und starrte den Polizisten mit ängstlich aufgerissenen Augen an, während ihr Körper zu zittern begann.

„Wie kommen Sie denn auf diesen Gedanken? Und wer hat Ihnen überhaupt erzählt, dass Wernher Teichert tot ist?“

„Ist er... ist er etwa... nicht tot...?“ fragte sie leise und ein wenig Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit.

„Doch, er ist tot“, antwortete Nick. „Aber woher wissen Sie das?“

„Mein Kollege Michael hat es mir heute Nachmittag mitgeteilt. Allerdings wusste man da noch nichts über die genauere Todesursache.“

„Nun, Professor Teichert ist ertrunken“, klärte der Polizist sie auf und setzte sich auf einen freien Stuhl, der neben ihrem Bett stand. Besorgt betrachtete er die zierliche Blondine, die jetzt nur den Kopf schüttelte, während Tränen ihr die Wange hinabliefen. „Sie hatten ihn wohl sehr gern?“

„Ja, natürlich“, gab sie leise zu.

„Entspricht es der Wahrheit, dass Sie eine Affäre mit Ihrem Vorgesetzten unterhielten, Miss Riedel?“ fragte Nick behutsam und betrachtete voller Mitleid die junge Frau, die zusammengezuckt war und ihn nun mit aufgerissenen Augen anstarrte.

„Woher...?“

„Wir haben Ihren Abschiedsbrief gefunden, Miss Riedel.“

„Für mich... war es keine Affäre... ich habe Wernher geliebt...“, flüsterte Inge, während ihre Augen in Tränen schwammen. „Wie... wie soll ich nur leben... ohne ihn?“

„Weshalb trauern Sie um ihn?“ fragte Nicholas. „Ich habe gesehen, dass er Sie wie Dreck behandelte. Warum wollten Sie für einen Mann wie Teichert Ihr Leben wegwerfen?“

„Ich... ich habe ihn geliebt...“, schluchzte Inge. „Er war der Mann meines Lebens...“

Nicholas schwieg und wartete, bis sie sich ausgeweint hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich soweit beruhigt hatte, dass sie sich wieder ihm zuwandte.

„Sie sind der Polizist, der mir Blumen geschickt hat, nicht wahr?“

„Ja, das stimmt.“

„Warum haben Sie das getan? Sie kennen mich doch gar nicht!“

„Ich wollte Ihnen einfach eine Freude machen, Miss Riedel.“

„Das verstehe ich nicht! Wir sind uns vollkommen fremd.“

„Nicht ganz, Miss Riedel. Ich habe Sie auf der Einführungsveranstaltung des Kunstkongresses gesehen und mitbekommen, wie Professor Teichert sie herunterputzte.“

„Auch das hätte Ihnen egal sein können!“

„War es aber nicht!“ sagte Nicholas und musterte die junge Frau mitleidig. „Es war mir unerträglich zu beobachten, wie Sie litten. Sie erinnern mich sehr an meine jüngere Schwester...“

Daraufhin schwiegen beide eine Minute betroffen. Schließlich ergriff Inge wieder das Wort.

„Wernher ist ertrunken, sagten Sie? Demnach ist er also nicht umgebracht worden?“

„Nein, darauf deutet nichts hin.“

„Welches Interesse hat dann die Mordkommission an ihm, Mr. Knight?“

„Möglicherweise ist Teichert in einen anderen Fall verwickelt, den ich gerade bearbeite“, erklärte Nick. „Deshalb interessiere ich mich für seine Person. Sie können mir doch bestimmt einige Auskünfte über ihn geben? Natürlich nur, wenn Sie sich in der Lage dazu fühlen, Miss Riedel.“

„Es wird schon gehen“, erwiderte Inge. „Was genau wollen Sie wissen?“

„Ihnen ist doch bestimmt bekannt, dass über Ihren Professor Gerüchte kursierten, oder?“

„Ja, man sagte ihm nach, dass er ein Schürzenjäger sei.“

„Was hielten Sie von den Gerüchten, Miss Riedel?“

„Früher dachte ich, dass es bösartiges Geschwätz sei und schenkte dem keine Beachtung – leider...“, gab Inge zu und musste sich beherrschen, nicht wieder in Tränen auszubrechen. „Mittlerweile weiß ich, dass diese Gerüchte wahr sind.“

„Das ist sicherlich sehr schmerzhaft für Sie“, meinte Nick mitfühlend. „Dennoch kann ich Ihnen diese Befragung nicht ersparen, so leid es mir auch tut.“

„Schon gut, Mr. Knight, Sie müssen schließlich Ihren Fall lösen, nicht wahr? Ich will gern alles mir Mögliche dazu beitragen, das Ihnen dabei weiterhelfen könnte. Also stellen Sie ruhig Ihre Fragen.“

„Man hat mir zugetragen, dass Professor Teichert eine Zeitlang auch sehr an Corinne Lambert interessiert war, bei ihr aber keinen Erfolg hatte. Wissen Sie etwas darüber?“

„Nichts Genaues“, gab Inge zu und schluckte. „Ich weiß nur, dass Corinne Wernher schon während ihrer Studienzeit nicht ausstehen konnte und sich daran bis heute nichts geändert hat. Doch paradoxerweise scheint es genau ihre Abneigung zu sein, die anziehend auf Wernher wirkte...“

Die junge Frau schluckte erneut und schien zu überlegen. Dann fuhr sie schließlich fort: „Als er Corinne auf dem Kongress wiedersah, da... da...“

„Da versuchte er, sie zu erpressen“, beendete Nicholas den Satz und erntete einen erstaunten Blick Inges. Deshalb erklärte er gleich danach: „Dieser Umstand ist mir schon länger bekannt.“

„Hat Corinne es Ihnen erzählt?“

„Miss Lambert? Aber nein.“

„Woher wissen Sie es dann?“

„Natürlich von Mr. Fernandez“, erwiderte Nick leichthin, glaubte er doch, dass dieser seiner Kollegin davon berichtet hatte.

„Wie konnte Michael das wissen?!“ entfuhr es Inge daraufhin.

Jetzt stutzte Nicholas. Was ging hier vor?

„Woher wissen Sie es denn, Miss Riedel?“

„Ich habe es zufällig mitbekommen, als ich gerade die Toilette verlassen wollte“, erklärte diese.

„Ihr Kollege war ebenfalls unfreiwillig Zeuge dieses Gesprächs zwischen Ihrem Vorgesetzten und Miss Lambert.“

„Ach du Schande! Das muss ein schwerer Schock für ihn gewesen sein!“ entfuhr es Inge. „Mich wundert es nicht, dass er darüber mit jemandem sprechen wollte. Aber dass er ausgerechnet Ihnen sein Herz ausschüttet, erstaunt mich schon sehr, Mr. Knight.“

„Vermutlich tat er es, damit Miss Lambert geschützt wird“, meinte Nicholas. „Immerhin stand Professor Teichert unter dem Verdacht, einen Mord begangen zu haben.“

„Wie bitte?!“ Inge glaubte, sich verhört zu haben. „Wen, um Himmels willen, sollte Wernher denn umgebracht haben?“

„Thomas Marquardt“, antwortete Nick.

„Das ist völlig absurd!“ rief die junge Frau aus.

„Mr. Fernandez hielt es durchaus für möglich“, widersprach der Polizist. „Er brachte mich ja erst auf die Idee, dass Ihr Vorgesetzter diesen Mord begangen haben könnte.“

„Aber Wernher hatte doch gar keinen Grund dafür!“

„Stimmt es etwa nicht, dass Teichert Miss Lambert immer wieder bedrängte und von ihr zurückgewiesen wurde?“

„Selbst wenn es so gewesen sein sollte, war das nach Corinnes Examen vorbei! Danach hatte Wernher mit ihr nichts mehr zu tun.“

„Bis auf den erneuten Erpressungsversuch“, erinnerte Nick sie. „Außerdem berichtete mir Ihr Kollege, dass Teichert sich des Öfteren nach Miss Lambert erkundigt hätte und völlig außer sich gewesen sei, als er erfuhr, dass sie mit Thomas Marquardt zusammenlebte.“

„Ach Unsinn! Der Einzige, der sich darüber aufregte, war Michael“, erwiderte Inge heftig. „Ich weiß noch genau, wie aufgelöst er war, als er es mir erzählte. Mein Kollege ist nämlich seit Jahren verliebt in Corinne Lambert.“

„Ja, den Eindruck gewann ich auch“, meinte Nick. „Genau deshalb tut er alles, um die junge Dame zu beschützen.“

„Leider ist diese Liebe einseitig“, führte Inge weiter aus. „Corinne weiß nichts davon und Michael leidet, statt mit ihr zu sprechen. Er hasst jeden Mann, der sich seiner Angebeteten auch nur nähert, und scheint in seiner Eifersucht auch nicht davor zurückzuschrecken, Lügen über Wernher zu verbreiten.“

„Aber haben Sie selbst mir denn nicht bestätigt, dass Ihr Vorgesetzter Miss Lambert zu erpressen versucht hat?“ fragte der Vampir erstaunt.

„Ja, das schon, aber...“

„Mir scheint, dass die Vermutungen Ihres Kollegen nicht ganz aus der Luft gegriffen waren, was die Person Ihres Professors betrifft.“

„Hören Sie, Mr. Knight, Wernher war ganz bestimmt kein Ausbund an Tugend, aber er hätte nie einen Mord begangen – schon gar nicht wegen Corinne Lambert. Sie war für ihn eine von vielen und er konnte gut damit leben, sie nicht bekommen zu haben“, sagte Inge in ernstem Ton. „Ein erfolgreicher Mann wie Wernher musste nie alleine ins Bett gehen. Zur Not bediente er sich der Dienste gewisser Damen...“

„Nun gut, dann erklären Sie mir, warum Mr. Fernandez einen Mann, der ihn beruflich förderte, grundlos beschuldigen sollte, einen Mord begangen zu haben?“

„Ganz einfach, Mr. Knight: Wie ich schon sagte, ist Michael von Corinne Lambert total besessen und auf jeden Mann eifersüchtig, der sich für sie interessiert oder mit dem sie zusammen ist. Vermutlich sind an jenem Abend, als er Wernhers Erpressungsversuch mitbekommen hat, sämtliche Sicherungen bei ihm durchgeknallt“, erzählte Inge. „Michael konnte es ja damals auch kaum ertragen, dass Corinne mit Marquardt zusammengelebt hat, und sprach immer wieder davon, dass er einen Weg finden müsse, um sie von Marquardt zu befreien, da dieser ihr nicht gut täte und sie unglücklich mache.“

„Was?“ fragte Nicholas in gedehntem Ton. Der Bericht Miss Riedels warf ein vollkommen anderes Licht auf den Fall. Himmel, es war so klar... warum nur war er bisher so blind gewesen? Er wusste doch, dass Fernandez nach Nats Cousine verrückt war.

„Sagen Sie, Miss Riedel, damals hat Ihr Kollege doch auch schon für Teichert gearbeitet, nicht wahr?“

„Ja, als studentische Hilfskraft – genau wie ich“, bestätigte sie.

„Und Teichert hat Fernandez vollkommen vertraut?“

„Ja, das hat er.“

„Hat Teichert ihm auch private Sachen anvertraut?“

„Kommt darauf an. Was genau meinen Sie, Mr. Knight?“

„Nun, zum Beispiel seinen Wagen?“

„Manchmal, wenn Michael für ihn Besorgungen machte oder das Auto in die Werkstatt musste.“

„Demnach wäre es für Ihren Kollegen ein Leichtes gewesen, sich den Autoschlüssel nachmachen zu lassen, oder?“

„Sicher, aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Mr. Knight?“

„Wissen Sie, wo sich Ihr Kollege jetzt aufhält?“ fragte Nicholas in aufgeregtem Ton, ohne auf Inges Frage einzugehen.

„Er wollte noch einmal in die Gerichtsmedizin, um sich nach der genauen Ursache von Wernhers Tod zu erkundigen“, antwortete Inge, die ebenfalls nervös geworden war. „Bitte, Mr. Knight, verraten Sie mir doch, was los ist!”

„Das kann ich im Moment nicht mit Gewissheit sagen“, gab der Polizist zurück. „Vorerst vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss unbedingt ein ernstes Wort mit Ihrem Kollegen sprechen!“

 

Nathalie blickte erstaunt von ihrem Schreibtisch auf, als Nick plötzlich vor ihrer Bürotür stand und aufgeregt fragte: „War Fernandez schon bei dir?“

„Himmel, Nick, was ist los?“

„Keine Zeit für lange Erklärungen, Nat! War Fernandez schon hier?“

„Ja, aber...“

„Ist er etwa schon wieder gegangen?“

„Na ja, aber was...?“

„Hat er vielleicht gesagt, wohin? Ins Hotel? Ins Krankenhaus?“

„Nein, er wollte Corinne aufsuchen“, erwiderte Nathalie.

„Was?!“ entfuhr es Nick erschrocken. „Wo ist sie jetzt?“

„Sie passt auf Jenny Schanke in der Wohnung ihrer Eltern auf.“

„Ausgezeichnet! Dann ist sie in Sicherheit“, meinte der Vampir erleichtert.

Seine Kollegin musterte ihn stirnrunzelnd.

„Was meinst du?“ fragte sie. „Ich verstehe nicht ganz, weshalb du Fernandez suchst und warum Corinne bei den Schankes in Sicherheit sein sollte. Ist sie denn in Gefahr?“

„Möglicherweise...“, gab Nicholas zu. „Dieser Fernandez ist in sie verliebt.“

„Ja, ich weiß“, erwiderte Nathalie und lächelte unwillkürlich über die bestürzte Miene ihres Gegenübers, als er ihre Antwort hörte. „Das ist doch kein Grund zur Besorgnis. Michael wird sie vor wem auch immer zu schützen wissen.“

„Weiß er denn, wo sie sich gerade aufhält, Nat?!“

„Natürlich! Ich habe ihm Dons Adresse gegeben.“

„DU HAST WAS?!“ schrie ihr Kollege sie an und für einen Moment glommen seine Augen rötlich auf, so dass Nathalie ihren Oberkörper unwillkürlich zurückbog, aber dann mit fester Stimme sagte: „Beherrsche dich bitte! Was ist denn nur los mit dir?“

Sofort hatte Nicholas seine Emotionen wieder unter Gewalt. Fassungslos starrte er die Pathologie nun mit warmen, braunen Augen an und fragte leise: „Du hast diesem Typ wirklich die Adresse der Schankes gegeben? Warum, Nat?“

„Michael will sich mit Corinne aussprechen“, erklärte sie irritiert. „Er will ihr endlich sagen, was er für sie empfindet. Warum sollte ich diesen netten Jungen nicht dabei unterstützen? Seine Gefühle für Corinne sind aufrichtig.“

„Von wegen!“ schnaubte Nicholas. „Er ist weder ein netter Junge noch ist er aufrichtig! Vielmehr handelt es sich bei ihm um einen brillanten Schauspieler und Lügner!“

Er sah die Pathologin eindringlich an.

„Ich muss sofort zu Corinne!“ erklärte er dann mit fester Stimme. „Hoffentlich ist noch nichts passiert! Aber du solltest auf alle Fälle einen Einsatzwagen zur Wohnung der Schankes schicken und am Besten mitfahren! Es könnte sein, dass deine Hilfe benötigt wird!“

„Um Himmels willen, Nick! Was hat das alles zu bedeuten?!“ fragte die Ärztin aufgebracht, doch der Vampir drückte nur kurz ihren Arm und eilte aus ihrem Büro. Verwirrt blickte sie ihm einen Augenblick nach, entschloss sich dann jedoch, seinen Worten Folge zu leisten und suchte schnurstracks Captain Cohen auf...

***

Corinne hatte eine große Tiefkühlpizza in den Ofen geschoben, die sie sich mit Jenny teilen wollte. Die Kleine schaute sich mittlerweile eine Zeichentrickserie im Fernsehen an, so dass die junge Frau in Gedanken den heutigen Tag Revue passieren lassen konnte. Der Ausflug nach Toronto Islands war erholsam gewesen. Sie war mit Eva durch die Parkanlagen geschlendert und hatte lange Gespräche mit ihr geführt, wobei sie immer ein Auge auf Jenny gehabt hatte, die sich unweit von ihnen auf einem großen Spielplatz mit anderen Kindern vergnügte. Eva und sie waren übereingekommen, sich nach einer anderen Stelle für Inge umzuhören, da sie am Nachmittag noch davon ausgingen, dass Teichert am Leben war. Als sie jedoch vorhin von seinem Tod erfuhren, hatte es sie erschüttert. Wie und warum war es dazu gekommen? Hatte Teichert am Ende jemanden so stark provoziert, dass dieser seinem Leben ein Ende bereitete?

Corinne schüttelte sich. Was dachte sie denn da? War ihr früherer Professor wirklich so weit gegangen? Konnte er sich einem anderen Menschen gegenüber so aufführen, dass...?

Sie hielt erschrocken inne. Tatsächlich hatte er genügend getan, um so etwas herauszufordern. Sie musste nur an seinen Erpressungsversuch ihr gegenüber denken, den sie allerdings damals nicht ernst nahm. Aber für Inge war alles, was Teichert sagte und tat, heilig. Sie verehrte ihn, sie liebte ihn – und dann servierte er sie eiskalt ab. Inge hätte wirklich einen guten Grund, ihn zu töten – Mord im Affekt...

„Stop! Stop! Stop!“ ermahnte Corinne sich selbst. Ihr gefiel ganz und gar nicht, in welche Richtung ihre Gedanken abdrifteten. Zwar hätte Inge ein verständliches Motiv für einen Mord an Teichert, aber sie traute ihr eine solche Tat einfach nicht zu. Ihre ehemalige Kommilitonin war viel zu weich, um irgendjemandem ein Leid anzutun. Genau deshalb hegte sie immer noch liebevolle Gefühle für Teichert, obwohl er sie gewissenlos benutzt hatte. Dass er jetzt tot war, bedeutete eigentlich, dass Inge und alle anderen seiner Opfer nun frei waren...

„Ich denke wirklich blödes Zeug“, murmelte Corinne zu sich selbst. Weshalb nahm sie an, dass Teichert ermordet worden war? Vielleicht war er nur verunglückt? Ach, was ging ihr ehemaliger Professor sie eigentlich an? Er war tot. An dieser Tatsache war nichts mehr zu ändern. Aber es war schon seltsam, dass er gerade jetzt gestorben war...

Lautes Klingeln riss die junge Frau aus ihren Gedanken und sie warf unwillkürlich einen Blick auf die Küchenuhr: 21.00 Uhr.

Das musste Lucien sein!

Freudig eilte das Mädchen an die Haustür und öffnete. Augenblicklich gefror das Lächeln, das eben noch auf ihren Lippen gelegen hatte.

„Guten Abend, Corinne!“

„Michael?!“ fragte sie kühl. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“

„Deine Cousine war so freundlich“, erwiderte er. „Ich muss mit dir sprechen. Darf ich reinkommen?“

„Nein! Nein, das will ich nicht!“ sagte sie in strengem Ton. „Außerdem wüsste ich nicht, was wir noch miteinander zu besprechen hätten.“

„Bitte, es ist wirklich wichtig!“

„Nein, ich will nichts mehr hören! Lass mich endlich in Ruhe!“

„Das kann ich nicht! Dafür bedeutest du mir zu viel!“

„WIE BITTE?!“

„Ich will dich doch nur beschützen, Corinne!“

Sie schaute ihn entgeistert an. Ihr fiel wieder der Traum von heute Nacht ein. War sie etwa in Gefahr?

Michael fuhr, durch ihr Schweigen ermutigt, fort: „Endlich siehst du ein, wie gut ich es mit dir meine. Und alles, was ich getan habe, habe ich nur für dich getan!“

„Bitte? Ich verstehe nicht, was du meinst“, erwiderte Corinne.

„Lass mich rein, dann erkläre ich es dir“, bat Michael.

„Nein! Ich will nicht, dass du diese Wohnung betrittst!“ schleuderte sie ihm entgegen und wurde wieder wütend. „Ich sagte dir schon einmal, dass du dich aus meinem Leben heraushalten und mich in Ruhe lassen sollst!“

„Aber, Corinne, ich meine es nur gut mit dir!“

„Wenn du dich unbedingt um jemanden kümmern willst, dann kümmere dich um Inge. Sie kann dies nämlich gebrauchen!“

„Aber, Corinne...!“

„Wo warst du eigentlich, als sie glaubte, von aller Welt verlassen zu sein und sich selbst umbringen wollte? Ich denke, du bist ihr Freund?!“

„Inge ist ein erwachsener Mensch.“

„Das bin ich auch! Und dennoch mischt du dich ungebeten in meine Angelegenheiten!“

„Das ist doch etwas völlig anderes!“ verteidigte sich Michael.

„So? Das glaube ich nicht!“ fuhr Corinne ihn an. „Wir sind lediglich gute Bekannte, während Inge und du miteinander befreundet seid! Hättest du mehr auf sie geachtet, wäre es gar nicht zu diesem Suizidversuch gekommen!“

„Du übertreibst - wie immer!“ gab der junge Mann zurück.

„Ach wirklich?! Im Gegensatz zu Inge komme ich gut klar!“

„Das sehe ich ganz anders“, widersprach Michael und sah sie besorgt an. „Du bist durcheinander und neigst dazu, falsche Entscheidungen zu treffen und dich mit den falschen Leuten abzugeben! Ich will dich doch nur vor deinen eigenen Dummheiten bewahren!“

„Jetzt reicht es!“ zischte sie leise und verengte ihre Augen zu Schlitzen. „Verschwinde! Verschwinde aus meinem Leben! Und wenn du mich noch einmal belästigst, rufe ich die Polizei!“

„Du bist nicht mehr du selbst“, erwiderte Michael, doch Corinne schloss die Tür und kehrte in die Küche zurück. Auf sein erneutes Klingeln und Klopfen reagierte sie nicht. Jenny jedoch kam aus dem Wohnzimmer und fragte: „Warum machst du nicht auf?“

„Weil ich mit dem Mann vor der Tür nicht sprechen will“, antwortete die junge Frau.

„Er macht so einen Krach“, maulte Jenny. „Kannst du ihm nicht sagen, dass er aufhören soll?“

„Ich spreche nicht mit ihm!“ erwiderte Corinne in hartem Ton.

„Dann sag ich’s ihm!“ erklärte die Kleine und öffnete, ehe die junge Frau sie daran hindern konnte, die Tür. Mit ernstem Gesicht sagte sie zu dem sie verdutzt anstarrenden Michael: „Hey du, hör auf, Lärm zu machen!“

„Ich... ähm...“, stammelte der junge Mann und brauchte einen kurzen Moment, um sich wieder zu fangen. „Okay, ich höre auf damit, wenn Corinne mich anhört.“

„Corinne! Komm her!“ rief das Mädchen in die Küche. „Er will mit dir reden!“

„Mach die Tür zu, Jenny!“

„Du willst mich also nicht anhören?!“ fragte Michael laut.

„Nein! Verschwinde endlich!“ schrie Corinne.

„Gut! Dann muss ich dich zwingen, mich anzuhören!“ erwiderte er laut, ergriff kurzerhand Jennys Arm und zog das Kind aus der Wohnung.

„Hey, was machst du da?!“ protestierte die Kleine. „Das sag ich meinem Daddy!“

Ohne auf Jenny zu achten, rief Michael: „Ich nehme jetzt die Kleine mit nach oben aufs Dach. Wenn du sie wiederhaben willst, wirst du sie dir holen müssen!“

„Spinnst du jetzt total?!“ schrie Corinne und eilte an die Tür. Aber Michael hatte sich das Kind längst über die Schulter geworfen und war mit ihm die Treppe hinaufgelaufen, so dass sie nur noch Jennys Schreie hörte. Ohne weiter zu überlegen, raste sie den beiden hinterher.

~

LaCroix fühlte im selben Moment die Angst, die durch Corinnes Körper fuhr, und verlor keinen Augenblick, um zu seiner Freundin zu fliegen. Von weitem sah er bereits, dass sich auf dem Dach des Hochhauses Fernandez mit einem kleinen Mädchen gefährlich nah am Rande des Abgrunds postiert hatte, während Corinne sich unweit von ihnen befand und auf den jungen Mann laut und eindringlich einredete.

Sofort erkannte der alte Vampir die heikle Situation und landete hinter dem gemauerten Eingang, der das Dach mit dem Treppenhaus verband, ohne von den Sterblichen bemerkt zu werden, aber nahe genug, um Corinne zu Hilfe eilen zu können, falls es notwendig werden sollte. So wurde er Zeuge des Gesprächs zwischen seiner Freundin und Fernandez, der Jenny hart an sich gepresst hielt. Die Hiebe und Tritte des zappelnden und weinenden Kindes schienen dem jungen Mann nichts auszumachen. Vielmehr hielt er den Blick starr auf Corinne gerichtet, die in flehendem Ton rief: „Bitte, Michael, sei doch vernünftig und lass Jenny gehen! Die Kleine hat dir doch gar nichts getan!“

„Erst wirst du mich anhören!“ forderte der Angesprochene sie auf.

„Dann sag, was du zu sagen hast – aber lass Jenny frei!“

„Das werde ich tun“, versprach er, doch sein Blick schien Corinne der eines Wahnsinnigen zu sein. Mit glänzenden Augen erklärte er: „Du bist die Frau, die ich über alles liebe!“

„WAS?!“ die junge Frau glaubte, sich verhört zu haben.

„Ja, es ist wahr! Ich liebe dich!“ schrie Michael. „Ich liebe dich – ich habe dich immer geliebt! Und wenn ich etwas getan oder gesagt habe, dass dich verletzt hat, dann tut es mir von ganzem Herzen leid! Bitte, verzeih mir!“

Corinne schüttelte fassungslos den Kopf.

„Bitte, du musst mir verzeihen!“ flehte Michael sie in lautem Ton an. „Denn wenn du mir nicht verzeihst, hat mein Leben keinen Sinn mehr.“

Er trat einen Schritt näher an den Rand des Hochhauses. Jenny warf einen Blick hinunter und begann vor Panik zu kreischen. Corinne war verzweifelt. Sie musste die Kleine unbedingt vor diesem Wahnsinnigen retten und beschloss daher, auf ihn einzugehen.

~

Die Sterblichen waren viel zu sehr mit sich beschäftigt, um mitzubekommen, dass Nicholas in diesem Moment neben LaCroix landete und sich anschickte, Corinne zu Hilfe zu eilen, jedoch von Lucien zurückgehalten wurde.

„Lass sie machen“, sandte der alte Vampir seinem Sohn in Gedanken zu. „Dein vorzeitiges Eingreifen könnte das Leben des Kindes in Gefahr bringen.“

Ärgerlich räumte Nick ein, dass LaCroix damit wohl recht hatte, und verfolgte angespannt die Verhandlungen, die die junge Frau mit ihrem wahnsinnigen Verehrer führte.

~

„Ich verzeihe dir“, sagte Corinne nun. „Aber jetzt lass endlich Jenny frei!“

„Ich lasse die Kleine nur gehen, wenn du mir dein Wort gibst, mich zu heiraten!“ forderte Michael und blickte sie gespannt an. Corinne starrte ihn mit offenem Mund an, dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Gut, dann hast du uns auf dem Gewissen...!“ rief Michael. Er ging noch einen Schritt mit Jenny zurück, die laut weinend nach ihrer Mutter rief.

„Halt! Warte, Michael!“

Die junge Frau zitterte, Tränen traten ihr in die Augen.

„Jenny hat mit all dem nichts zu tun! Lass sie gehen, Michael, und ich tue alles, was du willst!“

„Dann komm her!“ forderte er sie auf, während er mit seiner Geisel vom Rande des Abgrundes wegrückte und wieder mehr in die Mitte kam. Dabei streckte er eine Hand aus. Corinne schluckte und folgte seinem Befehl, legte ihre Hand in seine. Kaum hatte sie das getan, zog er sie mit einem Ruck gewaltsam an sich und drückte sie an seinen Körper. Gleichzeitig ließ er endlich Jenny los, die zwar sofort von ihm weglief, aber verunsichert zu Corinne schaute.

„Geh zurück in die Wohnung“, sagte die junge Frau und das Kind gehorchte. Sobald die Kleine vom Dach verschwunden war, wandte sich Corinne wieder an Michael, dessen körperliche Nähe ihr äußerst zuwider war. „Du behauptest also, mich zu lieben?“

Er nickte stumm.

„Das tut mir leid, Michael, aber ich kann deine Gefühle nicht erwidern“, sagte sie.

„Das kommt schon noch“, meinte er und lächelte. „Ich habe genug Liebe für uns beide – und ich bin sicher, dass du mich eines Tages genauso lieben wirst wie ich dich!“

„Nein, man kann Liebe nicht erzwingen“, widersprach Corinne und schüttelte den Kopf. „Und nun sei endlich vernünftig und lass mich los!“

„NEIN! Du bleibst bei mir!“ 

Michael drückte sie noch enger an sich.

„Warum willst du unbedingt mich? Ich liebe dich nicht! Es gibt bestimmt jede Menge anderer Frauen, die deine Gefühle erwidern würden und mit denen du glücklich werden könntest...“

„Mich interessieren keine anderen. Ich habe immer nur dich geliebt, Corinne“, schnitt Michael ihr mit harter Stimme das Wort ab. „Und du wirst mich heiraten – das hast du versprochen!“

„Nein! Nein! Du bist abscheulich!“ rief die junge Frau aus. „Du widerst mich an!“

„Du wirst schon noch merken, dass ich das Beste bin, das dir passieren konnte“, behauptete er und näherte seinen Mund mit triumphierendem Lächeln ihren Lippen. Ein Blick in seine Augen erinnerte Corinne schlagartig an die Bestie auf dem Bild von Biegas und sie drehte unwillkürlich ihren Kopf weg. Michael war offensichtlich völlig wahnsinnig geworden und sie hatte Angst vor ihm.

„Jetzt hör mir mal gut zu, Corinne! Entweder bist du mir jetzt zu Willen oder ich bringe erst dich und dann mich um!“ schrie Michael.

„Dann tu’s doch!“ gab sie laut zurück, ohne ihn anzublicken. Ihre Worte waren ernst gemeint, denn der Ekel vor ihm und seinen Berührungen war größer als ihre Angst.

„Du bist ja nicht mehr du selbst, Corinne!“ schrie Michael sie erneut an. „Wach endlich auf!“

Hart ergriff er sie am Oberarm und schüttelte sie so heftig, dass sie in Tränen ausbrach. Plötzlich spürte er kalte Hände um seinen Hals, die diesen allmählich immer enger umschlossen und ihm das Atmen erschwerten.

„Lass sie sofort los!“ hörte er die wohlbekannte Stimme LaCroix’, in dessen leisem Befehl unverkennbar eine Drohung mitschwang.

Michael tat, was ihm der alte Vampir befahl. Sobald Corinne frei war, löste LaCroix seine Hände vom Hals des jungen Mannes, der sich sofort mit blitzenden Augen zu seinem Widersacher umwandte und sah, dass das Mädchen sich in dessen Arme geflüchtet hatte.

„So, mich kannst du also nicht lieben?!“ rief Michael empört aus. „Aber den da, ja?!“

Corinne schmiegte ihr Gesicht an Luciens Brust und schwieg, während der alte Vampir den Sterblichen mit stechendem Blick anstarrte. Michael wich ihm aus, da er dies kaum ertrug, und wandte sich wieder an die junge Frau: „Du hast einen fatalen Hang, dich mit den falschen Männern abzugeben, Corinne! Doch das ist allein meine Schuld! Ich hätte dir längst meine Empfindungen eingestehen müssen. Dann wäre es gar nicht erst dazu gekommen, dass du dich auf Marquardt eingelassen hättest.“

„Was redest du denn da?“ fragte Corinne und schaute Michael nun wieder an. „Ich habe Thomas geliebt.“

„Nein, das bildest du dir nur ein!“ widersprach der junge Mann. „Du warst von seinem Status als erfolgreicher Galerist geblendet. Dieser oberflächliche Laffe hatte dich gar nicht verdient.“

„Thomas war nicht oberflächlich!“

„Er war deiner nicht wert“, fuhr Michael fort, als hätte er sie nicht gehört. „Ich dachte anfangs ja noch, dass eure Beziehung nicht lange dauern würde, aber dann erfuhr ich, dass ihr heiraten wollt. Das durfte ich nicht zulassen! Er hätte dich nur unglücklich gemacht.“

„Was?“ fragte Corinne erschrocken und fürchtete sich gleichzeitig davor, die Ahnung zuzulassen, die in ihr aufstieg. „Was soll das heißen?“

„Ich habe dafür gesorgt, dass er dich nicht bekommt! Es war ganz einfach... ich wusste ja, wann er die Galerie schließt; und in der Dunkelheit brauchte ich keine Angst zu haben, erkannt zu werden. Also habe ich mir heimlich den Wagen von Teichert ausgeliehen und dich von Marquardt befreit! Du musstest frei sein für mich, Corinne. Denn du gehörst mir!“

„Ich... ich gehöre niemandem... niemandem, hörst du?!“ schrie die junge Frau, während Tränen ihr die Wangen hinabliefen. Aber es waren nicht nur Tränen des Schmerzes, sondern auch Tränen des Zornes. Der tiefe Hass, den sie so lange in sich verborgen hatte, brach sich jetzt Bahn und sie fühlte ihn... sie fühlte unbändigen Hass auf Michael, der ihren geliebten Thomas umgebracht hatte und auch noch stolz darauf war!

Sie löste sich aus LaCroix’ Armen und wandte sich Michael zu, während ihre Augen weiterhin in Tränen schwammen.

„Du bist nichts weiter als ein feiger Mörder!“

„Du irrst dich, Corinne!“ widersprach Michael. „Ich wollte dich immer nur beschützen, denn ich bin dein Retter! Und sobald dir das klar geworden ist, wirst du mich lieben.“

„Was?!“ entfuhr es der jungen Frau und sie schüttelte fassungslos den Kopf. „Wie kannst du nur ernsthaft glauben, dass ich einen widerwärtigen Menschen wie dich jemals lieben könnte?!“

„Arme Corinne!“ murmelte ihr Gegenüber und bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. „Du stehst noch unter dem unheilvollen Einfluss von LaCroix. Aber ich werde dem jetzt ein Ende bereiten!“

„Was soll das heißen?!“ fuhr das Mädchen ihn an.

Statt ihr eine Antwort zu geben, warf Michael dem alten Vampir einen hasserfüllten Blick zu, zog rasch ein Kruzifix aus der Innentasche seiner Jacke hervor und hielt es ihm entgegen. Doch statt wie erwartet zurückzuweichen, blieb Lucien stehen, wo er war. Ein hämisches Lächeln glitt über seine Lippen, während er meinte: „Ist das alles, was Sie zu bieten haben, Fernandez? Für einen alten Heiden wie mich ist dieser Gegenstand völlig bedeutungslos.“

„Hör endlich auf mit diesem Unsinn!“ schrie Corinne, doch Michael packte sie unvermittelt und schubste sie zu Boden.

„Tut mir leid, aber es geschieht nur zu deinem Besten“, sagte der junge Mann, ging in die Knie und legte das Kruzifix vor sich auf den Boden. Dabei ließ er seinen Rivalen, dessen Blick noch eisiger geworden zu sein schien, keinen Moment aus den Augen. Dann richtete er sich wieder auf und griff erneut in die Innentasche seiner Jacke.

„Haben Sie etwa eine weitere Überraschung für mich, Fernandez?!“ spottete LaCroix.

„Ja, und ich hoffe, sie wird dir für immer das Maul stopfen!“ presste Michael zwischen den Zähnen hervor, während er seine Hand herauszog, in der sich ein etwa fünfzehn Zentimeter langer Eisennagel befand, dessen Spitze nach oben ragte. Dieser Anblick entlockte dem alten Vampir ein höhnisches Lachen, was die Wut des Sterblichen nur noch mehr reizte.

„Stirb, du Dämon!“ rief er aus und stürzte mit seiner vermeintlichen Waffe auf LaCroix zu, in der festen Absicht, ihm den Nagel ins Herz zu treiben. Doch Corinne warf sich vor die Brust ihres Geliebten.

„Nein, mein Engel!“ rief Lucien erschrocken aus, drehte sich schnell zur Seite, damit sie nicht verletzt wurde, und trat dann kräftig mit seinem Bein gegen den Angreifer. Durch den harten Tritt wurde Michael gefährlich nah an den Rand des Daches zurückgeschleudert und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Im selben Augenblick griff Corinne nach ihrem Schuh, zog ihn aus und schleuderte ihn mit voller Wucht auf Michael. Sie traf ihn an der linken Stirn; er schwankte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Doch er spürte, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Ein unmenschlicher Schrei entrang sich seiner Kehle.

„Oh Gott, was habe ich getan!“ rief Corinne, die in diesem Moment wieder zu sich kam.

„Sieh nicht hin, mein Schätzchen“, flüsterte LaCroix und schloss sie schnell in die Arme. Sie zitterte und vergrub ihr Gesicht in seine Brust. So bekam sie nicht mit, wie im Augenblick, da Fernandez gerade im Begriff war, hinabzustürzen, Nicholas aus seinem Versteck hervorschnellte und den Sterblichen noch rechtzeitig zu fassen bekam. Mit wutverzerrtem Gesicht zog er ihn auf die Hochhausplattform zurück und drückte ihn hart zu Boden, so dass der junge Mann mit seiner rechten Wange auf dem kalten Stein lag.

„Du bist wirklich der letzte Dreck!“ zischte Nicholas ihm leise ins Ohr. „Ein unschuldiges, hilfloses Kind mit dem Tod bedrohen, um eine ebenso hilflose Frau zur Heirat zu erpressen, deren Bräutigam du vorher umgebracht hast! Wie viele Verbrechen hast du noch begangen, du Abschaum?!“

„Ich bin kein Verbrecher!“ verteidigte sich Michael und versuchte, sich aus der Umklammerung des Polizisten zu befreien. „Corinne gehört einzig und allein mir. Marquardt hat sie mir gestohlen und dafür seine gerechte Strafe erhalten! Und genauso wird es LaCroix ergehen!“

„Halten Sie endlich Ihren Mund, Fernandez!“ knurrte Nicholas.

„Statt mich hier festzuhalten, sollten Sie sich lieber um LaCroix kümmern. Er ist ein Dämon und trachtet Corinne nach dem Leben!“ schrie Michael auf und versuchte erneut, sich aus Nicks Griff zu befreien.

Sein Geschrei verriet Corinne, dass er noch lebte. Sie schaute mit verweinten Augen von Luciens Brust auf und entdeckte, dass Knight ihren ehemaligen Kommilitonen am Boden festhielt.

„Oh Gott, er ist vollkommen übergeschnappt“, murmelte sie und schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich mit besorgtem Blick an LaCroix. „Gehts dir gut, Liebster? Hat der Verrückte dich auch nicht verletzt?“

„Nein, ich bin völlig unversehrt. Es ist alles in Ordnung“, erwiderte der alte Vampir mit ruhiger Stimme und drückte sie wieder an sich. „Scht, mein Liebling, der Alptraum ist jetzt vorbei...“

Nicholas warf einen erstaunten Blick auf seinen Meister, der die junge Frau mit einer Mischung aus Mitgefühl und Zärtlichkeit ansah, während er ihr liebkosende Worte zuflüsterte. Als nach einer Weile das heftige Zittern ihres Körpers nachließ, drückte LaCroix einen sanften Kuss auf ihre Haare und meinte: „Lass uns in die Wohnung hinuntergehen.“

In dem Augenblick, da der alte Vampir den Arm um Corinne legte und mit ihr das Dach verließ, kam Nick endlich wieder zu sich und hörte den lauten Ton der Polizeisirenen, die ankündigten, dass seine Kollegen bald hier sein würden...

 

Der Geruch von Verbranntem hing in der Luft, als Don und Myra mit unruhigem Gefühl ihre Wohnung betraten. Noch erstaunter waren sie hingegen, als sie in ihrem Wohnzimmer Nathalie Lambert fanden, die besorgt die Hand ihrer Cousine hielt. Corinne selbst saß auf dem Sofa, ihren Kopf an der Schulter eines großen, blonden Mannes angelehnt, der sie schützend im Arm hielt, und antwortete mit leiser Stimme auf die Fragen eines Polizisten, der offensichtlich ein Protokoll aufnahm.

„Was denn hier los?“ fragte Don und schaute sich um. „Und wo ist Jenny?“

„Sie liegt in ihrem Bett und schläft“, antwortete Nathalie. „Ich habe ihr und Corinne ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben.“

„Um Himmels willen! Was ist denn passiert?!“ wollte Myra aufgeregt wissen. „Gab es einen Kabelbrand oder etwas Ähnliches?“

„Nein, Corinne hat nur vergessen, den Backofen auszuschalten“, erklärte Nathalie. Dann ließ sie die Hand ihrer Cousine los, erhob sich und ging mit den Schankes in die Küche, wo sie ihnen schilderte, was sich heute Abend hier abgespielt hatte.

„Ich wusste doch, dass dieser Fernandez nicht ganz dicht ist!“ entfuhr es Don, als seine Kollegin mit ihrem Bericht fertig war. „Und beinahe hätte dieser Verbrecher meine Jenny umgebracht!“

„Zum Glück hat Corinne sie davor bewahrt“, meinte Myra.

„Ja, das sehe ich auch so“, erwiderte Nathalie. „Aber sie selbst macht sich die größten Vorwürfe. Sie meint, dass Jenny ohne ihre Anwesenheit gar nicht in diese lebensbedrohliche Situation gekommen wäre. Schließlich hätte es Fernandez nur auf sie abgesehen!“

„Ach, was für ein Unsinn!“ sagte Myra. „Als ob das arme Mädchen etwas dazu könnte, dass solch ein Verrückter sich einbildet, sie sei sein Eigentum.“

„Er hat mittlerweile auch gestanden, Corinnes ehemaligen Freund auf dem Gewissen zu haben“, klärte die Ärztin das Ehepaar weiter auf. „Ihr könnt euch bestimmt vorstellen, wie Corinne sich jetzt fühlt? Sie glaubt, dass sie die Schuld an Thomas’ Tod trägt. Und im Moment bin ich außerstande, sie davon zu überzeugen, dass das ein Irrtum ist. Sie ist völlig fertig!“

„Das glaube ich“, murmelte Myra. „Wenn ich sie nur irgendwie trösten könnte.“

„Vielleicht solltest du mal nach Jenny schauen“, meinte Don, worauf seine Frau nickte und ins Kinderzimmer verschwand. Kaum war sie weg, wandte sich der Polizist an Nathalie: „Es war ein Fehler von mir, diesen Fernandez nicht gleich einzubuchten, als deine Cousine mich um Hilfe bat. Aber ich hätte nie gedacht, dass er so ein gewissenloser Hund ist.“

„Mach dir keine Vorwürfe“, antwortete die Pathologin. „Michael erweckte den Anschein eines netten, jungen Mannes. Er hat uns alle getäuscht. Mich auch!“

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Das müssen die deutschen Behörden entscheiden. Im Augenblick sitzt Michael hier im Gefängnis und wird wahrscheinlich in den nächsten zwei Tagen überführt werden.“

„Meinst du, Jenny hat dieses Erlebnis unbeschadet überstanden?“

„Schwer zu sagen. Ihr solltet lieber einen Kinderpsychologen konsultieren.“

„Und was ist mit deiner hübschen, kleinen Cousine? Dieser Fernandez hat ihr schließlich ganz schön zugesetzt.“

„Ja, das fürchte ich auch. Sie braucht auf jeden Fall therapeutische Behandlung“, meinte Nathalie. „Zum Glück für Corinne hat sie eine Familie und einen netten Freundeskreis, der sie auffängt.“

„Und der blonde Typ, der gerade neben ihr auf dem Sofa sitzt, ist wohl ihr neuer Freund?“

Die Pathologin nickte.

„Ehrlich gesagt, bin Ich über die Anwesenheit von Monsieur LaCroix sehr froh“, gab sie zu. „Es scheint, dass Corinne ohne ihn all das hier nicht überstanden hätte.“

„Zumindest scheint sie in ihm ja einen guten Partner gefunden zu haben“, sagte Don. „Und da ihr Quälgeist endlich aus dem Verkehr gezogen ist, kann sie wohl hoffentlich ihre neue Beziehung in Frieden führen. Ich gönne es diesem herzensguten Mädchen jedenfalls.“

„Ja, ich auch“, seufzte Nathalie. In Gedanken setzte sie jedoch hinzu: „Aber ob LaCroix der richtige Mann für sie ist...?“

In ebendiesem Augenblick kam der Polizist, der das Protokoll aufgenommen hatte, in die Küche.

„Ich bin jetzt fertig und fahre zurück aufs Revier“, sagte er. „Soll ich Sie mitnehmen, Dr. Lambert?“

„Nein, danke“, erwiderte Nathalie. „Ich fahre mit meiner Cousine direkt nach Hause. Captain Cohen weiß Bescheid.“

„Also dann – Dr. Lambert, Don“, verabschiedete sich der Polizist, tippte sich an die Mütze und verließ die Wohnung.

„Ich werde am besten auch aufbrechen“, meinte die Pathologin und ging ins Wohnzimmer zurück, gefolgt von Schanke. Aber dort befand sich niemand. Lediglich die Balkontür war ein wenig geöffnet. Voll böser Vorahnung trat Nathalie auf den Balkon, fand aber – wie erwartet -  niemanden dort draußen vor. In ihrer Brust meldete sich ein beklommenes Gefühl, denn sie wusste genau, dass LaCroix ihre Cousine mit sich genommen hatte. Allerdings war Corinne bisher immer wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt. Bestimmt würde es diesmal wieder so sein. Warum auch nicht?

„Du weißt warum“, meldete sich eine Stimme in Nathalies Innerem. „Nick hat es doch klar geäußert: Ein liebender Vampir holt seine Auserwählte über kurz oder lang auf die Nachtseite des Lebens. Es gibt kein Entkommen!“

Verzweifelt schüttelte die Pathologin diese Gedanken von sich und murmelte: „Aber heute Nacht verschont er sie bestimmt noch! Sie muss doch erst wieder zur Besinnung kommen nach all dem, was sie erfahren hat! – Ja, ja, sicher nimmt er Rücksicht... er war doch so fürsorglich zu ihr... Ihr passiert nichts. Nein, ihr passiert bestimmt nichts.“

Allein, sie konnte sich diese Worte selbst nicht glauben...

***

„Sie hatten recht damit, Ihrem Instinkt zu vertrauen“, meinte Amanda Cohen, nachdem Nicholas seinen Bericht über die Geschehnisse der heutigen Nacht beendet hatte. „Und ich habe gut daran getan, mich darauf zu verlassen. Nicht auszudenken, was sonst noch passiert wäre.“

„Zum Glück hat das behutsame Vorgehen von Miss Lambert das Schlimmste verhindert“, gab Nick zu bedenken.

„Ja, Dr. Lambert kann wirklich stolz auf ihre Cousine sein“, bekräftigte Cohen. „Ich hoffe nur, die junge Frau übersteht diese Sache einigermaßen gut. Es muss doch schrecklich für sie gewesen sein zu erfahren, dass ein alter Bekannter ihren Verlobten umgebracht hat.“

„Ganz bestimmt, und die Kleine wird sicher eine Weile brauchen, um all das zu verarbeiten“, meinte Nick und erhob sich. „Wird Zeit, dass ich mich daranmache, den Bericht zu schreiben.“

Captain Cohen nickte ihm lächelnd zu, als er ihr Büro verließ, um an seinen Schreibtisch zurückzukehren. Doch er hatte nicht damit gerechnet, Nathalie dort auf seinem Stuhl sitzend vorzufinden.

„Wolltest du nicht mit Corinne nach HauseHauH?“ fragte er erstaunt.

„Das hat sich erledigt“, erwiderte sie und stand auf. „Komm mit, Nick, ich muss dir etwas zeigen.“

Der Vampir folgte seiner Kollegin, die ihn in den Raum führte, in dem der tote Teichert lag, und schlug schweigend die Decke, die den Leichnam verhüllte, wieder auf, so dass Gesicht und Hals frei sichtbar waren. Dann deutete sie mit den Fingern auf den Hals des Toten und murmelte: „Er ist ganz sicher nicht ertrunken, aber davon sollte besser niemand erfahren.“

Nicholas beugte sich über die Leiche, besah sich deren Hals und meinte: „Ja, ich weiß, was du meinst, und ich kann mir auch schon genau vorstellen, wer sich das Blut dieses Herrn einverleibt hat.“

„Merkwürdig ist nur, dass sie dann den Leichnam mit Alkohol gefüllt und in den Ontariosee geworfen haben“, sagte Nathalie und ließ ihren Blick fragend auf Nick ruhen. „Was bezwecken sie damit?“

„Vermutlich will der Alte mich nur provozieren.“

„Wie? Du meinst, LaCroix steckt dahinter?“

„Natürlich! Wer sonst?“ murrte Nicholas. „Die letzte Spur, die wir von Teichert haben, führte direkt in den Antiquitätenladen von LaCroix’ Freund McDonavan – und der Alte besaß die Unverfrorenheit, mir zu erzählen, welch ein gutes Dinner sie an jenem Abend gemeinsam eingenommen hatten. Als ich LaCroix sagte, dass ich ihn und seinen Freund des Mordes an dem Professor verdächtige, wies er mich darauf hin, dass es dafür keinerlei Beweise gäbe; und um diese Behauptung zu bekräftigen, sorgte er dann dafür, dass Teichert als Wasserleiche gefunden wurde. Vermutlich haben McDonavan und LaCroix sich bei der Planung und Ausführung dieses Vorhabens köstlich amüsiert.“

„Dennoch leuchtet mir nicht ein, was das Ganze soll“, meinte Nathalie. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einzig und allein dem Zweck dient, dich zu ärgern.“

„Mag sein“, räumte Nick ein. „Wahrscheinlich hat LaCroix den Professor getötet, weil dieser deine Cousine belästigte. Er wurde nämlich unwahrscheinlich wütend, als er davon erfuhr. Weißt du, Nat, als ich ihn heute beobachtete, wie er Corinne behandelte... er war so behutsam und fürsorglich... ich glaube, LaCroix liebt sie wirklich – so unfassbar es mir selbst auch erscheint...“

„Meinst du?“

„Ja, Nat, denn ich kenne außer deiner Cousine keine sterbliche Frau, die mehrere Nächte mit einem Vampir verbracht und überlebt hat...“

„Er hat sie auch jetzt wieder mit sich genommen“, flüsterte Nathalie und schaute Nick mit ihren großen Augen ängstlich an. „Ich fürchte, dass er sie heute Nacht verwandelt.“

„Wie kommst du denn darauf?“ wunderte sich ihr Kollege.

„Ich weiß nicht... es ist einfach so ein Gefühl“, murmelte sie. „Weshalb ist er heimlich mit ihr verschwunden, ohne sich zu verabschieden?“

„Das muss nichts zu bedeuten haben“, meinte Nicholas, senkte jedoch den Kopf. Natürlich entging dies der Ärztin keineswegs und sie fühlte erneut, wie leise Panik in ihr aufstieg.

„Nick, sei ehrlich!“ forderte sie ihn mit eindringlicher Stimme auf. „Glaubst du, er verschont sie heute Nacht wieder?“

„Woher soll ich das wissen?!“ gab er unwillig zurück. „Der Alte ist unberechenbar. Er liebt Corinne und ich habe dir doch wohl deutlich genug gemacht, welche Gefahr das in sich birgt. Aber deine Cousine scheint keinerlei Angst vor ihm zu haben, sondern ist offensichtlich gerne mit ihm zusammen. Du kannst nichts tun, außer den Dingen ihren Lauf zu lassen, Nat. Und wer weiß? Vielleicht gefällt es ihr ja, ein Vampir zu sein, und sie wird glücklich mit dem Alten.“

„Oh, Nick! Bitte, hör auf damit!“

„Tut mir wirklich leid, Nat“, meinte Nicholas in entschuldigendem Ton. „Es könnte natürlich sein, dass LaCroix der Kleinen nichts tut. Denn es ist augenscheinlich, dass er ihr sehr zugetan ist. Möglicherweise wird er auch alles vermeiden, was sie verletzen könnte.“

„Ach, wenn es doch so wäre“, seufzte Nathalie und ein Funken Hoffnung glomm in ihr auf. Sie starrte eine Weile auf ihre Schuhe, dann schien ihr ein neuer Gedanke zu kommen und sie erhob ihren Blick wieder zu ihrem Kollegen. „Glaubst du, dass die Liebe zwischen einer Sterblichen und einem Vampir gut gehen kann, Nick?“

„Du meinst, wenn er sie nicht verwandelt?“

„Ja, genau!“

„Gehe ich recht in der Annahme, dass du hoffst, deine Cousine und mein Meister kriegen das hin?“

„Richtig! Immerhin hat er sie bisher verschont“, gab Nathalie zu bedenken und entspannte sich etwas. „Wenn die beiden es schaffen, wären andere dazu bestimmt auch in der Lage.“

„Möglich“, räumte Nick ein. „Allerdings weiß ich nicht, wie lange sich ein Wesen meiner Art beherrschen kann. Wir spüren das Blut eines Menschen und wenn wir hungrig sind, hören wir es durch dessen Körper rauschen... weißt du, wie sehr uns das quälen kann, Nat? Manchmal sehen wir die Adern durch die Haut schimmern. Es ist sehr verlockend und wir können kaum widerstehen... Wie lange also, glaubst du, würde eine Beziehung zwischen einer Sterblichen und einem Vampir gut gehen, wenn sie zusammenleben?“

„Aber zwischen uns funktioniert es doch auch schon einige Jahre, obwohl wir uns jeden Tag sehen“, meinte die Ärztin.

„Schon, aber wir leben nicht zusammen – und außerdem nehme ich regelmäßig Blut zu mir. Ansonsten könnte ich nicht hier arbeiten“, erwiderte Nicholas. „Darüber hinaus kämpfe ich gegen meinen Drang an, Lebende zu beißen und auszusaugen. Das tun andere nicht.“

„Es ist also hoffnungslos“, seufzte Nathalie und ließ den Kopf hängen.

„Ja... ja, so sehe ich es auch“, sagte ihr Kollege, tätschelte ihren Rücken und verließ sie, um seinen Bericht zu schreiben. Er ahnte nicht, dass er mit seinen Worten Nathalies aufkeimende Hoffnung, dass eine Liebesbeziehung zwischen ihnen möglich sein könnte, zunichte gemacht hatte. Zugleich sah sie ihre Befürchtung bestätigt, dass Corinne bald nicht mehr zu den Lebenden gehörte. Obgleich sie als Gefährtin von LaCroix dann nicht wirklich tot wäre, würde sich die Beziehung zu ihrer Familie drastisch verändern, und Nathalie konnte sich vorstellen, dass Onkel Bertrand und Tante Valerie wenig entzückt davon wären, ihre Tochter – wenn überhaupt – nur noch sporadisch zu sehen.

„Sie müssen sich damit genauso abfinden wie ich“, dachte sie resigniert. „Wahrscheinlich machen sie mir dann Vorwürfe, aber – Himmel – Corinne ist schließlich eine erwachsene Frau und ich bin nicht ihr Kindermädchen!“

***

Fast andächtig saß LaCroix auf dem Rand eines großen Himmelbettes und betrachtete liebevoll die schlummernde Corinne. Nachdem sie die Geschehnisse des heutigen Abends zu Protokoll gegeben hatte, war sie gleich in seinen Armen eingeschlafen. Natürlich nutzte er das Alleinsein mit Corinne sofort, um mit ihr aus der Wohnung der Schankes zu verschwinden, ehe irgendein Mensch ihn daran hindern konnte, und sie an diesen geschützten Ort zu bringen. Arthur war es tatsächlich auf die Schnelle gelungen, ihnen eine Wohnung zu besorgen, innerhalb der es einen verborgenen Raum ohne Fenster gab, in den kein Fünkchen Sonnenlicht je eindringen würde. Darüber hinaus war dieses Versteck so gut abschließbar, dass niemand es von außen öffnen konnte, sollte es wider Erwarten je entdeckt werden. Einen besseren Ort, um die Wandlung durchzuführen, gab es kaum.

Ja, heute war die Nacht, in der er Corinne von ihrer Sterblichkeit befreien und ihr damit die Macht verleihen würde, all ihre zukünftigen Widersacher in die Schranken zu verweisen oder gar zu vernichten. Sie sollte nie wieder in eine Situation wie die heutige kommen.

Wenn LaCroix daran zurückdachte, hätte er sich selbst am liebsten geohrfeigt. All dies wäre vermeidbar gewesen, hätte er Nicholas früher einen unmissverständlichen Hinweis gegeben oder – noch besser – Fernandez aus dem Verkehr gezogen. Doch wie immer hatte es ihn gereizt, seine Spielchen zu treiben. Aber konnte er denn ahnen, dass sein Schweigen seine Geliebte in Gefahr bringen würde?

Zärtlich strich er über die Wangen der jungen Frau, ohne die er sich sein Dasein nicht mehr vorstellen mochte. Merkwürdig, erschreckend und zugleich faszinierend, wie rasch eine geistige Verbundenheit zwischen ihnen geherrscht hatte. In all den Jahrhunderten, die er bereits lebte, war ihm nie etwas Derartiges mit einem menschlichen Wesen widerfahren. Und als ihn ihr telepathischer Hilferuf vorhin erreichte, konnte er nicht anders, als sofort zu ihr zu fliegen, um ihr beizustehen. Und dann war es plötzlich sie gewesen, die sein Leben retten wollte, indem sie ihr eigenes aufs Spiel setzte...

Der Gedanke daran erschütterte ihn immer noch. So etwas hatte noch nie jemand für ihn getan...

„Oh Corinne“, wisperte er fast unhörbar, ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen. Er hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen der Rührung zu unterdrücken. Gleichzeitig schien ihn die Liebe, die er für sie empfand, zu überwältigen. „Mein kleiner Engel, mein Licht in der Nacht...“

Nachdenklich ließ er seine feuchten Augen über die Schlafende gleiten. Durfte er solch einen Sonnenschein wirklich auf die Nachtseite des Lebens holen? Brach er ihr nicht das Herz, wenn er sie dadurch für immer von ihren Angehörigen trennte? Aber für jede Frau kam irgendwann einmal die Zeit, ihre Familie zu verlassen, um ein neues Leben an der Seite ihres Mannes zu führen. Es war also nichts dabei, wenn er sie zu seiner Gefährtin machte; und schließlich hatte sie ja selbst gesagt, dass sie mit ihm zusammenleben wollte...

In diesem Augenblick seufzte sie wohlig auf und drehte ihren Kopf zur Seite. Dabei schien sie ihm ihren Hals so verführerisch darzubieten, als sehne sie sich insgeheim nach seinem Biss. LaCroix konnte kaum widerstehen, beugte sich darüber und küsste vorsichtig die Stelle, an der sich die Halsschlagader befand.

„Corinne“, flüsterte er. „Mein süßer Liebling, willst du für immer bei mir bleiben?“

„Hm“, antwortete sie schlaftrunken. Er hielt sofort inne und tat gut daran, denn einen Augenblick später drehte sie ihm ihr Antlitz zu und blinzelte. Ein kaum merkliches Lächeln glitt über ihre Lippen. „Lucien...“

„Hallo, mein Sonnenschein“, murmelte er zärtlich und küsste sie. „Wie fühlst du dich?“

„Ein bisschen müde“, antwortete sie leise.

„Dann solltest du weiterschlafen.“

„Wie geht es Jenny?“

„Sie schlummert wohlbehalten in den Armen ihrer Mutter“, behauptete Lucien.

„Und du, Liebster? Geht es dir gut? Bist du auch wirklich nicht verletzt?“ fragte Corinne besorgt.

„Es geht mir gut, mein Engel, mach dir keine Sorgen um mich. Du bist diejenige, die sich ausruhen muss. Meine kleine Heldin!“

Erneut küsste er ihre Hand.

„Ach, hör auf damit, Lucien!“ wehrte sie ab. Um ihre Lippen bildete sich ein bitterer Zug. „Ich bin keine Heldin!“

„Doch, mein Liebling. Wer jemanden, der beabsichtigt, mich zu töten, mit einem Schuh außer Kraft setzt, ist eine Heldin.“

„Aber ich wollte ihn wirklich umbringen, Lucien“, gestand Corinne, senkte ihren Blick und drehte ihren Kopf leicht von ihm weg. „Als Michael mir sagte, dass er Thomas auf dem Gewissen hat, da fühlte ich einen solchen Hass in mir, dass ich ihn nur noch tot sehen wollte...“

Ein heftiger Weinkrampf folgte diesen Worten.

„Nicht doch, Corinne“, versuchte LaCroix seine Geliebte zu beruhigen. „Deine Gefühle sind nur allzu verständlich.“

„Ich hätte mich niemals so gehen lassen dürfen“, schluchzte sie auf. „Beinahe hätte ich Michael getötet...“

„Na und?“ meinte der alte Vampir ungerührt. „Er hat nichts anderes verdient.“

„Wie kannst du nur so etwas sagen?“ fragte Corinne fassungslos und blickte ihn erschrocken an. „Wenn Michael wirklich vom Dach gestürzt wäre, könnte ich mir das niemals verzeihen.“

„Es besteht überhaupt kein Grund für Selbstvorwürfe“, erwiderte LaCroix. „Hast du etwa schon vergessen, dass dieser Typ keinerlei Skrupel hatte, die kleine Jenny zu entführen und damit drohte, mit ihr vom Dach zu springen? Erinnerst du dich, wie sehr er dieses unschuldige Kind in Panik versetzt und darüber hinaus in äußerste Gefahr gebracht hat?“

„Ach, das ist alles meine Schuld gewesen! Vielleicht wäre es gar nicht zu dieser Eskalation gekommen, wenn ich nur früher etwas von Michaels Empfindungen bemerkt hätte.“

„Nun, sagen wir mal so: Du wolltest nicht wahrhaben, dass er in dich verliebt ist“, murmelte LaCroix und lächelte, als Corinne daraufhin nochmals ihren Kopf abwandte.

„Ich... ich schäme mich so...“, flüsterte sie kaum hörbar.

„Das brauchst du nicht, Liebling“, meinte er. „Komm, Corinne, sieh mich an!“

Als sie dieser Aufforderung nicht nachkam, drehte er ihr Gesicht mit sanftem Druck wieder zu sich und erklärte: „Du hast in Notwehr gehandelt, um mich zu schützen.“

„Das stimmt nur zum Teil, Lucien“, widersprach sie. „Natürlich hatte ich auch schreckliche Angst, dich zu verlieren, aber mein tiefster Beweggrund war maßloser Hass...“

„Ja, das habe ich gespürt“, gab der alte Vampir zu, führte ihre Hand wieder an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. „Du bist wirklich eine faszinierende Frau... so lebendig, so voller Leidenschaft... und deshalb so wundervoll. Ich könnte mir keine bessere Gefährtin wünschen.“

„Du... du willst mich immer noch?“ fragte sie irritiert. „Obwohl du weißt... obwohl du sogar spürst, welche Abgründe in mir lauern?“

„Gerade deshalb liebe ich dich“, antwortete LaCroix. „Glaub mir, jeder Mensch besitzt dunkle Seiten in sich, aber die meisten wollen es nicht wahrhaben. Du bist wenigstens ehrlich genug, sie dir einzugestehen.“

„Und was soll ich jetzt tun, Lucien?“

„Vergiss die Vergangenheit und richte deinen Blick auf unsere gemeinsame Zukunft“, schlug er vor.

„Meinst du denn, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben?“ fragte sie zweifelnd.

„Das wünsche ich mir sehr“, sagte er leise und streichelte über ihre Wange. „Ich liebe dich – und du liebst mich doch auch, oder etwa nicht?“

Corinne richtete sich mit ihrem Oberkörper auf und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Er zog sie zunächst mit einer festen Umarmung an sich und ließ sich einen Augenblick später mit ihr zusammen auf das Bett sinken, wobei er sich halb auf sie legte und sie voller Verlangen betrachtete. Er nahm ihre feinen Äderchen wahr, die durch die Haut schimmerten, hörte das Blut leise durch ihren Körper fließen und spürte deutlich ihren Herzschlag. All dies erregte ihn sehr und rief allmählich die Gier nach ihrem Lebenssaft hervor. Corinne jedoch ahnte nicht einmal, was für einen Appetithappen sie für ihn darstellte. Voller Vertrauen lächelte sie ihn mit strahlenden Augen an. Sobald er ihrem Blick begegnete, überflutete ihn wieder jenes wohlige Gefühl voller Wärme, dessen Ursache ihre tiefe Liebe zu ihm war und das überaus besänftigend auf die durstige Bestie in seinem Inneren wirkte. Zu allem Überfluss streichelte sie jetzt noch mit beiden Händen über seine Wangen und flüsterte: „Ich liebe dich über alles, Lucien, und kann mir gar nicht mehr vorstellen, ohne dich zu leben.“

„Freut mich, das zu hören“, brummte er zufrieden und legte sich neben sie auf den Rücken. Er wollte warten, bis sie wieder eingeschlafen war, bevor er seinen Hunger an ihr stillte und sie dadurch gleichzeitig zu einer Vampirin machte.

Sein argloses Opfer kuschelte sich an ihn, bettete das Gesicht auf seine Brust und blickte nachdenklich vor sich hin, während er begann, mit ihren Locken zu spielen. So lagen sie eine Weile schweigend beisammen und genossen die Nähe des anderen.

„Lucien?“ fragte Corinne schließlich leise.

„Hm?“

„Wo sind wir hier eigentlich?“

„In unserer neuen Wohnung, Liebling. Gefällt sie dir?“

„Ich weiß noch nicht“, meinte das Mädchen. „Ist dir schon aufgefallen, dass das Zimmer keine Fenster besitzt?“

„Das hat einen besonderen Grund“, erwiderte LaCroix.

„Welchen denn?“

„Das erkläre ich dir ein andermal, Corinne, schlaf jetzt.“

„Unmöglich, Lucien, ich bin viel zu aufgeregt...“

„Dann erzähl mir etwas“, forderte er sie auf und hoffte, dass sie darüber wieder müde wurde und einnickte.

„Was möchtest du denn hören, Liebster?“

„Zum Beispiel, was du dir für die Zukunft wünscht.“

„Na ja, ich hoffe, dass es mir in der Privatschule, in der ich nächstes Jahr arbeiten werde, gefällt und ich mit allen gut auskomme“, sinnierte Corinne. „Ich freue mich wirklich schon sehr darauf.“

„Hm... und wenn sich dieser Job aus irgendwelchen Gründen zerschlägt?“

„Ach, Lucien, warum sollte so etwas passieren?“

„Vielleicht ist es dir unmöglich, die Stelle anzutreten, weil etwas Wichtiges dazwischenkommt, das dagegen spricht“, meinte der Vampir. „Könntest du dir dann vorstellen, woanders zu arbeiten? Soweit ich mich erinnere, hat Arthur dir doch ein interessantes Angebot unterbreitet...“

„Ach, Lucien, ich bin Lehrerin für Kunst und liebe meinen Beruf. Etwas anderes möchte ich eigentlich nicht machen“, seufzte Corinne. „Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass alles klappen wird.“

„Und was nährt diese Zuversicht?“

„Mit dir an meiner Seite kann alles nur gut werden“, meinte sie und strahlte ihn an. „Du gibst mir so viel Geborgenheit, dass ich wieder Mut habe, an eine glückliche Zukunft zu glauben; und ich hoffe sehr, dass ich mein Leben mit dir teilen kann und dass vielleicht...“

Sie hielt inne und schenkte LaCroix einen unsicheren Blick.

„Was ist, Liebling? Erzähl ruhig weiter.“

„Na ja, bestimmt ist es noch etwas verfrüht, darüber zu sprechen, und manche Männer reagieren komisch darauf...“

„Komm, sag mir, was du auf dem Herzen hast!“ forderte er sie freundlich auf.

„Na ja, in ein paar Jahren vielleicht, wenn du es auch willst, findet unsere Liebe einen krönenden Abschluss in einem lebendigen Wesen, für das wir beide die Verantwortung tragen...“

„Was?“ entfuhr es LaCroix erschrocken. „Habe ich das eben richtig verstanden? Du möchtest eine Familie mit mir gründen?“

„Ich wusste es“, murmelte Corinne traurig. „Der Gedanke gefällt dir nicht.“

„Das ist es nicht“, widersprach der Vampir irritiert. „Es kommt nur so überraschend...“

„Dann hast du also nichts dagegen?“ fragte sie verwundert und setzte sich sofort auf.

„Aber nein, ganz im Gegenteil...“, behauptete er und musste unwillkürlich schlucken, als er sah, dass sich ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht ausbreitete. Er zwang sich, dieses Lächeln zu erwidern, während sich gleichzeitig das schlechte Gewissen in ihm breitmachte. Er hatte nicht mehr daran gedacht, wie sehr sie offensichtlich Kinder liebte und wahrscheinlich aus genau diesem Grund Lehrerin geworden war. Kein Wunder, dass es undenkbar für sie war, einen anderen Beruf zu ergreifen, und dass sie Mutter werden wollte.

„Eigene Kinder zu haben ist dein größter Wunsch, nicht wahr?“ fragte er leise.

„Ja, mit dem Mann, den ich über alles liebe – mit dir“, sagte sie zärtlich und schmiegte sich wieder an ihn.

Es kostete LaCroix große Selbstbeherrschung, um den Schmerz, der bei diesen Worten durch sein Herz fuhr, nicht laut herauszuschreien. Aber er konnte nicht verhindern, dass seine Augen feucht wurden. Er schloss sie instinktiv. Corinne musste nicht sehen, dass die Trauer ihn überwältigte. Wie sollte er ihr nur beibringen, dass er ihren Wunsch wahrscheinlich nie erfüllen konnte? Wenn er ihr seine wahre Natur enthüllte, war er gezwungen, sie zu töten. Aber damit würde er sie der Chance berauben, ihren Traum von einer eigenen Familie zu verwirklichen. Nein, das konnte er ihr nicht antun! Das hatte sein kleiner Engel nicht verdient! Sie, die ihn so sehr liebte, dass sie bereit gewesen war, ihr Leben für seines zu opfern. Verdammt, verdammt... er durfte sie nicht auf die dunkle Seite holen! Allein der Gedanke, wie sehr sie als Vampirin unter ihrer Kinderlosigkeit leiden würde, schnürte ihm das Herz ab. Nie hätte er für möglich gehalten, dass er eine Frau jemals dermaßen lieben könnte, das es wehtat! Er wünschte so sehr, sie glücklich zu machen, auch wenn das hieß, dass er sie gehen lassen musste. Sie sollte ihren Traum verwirklichen, mit einem anderen Mann glücklich werden und Kinder haben... und ihn durfte sie niemals wiedersehen...

„Was hast du, Liebster?“ hörte er die leise Stimme Corinnes.

„Nichts, ich bin nur ein bisschen müde“, brummte er und öffnete seine Augen. Dabei konnte er nicht verhindern, dass einige Tränen über seine Wangen liefen.

„Ist auch wirklich alles in Ordnung mit dir, Lucien?“

Als LaCroix den besorgten Blick seiner Geliebten sah, meinte er: „Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist, mein Liebling. Die Nacht, Schmetterling, ist viel zu gefährlich für dich und wäre dir beinahe zum Verhängnis geworden, weil ich nicht rechtzeitig eingegriffen habe...“

„Aber das hast du doch getan, Lucien!“ widersprach Corinne.

„Ich hätte diesen Fernandez viel früher zur Raison bringen müssen“, murmelte der Vampir missmutig und drehte seinen Kopf zur Seite. Er fühlte, dass der Gedanke an den Sterblichen ihm den Zorn in die Augen trieb, und seine Freundin musste den Anblick von rotglühenden Funken in seinen Pupillen wirklich nicht sehen.

„Bitte, Liebster, mach du dir jetzt nicht auch noch Vorwürfe. Kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, dass Michael derart durchdreht“, sagte Corinne eindringlich.

„Ja, du hast recht“, gab LaCroix zu, beruhigte sich etwas und schaute sie wieder an. Ein leichtes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. „Darauf wäre wahrscheinlich kein Mensch gekommen...“

Wenn er’s recht bedachte, sinnierte er weiter, auch nicht jeder Vampir. Denn nur wenige seiner Spezies besaßen die Gabe, Gedanken Sterblicher zu lesen, wenn es sie danach verlangte. Auch bei ihm hatte sich diese Fähigkeit erst im Laufe der Jahrhunderte entwickelt. Aber obwohl er sie besaß und sich ihm nach seiner ersten Begegnung mit Fernandez dessen Gedanken an die eigene Untat sowie das Mordmotiv in aller Klarheit präsentierten, wäre er nie auf die Idee gekommen, dass der junge Mann nicht davor zurückschreckte, andere Menschen, sich selbst und sogar das Objekt seiner Begierde umzubringen, falls nicht alles nach seinen Wünschen laufen sollte. LaCroix gestand sich ein, dass er als lebenserfahrener Vampir, dem die Abgründe der menschlichen Seele wohlvertraut waren, diese Entwicklung hätte vorausahnen können.

„Ich ärgere mich über mich selbst, Corinne“, meinte er dann unvermittelt und drückte ihre Hand. „Schließlich ahnte ich ja, welche Gefühle Fernandez für dich hegt und hätte besser auf den Typ achten sollen. Kannst du mir verzeihen?“

„Es gibt nichts zu verzeihen, Lucien“, erwiderte sie und strich liebevoll über seine Wange.

„Bitte – du musst mir verzeihen, Corinne!“ forderte er eindringlich.

„Na schön, wenn du darauf bestehst“, seufzte sie. „Was immer du auch meinst, getan zu haben, Liebster, ich verzeihe dir!“

Kaum waren ihr diese Worte über die Lippen gekommen, küsste LaCroix sie und flüsterte: „Dann lass uns alles vergessen, Liebling, alles...“

„Du verlangst doch hoffentlich nicht, dass ich all das Schöne, das ich mit dir erlebt habe, vergessen soll?“ fragte Corinne verwundert.

„Vielleicht wäre das aber besser“, murmelte er.

„Wie kannst du so etwas nur sagen?!“ entfuhr es dem Mädchen und sie schaute ihn bestürzt an. „Lucien, was ist denn nur los mit dir?“

„Ich bin ein schwieriger Charakter“, erklärte er. „Willst du wirklich dein weiteres Leben mit mir verbringen?“

„Natürlich! Ich liebe dich doch!“

„Aber ich bin soviel älter als du.“

„Das ist mir völlig egal, Lucien! Ich liebe dich!“

„Ja, das glaube ich dir, mein Engel...“, er senkte seinen Blick und konnte nur mit großer Mühe die Tränen zurückhalten, die sich erneut in seine Augen drängen wollten. Nach einer Weile sagte er leise: „Ich möchte wirklich gern alles tun, um dich glücklich zu machen. Aber was ist, wenn ich nicht alle deine Wünsch erfüllen kann, Corinne?“

„Ach, Lucien, ich bin doch kein kleines Kind mehr, das solche unrealistischen Vorstellungen hat! Hältst du mich denn wirklich für so naiv?“

„Du bist eine junge Frau und dein ganzes Leben liegt vor dir. Ich möchte nur, dass du glücklich wirst.“

„Aber ich bin glücklich mit dir, Lucien, weil wir zusammen sind und ich dich liebe“, erwiderte Corinne eindringlich. Dann umarmte sie ihn plötzlich und wisperte ihm ins Ohr: „Ich wäre auch sehr glücklich, wenn du jetzt mit mir schlafen würdest...“

„Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“ fragte er zweifelnd. Zwar würde er nichts lieber tun, als ihrem Vorschlag nachzukommen, aber er misstraute seiner eigenen Selbstbeherrschung, sie nicht zu beißen. Allein der Gedanke daran, sich mit ihr zu vereinen, erregte ihn sehr. Daher zwang er sich dazu, Corinnes Arme mit sanfter Gewalt von seinem Nacken zu lösen, was ihm einen irritierten Blick seiner Geliebten eintrug.

„Was soll das, Lucien? Liebst du mich denn nicht mehr?“

Ihre Stimme klang weinerlich, ihre Augen wurden feucht. Er konnte es kaum ertragen und wandte sich von ihr ab, ohne ihr zu antworten. Auf die weitere Frage war er allerdings nicht vorbereitet: „Hast du... hast du mich... nur benutzt?“

„NEIN!“ rief er sofort aus, drehte sich wieder zu ihr um, zog sie an sich und schloss sie fest in seine Arme. „NEIN! - NEIN! NEIN! NEIN! – Corinne, mein Liebling, mein Alles, das darfst du nicht glauben! Ich liebe dich! Ich liebe dich wirklich!“

„Warum stößt du mich dann von dir weg?“ schluchzte sie. „Was hab ich dir denn getan?!“

„Nichts, mein Mädchen“, versuchte er sie zu trösten. „Ich möchte dir nur nicht wehtun...“

Offensichtlich trugen diese Worte keineswegs dazu bei, sie zu beruhigen. Vielmehr begann Corinne nun, hemmungslos zu weinen. Er spürte, wie ihr Körper zu zittern begann, und mit einem Mal drang es ihm ins Bewusstsein, dass sie glaubte, er wolle wegen der Sache mit Fernandez nichts mehr mit ihr zu tun haben... ihr Kummer war unerträglich für ihn... Verdammt, er liebte sie doch! Wie konnte sie nur an ihm zweifeln? Aber er würde ihr schon zeigen, wie sehr er sie liebte...

Ohne nachzudenken, drückte LaCroix sie zurück in die Kissen, streichelte ihr über das Haar und begann, ihr Gesicht mit Küssen zu bedecken. Als sie ihren Mund öffnete, drang er mit seiner Zunge in ihn ein. Seine Hand glitt weiter hinunter, knöpfte ihre Bluse auf, fuhr unter ihr Seidenhemd und liebkoste ihre Brüste. Als sie begann, es ihm gleichzutun, kam er wieder zu sich. Behutsam löste er sich aus ihrem Mund und murmelte: „Was machst du nur mit mir?“

„Ich liebe dich“, wisperte sie.

„Und ich liebe dich“, erwiderte er kaum hörbar. Er senkte seine Lippen auf ihren Hals hinab, spürte darunter das Pochen ihrer Schlagader und zog seine Lefzen zurück. Leicht und behutsam ließ er seine Fangzähne langsam über die zarte Haut der jungen Frau gleiten. Corinne wimmerte vor Lust, als sie diese kaum wahrnehmbare Berührung spürte, was seine Erregung zusätzlich anstachelte. Einerseits konnte er es kaum erwarten, seine Zähne in ihren Hals zu bohren und ihr Blut zu trinken, andererseits überkam ihn ein enormes Verlangen, mit ihr zu schlafen. Er gab Letzterem nach, befreite seine Geliebte rasch von Hose und Slip und tauchte zwei Finger liebkosend in ihren geöffneten Schoss ein, den er feucht und bereit vorfand.

„Bald bist du mein“, knurrte er zärtlich und entkleidete sich nun ebenfalls hastig.

„Komm, Liebster“, stöhnte sie. „Ich kann es kaum erwarten, dich zu empfangen...“

Er hörte das letzte Wort zwar, aber es hinderte ihn zunächst nicht daran, seiner Leidenschaft nachzugeben und sich lustvoll mit ihr zu vereinigen. Erst nach dem Liebesakt, als sie erschöpft neben ihm ruhte, erinnerte ihn dieses Wort schmerzhaft an ihren sehnsüchtigen Wunsch, eines Tages Mutter zu werden. Das brachte ihn wieder so weit zur Besinnung, dass er seine hemmungslose Gier nach Corinnes Blut erfolgreich bezwang.

„Zum Glück schläfst du, mein Engel“, dachte er und betrachtete sie nachdenklich, während ihm erneut klar wurde, dass er sich so schnell wie möglich von ihr trennen musste, wenn er keine Gefahr für sie werden wollte. Er war verrückt nach ihr, sie konnte ihn um den Verstand bringen und beinahe hätte er sie entgegen seiner Absicht doch zu einer Vampirin gemacht. Nein, das durfte nicht sein! Er wollte ihren Traum nicht zerstören!

Mit einem Ruck stand er auf, zog sich an und widmete sich dann wieder Corinne, die tief und fest schlief. Sie sah so glücklich aus. Ein trauriges Lächeln glitt über seine Lippen, als er sie behutsam in die Decke hüllte, hochhob und an sich drücke.

„Es wird Zeit, dass ich dich heimbringe, kleiner Schmetterling“, dachte er dabei wehmütig und küsste sie zart auf die Stirn. „Du wirst mich niemals wiedersehen...“

 

Nathalie war erst gegen Morgengrauen eingeschlafen, da ihre Gedanken immer wieder um ihre Cousine kreisten und sie sich fragte, ob sie sie jemals lebend wiedersehen würde. Umso ungehaltener war sie, als es laut an ihrer Wohnungstür schellte. Zunächst reagierte sie nicht darauf in der Hoffnung, der Störenfried verschwände bald wieder. Aber er tat ihr den Gefallen nicht, und als schließlich nach einer Weile der Ton ununterbrochen hintereinander dröhnte, wusste Nathalie, dass ihr Quälgeist seinen Finger fest auf den Klingelknopf gedrückt hielt. Mit Kopfschmerzen und leichtem Schwindelgefühl erhob sie sich aus dem Bett und ging an die Tür, fest entschlossen, ihrem Ärger über diese morgendliche Störung Luft zu machen, sollte die Angelegenheit nicht wirklich wichtig sein.

Mit bösem Blick riss sie die Tür auf.

„Guten Morgen, Nathalie!“

Vor ihr stand eine große, schlanke Dame mit grünen, leicht schrägstehenden Augen, deren schulterlanges, dunkelrotes Haar in leichten Wellen auf einem eleganten, schwarzen Mantel ruhte.

„Tante Valerie!“ entfuhr es der Pathologin erschrocken.

Die Angesprochene lächelte etwas süffisant, bevor sie fortfuhr: „Hat ja ziemlich lange gedauert, bis du auf mein Klingeln reagiert hast. Wo ist Corinne?“

„Komm doch erst mal rein“, bat Nathalie und trat zur Seite, damit sie ihrer Aufforderung folgen konnte. Zugleich fragte sich die Ärztin, wie sie der Tante beibringen sollte, dass ihre Tochter nicht hier war. „Wie wär’s mit einem Kaffee?“

„Gern“, erwiderte Valerie Lambert und folgte Nathalie in die Küche, wo diese sich gleich daran machte, Kaffee aufzusetzen. Währenddessen ließ sich Corinnes Mutter auf der Eckbank nieder und schaute sich aufmerksam um. „Nett hast du es hier.“

„Danke. Geht es Onkel Bertrand, Christine und dir gut?“ fragte die Pathologin, um Zeit zu gewinnen.

„Bis auf die Tatsache, dass mein Mann sich um unsere Jüngste sorgt, können wir nicht klagen“, erwiderte Valerie. „Und was macht Corinne? Schläft sie noch? Wie dein Onkel mir berichtete, schlägt sie sich hier in Toronto die Nächte um die Ohren. Aber vor allem beunruhigt ihn die Tatsache, dass sie hierbleiben will. Seitdem du ihm davon erzählt hast, ist er das reinste Nervenbündel.“

„Ja... ja sie schläft bestimmt noch“, meinte Nathalie mit unsicherem Lächeln.

„Wo ist sie?“ wollte Valerie wissen, der die Nervosität ihrer Nichte nicht entging. „Ich möchte genau wissen, was mit ihr los ist.“

„Der Kaffee ist gleich fertig...“, versuchte Nathalie abzulenken, aber ihre Tante erhob sich, warf ihr einen auffordernden Blick zu und meinte: „Also, wo ist meine Tochter?“

Die Ärztin gab nach und ging voran in Richtung Gästezimmer. Als sie die Tür desselben öffnete, erwartete sie einen bissigen Kommentar wegen der fehlenden Anwesenheit Corinnes. Doch dieser bleib aus, da ihre Cousine friedlich im Bett schlummerte.

„Nun gut, lassen wir sie ausschlafen“, meinte Valerie mit zufriedenem Lächeln und ging in die Küche zurück. Nathalie allerdings schaute verwundert auf das Bett. Sie konnte es nicht fassen, dass sich Corinne tatsächlich darin befand. Langsam näherte sie sich ihr und betrachtete sie sich genauer. Ihre Cousine atmete ruhig und schien in jeder Hinsicht völlig in Ordnung zu sein.

„Er hat sie also wieder verschont“, dachte die Pathologin mit ungeheurer Erleichterung. Automatisch glitt ihr Blick zum Fenster, das einen Spalt offenstand. Als sie dorthin ging und es schloss, erwachte Corinne von dem kaum hörbaren Geräusch.

„Nathalie?“ murmelte sie erstaunt und sah sich irritiert um. „Warum bin ich hier?“

„Das weiß ich auch nicht“, gab die Angesprochene zurück. „Als ich gestern Nacht nach Hause kam, warst du jedenfalls noch nicht da. Ich dachte daher, dass du bei Mr. LaCroix schläfst.“

„Ja, das war auch so... gestern erwachte ich jedenfalls in einer anderen Wohnung, von der Lucien behauptete, das sie unsere neue Bleibe wäre. Deshalb wundere ich mich auch, wieder hier zu sein. Was hat das zu bedeuten?“

„Das musst du LaCroix schon selbst fragen. – Aber jetzt solltest du lieber aufstehen. Deine Mutter ist da.“

„Mama ist hier?“ fragte Corinne erstaunt. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie sprang mit einem Satz aus dem Bett. „Wo ist sie?“

„Vermutlich in der Küche...“

Nathalie brauchte den Satz nicht zu beenden, denn ihre Cousine war schon aus dem Zimmer geeilt. Kopfschüttelnd folgte sie ihr, konnte sich ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen, als sie sie in inniger Umarmung mit ihrer Mutter in der Küche vorfand. Dann hielt Valerie ihre Tochter in einigem Abstand von sich und betrachtete sie eingehend.

„Du siehst gut aus“, meinte sie dann zufrieden. „Wie heißt er denn?“

„Bitte?!“ fragte Corinne überrascht.

„Na ja, ich möchte wissen, wie dein neuer Freund heißt“, erklärte ihre Mutter lächelnd. „Wegen ihm willst du doch in Toronto bleiben, oder?“

„Aber, Mama, wie kommst du nur auf so eine Idee?“

„Nathalie hat uns darüber informiert, dass du in dieser Stadt bleiben willst.“

Corinne warf ihrer Cousine einen wütenden Blick zu.

„Oh, Nat! Ich habe dich doch gebeten, es für dich zu behalten!“

„Ich finde, dass deine Eltern darüber Bescheid wissen sollten“, fühlte Nathalie sich genötigt zu sagen.

„Das war auch ganz richtig!“ meinte Valerie. „Warum wolltest du uns etwas so Wichtiges verschweigen, Corinne?“

„Weil ich genau weiß, wie ihr reagiert“, antwortete das Mädchen unwillig. „Allein, dass du mir nachgereist bist, sagt doch schon alles...“

„Ach, Kind, ich mache mir nun mal Gedanken um dich“, seufzte Valerie.

„Aber ich komme nicht mit dir nach Frankfurt zurück!“ sagte Corinne trotzig.

„Das verlangt doch auch keiner.“

„Was? Weshalb bist du dann hergekommen, Mama?“

„Weil das die einzige Möglichkeit war, deinen Vater davon abzuhalten, selbst nach Toronto zu fliegen“, erklärte Valerie. „Der Gedanke, dass du hierbleiben willst, macht ihm sehr zu schaffen.“

„Mama, ich bin erwachsen!“

„Für uns bleibst du immer unsere Tochter, Corinne, ob es dir gefällt oder nicht! Und nun will ich wissen, was hier alles passiert ist. Denn genau wie dein Vater bin ich davon überzeugt, dass es einen Grund gibt, weshalb du in Kanada bleiben willst.“

Der Ton, in dem Valerie Lambert dies sagte, war so fordernd, dass Corinne sich ihr gegenübersetzte und begann, in groben Zügen zu erzählen, wie sie alte Bekannte wiedergetroffen, Lucien im Raven kennengelernt und dieser sie mit der Band bekannt gemacht hatte, mit welcher sie dann auf der Tagung aufgetreten war. Sie verschwieg ihrer Mutter allerdings ihre vorherige Kontaktaufnahme mit LaCroix und seiner daraufhin ausgesprochenen Einladung. Auch von dem Erpressungsversuch ihres früheren Professors sagte sie kein Wort, um ihre Mutter nicht unnötig aufzuregen. Teichert war schließlich tot und das Kapitel damit erledigt. Dafür schilderte sie umso ausführlicher, was in der Nacht passiert war und dass Michael Fernandez sich zu dem Mord an Thomas bekannt hatte.

Valerie lauschte ihr, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Als Corinne mit ihrem Bericht fertig war, atmete ihre Mutter hörbar aus. Dann beugte sie sich vor und griff nach der Hand ihrer Tochter.

„Mein armer Liebling, was hast du alles durchgemacht!“ murmelte sie.

„Jetzt ist es zum Glück vorbei, Mama“, meinte die junge Frau, der während ihrer Erzählung wieder all ihre Gefühle hochgekommen waren. „Ich hoffe nur, dass Michael seine gerechte Strafe erhält!“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, erwiderte Valerie in tröstendem Ton. „Wenigstens ist der Mörder von Thomas endlich gefasst worden und kann kein Unheil mehr anrichten. Himmel, wenn ich daran denke, was dir oder dem kleinen Mädchen hätte zustoßen können. Was für ein Glück, dass dein neuer Freund rechtzeitig zur Stelle war...“

Sie musterte ihre Tochter erneut eindringlich und meinte dann: „Ich kann verstehen, dass du wegen ihm hierbleiben willst.“

„Oh, Mama, ich bleibe doch nicht nur seinetwegen“, Corinne lachte ein wenig. „Man hat mir eine gute Stelle in einer Privatschule angeboten und ich werde sie annehmen.“

„Ja, das finde ich ganz in Ordnung“, nickte Valerie.

„Dann... dann bist du also damit einverstanden, dass sie bleibt?“ meldete sich nun Nathalie zu Wort, die sich während Corinnes Erzählung auf die andere Seite der Eckbank zurückgezogen und bis jetzt nur zugehört hatte.

„Natürlich, warum denn nicht?“ wunderte sich ihre Tante.

„Aber Onkel Bertrand...?“ warf die Pathologin unsicher ein. „Er ist sicher alles andere als erfreut darüber.“

„Das lass mal meine Sorge sein“, erwiderte Valerie leichthin und musterte die beiden jungen Frauen mit amüsiertem Blick. „Ist es in Toronto eigentlich üblich, den ganzen Tag im Schlafanzug herumzulaufen?“

„Nein, natürlich nicht“, gab Nathalie zurück und spürte, wie sie rot anlief.

Corinne hingegen sah flüchtig an sich herunter, lachte und lief in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Rasch kleidete sie sich in Jeans und Bluse und überlegte gerade, ob sie mit ihrer Mutter einen kleinen Einkaufsbummel machen sollte, als ihr Blick auf die Kommode neben ihrem Bett fiel. Den Rosenstrauß in der Vase hatte sie vorhin gar nicht bemerkt. Davor lag ein weißer Briefumschlag.

„Bestimmt ist das eine Nachricht von Lucien“, dachte Corinne und öffnete in freudiger Erwartung das Kuvert. Als sie jedoch das Schreiben las, schlug ihre gute Stimmung um:

 

„Meine geliebte Corinne,

 wenn du diese Zeilen liest, bin ich bereits abgereist. Mich rufen dringende Angelegenheiten nach New York, die ich leider nicht aufschieben kann und die mich für einen längeren Zeitraum dort festhalten werden. Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich mich einfach fortgestohlen habe. Aber als du gestern so glücklich in meinen Armen lagst, war es mir unmöglich, dir davon zu erzählen.

Mein süßer Schmetterling, ich habe die Zeit mit dir wirklich sehr genossen und du musst mir glauben, dass meine Gefühle für dich stets aufrichtig waren. Noch niemals fühlte ich mich mit jemandem so tief verbunden wie mit dir, aber genau dies verwirrt mich außerordentlich. Zudem befürchte ich, dass ich deine Erwartungen nicht erfüllen kann und dich enttäuschen würde. Aufgrund dessen halte ich es für das Beste, wenn wir uns trennen.

Ich bin soviel älter als du und wahrscheinlich wärst du auf die Dauer nicht glücklich an meiner Seite. Dabei hast gerade du es verdient, glücklich zu werden, mein Engel. Doch ich bezweifle, dass ein Leben in der Dunkelheit, wie ich es zu führen gezwungen bin, dir gefällt.

Ich wünschte, die Umstände wären andere, denn ich liebe dich über alles.

Gerade darum gebe ich dich frei.

Bitte, sei nicht allzu traurig und vergiss mich. Glaub mir, Schmetterling, es ist besser so!

Werde glücklich, meine geliebte Corinne.

Lucien.“

 

Die junge Frau ließ den Brief zu Boden sinken, während sie mit ausdruckslosem Blick ins Leere starrte. Einen Moment stand sie so da, dann lehnte sie sich zitternd an die Wand und sank langsam daran herunter. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann, hemmungslos und laut zu weinen.

***

Es dauerte lange, bis Corinnes Weinkrampf vorüber und sie in der Lage war, den Grund dafür zu erklären. Daraufhin überflog Valerie nochmals den Brief Luciens und bestand dann darauf, dass ihre Tochter ein Beruhigungsmittel einnahm und sich ins Bett legte. Die Folge davon war, dass sie erst einmal zwei Stunden durchschlief. In dieser Zeit versuchte Valerie von ihrer Nichte zu erfahren, was für eine Art von Mann dieser Lucien sei – aber Nathalie tat so, als würde sie ihn kaum kennen, und sagte nur, dass er tatsächlich sehr viel älter als Corinne war.

„Seine Argumente für die Trennung klingen ganz vernünftig“, meinte Valerie daraufhin missmutig. „Aber hätte er sich das nicht vordem klar machen und die Hände von meiner Tochter lassen können?“

Als Corinne schließlich wieder erwachte, bestand ihre Mutter darauf, dass sie eine Kleinigkeit aß. Als die junge Frau dieser Forderung nachkam, wurde ihr so schlecht, dass sie sich übergab. Kurz darauf lag sie wieder im Bett und klagte über pochende Kopfschmerzen, so dass Nathalie die Rollläden vor den Fenstern herunterließ, um das Zimmer abzudunkeln.

„Leidest du in letzter Zeit öfter unter Übelkeit?“ hörte Corinne ihre Mutter fragen und erinnerte sich an die vorletzte Nacht, als sie aufgrund des Eisgenusses über dem Waschbecken gehangen hatte. Nun ja, sie hatte wahrscheinlich zu viel an diesem Abend gegessen – kein Wunder, dass ihr dann so etwas passierte.

„Nein, Mama“, erwiderte sie daher.

„Dann muss das wohl mit den jüngst zurückliegenden Ereignissen zusammenhängen“, meinte Valerie. „Wahrscheinlich sind sie dir auf den Magen geschlagen.“

„Wir sollten sie eine Weile allein lassen“, sagte Nathalie leise. Ihre Tante nickte und verließ mit ihr das Schlafzimmer.

Corinne war froh, als die beiden gegangen waren. Sie schloss erschöpft die Augen und fühlte deutlich das schmerzhafte Pochen an den Schläfen. Nathalie hatte ihr zwar eine Kopfschmerztablette angeboten, aber sie verzichtete darauf, da sie schließlich erst vor knapp zwei Stunden ein Beruhigungsmittel eingenommen hatte.

Außerdem war sie davon überzeugt, dass die Medikamente ihr nicht halfen und ihre Übelkeit nur daher rührte, dass sie Luciens Verhalten nicht fassen konnte. Noch vor zwei Tagen sprachen sie davon, zusammenzuziehen, und gestern Abend befanden sie sich bereits in einem Zimmer, das nach seinen Worten zu ihrer gemeinsamen Wohnung gehörte. Weshalb also hinterließ er ihr rote Rosen und einen Abschiedsbrief, in dem er sie einerseits seiner Liebe versicherte, sie aber andererseits dazu aufforderte, ihn zu vergessen? Es ergab einfach keinen Sinn.

Und was sollte dieser Quatsch, er wäre zu alt für sie und könne sie nicht glücklich machen?

Bereits gestern Abend wirkte er ein wenig bedrückt und hatte ähnliche Andeutungen in diese Richtung gemacht. Aber sie hatte das auf das aufreibende Erlebnis zuvor zurückgeführt und keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, sondern geglaubt, dass sie seine Überlegungen erfolgreich entkräftet hätte. Sein Abschiedsbrief belegte ihr jedoch das Gegenteil.

Warum, um alles in der Welt, hatte Lucien kein Vertrauen zu ihr gehabt, sondern war einfach abgehauen? Und das nach all dem, was sie gestern Nacht gemeinsam durchgestanden hatten.

Corinne erinnerte sich daran, wie überaus beruhigend seine Nähe auf sie gewirkt hatte, als sie in die Wohnung der Schankes hinuntergingen. Nur deshalb war sie überhaupt in der Lage gewesen, sich um die verängstigte Jenny zu kümmern, bis Nathalie eintraf und der Kleinen ein Beruhigungsmittel gab. In dieser Zeit hatte Lucien sich mit Knight unterhalten, aber so leise, dass sie nicht mitbekam, worum es ging. Es hatte sie auch nicht wirklich interessiert, da sie selbst noch unter Schock stand. Aber nun fragte sie sich plötzlich, ob das Gespräch der beiden Männer nicht der Auslöser für Luciens Verhaltensweise war. Schließlich hatte Knight die ganze Zeit über versucht, einen Keil zwischen ihn und sie zu treiben – und nun war es ihm endlich gelungen, indem er Lucien einredete, er sei zu alt für sie... denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Freund von allein auf solch einen absurden Gedanken gekommen war. Möglicherweise stammte die Idee, sie so schnell wie möglich zu verlassen, auch von Knight. Welch eine Perfidie! Dadurch war ihr jegliche Chance genommen, noch einmal mit Lucien zu sprechen.

Resigniert seufzte sie und ließ ihren Tränen erneut freien Lauf, bis sie sich müde geweint hatte und einschlief.

***

Nicholas begegnete Nathalie auf dem Parkplatz, der sich im Hinterhof ihrer gemeinsamen Dienststelle befand, und stellte erstaunt fest, wie erleichtert sie wirkte. Angesichts des Gesprächs, das sie gestern Nacht geführt hatten, konnte das nur bedeuten, dass ihre Cousine wieder einmal davongekommen war.

„Geht es Corinne gut?“ fragte er dann auch gleich und erhielt als Antwort ein bestätigendes Nicken.

Mit strahlendem Lächeln fuhr Nathalie fort: „LaCroix hat sie freigegeben!“

„Er hat WAS?!“

„Ja, dein Meister hat Corinne einen Abschiedsbrief geschrieben. Darüber ist sie zwar alles andere als glücklich, aber sie ahnt ja auch nicht, was für ein Schicksal ihr damit erspart bleibt. LaCroix hat nur ein paar Andeutungen darüber gemacht, die sie aber nicht versteht...“

„Merkwürdig...“, wunderte sich Nick und schüttelte den Kopf. „Warum hat er sie dann gestern mit sich genommen? Oder befand sie sich etwa in deiner Wohnung, als du nach Hause kamst?“

„Nein, das Gästezimmer war leer“, antwortete Nathalie. „Aber letztlich ist es doch auch egal, oder?“

„Wenn du meinst...“, Nicholas blickte seine Kollegin zweifelnd an, dann fragte er in mitfühlendem Ton: „Wie hat deine Cousine es aufgenommen?“

„Na ja, sie hat einen Weinkrampf bekommen.“

„Und in diesem Zustand lässt du sie allein?“

„Mittlerweile hat Corinne sich wieder ein wenig beruhigt. Außerdem ist ihre Mutter da und steht ihr trostreich zur Seite“, erklärte Nathalie.

„Na, wenigstens etwas“, meinte Nicholas. „Aber merkwürdig finde ich LaCroix’ Verhalten schon. Hat er denn einen Grund genannt, warum er sich von Corinne trennt?“

„Er schreibt, dass er ihr ein Leben mit sich nicht zumuten wolle, weil er zu alt für sie sei...“

„Wirklich seltsam“, Nick schüttelte wieder den Kopf. „Das passt gar nicht zu ihm.“

„Ich denke, dass uns Spekulationen über ihn nicht weiterbringen“, sagte Nathalie. „Jedenfalls bin ich sehr froh über diese Entwicklung.“

„Du glaubst doch nicht etwa, dass deine eigenwillige Cousine das auf sich beruhen lässt?! Wie ich sie einschätze, wird sie das persönliche Gespräch mit ihrem Liebhaber suchen.“

„Oh, LaCroix hat dem vorgebeugt. Er ist angeblich für längere Zeit in New York.“

„Hm, er scheint wirklich an alles gedacht zu haben...“

„Und wie es aussieht, fliegt Corinne mit ihrer Mutter doch erst Mal wieder nach Frankfurt zurück. Meine Tante wird auch Inge Riedel mitnehmen und sich ein wenig um sie kümmern. Die Kleine tut ihr nämlich überaus leid.“

„Ja, ein bedauernswertes Mädchen“, seufzte Nick. „Dabei hatte ein so hübsches Ding wie Miss Riedel es keineswegs nötig, sich mit einem Mann wie Wernher Teichert abzugeben. Sie war viel zu schade für ihn.“

Es versetzte Nathalie einen Stich ins Herz, als sie hörte, wie Nicholas von der jungen Blondine sprach.

„Du scheinst sie ins Herz geschlossen zu haben, Nick.“

„Sie erinnert mich an Fleur... meine Schwester“, sagte er wehmütig, worauf seine Kollegin schwieg. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Nicholas sich selbst mit dieser Feststellung etwas vormachte. Aber vielleicht wollte er damit die Entwicklung eines eventuell tiefergehenden Interesses für die junge Sterbliche abwehren, um sie vor sich selbst zu schützen. Schließlich war es seiner Meinung nach für eine menschliche Frau gefährlich, sich auf eine Liebesbeziehung mit einem Vampir einzulassen...

 

 

 

 

 

Gegen Abend schaute Valerie nach ihrer Tochter, wie sie es im Laufe des Tages immer wieder getan hatte. Corinne schlief die meiste Zeit tief, nur manchmal weinte sie leise. Es tat ihrer Mutter weh, aber sie ließ sie in Ruhe, da sie nicht wusste, wie sie ihre Kleine trösten sollte.

Auch jetzt schien Corinne zu schlafen, doch als Valerie gerade die Tür schließen wollte, hörte sie leise: „Mama?“

Sofort eilte sie an das Bett ihrer Tochter, setzte sich auf dessen Rand und nahm ihre Hand.

„Ja, mein Kind?“

„Würdest du jemanden verlassen, den du liebst?“

„Schwer zu sagen, Corinne. Es kommt darauf an...“

„Ich weiß genau, dass Lucien mich liebt. Wir haben uns so gut verstanden...“

„Das mag schon sein, mein Schatz, aber es klingt sehr vernünftig, was er schreibt.“

„Für mich nicht, Mama. Nachts sprach er noch davon, wie sehr er sich eine gemeinsame Zukunft mit mir wünscht – und dann dieser Brief! Mama, da stimmt doch etwas nicht!“

„Du solltest dir keine Gedanken mehr darüber machen. Corinne. So, wie es aussieht, bleibt dir kaum etwas anderes übrig, als seine Entscheidung zu akzeptieren.“

„Das will ich nicht!“ protestierte das Mädchen. „Ich liebe ihn so sehr!“

„Ja, ich weiß“, sagte Valerie. „Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, wie weh dir das tut. Aber du solltest versuchen, dich mit der Situation abzufinden. – Tut mir wirklich leid, mein Schatz.“

In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür.

Corinne warf ihrer Mutter einen hoffnungsvollen Blick zu.

„Vielleicht kommt er zurück zu mir“, murmelte sie.

„Glaubst du das wirklich?“ fragte Valerie zweifelnd, erhob sich jedoch und eilte an die Tür. Als sie sie öffnete, fand sie einen dunkelhaarigen, jungen Mann mit hochgegelten Haaren davor. Sie spürte sehr deutlich, dass eine geheimnisvolle Ausstrahlung von ihm ausging, ohne dass sie diese im Augenblick näher zu bestimmen vermochte.

„Guten Abend“, sagte der Jüngling mit freundlichem Lächeln. „Mein Name ist James Raske. Ich bin ein Freund von Corinne und würde sie gern persönlich sprechen. Ist sie da?“

„Ja, bitte kommen Sie doch herein“, erwiderte Valerie. „Besuch wird ihr sicher gut tun.“

„Wie geht es Corinne?“ fragte Jamie, während er der Aufforderung folgte. „Man hat mir zugetragen, dass der Mörder ihres Freundes endlich geschnappt worden ist.“

„Ja, das ist richtig! Einerseits ist meine Tochter darüber erleichtert, andererseits war es aber auch ein großer Schock, wie Sie sich sicher vorstellen können.“

„Natürlich kann ich das nachvollziehen, Madame“, sagte Jamie, beugte sich galant über ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Freut mich übrigens sehr, Corinnes Mutter persönlich kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits, Mr. Raske“, gab Valerie, von den Manieren des jungen Mannes überaus angetan, zurück. Dann führte sie ihn zu ihrer Tochter.

„Corinne, du hast Besuch!“ sagte sie und ließ die beiden jungen Leute dann allein.

„Jamie!“ rief das Mädchen überrascht aus.

„Guten Abend, Corinne“, grüßte der junge Vampir, nahm einen Stuhl und setzte sich damit neben sie ans Bett. Dann griff er in die Innentasche seiner Lederjacke, förderte eine CD daraus zutage und reichte sie ihr. „Hier, für dich – eine der ersten Aufnahmen unserer neuen Songs. Die meisten davon habe ich geschrieben und dir gewidmet.“

„Danke, Jamie“, hauchte sie und lächelte ein wenig. „Das ist sehr schmeichelhaft für mich.“

„Keineswegs!“ widersprach er. „Schließlich hast du mich zu all diesen Texten inspiriert. Ohne dich wären sie gar nicht entstanden. Es war wirklich ein Glück, dass wir uns begegnet sind.“

„Ja, das empfinde ich genauso“, sagte Corinne. „Wie geht es dem Rest der Band?“

„Alles bestens“, antwortete Jamie. „Ich soll dir schöne Grüße bestellen. Übrigens werden wir nächstes Jahr auf Europatournee gehen.“

„Das ist großartig!“

„Ja, das ist es – und das haben wir nur dir zu verdanken. Ohne den Auftritt bei deinem Vortrag wären wir nicht so rasch bekannt geworden.“

„Ach was, du übertreibst!“ meinte Corinne ein wenig verlegen. „Ich habe es schließlich nur euch und eurer Musik zu verdanken, dass mein Beitrag keine langweilige Vorlesung wurde.“

„Wir haben uns also wunderbar ergänzt“, stellte Jamie daraufhin fest und lächelte. Dann fragte er unvermittelt: „Gibt es etwas, das ich... das wir für dich tun können, Corinne?“

„Wie meinst du das?“

„Wir... wir haben gehört, dass... nun ja, der gestrige Abend muss schrecklich für dich gewesen sein“, erklärte er. „Wenn du also Hilfe brauchst, sind wir jederzeit für dich da.“

„Das... das ist wirklich nett...“, die junge Frau fühlte Tränen der Rührung in sich aufsteigen. Sie hatte in den Mitgliedern der Flying shadows offenbar wirkliche Freunde gefunden. „Es tut so gut, jemanden zu haben, der einem wirklich beisteht. Vor allem, wenn man kürzlich erst mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass ein Mensch, den man zu kennen glaubte, eigentlich ein Fremder und letztendlich der Feind ist...“

Jamie runzelte die Stirn.

„Von wem sprichst du, Corinne?“

„Weißt du es denn nicht?“ fragte sie verwundert. „Mein alter Studienkollege Michael, den ich früher nur als netten Burschen kannte, hat meinen Freund Thomas umgebracht.“

„Michael? Ist das etwa dieser Typ, der dich damals beleidigt hat?“

Die junge Frau nickte und schluchzte dann auf.

„Tut mir wirklich sehr leid“, sagte Jamie in entschuldigendem Ton. In seinem Inneren jedoch wurde wieder Groll gegen den Sterblichen wach – ein Groll, der sich zu Hass zu entwickeln begann. Wie hatte dieser Mistkerl es nur wagen können, einem netten Mädchen wie Corinne solchen Schmerz zuzufügen? Aber durfte man von einem solchen Dreckskerl, dem es offenbar gefiel, andere zu quälen und ihnen Leid anzutun, denn anderes erwarten? Ein Wunder eigentlich, dass LaCroix ihm noch nicht den Garaus gemacht hatte.

„Wenn ich dir nur irgendwie helfen könnte“, murmelte Jamie. „Gibt es wirklich nichts, dass ich für dich tun kann, Corinne?“

„Ich wüsste nicht...“, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme. „Oder weißt du etwa, wo Lucien ist?“

„Nein, aber er kommt sicher bald vorbei“, meinte er in zuversichtlichem Ton.

„Das wird er nicht tun“, widersprach das Mädchen. Als sie Jamies fragenden Blick sah, erklärte sie: „Er hat mir lediglich einen Brief hinterlassen, in dem er mir mitteilt, dass er für längere Zeit fort ist und wir uns nicht so bald wiedersehen...“

„Was?!“ entfuhr es dem jungen Vampir. Er traute seinen Ohren nicht. Vor genau einer Stunde erst hatte er LaCroix im Raven ins vertrauliche Gespräch mit Janette vertieft gesehen. Etwas später dann erzählte die Clubbesitzerin ihm und seiner Schwester, dass man den Mörder von Corinnes früherem Freund verhaftet hatte und wie es dazu gekommen war. Für ihn war das Grund genug, sich gleich auf den Weg zu Corinne zu machen, um ihr beizustehen. Eigentlich hatte er erwartet, Lucien hier zu treffen. Und nun diese Geschichte. Warum schrieb LaCroix solch einen Unsinn?

„Es ist unglaublich, nicht wahr?“ fragte Corinne. „Ich verstehe nicht, was los ist...“

„Wirklich seltsam“, pflichtete Jamie ihr bei. „Aber möglicherweise will Lucien dir Zeit lassen, dich ein wenig von den Schrecken, die du erlebt hast, zu erholen.“

„Aber ich brauche ihn doch – gerade jetzt“, erklärte das Mädchen. „Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“

„Nein, aber vielleicht kann Janette dir weiterhelfen“, schlug er vor. „Sie ist seit langem eng mit ihm vertraut.“

„Tatsächlich?“

Jamie nickte.

„Nun, wenn das so ist...“, Corinne erhob sich aus dem Bett. „Wärst du so freundlich, mich ins Raven zu begleiten?“

„Fühlst du dich wirklich schon kräftig genug, um dorthin zu gehen?“

„Um Lucien zu finden, würde ich sogar den Mount Everest überqueren“, erwiderte die junge Frau in resolutem Ton. „Bitte, warte draußen auf mich, Jamie, ich ziehe mich nur rasch an!“

„Meinst du, deine Mutter ist damit einverstanden?“

„Sie wird sicher nichts dagegen haben, wenn ein junger Mann wie du mich begleitet. Ich will ja nicht sehr lange bleiben, sondern nur erfahren, wo sich mein Liebster aufhält.“

*

Valerie hatte tatsächlich nichts dagegen, dass Corinne mit Jamie ausging, nachdem ihr der junge Mann glaubhaft versicherte, gut auf ihre Tochter aufzupassen. Wieder empfing sie die starke Kraft, die von ihm auszugehen schien – und Corinne machte auch einen etwas gefassteren Eindruck als noch vor wenigen Minuten.

So kam es, dass sie einige Zeit später im Raven auftauchten und sofort den Tresen ansteuerten, hinter dem Janette sich befand. Diese schien allerdings über Corinnes Erscheinen ein wenig erschrocken zu sein.

„Guten Abend, meine Liebe“, begrüßte die Clubbesitzerin sie. „Welchem Umstand habe ich Ihre Anwesenheit zu verdanken?“

„Ich suche Lucien“, antwortete Corinne direkt und sah Janette flehend an. „Er hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass er sich zur Zeit in New York aufhält. Wissen Sie zufällig die Adresse, unter der ich ihn erreichen kann?“

„Nein, tut mir leid“, erwiderte die Vampirin und warf dem Mädchen, wie diesem schien, einen bedauernden Blick zu. „Mir hat er auch nur mitgeteilt, dass er für längere Zeit fortfährt. So schnell sehen wir ihn also nicht wieder.“

„Bist du dir da auch wirklich sicher?“ mischte sich Jamie ein, dem das alles nicht geheuer vorkam.

„Ja, Lucien hat sich kurz vor seiner Abreise von mir verabschiedet“, gab Janette in kühlem Ton zurück, warf dem jungen Vampir aber einen ärgerlichen Blick zu. Dann wandte sie sich wieder an Corinne: „Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Aber vielleicht tröstet es Sie, wenn ich Ihnen versichere, dass Lucien es sehr bedauerte, Sie verlassen zu müssen.“

„Warum ist er nicht einfach bei mir geblieben?“ fragte die junge Frau. Sie sah Janette dabei so verzweifelt an, dass diese spontan eine Hand auf ihren Arm legte und murmelte: „Er liebt Sie wirklich, Corinne!“

„Wenn es sich tatsächlich so verhält, verstehe ich nicht, warum er mich verlassen hat“, meinte das Mädchen und schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter.

„Kommen Sie, meine Liebe“, sagte Janette, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich in den Raum hinter der Bar. Als Jamie ihnen folgen wollte, drehte sich die Clubbesitzerin um und raunte ihm zu, bevor sie die Tür schloss: „Frauengespräch!“

Dann wandte sich Janette wieder an das Mädchen und lud es mit einer Handgeste ein, am Tisch Platz zu nehmen.

„Hören Sie, Corinne, Lucien liebt Sie wirklich – das hat er mir selbst gesagt“, begann sie dann in ernsthaftem Ton. „Ich kenne ihn lange genug, um zu wissen, dass ihm solche Bekenntnisse schwerfallen. Glauben Sie mir, er ist kein Mann, der leichtfertig eine Entscheidung trifft; und als er beschloss, sie zu verlassen, war er sehr unglücklich! Aber er ist davon überzeugt, dass dies zu Ihrem Besten ist, Corinne. Was er getan hat, tat er, um sie zu schützen – denn er will nur eines: Sie glücklich machen!“

„Aber ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mit ihm zusammen zu sein“, sagte Corinne, während ihre Augen bereits feucht wurden. „Ich liebe ihn doch so sehr...“

„Das glaube ich Ihnen, dennoch sollten Sie ihn vergessen“, forderte Janette sie auf.

„Das kann ich nicht! Nein, das kann ich nicht!“

„Es wäre besser für Sie, Corinne!“

„Aber warum, Janette? Was habe ich Lucien denn nur getan?“

„Nichts, meine Liebe. Er ist nur fest davon überzeugt, dass er Sie auf die Dauer nicht wirklich glücklich machen kann.“

„Wie kommt er zu solch einer Annahme? Er hat es ja noch nicht einmal versucht“, sagte Corinne weinend. „Bis jetzt sind wir doch wunderbar miteinander ausgekommen.“

„Es tut mir wirklich sehr leid“, murmelte Janette und schenkte ihr einen mitleidigen Blick. Im Grunde teilte sie die Meinung der jungen Sterblichen, und wäre sie an Luciens Stelle gewesen, dann hätte sie dieses wunderbare Geschöpf niemals verlassen. Wann kam es denn schon einmal vor, dass man aufrichtig geliebt wurde? Sie konnte ihren Meister wirklich nicht verstehen.

Die junge Frau vor ihr weinte leise und Janette empfand soviel Mitleid mit ihr, dass sie sie spontan in die Arme schloss.

„Wenn es in meiner Macht stünde, würde ich Ihnen Lucien auf der Stelle zurückbringen“, murmelte sie und erhielt einen dankbaren Blick Corinnes, der sie so tief berührte, dass sie begann, sich unwohl zu fühlen. Die Arglosigkeit der Kleinen war so rührend, dass man schon sehr an sich halten musste, um sich nicht sofort in ihren Hals zu verbeißen. Allerdings hatte LaCroix ihr strengstens verboten, Corinne auch nur ein Haar zu krümmen, und Janette war nicht so dumm, den Zorn ihres Meisters herauszufordern. Dieser war kurz vor dem Erscheinen seiner Geliebten, deren Herannahen er deutlich gespürt hatte, blitzschnell verschwunden und hielt sich irgendwo in den Räumen des Raven verborgen. Doch zuvor hatte er Janette aufgetragen, der jungen Sterblichen genau das mitzuteilen, was sie ihr gesagt hatte. Deshalb bestand jetzt auch kein Grund mehr, die Kleine noch länger in dem Club zu dulden. Janette spürte, dass LaCroix das Mädchen aus seinem Umfeld haben wollte.

„Kommen Sie, Corinne, ich bringe Sie nach Hause“, forderte die Vampirin sie daher auf und reichte ihr eine Hand. „Es hat keinen Sinn, dass Sie sich die Augen aus dem Kopf weinen. Lucien wird nicht wiederkommen. Sie sollten seinen Rat befolgen und ihn vergessen!“

„Es ist... so... sinnlos...“, schluchzte das Mädchen. „Ich... ich verstehe es nicht... Warum tut er mir so weh?“

„Bitte, meine Liebe, hören Sie auf, darüber nachzugrübeln. Es hat schon seinen Sinn, dass Lucien Sie verlassen hat... und nun kommen Sie, Corinne, wir nehmen ein Taxi!“

Mit nassen Augen und hängendem Kopf erhob sich das Mädchen und ließ sich von Janette hinausbegleiten. Sie ahnte nicht, dass sich Lucien hinter einem Schrank, der im Dunkeln stand, verborgen und alles mit angehört hatte. Zwar schmerzte es ihn selbst, sie mit seinem Verhalten verletzt zu haben, aber er war immer noch davon überzeugt, dass dies zu ihrem Besten geschah. Sie war jung und würde mit der Zeit über ihren Kummer hinwegkommen und ihn endlich vergessen.

Er wartete einige Minuten, bis er sicher sein konnte, dass Corinne nicht mehr in der Nähe war. Dann ging auch er zurück in das Innere des gut besuchten Clubs.

Jamie saß am Tresen und starrte nachdenklich auf den Ausgang des Raven, in dem vor wenigen Minuten erst Corinne in Begleitung von Janette verschwunden war. Sie hatte sich kurz von ihm verabschiedet, aber ihr trauriger Zustand bereitete ihm Sorgen.

„Hallo, James“, sprach LaCroix den jungen Vampir an, der sich erschrocken umdrehte. Er war so sehr in Gedanken mit Corinne beschäftigt gewesen, dass er nicht auf seine Umgebung geachtet hatte.

„Lucien!“ entfuhr es Jamie und er runzelte verständnislos die Stirn. „Was tust du denn hier? Ich dachte, du wärst verreist?“

„Wie man sich doch irren kann“, gab LaCroix spöttisch zurück. Dann wurde seine Miene wieder ernst. „Du hast mit Corinne gesprochen, nicht wahr?“

„Ja, und es ist nicht besonders freundlich, wie du mit ihr umspringst“, warf Jamie ihm vor.

„Sie ist durcheinander und sollte sich erst einmal über ihre Gefühle klar werden“, erklärte Lucien. „Im Moment ist kaum der geeignete Zeitpunkt für sie, sich neu zu binden.“

„Hast du dich deshalb von ihr zurückgezogen?“ fragte Jamie.

„Ja, das ist der einzige Grund“, behauptete LaCroix. „Aber ich wollte mir dir über etwas anderes sprechen, das mich beschäftigt. Vielleicht hast du schon davon gehört, wer den früheren Gefährten meiner Freundin ermordet hat?“

„Allerdings! Lebt der Typ noch?“

LaCroix nickte und fuhr dann in leisem Ton fort: „Er sitzt zur Zeit im hiesigen Gefängnis und soll in den nächsten Tagen in seine Heimat überführt werden, wo er nach Nicholas’ Meinung seine gerechte Strafe erhält...“

„Du scheinst Nicholas’ Meinung nicht zu teilen.“

„Ich bitte dich, James, wir beide kennen doch die Justiz der Sterblichen und wissen, dass Fernandez bei guter Führung in einigen Jahren wieder auf freiem Fuß sein könnte...“

LaCroix hielt inne und fuhr nach einer Weile, in der er und sein Gegenüber sich erwartungsvoll angeblickt hatten, fort: „Sobald er aus der Haft heraus ist, könnte er Corinne erneut belästigen. Meinst du nicht auch, man sollte dem vorbeugen?“

„Aber natürlich...“, gab Jamie gedehnt zurück und ließ langsam ein Grinsen über sein Gesicht gleiten. „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich um ihn kümmere?“

LaCroix lehnte sich mit zufriedenem Lächeln an den Tresen zurück.

„Ich wusste, dass wir uns verstehen, James...“

***

Bereits am übernächsten Tag packte Corinne traurig ihren Koffer. Sie hatte sich entschlossen, mit ihrer Mutter nach Hause zurückzufliegen. Zum einen hatte diese sie davon überzeugt, dass sie dort eher zur Ruhe kommen könne, zum anderen hatte sie ein Telegramm von Philipp Marquardt erreicht, in dem dieser ihr mitteilte, dass er ein interessantes Kaufangebot für Thomas’ Galerie erhalten hätte.

„Du willst die Galerie verkaufen?“ entfuhr es Valerie, als sie davon erfuhr.

„Ja, Mama.“

„Aber warum, Kind? Du könntest sie selbst weiterführen.“

„Bitte, Mama, das ist doch wohl meine Sache.“

„Wie du meinst“, erwiderte Valerie etwas verstimmt und erhob sich. „Ich gehe jetzt ins Krankenhaus, um Frau Riedel mitzuteilen, dass wir sie heute Abend abholen. Vielleicht bist du ja gesprächiger, wenn ich nachher wiederkomme. Bis dann!“

Corinne seufzte. Ihre Eltern würden nie begreifen, dass es Dinge gab, die sie nichts angingen. Daher war es wohl das Beste, wenn sie sich vorübergehend ein eigenes Zimmer in Frankfurt suchte, bis sie nach Toronto zurückkehrte. Denn sie war immer noch fest entschlossen, die Stelle als Kunstlehrerin in der Privatschule anzunehmen. Sie wusste, dass Mama sie wenigstens in diesem Punkt unterstützte. Doch ansonsten war sie kaum besser als Papa und meinte, sich in alle Angelegenheiten ihrer Tochter einmischen zu dürfen. Daher war es kaum zu vermeiden, ihnen deutlich zu machen, dass es durchaus Dinge gab, die sie keineswegs etwas angingen. Damit verletzte sie ihre Eltern zwar, aber anders konnte sie ihnen nicht klarmachen, dass sie erwachsen war und eine eigene Privatsphäre besaß.

Nun ja, wenigstens bot Inge ihrer Mutter eine Gelegenheit, sich ausgiebig um jemanden zu kümmern. Bereits gestern hatte sie der Blondine allein einen Besuch im Krankenhaus abgestattet und war sehr lange geblieben. Offenbar nutzte Inge die Gelegenheit, sich mit einem anderen Menschen auszusprechen, der sich die Zeit nahm, ihr interessiert zuzuhören. Mama teilte ihr nach diesem Besuch mit, dass Inge ein „reizendes Mädchen“ sei und sie sie eingeladen habe, solange bei ihnen im Hause zu wohnen, bis sie sich ein wenig gefangen hätte.

Corinne packte wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie weder gestern noch heute dazu bereit gewesen war, ihre ehemalige Kommilitonin zu besuchen. Aber sie fühlte sich nicht in der Lage, diese zu trösten – weder über den Verlust Teicherts noch über die ungeheuerliche Tatsache, dass Michael tatsächlich Thomas Marquardt getötet hatte. Himmel, wie sollte sie längere Zeit mit Inge unter einem Dach wohnen? Bestimmt würde diese – von Mama ermutigt – eine Zeitlang immer wieder darüber sprechen, was sie belastete. Nein, sie wollte sich solch ein Zusammenleben nicht antun. Zum Glück besaß Christine im gleichen Haus eine eigene abgeschlossene Wohnung im oberen Stockwerk. Sie würde ihr sicherlich solange Unterschlupf bei sich gewähren, bis sie ein geeignetes Zimmer gefunden hatte. Bei ihrer Schwester konnte sie auch endlich einmal ihr Herz ausschütten und ihr von Lucien erzählen, ohne sich irgendwelche Bemerkungen anhören zu müssen. Christine würde sie verstehen und trösten wie ihre Eltern es nicht konnten.

Corinnes Blick fiel auf die CD, die Jamie ihr geschenkt hatte. Sie griff danach und betrachtete sie nachdenklich. Vielleicht tat es ihr gut, sich die Songs anzuhören, um sich damit ein wenig abzulenken.

Die junge Frau ging in die Küche, legte die Scheibe in den CD-Player und stellte das Gerät ein. Einen Moment später ertönten schon die ersten Klänge eines ihr unbekannten Liedes, das die grünen Augen einer schwarzgelockten Lady beschrieb. Natürlich wusste sie, dass dies ihr galt, aber sie konnte sich irgendwie nicht darüber freuen. Vermutlich hing das damit zusammen, dass Michael jahrelang heimlich in sie verliebt gewesen war, ohne dass ein Mensch je davon etwas bemerkt hätte. Musste sie sich jetzt auch noch Sorgen machen, dass ihr etwas Ähnliches mit Jamie widerfuhr?

„Ach Unsinn!“ sagte sie sich. „Schließlich weiß er genau, dass ich Lucien liebe.“

Aber – so meldete sich eine innere Stimme – Michael hatte damals auch gewusst, dass sie mit einem anderen Mann zusammenlebte und sich mit Heiratsgedanken trug. Ein Umstand, der ihren früheren Freund das Leben kostete...

Corinne spürte, wie ihr wieder Tränen aufsteigen wollten. Entschlossen biss sie sich auf die Lippen und drückte die Stopp-Taste.

„Vielleicht ist es wirklich besser, dass wir heute Abend nach Frankfurt abreisen“, dachte sie, während sie die CD in ihre Plastikhülle steckte. „Dann sehen Jamie und ich uns nicht mehr. Außerdem ist es äußerst unwahrscheinlich, dass wir uns je wieder begegnen. Schließlich hat es den Anschein, als ob den Flying shadows eine große Karriere bevorsteht. Jamie wird so vielen Mädchen begegnen, dass ich für ihn bald nur noch eine blasse Erinnerung bin.“

***

An demselben Abend saß Michael allein in einer kleinen Gefängniszelle und stierte mit leerem Blick auf den Boden. Nachdem ihm klar geworden war, dass keiner der Polizeibeamten, mit denen er Kontakt hatte, ihm glaubte, dass Toronto von Vampiren verseucht war, deren Treffpunkt das Raven bildete, gab er schließlich resigniert auf.

Natürlich entnahm er der Reaktion seiner Umwelt, dass man ihn vor allem für jemanden hielt, der simulierte, verrückt geworden zu sein. Aber das störte ihn kaum. Ihm machte vielmehr der Umstand zu schaffen, dass es ihm nicht gelungen war, Corinne vor LaCroix zu retten. Wahrscheinlich hatte der Vampir sie längst getötet.

Michael wusste, dass man ihn bald nach Deutschland überführen würde. Doch das war ihm gleichgültig. Mochte die Justiz mit ihm nur machen, was sie für richtig hielt. Sein Leben hatte ohne Corinne allen Sinn verloren. Ihn kümmerte nichts mehr. Er hob nicht einmal den Kopf, als die Tür aufgeschlossen wurde. Ein Beamter, der seine Mütze so tief in die Stirn heruntergezogen hatte, dass man sein Gesicht im schummrigen Licht, das die Zelle erfüllte, kaum erkannte, trat ein und brummte unfreundlich: „Mitkommen!“

Langsam erhob sich der Häftling und trottete hinter dem Polizisten her. Er achtete nicht darauf, wohin dieser ihn führte, wunderte sich aber, als er sich schließlich mit ihm draußen vor dem Gebäude wiederfand. Irritiert blickte Michael sich um.

„Wo ist der Wagen?“

„Welcher Wagen?“ fragte der Polizist unfreundlich, während er das Tor hinter sich abschloss.

„Fahren wir denn nicht zum Flughafen?“ wunderte sich Michael.

„Nein!“

„Aber... ich dachte, ich soll zurück nach Deutschland?“

„Frag nicht soviel!“ schnauzte ihn der Uniformierte an, packte den Nacken seines Gefangenen und schleppte ihn gewaltsam ein Stück mit sich fort, bis sie zu einer Unterführung kamen.

„Was soll das?!“ fragte Michael, dem all das nicht geheuer vorkam. „Was haben Sie vor?“

Statt einer Antwort zerrte ihn der vermeintliche Polizist in den dunklen Tunnel hinein. Zwar versuchte sein Gefangener, sich dagegen zu wehren, aber der Uniformierte verfügte über enorme Kraft.

„Hier stimmt doch etwas nicht!“ entfuhr es Michael, den eine dunkle Ahnung überkam, dass er es hier mit keinem menschlichen Wesen zu tun hatte. „Was wollen Sie von mir?!“

„Du hast jemandem sehr wehgetan, den ich gernhabe“, zischte der andere, der ihn nun gegen die Tunnelwand drückte, nah an seinem Ohr. Dann spürte der Sterbliche kalte Lippen, die seinen Hals streiften. „Ich habe dir ja versprochen, dass du dran bist, wenn du Corinne verletzt!“

„Du bist bei mir an der falschen Adresse“, sagte Michael, dessen Herz heftig bis zum Hals schlug. Seine vor wenigen Minuten noch vorhandene Apathie war verflogen. „LaCroix ist derjenige, der Corinne wehtun wird oder ihr gar schon tödliche Wunden zugefügt hat.“

„Du redest Unsinn, Mann!“ fuhr sein Gegner ihn an. „LaCroix würde ihr nie auch nur ein Haar krümmen. Corinne geht es gut. Sie fliegt in ebendiesem Augenblick mit ihrer Mutter nach Hause, um sich von all dem zu erholen, was du ihr angetan hast.“

„Sie lebt?“ fragte Michael erstaunt. Normalerweise hätte er sich über diese Nachricht gefreut, aber im Moment überkam ihn allmählich Panik angesichts seiner bedrängten Lage. Erneut versuchte er, sich dem Griff seines Gegners zu entwinden, erreichte aber nur das Gegenteil. Er wurde noch stärker an die Wand gepresst, während sich die kühle Hand, die zuvor seinen Nacken umklammert hielt, nun vorne um seine Kehle legte und ihm die Luft abzuschnüren schien.

„Ja, sie lebt“, flüsterte der andere. „Und sie soll leben... sie soll ein glückliches Leben führen. Der Einzige, der dem entgegenstehen könnte, bist du...“

„Aber ich wünsche ihr auch ein glückliches Leben“, ächzte Michael, dem das Sprechen angesichts des Drucks auf seiner Kehle schwerfiel. „Ich... ich liebe... Corinne...“

Der andere lachte laut und höhnisch auf, bevor er fortfuhr: „Nein, das tust du nicht. Sonst hättest du ihr nicht den Mann genommen, den sie liebte.“

„Er... verdiente... sie nicht...“

„So, so? Und weshalb kommst du auf den Gedanken, dass ausgerechnet du sie verdienst?! Du, der sie gekränkt und verletzt hast?“

„Ich... liebe... sie!“

„Schluss jetzt mit diesem Unsinn!“ fuhr sein Gegner ihn an. In diesem Augenblick sah Michael zwei rötliche Lichter aufblitzen.

„Wer bist du?!“ schrie der Sterbliche auf. „Was willst du von mir?“

„Wer ich bin?!“ fragte der andere. „Kannst du dir das wirklich nicht denken?“

„Nein... nein...“

„Mein Beruf ist Sänger...“

„Du bist es also!“ entfuhr es Michael gleich darauf. Sein Ton klang ängstlich, als er weiter fragte: „Du bist doch ein Vampir, nicht wahr?“

„Ganz recht“, flüsterte Jamie. Wieder blitzten seine Pupillen rötlich auf.

„Und... und LaCroix? Ist LaCroix auch ein Vampir?“

„Ich bewundere deinen Scharfsinn“, spottete Jamie leise. „Und da du so ein kluges Kerlchen bist, brauche ich dir wohl nicht zu erklären, was ich von dir will.“

Michael spürte gleich darauf, wie der kalte Atem des Vampirs über die Stelle strömte, an der sich seine Halsschlagader befand. Die kühlen Lippen Jamies legten sich behutsam darauf.

„Nein...“, wimmerte Michael leise. „Bitte, hab Mitleid!“

Der Sänger hielt inne und wandte sich in frostigem Ton an sein Opfer: „Hattest du etwa Mitleid mit Corinne, deren Leben du fast zerstört hast, oder gar mit dem kleinen Mädchen, das du beinah umgebracht hättest? Meinst du vielleicht, ich wüsste nicht, dass du es warst, der seinem ehemaligen Professor einen Mord in die Schuhe schieben wollte, den er nicht beging? Hattest du da auch nur einen Funken Mitleid mit der Familie dieses Mannes?“

„Das war etwas völlig anderes!“ verteidigte sich der junge Mann. „Ich habe es nur für Corinne getan, um sie zu schützen...“

„Dummes Zeug!“ knurrte Jamie ärgerlich. „Alles, was du tatest, entsprang lediglich deinem egoistischen Wunsch, Corinne zu besitzen. Was sie wollte, interessierte dich dabei überhaupt nicht. Sogar ein kleines Kind hast du benutzt, um sie zu erpressen! Du bist Abschaum! Der letzte Dreck! Weshalb also sollte ich Mitleid mit dir haben? Du widerst mich an!“

„Wenn du mich so eklig findest, dann lass mich doch einfach laufen“, schlug Michael in der vagen Hoffnung vor, der Vampir würde sich darauf einlassen.

„Ich finde dich zwar widerlich, aber gegen dein Blut habe ich nichts“, erklärte Jamie. „Es wird mir neue Kraft verleihen. Damit erfüllt wenigstens ein Teil von dir einen sinnvollen Zweck.“

Nach diesen Worten legte Jamie wieder seine Lippen auf Michaels Hals und saugte leicht daran. Der Sterbliche begann erneut, sich zu winden, aber gegen die starken Arme des jungen Vampirs hatte er keine Chance. Mit unbarmherziger Langsamkeit bohrte Jamie seine Fangzähne in den Hals seines Gefangenen...

 

 

 

Nicholas war überaus erleichtert, als Nathalie ihm erzählte, dass ihre Tante so schnell wie möglich mit ihrer Tochter und Inge Riedel nach Frankfurt zurückkehren wollte. Daher erbot er sich sofort, sie alle zum Flughafen zu fahren; und obwohl Valerie auch in seiner Gegenwart eine merkwürdige Ausstrahlung spürte, die der Jamies glich, war sie damit einverstanden.

So war Nick schließlich gegen 21.30 Uhr mit Nathalie, Valerie und Inge im Wagen auf dem Weg zum Flughafen, während Corinne lieber das Angebot von Myra und Don annahm, sie persönlich dorthin zu bringen. Als sie ein wenig später am Airport eintrafen, wartete Valerie bereits voller Ungeduld auf sie.

„Himmel, Kind, wo wart ihr nur solange?“ fragte sie vorwurfsvoll. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“

„Aber, Mama, wir haben noch gut zwanzig Minuten Zeit“, meinte Corinne in ruhigem Ton. Dann wandte sie sich an die Familie Schanke, umarmte erst Jenny, die sie fest an sich drückte, dann Myra und Don.

„Pass gut auf dich auf!“ mahnte Myra und strich dem Mädchen sanft über die Wange.

„Ich wünsche dir alles Gute“, sagte Don. „Außerdem bist du uns jederzeit Willkommen!“

„Danke!“ erwiderte Corinne. „Das Angebot werde ich sicher in Anspruch nehmen.“

„Meine Tochter wird so schnell nicht wieder nach Toronto kommen“, mischte sich nun Valerie in freundlich-kühlem Ton ein. „Trotzdem danke ich Ihnen für Ihr freundliches Angebot.“

„Das ist doch selbstverständlich, Madam“, antwortete Myra lächelnd. „Eine gute Reise Ihnen allen!“

Valerie bedankte sich und wandte sich dann an ihre Nichte: „Nathalie, es bleibt dabei, dass wir uns im Frühjahr sehen? Meinst du, du kannst deine Eltern dazu überreden, uns zu besuchen?“

„Bestimmt. Ich hoffe wirklich, dass dieses Missverhältnis zwischen Vater und Onkel Bertrand ein Ende findet“, erwiderte die Pathologin.

„Das schaffen wir schon“, meinte Valerie zuversichtlich.

~

Währenddessen ruhte Corinnes Aufmerksamkeit auf Knight, der ins Gespräch mit Inge vertieft war, die hin und wieder zu dem nickte, was er sagte. Schließlich reichte er ihr seine Visitenkarte, worauf sich ein dankbares Lächeln auf Inges Gesicht stahl. Corinne entging auch nicht, dass ihre Cousine rasch einen Blick auf die beiden warf und sich dann traurig wieder zu ihrer Mutter umwandte. Arme Nathalie! Sie war unverkennbar verliebt in ihren Kollegen, der dies jedoch nicht zu registrieren schien oder es nicht bemerken wollte. Offensichtlich fühlte er sich zu Inge hingezogen, die in ihrem jetzigen Zustand dankbar für jede Art menschlicher Zuwendung war.

„Entschuldigt mich bitte“, sagte Corinne zu Don und Myra und ging dann schnurstracks auf Nicholas zu.

„Mr. Knight, auf ein Wort?!“ wandte sie sich dann direkt an den Polizisten. Dieser nickte, reichte Inge die Hand und sagte: „Alles Gute für Sie, Miss Riedel.“

„Vielen Dank“, erwiderte die Blondine und ließ ihn dann mit Corinne allein.

„Finden Sie es richtig, einer labilen Frau wie Inge den Kopf zu verdrehen?“ fragte das Mädchen ihn dann in gedämpftem Ton.

„Aber, Miss Lambert, was unterstellen Sie mir?“ wehrte Nicholas diesen Vorwurf heftig ab. „Ich habe sie lediglich aufzumuntern versucht und sie meiner Hilfe versichert.“

„Sie müssen sich wohl überall einmischen, was?“

„Wie meinen Sie das, Miss Lambert?“

„Jetzt tun Sie nur nicht so unschuldig! Sie haben Lucien doch eingeredet, er sei zu alt für mich!“

„Ich habe nichts dergleichen getan!“ verteidigte sich Nicholas.

„Ach, kommen Sie! Ich habe gesehen, dass Sie mit Lucien gesprochen haben, nachdem man Michael verhaftet und abgeführt hatte.“

„Das ist richtig! Aber es ging nicht um die Beziehung zwischen Ihnen beiden!“ klärte Nicholas sie auf.

„Sie erwarten wirklich, dass ich Ihnen das glaube?“ fragte Corinne ärgerlich. „Schließlich haben Sie die ganze Zeit versucht, uns auseinanderzubringen.“

„Ja, das gebe ich zu. Denn ich war anfangs davon überzeugt, dass LaCroix mit Ihren Gefühlen spielt.“

„Und jetzt nicht mehr?!“

„Nein, Miss Lambert. Nachdem ich auf dem Hochhausdach Zeuge wurde, wie er mit Ihnen umging, muss ich eingestehen, dass ich mich mit meinen Unterstellungen gegenüber LaCroix wohl geirrt habe.“

„Ach, tatsächlich?“ Corinne wirkte überrascht. „Was für einen Eindruck gewannen Sie von ihm?“

„Sie scheinen ihm viel zu bedeuten... sehr viel sogar“, antwortete Nicholas widerwillig.

„Und wie erklären Sie es sich dann, dass er mich verlassen hat?“

„Ich verstehe es auch nicht“, räumte der Polizist ein. „Es tut mir wirklich leid, dass Sie durch sein Verhalten verletzt wurden.“

~

Der Lautsprecher forderte nun die Passagiere, die nach Frankfurt am Main wollten, zum Einchecken auf.

„Alles Gute, Miss Lambert“, sagte Nicholas freundlich.

„Danke“, erwiderte Corinne, die immer noch einen leicht irritierten Eindruck machte. Dann wandte sie sich um, eilte zu ihrer Cousine, umarmte diese fest, und ging dann mit ihrer Mutter und Inge Richtung Abfertigung.

Während Nathalie ihnen mit den Augen folgte, traten Nick, Don und Myra zu ihr und sahen den drei Frauen ebenfalls nach.

„Da geht sie hin“, seufzte Don mit leisem Bedauern. „Schade eigentlich, dass sie nur so kurz hier war.“

„Du wirst es überleben“, erwiderte Nicholas. „Es ist für Miss Lambert und ihre Bekannte sicher besser, nach Hause zu fliegen. Der Aufenthalt hier war für beide doch recht schmerzhaft.“

„Das kann man wohl sagen“, meinte Nathalie. „Trotzdem wird mir meine Wohnung wohl noch einige Tage lang ein wenig verwaist vorkommen.“

„Dafür bist du endlich die Verantwortung für die eigenwillige junge Dame los“, sagte Nick. „Corinne war doch bestimmt nervenaufreibend, nicht wahr?“

„Ach, das kann man so pauschal nicht sagen“, widersprach Nathalie. „Sie ist regelmäßig einkaufen gegangen und hat oft das Frühstück für uns gemacht. Es war schon recht angenehm, von der Nachtschicht mit frisch gekochtem Kaffee empfangen zu werden.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass Corinne solche hausfraulichen Qualitäten hat“, gab Nick zu und grinste.

„Sie sollten eben nicht vorschnell über andere urteilen“, mischte sich nun Myra in strengem Ton ein. „Jedenfalls freue ich mich schon darauf, wenn Corinne im März wiederkommt.“

„Sie kommt wieder?“ Nicholas glaubte, sich verhört zu haben.

„Aber ja!“ antwortete Myra. „Sie wird als Kunstlehrerin hier arbeiten.“

„Hast du davon gewusst, Nat?“ fragte Nick seine Kollegin. Diese nickte und schwieg.

Sie schaute immer noch nach draußen. Mittlerweile waren alle Passagiere am Flugzeug angelangt und stiegen ein. Kaum war die Luke geschlossen, startete die Maschine und befand sich wenige Minuten später schon in der Luft. Nathalie und die Schankes sahen ihr nach, während Nick sich abwandte. Er fühlte sich unendlich erleichtert, die eigenwillige Corinne fürs Erste loszusein.

Voller Ungeduld ließ er seinen Blick Richtung Ausgang gleiten... und erstarrte augenblicklich. Aus einer dunklen Ecke trat nun langsam LaCroix hervor und schaute ebenfalls wehmütig den Lichtern des Flugzeugs hinterher.

Ohne sich um Nathalie oder die Familie Schanke zu kümmern, ging Nick rasch zu seinem Meister und raunte: „Du hier?“

LaCroix starrte weiterhin schweigend in den dunklen Nachthimmel hinauf, ohne den jüngeren Vampir zu beachten.

„Konntest du dich denn nicht wenigstens anständig von dem Mädchen verabschieden?“

Wieder erhielt Nick keine Antwort, was ihn wütend machte.

„Musstest du die Kleine unbedingt derart verletzen?!“ knurrte er seinen Meister an.

Jetzt erst schenkte LaCroix ihm einen kalten Blick.

„Ich weiß gar nicht, was du willst, Nicholas“, gab er in sachlichem Ton zurück. „Corinne geht es gut und sie kehrt wohlbehalten zu ihrer Familie zurück – so, wie du und Dr. Lambert es sich gewünscht haben!“

„Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dir deine plötzliche Menschenfreundlichkeit abnehme?!“

„Das ist mir völlig egal, Nicholas!“

Mit gleichgültigem Gesicht wandte sich der alte Vampir von ihm ab, um zu gehen.

„LaCrox! Was ist nur los mit dir?!“ fragte der Polizist erstaunt. „Erst bist du ganz versessen auf die kleine Lambert und dann lässt du sie ziehen. Welchen Zweck verfolgst du damit?“

„Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig, Nicholas!“ knurrte der alte Vampir und ging einige Schritte. Nick folgte ihm und hielt ihn schließlich am Arm fest.

„Warte, LaCroix, da gibt es noch etwas, das ich nicht verstehe!“

„Die Beziehung zwischen mir und Corinne geht dich nichts an, Nicholas!“

„Lassen wir diesen Punkt mal außer Acht“, sagte Nick, worauf sein Meister endlich stehen blieb und ihn neugierig musterte. „Ich weiß genau, dass McDonavan und du Teichert auf dem Gewissen habt. Leider ist es mir unmöglich, euch dafür zur Rechenschaft zu ziehen; mich würde aber schon sehr interessieren, warum ihr den Professor als Wasserleiche auftauchen ließet.“

Ein spöttisches Lächeln glitt über das Antlitz von LaCroix.

„Nach meinen Informationen hat eure Pathologie eindeutig festgestellt, dass Teichert ertrunken ist, Nicholas!“

„Man hätte seinen Leichnam auch einfach verschwinden lassen können...“

„Es war doch viel besser, dass er gefunden wurde. Damit weiß zumindest seine Witwe, dass sie nun eine freie Frau ist“, ließ der alte Vampir sich zu einer Erklärung herab. „Und Corinne muss sich auch nicht mehr bedroht fühlen...“

„Aha! Daher weht also der Wind“, höhnte Nicholas. „Du hast es für deine Corinne getan!“

„Teichert ist ertrunken!“ erinnerte ihn LaCroix in hämischem Ton. Dann fuhr er mit süffisantem Lächeln fort: „Es hat natürlich auch den Vorteil, dass die blonde Unschuld, zu der du dich neuerdings hingezogen fühlst, von ihrem impertinenten Liebhaber befreit wurde. Es wäre eine gute Gelegenheit für dich gewesen, sie über den Verlust hinwegzutrösten, Nicholas. Warum nur hast du die Kleine abreisen lassen?“

„Ich will nichts von Miss Riedel!“ verteidigte sich Nick. „Sie hat mir lediglich leid getan!“

„Natürlich...“, gab sein Meister in gedehntem Ton zurück. Dann lachte er laut auf, drehte sich um und ließ ihn stehen...

***

Nicholas, Schanke und Nathalie fuhren in Nicks Wagen zum Revier zurück. Kaum hatten sie das Gebäude betreten, erfuhren sie, dass Michael Fernandez seit etwa einer halben Stunde vermisst wurde. Man hatte den diensthabenden Vollzugsbeamten, unter dessen Aufsicht er zu dieser Zeit stand, schlafend in einer abgeschlossenen Zelle gefunden. Als man ihn weckte, fehlte ihm jegliche Erinnerung daran, wie er dort hingekommen war. Er wusste lediglich noch, dass bei seinem letzten Rundgang alles in Ordnung und Fernandez in seiner Zelle gewesen war.

„Die Fahndung nach Fernandez läuft auf Hochtouren“, informierte Captain Cohen ihre Mitarbeiter und wandte sich dann an Schanke. „Rufen Sie besser sofort Ihre Frau an und schärfen Sie ihr ein, auf keinen Fall die Tür zu öffnen. Wir wissen nicht, was im Kopf des jungen Mannes vorgeht. Möglicherweise hat er tatsächlich den Verstand verloren.“

Don folgte dem Rat seiner Chefin, während diese nun Nathalie fragte: „Ist Ihre Cousine abgereist, Dr. Lambert?“

„Ja, Captain. Aber könnte es nicht sein, dass Fernandez unterwegs zum Flughafen ist und versucht, sich als blinder Passagier in eine der Maschinen zu schmuggeln?“

„Unwahrscheinlich! Schließlich wusste er nicht, dass Ihre Cousine nach Hause fliegt. Viel eher vermute ich ihn in Ihrer Wohngegend, Dr. Lambert, weshalb ich einige Leute dort nach ihm suchen lasse. Außerdem hat sich in Fernandez die fixe Idee festgesetzt, dass der Nachtclub Raven Vampiren als Treffpunkt dient. Jedenfalls sprach er dauernd davon, wie mir die Vollzugsbeamten berichteten. Daher lasse ich in dieser Gegend verstärkt Patrouille fahren.“

„Ich kenne die Clubbesitzerin persönlich“, sagte Nicholas. „Vielleicht könnte ich mich im Raven mal umsehen und umhören.“

Amanda Cohen nickte und zog sich dann in ihr Büro zurück.

„Meinst du wirklich, dass Michael sich ausgerechnet dort herumtreibt?“ fragte Nathalie zweifelnd. „Schließlich liegt er mit seiner Vermutung über das Raven richtig und ich kann mir nicht vorstellen, dass er so lebensmüde ist, sich mit Vampiren anzulegen. Nicht nach dem Fiasko mit dem Kreuz...“

„Der Typ hat ein Rad ab“, antwortete Nick. „Und wenn ich’s mir recht überlege, hätte er einen guten Grund, dorthin zu gehen. Wahrscheinlich vermutet er im Raven LaCroix und Corinne. Vergiss nicht, dass Fernandez keine Ahnung hat, dass dein Cousinchen Toronto heute verlassen hat.“

„Du hältst es also tatsächlich für möglich, dass Michael sich erneut mit LaCroix anlegen will?“

„Warum denn nicht? Dieser Fernandez ist völlig übergeschnappt!“

„Ich könnte dich begleiten“, schlug Nathalie vor. „Vielleicht hört er ja auf mich?“

„Nein, das ist viel zu gefährlich!“ erwiderte Nick. „Ich gehe allein! Falls Fernandez sich wirklich dort aufhält, bin ich möglicherweise gezwungen, blitzschnell zu handeln, um ihn lebendig aus dem Club herauszuholen und hätte keine Zeit, dich zu schützen.“

Die Pathologin nickte. Mit besorgter Miene schaute sie ihrem davoneilenden Kollegen hinterher...

***

Als Nicholas sich dem Eingang des Raven näherte, stellten sich ihm die zwei Türwächter in den Weg.

„Was soll das?“ fragte der Polizist verwundert.

„Wir haben Anweisung, dich nicht mehr in den Club zu lassen“, teilte ihm einer der beiden finsteren Gestalten mit.

„Ach, und warum?“

„Die Chefin hat es angeordnet!“

Nicholas schüttelte verständnislos den Kopf, bis ihm endlich wieder einfiel, dass Janette ihm Hausverbot erteilt hatte.

„Kann ich eure Chefin persönlich sprechen?“ wandte er sich dann wieder an die Türsteher.

Einer der beiden runzelte verärgert die Stirn.

„Warum?“ wollte er dann wissen. „Sie hat angeordnet, dich nicht einzulassen, und wird dafür schon ihre Gründe haben.“

„Das habe ich verstanden“, knurrte Nick. „Dennoch muss ich mit Janette sprechen. Es geht um polizeiliche Ermittlungen.“

„Also schön!“ zischte sein Gesprächspartner und nickte seinem Kollegen zu. „Sag der Chefin Bescheid!“

Der andere Vampir verschwand ins Innere des Clubs und kehrte einige Minuten später in Begleitung Janettes zurück. Diese musterte ihren ehemaligen Gefährten mit bösen Blicken und fragte schließlich: „Also, Nicholas, was gibt es denn so Dringendes?“

„Michael Fernandez ist verschwunden!“ erklärte der Polizist.

„Aha! Und wer ist das?“ fragte die Vampirin gleichgültig.

„Der junge Mann, der Corinne Lambert verfolgt hat. Vielleicht erinnerst du dich?“

„Vage... eine sterbliche Randerscheinung, die mich nicht weiter interessierte“, erklärte Janette gelangweilt. „Was habe ich mit ihm zu schaffen?“

„Eigentlich nichts, außer dem Umstand, dass du Besitzerin des Raven bist“, antworte Nick. „Wir glauben, er könnte den Club aufsuchen...“

„Was für ein Unsinn! Warum sollte er das tun?“

„Er sucht Miss Lambert...“

„Die junge Dame ist abgereist!“

„...und LaCroix!“

„LaCroix?!“ Janette hob erstaunt ihre Augenbrauen.

„Ja, denn er will ihn vernichten“, erklärte Nick.

„Einfach lächerlich!“ entfuhr es Janette und sie lachte trocken auf. „Hat ihm die gestrige Begegnung mit Lucien nicht gereicht?“

„Anscheinend nicht!“

„Tja, wenn er so dumm ist, kann ihm niemand mehr helfen“, meinte die Vampirin in sachlichem Ton. „Falls dieser Mensch hier auftauchen sollte, schicke ich ihn dir postwendend zurück... Aber ich übernehme keine Garantie, dass er lebend in eurem Revier ankommt.“

Nicholas verzog seinen linken Mundwinkel leicht nach oben, während die drei Vampire ein hämisches Lachen anstimmten.

„Freut mich, dass ihr euch so amüsiert“, meinte der Polizist dann. „Ist LaCroix zu sprechen?“

„Er ist nicht hier“, teilte Janette ihm mit.

„Was? Und wo kann ich ihn finden?“

„Keine Ahnung, Nicholas. Lucien hat sich zurückgezogen und wird so bald nicht wieder auftauchen.“

„Nun gut, mir bleibt kaum etwas anderes übrig, als das zu akzeptieren“, brummte Nick. „Der Abschied von der kleinen Lambert macht ihm wohl sehr zu schaffen, hm?“

Janette blitzte ihn plötzlich wütend mit den Augen an, gab aber keine Antwort.

„Bestell ihm, dass die Nervensäge schon im Frühjahr wieder hier sein wird. Vielleicht tröstet das den Alten ein wenig...?“

„Ich glaube kaum, dass Corinne jemals nach Toronto zurückkehrt“, erwiderte Janette kühl. „Und jetzt verzieh dich, Nicholas! Du hast mir schon genug meiner Zeit gestohlen!“

Nach diesen Worten verschwand die Vampirin im Raven, während die beiden Türsteher sich wieder mit finsterer Miene vor dem Eingang postierten.

„Weiber!“ zischte Nick leise und wandte sich um, wobei er beinah mit Jamie zusammenstieß, der gedankenverloren auf den Boden starrte, während er auf dem Weg in den Club war.

„Können Sie nicht aufpassen!“ fuhr der Sänger ihn an und hob seinen Blick. Als er erkannte, wen er vor sich hatte, fragte er erstaunt: „Knight? Was tun Sie denn hier? Ich dachte, Janette hätte Ihnen Hausverbot erteilt?“

„Das ist auch so“, gab Nicholas zurück. „Ich musste mich mit Madame du Charme hier draußen unterhalten. Einfach albern!“

Jamie grinste und meinte: „Selbst schuld, Knight. Warum bedrohen Sie auch Ihre eigenen Artgenossen?“

„Das war doch niemals ernst gemeint!“

„Mag sein, aber Sie als ihr ehemaliger Gefährte hätten eigentlich wissen müssen, wie empfindlich Janette in dieser Hinsicht ist.“

„Lassen wir mal die Frauen und ihre Launen“, sagte Nick, den es immer unangenehm berührte, wenn ihn jemand daran erinnerte, wie eng die Beziehung zwischen ihm und Janette einst gewesen war. „Ich bin dienstlich hier. Fernandez ist ausgebrochen.“

„Tatsächlich?“ Jamie tat erstaunt. „Wie ist das möglich? Ich dachte, die Gefängnisse in Toronto sind sicher.“

„Es ist wirklich unerklärlich“, gab der Polizist zu. Dann runzelte er plötzlich die Stirn. Erst jetzt fiel ihm auf, wie seltsam es doch war, dass man den zuständigen Vollzugsbeamten schlafend in einer anderen Zelle gefunden hatte und dass dieser sich auf Befragen an kein Detail seines letzten Rundganges erinnern konnte... so, als wäre es ausgelöscht. Könnte es sich hierbei nicht auch um Hypnose handeln? Eine Fähigkeit, über die viele Vampire verfügten. Wäre es wirklich so abwegig, wenn...?

„Ich halte die Augen nach Fernandez offen“, unterbrach Jamie seinen Gedankengang und lächelte. „Aber die Justizbehörde sollte zusehen, dass die Gefängnisse sicherer werden.“

„Wann haben Sie LaCroix das letzte Mal gesehen?“ fragte Nick, ohne darauf einzugehen.

„Gestern Abend“, antwortete der Sänger. „Sie glauben doch nicht etwa, dass Lucien hinter dem Verschwinden Ihres Häftlings steckt?“

„Er hätte allerdings ein gutes Motiv...“, murmelte Nick, führte diesen Satz dann jedoch nicht weiter, da ihm einfiel, dass sein Meister zu dem Zeitpunkt, da Fernandez geflüchtet sein musste, am Flughafen war, traurig einer Maschine nachgestarrt und dann mit ihm gesprochen hatte. „Nein, LaCroix kann es nicht gewesen sein... diesmal nicht!“

„Wahrscheinlich ist es Fernandez gelungen, seinen Wächter zu überwältigen. Dann ist er einfach abgehauen... er wird nicht weit kommen, dazu hat er sich zu viele Feinde gemacht“, sagte Jamie, holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche seiner schwarzen Lederjacke und hielt sie Nick hin.

„Nein, danke, ich rauche nicht!“ lehnte der Polizist ab.

Der Sänger zuckte mit den Schultern, zündete sich eine Zigarette an und steckte das Päckchen in die Jackentasche zurück.

„Sie sollten aufs Revier zurückkehren, Knight“, schlug er dann vor. „Vielleicht hat man inzwischen eine Spur von dem Flüchtigen aufgenommen.“

„Was meinen Sie damit, er hat sich zu viele Feinde gemacht?“ fragte Nick verständnislos.

Jamie grinste, nahm einen tiefen Zug und blies eine Rauchwolke in die Luft, bevor er antwortete: „Außer LaCroix und Corinne, die beide nichts mit seinem Verschwinden zu tun haben, gibt es noch jede Menge Leute, die ihn nicht leiden können. Allein durch den Umstand, dass er lauthals herumschrie, im Raven träfen sich Vampire, hat er sich alle Untoten dieser Stadt zum Feind gemacht. Glauben Sie wirklich, dass Fernandez hier nachts überleben kann, Knight?“

Nicholas schwieg und starrte sein Gegenüber fassungslos an. Dann lief er zu seinem Wagen, stieg ein und raste ins Revier zurück. Als er sein Büro betrat, schien ihn Schanke schon mit Anspannung zu erwarten.

„Gut, dass du da bist“, begrüßte Don ihn. „Vor etwa zwanzig Minuten erhielten wir einen anonymen, telefonischen Hinweis über den Aufenthalt von Fernandez. Natürlich sind sofort einige unserer Leute dorthin gefahren. Nathalie und eine ihrer Kolleginnen waren auch dabei. Sie konnten nur noch den Tod des jungen Mannes feststellen.“

„Woran ist er gestorben?“ fragte Nicholas alarmiert.

„Bei seinem Versuch, über die Gefängnismauer zu flüchten, die von außen mit Stacheldraht versehen ist, muss er mit seiner Kleidung dort hängen geblieben sein und sich verletzt haben. Jedenfalls befand sich kaum mehr ein Tropfen Blut in seinem Körper“, erzählte Schanke.

„Und?“ fragte Nicholas gespannt.

„Nichts. Das war alles“, antwortete Don. „Sobald Nathalie wieder da ist, werden wir uns an den Abschlussbericht machen müssen. Captain Cohen will den Fall so schnell wie möglich vom Tisch haben – ich übrigens auch.“

„Natürlich“, seufzte der Vampir und setzte sich Schanke gegenüber. Sie warteten beide angespannt auf Nathalie. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie und die anderen Kollegen ins Revier zurückkehrten. Kaum wurde Nick ihrer ansichtig, sprang er von seinem Stuhl auf und eilte auf die Pathologin zu. Diese winkte ihm, mit ihr zu kommen. Er folgte ihr in ihr Büro, wo sie sofort hinter ihm die Tür schloss und ängstlich hauchte: „Michael ist das Opfer eines Vampirs geworden...“

„Und was jetzt, Nat? Bedeutet das, dass Janette und die anderen in Gefahr sind?“

„Nein, natürlich nicht! Ich bin die Einzige, die die wirkliche Todesursache ahnt. Meine Kollegin und die anderen Beamten gehen von der Theorie aus, dass Michael ausgeblutet ist. Dieser Meinung schloss ich mich an.“

„Was? Und wie erklärt ihr euch den Umstand, dass kein Blut am Tatort zu finden war?“

Nathalie warf Nicholas einen erstaunten Blick zu, dann erwiderte sie: „Hat Schanke dir denn nicht erzählt, dass man Michael an der Stelle der Mauer hängend fand, an der gerade Ausbesserungsarbeiten stattfinden?“

„Nein, aber was hat das damit zu tun?“

„Oh, Nick, der Asphalt wurde aufgerissen, weil man unter anderem neue Leitungen verlegen will, und der darunterliegende Boden besteht aus weicher Erde. Deshalb glaubt man, Michaels Blut wäre dort versickert, vor allem, da die Stelle unter ihm noch ein wenig feucht war. Vermutlich hat, wer immer den Jungen aussaugte, genügend Flüssigkeit darüber geschüttet. Man wollte, dass sein Tod wie ein Unfall aussieht – genau wie bei Professor Teichert. Himmel, Nick, warum tun deine Artgenossen so etwas?! Warum haben sie weder Michael noch Teichert verschwinden lassen?“

„Wie du weißt, hat Fernandez laut genug getönt, dass er das Raven für einen geheimen Treffpunkt von Vampiren hält. Janette und die anderen wollten vermutlich verhindern, dass Polizisten sich im Club und in dessen Umgebung genauer umsehen. Also sorgen sie mit diesem spektakulären Unfall dafür, dass man sie auch weiterhin in Ruhe lässt“, erklärte Nicholas. „Somit kann dieser Fall zu den Akten gelegt werden.“

Nathalie ließ sich auf ihren Bürostuhl niedersinken, stützte ihre Arme mit den Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab, vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte leise...

***

Corinne saß mit ihrer Schwester Christine, einem rotblonden, hochgewachsenen, schlanken Mädchen, in deren Wohnung beim Abendessen am Küchentisch. Dabei überflog sie den Zeitungsausschnitt, den sie heute von Nathalie per Post erhalten hatte, zum wiederholten Male und murmelte: „Merkwürdig... wirklich merkwürdig...“

„Was ist merkwürdig?“ fragte Christine.

„Der Artikel berichtet von dem tödlichen Unfall, den Michael Fernandez bei seinem Fluchtversucht aus dem Gefängnis von Toronto erlitten hat“, erklärte ihre Schwester und schüttelte den Kopf. „Es kommt mir so seltsam vor, weil... weil... ach, es ist eigentlich verrückt, aber es scheint mir wirklich, als wäre er für all seine Untaten bestraft worden.“

„Vielleicht verhält es sich tatsächlich so“, meinte Christine und zuckte die Schultern. „Der Mörder von Thomas ist jetzt jedenfalls auch tot und du solltest dir über ihn keine Gedanken mehr machen. Schließlich wartet eine neue Herausforderung auf dich.“

„Das ist auch eine sehr seltsame Sache“, murmelte Corinne. „Warum macht der Interessent zur Kaufbedingung, dass ich die neue Geschäftsführerin der Galerie sein soll?“

„Na ja, dein Auftritt in der Convocation Hall muss sehr beeindruckend gewesen sein. Schließlich hat dir die Direktorin der Privatschule ebenfalls einen Job angeboten.“

„Ja, und ich will diese Stelle haben, Chrissi! Kunst unterrichten kann ich, aber wie man eine Galerie führt, weiß ich kaum. Genau das soll Philipp gleich Morgen dem Anwalt unseres Kaufinteressenten mitteilen.“

„Und wenn er daraufhin sein Angebot zurückzieht, Corinne?“

„Dann soll er es tun. Es ist mir gleich.“

„Es wäre sehr schade um die Galerie. Du könntest dem Interessenten ja sagen, dass du ab März bereits eine andere Stelle angenommen hast, ihm aber anbieten, die Geschäfte von November bis Februar zu führen“, schlug Christine vor. „Vielleicht lässt er sich darauf ein. Dir täte es auch gut, dich ein wenig von deinem Liebeskummer abzulenken.“

„Vermutlich hast du recht“, gab Corinne zu und legte endlich den Zeitungsausschnitt aus der Hand. Sie sah auf den Tisch, den ihre Schwester reichlich mit Wurst, Käse, Tomaten, Gurken und Paprika gedeckt hatte.

„Ich glaube, ich bekomme keinen Bissen herunter, Chrissi.“

„Deine Appetitlosigkeit in letzter Zeit gibt mir auch zu denken, Schwesterchen. Das ist nicht normal. Du solltest wirklich den Arzt aufsuchen.“

„Ach was, das wird schon wieder“, wehrte Corinne ab. „Ich brauche lediglich etwas Zeit, um mich zu fangen.“

„Meinst du, das hier der richtige Ort dafür ist?“ Christine grinste. „Mama oder Papa kommen doch mindestens zehnmal am Tag nach oben, um zu sehen, wie es dir geht.“

„Ja“, seufzte ihre jüngere Schwester. „Ich weiß, dass sie es gut meinen, aber es ist schon sehr lästig. Dabei dachte ich, Mama wäre genügend damit beschäftigt, sich um Inge zu kümmern.“

„Diese Inge ist doch eigentlich ganz in Ordnung, nicht?“

„Schon, aber ich habe im Moment keinen Nerv dafür, mir über sie den Kopf zu zerbrechen.“

„Du könntest sie zu deiner Assistentin machen.“

„Wie bitte?“ Corinne starrte ihre Schwester an, als wäre sie von einem anderen Stern.

„Na ja, in den drei Monaten, in denen du die Galerie leitest, kannst du Inge einarbeiten und ihr dann im Februar die Geschäfte übertragen. Sicherlich ist der neue Besitzer froh, wenn er eine versierte Kraft bekommt.“

„Eine gute Idee“, gab Corinne zu und zum ersten Mal an diesem Abend huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Ja, genau so machen wir es.“

Sie schwieg eine Weile, während der ihr viele Gedanken durch den Kopf gingen. Schließlich meinte sie leise: „Ich werde bereits Mitte Februar nach Toronto fliegen. Dann habe ich noch zwei Wochen Zeit, um Lucien zu finden.“

„Ach, Schwesterchen, warum vergisst du diesen Mann nicht einfach – so wie er es selbst dir vorgeschlagen hat?“

„Unmöglich... er ist ein Teil meiner selbst und ich vermisse ihn schrecklich. Ach, Chrissi, wir gehören einfach zusammen, das weiß ich!“

„Meinst du nicht, dass du ein wenig übertreibst?“

„Nein!“ Corinne schüttelte heftig den Kopf. „Ich muss immerzu an ihn denken und nachts träume ich von ihm.“

„Aha – und was?“

„Er sieht mich mit traurigen Augen an, während er sagt, dass er mich liebt.“

Christine seufzte. Zwar hatte sie gehört, dass dieser Lucien, dem ihre kleine Schwester nachtrauerte, ihr in vielerlei Hinsicht geholfen und beigestanden hatte, dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass er je wirklich etwas für Corinne empfunden hatte, sonst hätte er sie nicht auf so abscheuliche Art und Weise sitzen lassen. Aber sie brachte es nicht übers Herz, dies ihrer Schwester zu sagen.

„Ich finde, es wird wirklich Zeit, dass du wieder eine Aufgabe hast“, sagte Christine stattdessen. „Die Führung einer Galerie wäre da bestimmt das Richtige für dich; Papa und ich können dir ja am Anfang ein wenig mit der Buchhaltung helfen. Außerdem hat Inge doch auch Ahnung davon, oder?“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, meinte Corinne und sah ihre Schwester zweifelnd an.

„Wie auch immer“, erwiderte Christine daraufhin. „Ich kann ihr das Wichtigste beibringen.“

„Das wäre gut!“ Corinne nickte. „Schließlich muss sie im Februar fit sein, weil ich dann ja nach Toronto fliegen werde.“

Erneut seufzte Christine und fragte dann leise: „Was ist, wenn du deinen Lucien nicht findest?“

„Ich werde ihn finden!“ antwortete Corinne entschlossen. „Was zusammengehört, das kommt auch wieder zusammen – und wir gehören zusammen, Lucien und ich! Genau deshalb werde ich ihn finden! Schließlich lieben wir uns...“

********************************************************

~ ENDE ~

Fortsetzung ist geplant

 

 

Autorennotiz

Ich bin ein Fan der kanadischen Serie „Nick Knight, der Vampircop“ (im Original: Forever Knight). Für alle, die sie nicht kennen sollten, eine kleine Kurzbeschreibung:
Nicholas von Brabant, ein französischer junger Ritter aus dem Mittelalter, verliebte sich in eine gewisse Janette und war deshalb bereit, sich von deren Meister Lucien LaCroix zu einem Vampir verwandeln zu lassen. Viele Jahrhunderte lang hatte Nicholas keine Probleme mit dieser Existenzweise. Eine Sinnkrise setzte etwa in der Neuzeit ein, in der er begann, sein Leben als Vampir, der Menschen ohne Gewissensbisse tötet, zu hinterfragen.
Die Serie spielt Ende des 20. Jahrhunderts (90er Jahre), in der Nicholas (der sich jetzt Nicholas Knight nennt) als Cop in der Nachtschicht („Sonnenallergie“) der Torontoer Polizei arbeitet. Für ihn ist das eine Art Sühne für all seine Verbrechen (Tötung von Menschen aufgrund seines Verlangens nach deren Blut). Er lehnt seine Vampirnatur ab und hofft, u. a. mit Hilfe der Pathologin Nathalie Lambert (die als einzige weiß, was er ist) ein Mittel zu finden, um wieder ein Mensch zu werden.
Natürlich gefällt Nicks Entscheidung weder seiner langjährigen Partnerin Janette, von der er sich mittlerweile getrennt hat, noch seinem Meister LaCroix.

Über eure Meinung zu der Story würde ich mich freuen.

Disclaimer: Die Personen aus „Nick Knight, der Vampircop“ gehören natürlich den Machern dieser Serie.

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Autor

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Kapitel: 46
Sätze: 6.122
Wörter: 65.112
Zeichen: 386.936

Kurzbeschreibung

Corinne Lambert besucht ihre Cousine Nathalie in Toronto. Eines Nachts hört sie die Sendung des "Nachtfalter" und ruft prompt dort an.

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit Liebe, Mystery und Krimi getaggt.

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