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Die Konkubine - Teil 1 -

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01.09.18 18:17
18 Ab 18 Jahren
Heterosexualität
In Arbeit

Autorennotiz

Die folgende Geschichte erzählt etwas aus der menschlichen Vergangenheit des Lucien LaCroix, als er noch der römische Legat Lucius war. Es schildert die Ereignisse, die schlussendlich dazu führten, dass er zum Vampir wurde.

4 Charaktere

Melina Aigikoreusa

Das ist ein von mir selbst ausgedachter Charakter.

Lucien Lacroix

Lucien Lacroix ist der Meister von Janette du Charme und Nicolas de Brabant (Nick Knight). Die drei machen während mehrerer Jahrhunderte unterschiedliche Erfahrungen. Lacroix kann nicht nachvollziehen, warum Nick wieder sterblich werden will und macht sich über dessen Schuldgefühle lustig. In der Vergangenheit war Lacroix ein hoher, römischer Offizier namens Lucius.

Divia

Divia ist die Tochter von Selene und Lucius (später Lucien Lacroix), der einst ein römischer Offizier war. Sie ist noch ein Teenager, etwa 12 - 13 Jahre alt, und stark auf den Vater fixiert. In diesem zarten Alter wird sie von einem uralten Vampir gebissen und zu seinesgleichen gemacht. Danach tut sie dasselbe mit ihrem Vater.

Selene

Selene ist die Mutter von Divia und in einer Beziehung mit Lucius (später Lucien Lacroix). In der Serie wird nicht ganz klar, ob sie seine Ehefrau oder lediglich seine Geliebte ist. Als Lucius aus einer Schlacht nach Hause kommt, will sie jedenfalls nicht, dass er nach Divia sieht.

Frühjahr 76 n. Chr.:

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An einem heißen Frühlingstag bewegte sich eine römische Legion in Richtung Attika auf die Hauptstadt Athen zu. Die Soldaten waren seit Stunden unterwegs gewesen, ohne Pause zu machen, da ihr Anführer, der Legat Lucius Marcellus, der für seine Härte und Unnachgiebigkeit bekannt war, noch vor Einbruch der Dämmerung vor den Toren Athens lagern wollte.

Der Hilferuf des Statthalters Fabius Maiorus Graeccus, der ebenfalls als harter Mann galt, ließ es ihn für angebracht halten. Zwar war es Fabius gelungen, die attischen Rebellen zurückzuschlagen und alle Häfen zu besetzen, dennoch rumorte es unter der einheimischen Bevölkerung, so dass man jeden Augenblick erneut mit Angriffen der Griechen rechnen musste.

Endlich war von weitem die Mauer der attischen Hauptstadt zu erkennen und Lucius, der selbst unter der Hitze litt, befahl endlich, eine kurze Pause zu machen, zumal die waldreiche Stelle, an der sie sich gerade befanden, ihm ein geeigneter Rastplatz zu sein schien.

Während sich die Männer niederließen, um sich auszuruhen und etwas zu sich zu nehmen, stieg Lucius vom Pferd, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und sich in der Gegend umzusehen. Er überließ einem Soldaten das Tier, das dieser versorgte, während Lucius ein wenig herumspazierte. Nachdem er sich ein Stückweit von seiner Truppe entfernt hatte, erkannte er etwa 300 Meter vor sich eine Gruppe sehr großer, dichtbelaubter Bäume, die nahe beieinander standen. In der Hoffnung, innerhalb dieser Bäume ein schattiges Plätzchen zu finden, dass ihm ein wenig Abkühlung von der flirrend heißen Luft verhieß, ging er zielstrebig darauf zu.

Als Lucius näher an die Baumgruppe kam, sah er, dass das Laub tatsächlich sehr dicht zusammengewachsen war. Dennoch ließ er sich davon nicht abschrecken, sondern nahm sein Schwert aus der Scheide und schob damit das Grünzeug beiseite. Jetzt sah er, dass er zwischen den zwei Baumstämmen gut hindurchkommen würde und verschwand in dem Laub. Zu seiner Freude erkannte er, dass sich an diesem Ort ein kleiner Fluss befand. Gerade wollte er sich an dessen Ufer setzen, als er sich leise nähernde Schritte hörte. Rasch verbarg er sich hinter einem Baumstamm und wartete gespannt, wer nun kommen würde.

Einen Augenblick später trat eine kleine, in ein tiefblaues Kapuzengewand gehüllte Gestalt auf die Lichtung, schaute sich kurz nach allen Seiten um, zog dann das Gewand aus und ließ es neben sich zu Boden gleiten. Zum Vorschein kam ein schwarzhaariges Mädchen in einem hellblauen Kleid. Es trug die Haare hochgebunden am Hinterkopf, wie es in Griechenland gerade Mode war. Das Mädchen setzte sich nun an das Ufer des Flusses, zog seine Schuhe aus und tauchte die Füße in das Wasser. Mit einem Lächeln der Erleichterung schloss es die Augen.

Lucius, der seinen Blick nicht von dem Mädchen wenden konnte, kam zu dem Schluss, dass sie ebenso wie er einen Platz zum Ausruhen gesucht hatte. Was sprach dagegen, es ihr gleichzutun?

Er kam aus seinem Versteck hervor und näherte sich leise der kleinen Griechin, die ihn nicht zu hören schien. Dann ließ er sich unweit von ihr nieder, nahm seinen Helm vom Kopf und löste seine Schuhe ebenfalls von den Füßen, die er gleich darauf in das herrlich kalte Flusswasser tauchte. Das Geplätscher, dass er dabei verursachte, ließ die junge Frau erschrocken ihre Augen aufreißen und einen Blick neben sich werfen. Beim Anblick des römischen Offiziers weiteten sich ihre Pupillen und sie starrte ihn einen Moment sprachlos an. Lucius schenkte ihr ein freundliches Lächeln, schwieg aber ebenfalls.

Da die junge Griechin merkte, dass von dem Römer im Moment keine Gefahr auszugehen schien, beruhigte sie sich allmählich, behielt ihn jedoch die ganze Zeit im Blick.

„Bist du ein Gott?“ fragte das Mädchen schließlich fast ehrfürchtig.

Lucius lachte kurz laut auf und schüttelte den Kopf.

„Nein, das bin ich nicht! Wie kommst du denn auf diese Idee?“

„Deine Haare“, erklärte die Kleine in ernstem Ton. „Ich habe noch nie so helle Haare gesehen. Genauso müssen die Haare von Apollo beschaffen sein...“

„Ich versichere dir, Mädchen, dass ich nicht Apoll bin.“

Sie wandte ihren Blick von ihm ab und starrte auf ihre Füße, die sie immer noch im Wasser hatte. Lucius nahm belustigt  zur Kenntnis, dass ihre Wangen eine leicht rosige Farbe annahmen. Offensichtlich war der Kleinen ihre Frage nun peinlich. Mit milder Stimme sagte er: „Ich bin zwar nicht Apoll, aber ich fühle mich durch den Vergleich doch sehr geschmeichelt.“

Das Mädchen schaute ihn daraufhin wieder mit leicht schräggestelltem Kopf an und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln, das er erwiderte.

„Wie heißt du?“ fragte er.

„Mein Name ist Melina“, erwiderte das Mädchen. „Und wie lautet deiner?“

„Ich bin Lucius“, stellte er sich vor. „Lucius Marcellus.“

„Lucius... der Leuchtende...“, murmelte sie und sah ihn versonnen an. „Dein Name passt zu deinen Haaren.“

Wieder lächelte sie ihn schüchtern an.

„Lucius, meinst du... meinst du, ich könnte mal...?“ begann sie zaghaft, brach dann jedoch ab und sah ihn nur mit großen Augen an.

„Was, Melina?“

„Ich... na ja, ich...“, stotterte sie und sah dann wieder verlegen auf ihre Füße. Ihre Wangen röteten sich noch etwas mehr als vorhin. „Ach, nichts...!“

„Du kannst mich alles fragen“, meinte Lucius in freundlichem Ton und beugte sich ein wenig zu ihr hin. „Hab keine Angst, ich fresse dich schon nicht auf, Mädchen.“

Melina lachte ein wenig, blickte aber weiterhin  ins Wasser. Sie schien zu überlegen. Dann meinte sie nach einer Weile, während der sie immer noch ihren Blick gesenkt hielt: „Vielleicht hat mein Bruder recht, wenn er sagt, dass ich viel närrisches Zeug von mir gebe...“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es närrischer ist als das, was die meisten anderen Leute auch sagen“, erwiderte Lucius. „Also, Melina, was möchtest du von mir wissen?“

Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: „Du wirst mich gewiss auslachen...“

„Nein – Nein, ich werde nicht lachen. Ich verspreche es!“

Mittlerweile war Lucius doch recht neugierig geworden, was die Kleine von ihm wollte und weshalb es sie so verlegen machte. Sie schaute ihn jetzt erneut scheu an.

„Weißt du, deine Haare... sie sind so schön...“, wisperte sie.

Er schüttelte lächelnd den Kopf über diese Worte.

„Ich habe noch nie so helles Haar wie deines gesehen, Lucius“, fuhr sie leise fort. „Meist du... erlaubst du vielleicht, dass... dass ich es... berühre?“

Er starrte sie erst einen Augenblick überrascht an, dann lachte er verhalten. So einen merkwürdigen Wunsch hatte er nicht erwartet. Dieses Mädchen war einfach zu drollig.

Grinsend senkte er ihr sein Haupt entgegen und meinte: „Bitte!“

Melina schien zunächst sehr überrascht zu sein, dann jedoch hob sie ihre rechte Hand und strich ihm behutsam über das kurzgeschnittene Haar.

„Sie fühlen sich weich an“, murmelte sie und strich noch einmal darüber. Sie lächelte. „Du hast wirklich schönes Haar... so hell wie die Sonnenstrahlen...“

„Jetzt ist es aber gut“, meinte er und hob seinen Kopf wieder. Dabei sah er ihr direkt in die Augen. Sie waren groß und dunkel. Schöne schwarze Seen, in denen  man sich verlieren konnte, wenn man nicht aufpasste. Unwillkürlich hob nun auch er seine Hand und strich ihr über die Wange. Mit solch einer Reaktion schien die kleine Griechin nicht gerechnet zu haben. Erschrocken wich sie ein wenig zurück.

„Na, na, Melina!“ ermahnte er sie mit leichter Ironie in der Stimme. „Zuerst solch ungewöhnliche Wünsche äußern und dann Angst davor haben, selbst berührt zu werden?“

„Ich habe nicht damit gerechnet“, entschuldigte sie sich und sah ihn mit ernstem Blick an. „Tut mir leid, Lucius, ich bin so etwas nicht gewohnt...“

„Tatsächlich nicht?“ wunderte sich der Römer. „Du bist doch sicher schon verlobt?“

„Nein, das kann man eigentlich nicht sagen“, erklärte sie. „Mein Vater möchte zwar, dass ich einen bestimmten Mann heirate, aber ich kann den Kerl nicht ausstehen.“

„Hast du das deinem Vater gesagt, Melina?“

„Ja“, sie nickte, ohne zu lächeln. „Aber er meinte, ich solle ihn erstmal besser kennenlernen.“

„Das klingt doch vernünftig“, meinte Lucius.

„Aber er ist mir von seiner ganzen Art her zuwider“, antwortete das Mädchen und blickte ihren Gesprächspartner traurig an. „Viel lieber möchte ich jemanden heiraten, den ich gern habe und der mir gefällt.“

Sie senkte den Blick erneut auf das Wasser und murmelte: „Eigentlich dürfte ich ja keine Forderungen an einen Mann stellen, aber... es ist doch bestimmt schöner, mit jemandem zusammen zu sein, den man richtig gern hat, oder?“

„Ja, das ist es“, stimmte Lucius ihr zu. „In Rom hält man das auch für das Beste, weshalb kaum ein Mann seine Tochter zwingen würde, jemanden zu heiraten, den sie absolut nicht mag.“

Melina schwieg. Sie schien immer noch bedrückt zu sein.

„Du solltest noch einmal mit deinem Vater sprechen, Melina“, meinte er in tröstendem Ton. „Ich bin sicher, dass er dich versteht.“

„Ich wünschte, es wäre so, aber das ist es nicht“, murmelte sie traurig. Jetzt erst schaute sie wieder zu Lucius hoch. „Er sagt, dass ich bestimmte Pflichten hätte und mich fügen solle. Weißt du, ich bin seine einzige Tochter.“

Lucius schüttelte den Kopf und schenkte dem jungen Mädchen einen mitleidigen Blick. Die Griechen waren schon ein seltsames Volk. Einerseits besaßen sie eine hohe Kultur, die bewunderungswürdig war, doch andererseits unterdrückten sie ihre Frauen und Töchter. Keine besonders gute Grundlage für eine Ehe. Wie sollten Menschen ihre Zuneigung füreinander entdecken und sich schließlich mit Liebe und Respekt begegnen, wenn nicht wenigstens Sympathie auf beiden Seiten vorhanden war?

„Was sagt eigentlich dein zukünftiger Ehemann dazu, Melina?“

„Ach, der!“ meinte das Mädchen wegwerfend. „Der sieht nur die Vorteile in einer Verbindung unserer beiden Familien. Für mich interessiert der sich überhaupt nicht. Er hat mich noch kein einziges Mal richtig betrachtet, sonst hätte ihn meine große Nase sicher abgeschreckt.“

„Was? Deine große Nase?“

Die Andeutung eines amüsierten Lächelns umspielte Lucius’ Mundwinkel, während er sich seine junge Gesprächspartnerin genauer ansah.

„Du hast keine große Nase“, stellte er fest und deutete mit dem Zeigefinger auf sein Riechorgan. „Das hier, Melina, das ist eine große Nase.“

„Ach, Lucius, du musst mich nicht aus Freundlichkeit belügen. Ich weiß, dass meine Nase zu groß ist. Mein Bruder hat das auch gesagt.“

„Ich bin sicher, dein Bruder wollte dich nur ärgern, Melina. Deine Nase ist in Ordnung.“

„Findest du das wirklich?“

Das Mädchen sah den Römer unsicher an. Dieser lächelte und gab ihr mit einem Finger einen Stups auf die Nase.

„Aber ja, Melina. Du hast ein niedliches Knollennäschen. Etwas anderes würde auch gar nicht zu dir passen... du bist ein hübsches Mädchen.“

„Du findest mich hübsch, Lucius?“

Die junge Griechin schien wirklich erstaunt zu sein. Lucius konnte es kaum glauben. Offenbar hatte ihr kein Mensch aus ihrem Umkreis je gesagt, wie anziehend sie wirkte. Er beugte sich wieder ein wenig näher zu ihr herab und antwortete in ruhigem Ton: „Ja, du bist sehr hübsch. Lass dir bloß von niemandem das Gegenteil einreden.“

Melinas Wangen röteten sich erneut. Sie senkte den Blick und lächelte. Dann schaute sie ihn wieder an und schwieg. Er konnte nicht anders, als ihr einen leichten Kuss auf die Wange zu drücken. Dabei fühlte er, wie heiß ihre mittlerweile rotglühende Wange war.

„Oh, Lucius“, hauchte sie kaum hörbar. Als er ihr über das Haar strich, schien sie jedoch wieder zu sich zu kommen. „Ach, das dürfen wir nicht...“

Sie zog ihre Füße aus dem Wasser, schnappte sich ihren Kapuzenumhang und trocknete sie  damit ab. Dann schlüpfte sie schnell in ihre Schuhe und erhob sich.

„Ich muss jetzt gehen“, entschuldigte sie sich. Ein unüberhörbares Bedauern klang in ihrer Stimme. Ihr Blick war wieder traurig. „Es war schön, dich kennenzulernen, Lucius!“

Ehe er noch etwas erwidern konnte, hatte sie ihren Umhang übergeworfen, ihr Haupt mit der Kapuze verhüllt und war zwischen zwei Bäumen verschwunden.

Lucius seufzte. Er würde die kleine Griechin wahrscheinlich nie wiedersehen. Schade, denn ihre Gegenwart hatte ihm seinen Aufenthalt gerade etwas versüßt und die Zeit mit ihr war viel zu kurz gewesen. Nun ja, vielleicht könnte er sich später in einem Bordell trösten, sobald er das Gespräch mit dem Statthalter hinter sich gebracht hatte. Doch er wusste bereits jetzt, dass die Aufgabe, die vor ihm lag, äußerst unangenehm werden könnte...

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Melina eilte mit pochendem Herzen den verschlungenen Waldpfad zurück, der sie in den Garten ihres Elternhauses führte. Die Begegnung mit dem schönen, goldhaarigen Römer hatte sie doch sehr verwirrt. Dieser Lucius schien zu der Truppe zu gehören, die Fabius Maiorus Graeccus aus Rom angefordert hatte. Ihr Vater und einige andere der reichen Großgrundbesitzer hatten sich nämlich zusammengeschlossen und Fabius dazu aufgefordert, mit seinen Leuten aus Attika zu verschwinden.

Natürlich hatte sich Fabius nicht darauf eingelassen, worauf es zu einigen heftigen Kämpfen zwischen den römischen Besatzern und den griechischen Männern kam. Obwohl beide Seiten empfindliche Verluste erlitten, errangen die Römer einen strategischen Vorteil, da sie sich den Zugang zu allen Häfen erkämpften und diese besetzt hielten. Nur deswegen herrschte im Moment ein Waffenstillstand zwischen den attischen Bürgern und den römischen Besatzern.

Die Spione ihres Vaters berichteten jedoch, dass Fabius Boten nach Rom gesandt hatte, um den Imperator um Verstärkung gegen die Aufständischen zu bitten; und nun musste eine Legion bereits ganz in der Nähe sein, sonst wäre ihr Lucius nicht begegnet.

Melina wusste, dass es ihr eigentlich verboten war, das Grundstück zu verlassen, da sich die Stadt im Kriegszustand befand, aber ihre Sehnsucht danach, wenigstens einmal am Tag für sich allein zu sein, war größer als die Angst vor der Strafe durch ihren Vater oder davor, den Römern in die Hände zu fallen. Und so schlich sie wie bisher an ihren geheimen Lieblingsplatz im Wald, um im Fluss zu baden oder wenigstens einmal ihre Füße in das herrlich kalte Wasser zu tauchen. Bislang war sie dank der Hilfe der alten Quella, ihrer Amme, die jedes Mal, wenn sie verschwunden war, behauptete, ihr >Lämmchen< hätte sich wegen Kopfschmerzen hingelegt, nicht erwischt worden. Melina mochte sich gar nicht vorstellen, wie zornig ihr Vater werden würde, sollte er je herausbekommen, dass sie heimlich allein das Haus verließ. Doch glücklicherweise ahnte er bis heute nichts von ihrer Lieblingsstelle im Wald, da es ein Geheimnis zwischen ihr und Quella geblieben war.

Der alten Amme passte Melinas Verhalten zwar auch nicht und sie bat sie immer wieder eindringlich, endlich davon abzulassen, den verborgenen Fluss aufzusuchen, doch das Mädchen wollte nichts davon wissen. Dieser Ort war ihr seit dem Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren eine Stätte der Ruhe und Zuflucht geworden, an dem sie allein sein wollte.

Ihre Mutter war durch die Geburt ihres jüngsten Sohnes dermaßen geschwächt gewesen, dass sie ein paar Tage später starb. Ein Verlust, über den Melina niemand hinwegtrösten konnte.

Umso bitterer traf es sie, als ihr Vater letztes Jahr wieder heiratete. Er hatte es aus politischen Gründen getan, um einen starken Verbündeten für seinen Widerstand gegen die römischen Besatzer zu gewinnen. An Megara, der Schwester seines Bundesgenossen, einer dünnen Frau mit spitzem Kinn und ebensolcher Nase, lag ihm nicht viel. Er kümmerte sich kaum um sie und bekam deshalb auch nicht mit, wie gehässig und bösartig Megara innerhalb des Hauses zu den Sklaven und vor allem zu ihr war. Melina erschrak, als sie sah, mit welch giftigen Blicken die Stiefmutter ihren kleinen Bruder Kimon bedachte, der aufgrund dessen sofort zu weinen begann und in Quellas Arme flüchtete.

Jedenfalls war die neue Frau ihres Vaters bei niemandem besonders beliebt und Quella meinte, man müsse sich vor ihr in Acht nehmen.

Seit ein paar Tagen wusste Melina, dass Quella mit dieser Warnung recht gehabt hatte. Ihr Vater hatte sie zu einem Gespräch unter vier Augen zu sich gebeten. Dabei erklärte er ihr, dass er sich unlängst mit Megara unterhalten und diese ihn darauf hingewiesen hätte, wie vorteilhaft es doch wäre, wenn die Verwandtschaft zwischen ihm und ihrem Bruder Alexandros noch weiter gefestigt würde. Scheinbar hielt ihr Vater das für eine gute Idee, denn er eröffnete ihr, dass er sie mit Alexandros verheiraten wolle. Entsetzt hatte Melina dies abgelehnt und erklärt, dass der Bruder ihrer Stiefmutter ihr zuwider wäre. In strengem Ton ermahnte sie daraufhin der Vater, dass sie ihm zu gehorchen habe. Eine Verbindung ihrer beiden Familien sei ein großer Vorteil und Alexandros von guter Familie. Sie würde ihn sicherlich schätzen lernen, wenn sie ihn erst einmal besser kennengelernt habe.

Unter Tränen war Melina damals in ihr Gemach zurückgekehrt und hatte sich bei Quella ausgeweint. Die alte Amme konnte ihr aber auch keinen Trost geben, denn sie räumte ein, dass eine Tochter dem Vater gehorchen müsse und ihr wohl nichts anderes übrig bliebe, als Alexandros’ Frau zu werden.

Melina bat daraufhin ihren großen Bruder Leandros, den Vater umzustimmen. Er versuchte es auch, aber Theodoros blieb hart. Das lag nicht zuletzt an Megara, die in letzter Zeit kaum von der Seite ihres Ehemannes wich und meinte, dass Kinder ihrem Vater vorbehaltlos zu gehorchen hätten und Melina, die sowieso viel zu sehr verwöhnt worden sei, sich zu fügen habe.

„Unsere Stiefmutter hat großen Einfluss auf Vater“, erklärte Leandros ihr dann später. „Sie hat nicht nur einen mächtigen Bruder, weshalb Vater sie überhaupt zur Frau genommen hat, sondern ist auch noch guter Hoffnung, was ihn überglücklich macht. Ich fürchte, du musst dich damit abfinden, Alexandros zu heiraten. Tut mir leid, Melina. Wenn ich einen Ausweg wüsste, würde ich diese Hochzeit verhindern.“

Nun ja, ihr Bruder hatte wenigstens versucht, Vater umzustimmen. Ihre einzige Hoffnung war nur noch, dass der Widerstand ihres Vaters, seines Verbündeten und ihrer Anhänger von den römischen Besatzern gebrochen wurde. Vielleicht machte dies die Hochzeitspläne ihres Vaters zunichte und sie konnte wieder unbeschwert leben.

Wer konnte es ihr also verdenken, dass sie ihren Lieblingsort im Wald aufsuchte, um dort eine Weile vor den Widrigkeiten des Alltags und ihrer unerfreulichen Zukunft an der Seite Alexandros’ zu flüchten?

Ein bitteres Lächeln umspielte Melinas Mund, als sie daran dachte, wie sehr ihr Vater toben würde, wenn er heute gesehen hätte, wie sie mit einem römischen Offizier zusammen am Ufer des kleinen Flusses gesessen und ihre Füße im Wasser gekühlt hatte. Jeder Römer galt ihm als hassenswerter Feind – und dabei hatten die Athener lange Zeit in friedlicher Koexistenz mit ihren Besatzern gelebt, die ihnen viel Freiheit ließen und ihre Kultur sogar dermaßen bewunderten, dass die meisten Römer griechisch sprachen. Sie schienen ein offenes Volk zu sein, weshalb Melina es nicht verstand, dass einige ihrer Landsleute sich strikt weigerten, die lateinische Sprache zu erlernen, obwohl dies Pflicht war und das Zusammenleben mit den Besatzern wesentlich erleichterte.

Ihr jedenfalls waren die Römer sehr sympathisch – und dieser Lucius war so freundlich gewesen. Er war ein sehr viel angenehmerer Zeitgenosse als der überhebliche Alexandros, der ebenso hässlich war wie seine spitzgesichtige Schwester.

Ach, wenn dieser unsinnige Krieg nicht wäre, könnten sie und Lucius bestimmt gute Freunde werden. Er gefiel ihr außerordentlich gut. Ein großer, kräftiger Mann, bei dem sich gewiss jede Frau gut geschützt fühlte. Schade, dass sie ihn wohl nie wiedersehen würde.

Mit traurigem Blick erschien sie an die Gartenpforte, an der Quella schon mit besorgtem Gesicht auf sie wartete.

„Endlich seid Ihr da, kleine Herrin“, flüsterte sie. „Euer Vater hat Euch vor einer halben Stunde zu sich gebeten und mittlerweile schon dreimal einen Sklaven geschickt, der fragte, wo ihr denn bliebet. Der Herr ist ziemlich ungehalten. Es muss um etwas sehr Wichtiges gehen, denn der Sklave erzählte mir, dass Euer Vater die ganze Familie sprechen wolle.“

„Wenn es so ist, sollten wir meinen Vater nicht länger warten lassen“, erwiderte Melina. „Komm, Quella, begleite mich zu ihm!“

„Aber Ihr könnt doch nicht so vor ihm erscheinen“, protestierte die Alte. „Euer Umhang ist unten ziemlich schmutzig.“

„Das lass nur meine Sorge sein, Quella! Komm jetzt, mein Vater wartet!“

 

Erleichtert blickte Fabius Maiorus Graeccus, der römische Statthalter von Attika, auf, als man ihm meldete, dass Lucius Marcellus, der einen Ruf als erfolgreicher Stratege genoss, angekommen war. Einen Augenblick später trat der Offizier in sein Zimmer und begrüßte ihn.

„Jupiter sei gedankt, dass Ihr so schnell hier sein konntet, Legatus“, erwiderte Fabius, der bei seinem Eintritt vom Stuhl aufgesprungen war.

„Nun, Fabius, Ihr habt Verstärkung angefordert, weil Ihr mit den aufständischen Einheimischen nicht fertig werdet?“ fragte Lucius. „Darf ich die näheren Umstände dieser Rebellion gegen Rom erfahren?“

„Wie Euch sicher bekannt ist, herrschte seit vielen Jahren Frieden in dieser Region. Doch vor etwa drei Monaten begann Theodoros Aigikoreus, der einflussreichste und mächtigste Mann dieser Stadt, öffentlich das Imperium zu kritisieren“, erklärte ihm Fabius in aufgeregtem Ton.

„Aha! Und aus welchem Grund?“

„Er behauptete, die Steuern wären zu hoch - und außerdem stünde es uns Römern gar nicht zu, von den Athenern Geld zu fordern. Wir wären Barbaren, die hier nichts zu suchen hätten. Attika dürfe nur von Athenern regiert werden. Alles andere wäre unrechtmäßig. Sie fordern die Freiheit von Rom!“

Aufgeregt begann Fabius, im Zimmer hin und her zu laufen. Schließlich blieb er vor Lucius stehen und sah ihn mit hochrotem Kopf an, als er fortfuhr: „Natürlich habe ich Theodoros zunächst ermahnt, seine Zunge im Zaum zu halten, doch das entlockte ihm nur ein verächtliches Lachen. Dann forderte er mich in einem impertinenten Ton auf, mit meinen Truppen sofort Attika zu verlassen!“

„Dieser Mann scheint den Verstand verloren zu haben“, meinte Lucius. „Ist ihm denn nicht klar, dass wir sein Volk besiegt haben und ihm auch jetzt noch zahlenmäßig überlegen sind?“

„Unterschätzt den Widerstandsgeist dieser Athener nicht, Legatus“, erwiderte Fabius. „Theodoros ist von altem Adel, obwohl das eigentlich in der Polis keine Rolle spielen sollte. Dennoch ist die Familie Aigikoreus sehr angesehen, so dass es Theodoros gelungen ist, fast die gesamten Einwohner Attikas auf seine Seite zu ziehen und einen regionalen Krieg anzuzetteln. Wir waren gezwungen, gegen Leute zu kämpfen, mit denen wir bis vor kurzem noch in bestem Einvernehmen zusammengelebt haben.“

„Es ist euch aber nicht gelungen, die Rebellen zu besiegen?“

„Allem Anschein nach haben die reichen Bürger Attikas heimlich für eine gründliche, militärische Ausbildung ihrer Landsleute gesorgt. Wir können davon ausgehen, dass dieser Aufstand von langer Hand geplant ist und die Provokation Theodoros’ vor drei Monaten mit voller Absicht erfolgte. Die Anführer der Rebellion mussten sich sehr sicher sein, uns besiegen zu können. Das ist ihnen zwar nicht gelungen, aber wir konnten sie bislang auch nicht bezwingen. Im Moment herrscht zwischen uns Waffenstillstand, aber der Aufruhr kann jederzeit wieder losbrechen. Deshalb brauchte ich unbedingt Verstärkung. Ich hoffe, wir können die Rebellion jetzt niederschlagen.“

„Glaubt Ihr, es wäre sinnvoll, Verhandlungen mit diesem Theodoros zu führen?“ fragte Lucius.

„Das habe ich schon versucht, aber er lehnt jedes Gespräch ab“, erklärte Fabius. „Die einzige Antwort, die ich von ihm durch Boten erhielt, war die Aufforderung, Attika zu verlassen. Es gehöre den freien Bürgern Athens.“

„Es ist schon recht merkwürdig, dass nach all den Jahren des Friedens ein derart heftiger Aufstand ausbricht“, meinte Lucius nachdenklich und rieb sich das Kinn. Er sah den Statthalter eindringlich an. „Ihr könnt euch nicht erklären, was der Grund dafür ist?“

„Vermutlich hat die reiche Ernte der letzten zwanzig Jahre die Oberschicht derart übermütig werden lassen, dass sie jetzt glaubt, ihre Götter wären wieder auf ihrer Seite. Vielleicht sind diese Leute davon überzeugt, dass es ihnen nun auch gelingen wird, uns aus dem Land zu vertreiben“, mutmaßte Fabius. „Das darf ihnen nicht glücken, Legatus! Denn wenn das geschieht, war die Rebellion in Attika nur der Anfang eines griechischen Großaufstandes gegen Rom!“

„Es gilt also, die Wurzel allen Übels im Keim zu ersticken“, murmelte Lucius. „Das heißt, man muss die Oberschicht Attikas, und besonders deren Wortführer Theodoros, in die Schranken weisen, damit wieder Ruhe im Land einkehrt?“

„Genauso ist es, Legatus!“ bestätigte Fabius.

„Was für eine Verschwendung, dann gegen die einfach Bevölkerung zu kämpfen, nicht wahr?“ führte Lucius seine Gedanken weiter aus. „Wir sollten versuchen, ein solch sinnloses Blutbad zu vermeiden, das einzig und allein von der Oberschicht Attikas angezettelt wurde, um die alleinige Herrschaft an sich zu reißen. Denn darauf deuten seine Worte, dass Attika nur durch Athener regiert werden dürfe, doch klar hin.“

„Nun ja, da könntet Ihr recht haben, Legatus“, gab der Statthalter zu. „Aber wie ist ein Blutbad zu vermeiden? Die Bevölkerung ist gegen uns aufgewiegelt und Theodoros ist der Anführer der reichen Oberschicht, der jegliche Verhandlungen mit uns ablehnt. Glaubt mir, Legatus, die attischen Bürger sehen zu ihm auf und verehren ihn für seinen Mut, sich öffentlich gegen uns zu stellen und Freiheit zu fordern. Er hat einen starken Rückhalt von der Mehrheit der Einheimischen.“

„Wir werden die Oberschicht in die Knie zwingen, dann herrscht hier wieder Ruhe!“ erklärte Lucius mit harter Stimme. Als Fabius ihn fragend ansah, fuhr er in ernstem Ton fort: „Lasst sämtliche Stadtpläne und Grundrisse von den Häusern Attikas in mein Quartier bringen. Ich will sie zusammen mit meinen Offizieren studieren.“

„Was habt Ihr vor, Legatus?“

„Nun, Fabius, ich werde tun, was ich kann, um ein unnötiges Blutbad zu verhindern!“

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 Melina war mit Quella gerade vom Garten durch ihr Gemach geeilt und trat nun auf den Flur hinaus, als ihr ein schmaler, schwarzhaariger Mann mit dünnem Bart unter seiner langen, spitzen Nase grinsend entgegenkam.

„Guten Tag, Melina“, begrüßte er sie mit schmieriger Stimme.

„Alexandros!“ erwiderte sie kühl und sah ihn misstrauisch an. „Was macht Ihr denn hier?“

„Da Euer Vater schon dreimal vergeblich einen Sklaven nach Euch schickte, habe ich mich bereit erklärt, selbst nach Euch zu sehen“, erklärte der Bruder ihrer Stiefmutter. „Freut mich, dass Ihr wohlauf zu sein scheint.“

„Ich leide oft unter starken Kopfschmerzen, wie man Euch vielleicht schon berichtet hat“, gab Melina zurück. „Es brauchte darum einige Zeit, bis ich aufstehen konnte, um der Bitte meines Vaters nachzukommen.“

„Ihr scheint merkwürdige Angewohnheiten zu haben, Melina“, gab Alexandros spöttisch zurück und ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten, bis er am Ende des Umhangs angekommen war. „Friert Ihr denn so sehr, dass Ihr in Eurem Umhang schlafen müsst? Und der Dreck am Saum Eures Gewandes lässt darauf schließen, dass Ihr Schlafwandlerin seid.“

„Das geht Euch nichts an!“ herrschte das Mädchen ihn an.

„Nun, diesen Ton mir gegenüber werdet Ihr Euch abgewöhnen müssen, wenn wir erstmal miteinander verheiratet sind“, sagte Alexandros mit ironischer Stimme und grinste.

„Und wenn ich das nicht tue?“ fragte Melina mit lauerndem Unterton.

„Ich werde Euch schon zu zähmen wissen!“ gab der Bruder ihrer Stiefmutter gleichmütig zurück. „Ungehorsame Ehefrauen pflegt man zu züchtigen, dann werden sie sanft wie ein Lamm.“

„Das werdet Ihr nicht wagen, Alexandros! Ich bin die Tochter von Theodoros Aigikoreus, dem Sprecher des Volksrates!“

„Na und? Sobald wir verheiratet sind, bin ich Euer Herr, dem Ihr zu gehorchen habt. Euer Vater hat dann nichts mehr mit Euch zu tun, Melina.“

„Ich werde Euch niemals heiraten – niemals!“ rief das Mädchen aus.

Alexandros packte sie daraufhin plötzlich mit festem Griff an den Oberarmen, warf ihr einen zornigen Blick zu und zischte leise: „Du wirst mein sein, kleines Miststück! Deine Flausen treibe ich dir schon noch aus!“

„Nimm deine Hände von meiner Tochter!“ ertönte eine zornige Männerstimme, die Alexandros sofort herumfahren ließ, ohne dass er Melina losließ. Mit offenem Mund starrte er nun auf den erbosten, älteren Mann, der mit wütend zusammengezogenen Augenbrauen auf ihn zugeeilt kam.

Theodoros Aigikoreus, dem es seltsam schien, dass weder seine Tochter noch sein Schwager sich in dem großen Saal einfanden, in dem er ein Familientreffen angeordnet hatte, war voller Sorge aufgebrochen, um selbst nachzusehen, warum Melina, die meist eine gehorsame Tochter war, seiner mehrfachen Bitte nicht Folge leistete. Er hatte die letzten Worte seines Schwagers gehört und fand es ungeheuerlich, dass dieser sein Lieblingskind als Miststück bezeichnete. Sein Plan, Alexandros mit Melina zu verheiraten, starb im selben Augenblick. Das liebliche Mädchen war viel zu schade für einen Mann, der einen solch wertvollen Schatz wie sie nicht zu würdigen wusste. Einen kurzen Moment fragte Theodoros sich sogar, ob Alexandros wirklich ein guter Verbündeter für ihn war. Doch diesen Gedanken verwarf er gleich wieder. Immerhin hatte er es mit ihm an seiner Seite geschafft, einen starken Widerstand gegen die römischen Besatzer aufzubauen, so dass diese sogar gezwungen waren, Verstärkung aus Rom anzufordern.

Doch das war die eine Sache. Eine andere Sache war es, dass Alexandros seine Tochter gerade beleidigt hatte und sie immer noch mit seinen groben Händen so fest gepackt hielt, dass ihr mittlerweile Tränen in die Augen getreten waren.

„Wirst du wohl sofort meine Tochter loslassen?!“ befahl er seinem Schwager nochmals. Dieser schien endlich wieder zu sich zu kommen und löste sofort den Griff von Melinas Oberarmen.

„Tut mir leid“, sagte Alexandros nun zu Theodoros, ohne einen weiteren Blick an das Mädchen zu verschwenden. „Eure Tochter gab mir ungeziemende Widerworte und ich habe für einen Moment die Beherrschung verloren. Natürlich war das unverzeihlich von mir...“

„Warum haltet Ihr Euch überhaupt damit auf, ein längeres Gespräch mit meiner Tochter zu führen?“ brummte Theodoros missmutig, ohne weiter auf die Worte seines Schwagers einzugehen. „Ihr solltet lediglich nachsehen, was mit ihr los ist.“

„Wir waren gerade auf dem Weg zu Euch, Herr“, beeilte sich die alte Quella zu sagen.

„Nun gut, dann kommt endlich in den großen Saal!“ befahl Theodoros und kehrte dorthin zurück. Melina, Quella und Alexandros folgten ihm schweigend und setzten sich dann dort in den Kreis der bereits Anwesenden, der aus Leandros, dem kleinen Kimon, der schwangeren Megara sowie den ihnen nahestehenden Sklaven und Sklavinnen bestand.

Der Hausherr hatte sich mittlerweile wieder auf seinen Platz gesetzt und begann: „Ich habe euch zusammengerufen, um etwas Wichtiges mit euch zu besprechen. Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, ist die angeforderte Legion aus Rom mittlerweile eingetroffen. Einer meiner Spione berichtete mir, dass der Legatus, der diese Einheit führt, durch Geschick und strategische Klugheit bisher immer siegreich aus allen Kämpfen hervorgegangen ist und als sehr harter Mann gilt. Wir haben also einen Gegner vor uns, den wir nicht unterschätzen dürfen. Vermutlich ist er sehr viel gefährlicher als Fabius Maiorus Graeccus. Daher halte ich es für angebracht, Melina und Kimon in eines meiner Häuser außerhalb der Stadt zu bringen, um sie vor dem Zugriff dieses Legatus zu schützen.“

„Das ist doch übertrieben!“ warf Megara ein. „Warum sollte ein römischer Offizier sich für die beiden Kinder interessieren?“

„Es ist bekannt, dass Römer Geiseln nehmen“, erklärte Theodoros. „Und bestimmt weiß dieser Legatus längst durch Fabius Maiorus Graeccus, dass ich der Wortführer der Widerstandsgruppe gegen die römischen Besatzer bin. Die Gefahr, dass er meine Kinder in seine Gewalt bringt, ist also sehr real, Megara.“

„Nun, dem kann man sehr leicht abhelfen“, erwiderte seine Frau leichthin. „Melina könnte auf der Stelle Alexandros heiraten, dann wäre er ihr Vormund und sie für die Römer völlig uninteressant. Zudem könnten die beiden Kimon als ihr gemeinsames Kind ausgeben und ihn mit in Alexandros’ Haus nehmen.“

Melina starrte ihre Stiefmutter mit entsetztem Ausdruck an. Gerade eben war sie noch erleichtert gewesen über das Erscheinen ihres Vaters und glaubte, dieser würde eventuell sogar davon absehen, sie mit Alexandros zu verheiraten. Aber Megaras Vorschlag klang viel zu vernünftig, um ihn von der Hand zu weisen!

„Eine solch überstürzte Heirat halte ich für keine gute Idee!“ widersprach Theodoros jedoch entgegen ihrer Befürchtung und das Mädchen fühlte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. „Außerdem bin ich mir gar nicht mehr  sicher, ob eine Hochzeit zwischen Melina und deinem Bruder so wünschenswert ist.“

„Aber weshalb denn nicht?!“ fuhr Alexandros jetzt auf. „Ich bin eine überaus gute Partie und durchaus standesgemäß!“

„Das ist richtig“, gab Theodoros in ruhigem Ton zu. „Aber ich glaube, Melina ist noch zu jung, um zu heiraten.“

„Zu jung!“ schnaubte Megara verächtlich. „Es gibt Mädchen, die viel früher verheiratet wurden.“

„Melina versteht sich nun einmal nicht so gut mit Alexandros“, erklärte Theodoros daraufhin in strengem Ton. „Und jetzt möchte ich kein weiteres Wort mehr über diese Angelegenheit hören. Morgen früh reisen Melina und Kimon ab.“

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 Megara hatte sich nach der Familienzusammenkunft in ihr Gemach zurückgezogen. Sie war verärgert, da sie den Plan, den sie mit ihrem Bruder geschmiedet hatte, gefährdet sah. Sein Bündnis mit dem alten Theodoros Aigikoreus sowie die Ehe mit Melina hätten Alexandros den Weg dazu geebnet, eines Tages den Platz seines derzeitigen Schwagers einzunehmen.

Sie selbst erwartete ein Kind von Theodoros; und seitdem ihr älterer Ehemann das wusste, hatte sich seine anfängliche Gleichgültigkeit ihr gegenüber in liebevolle Aufmerksamkeit verwandelt. Er hörte ihr zu, wenn sie etwas sagte, und las ihr fast jeden Wunsch von den Augen ab, so glücklich war er darüber, noch einmal Vater zu werden. Sogar in familiären Angelegenheiten fragte er sie nun verstärkt um Rat. Sollte sie ihm einen Sohn schenken, wäre ihre Machtposition innerhalb der Familie vollkommen gefestigt. Dann mussten sie und Alexandros sich nur noch Gedanken darüber machen, wie sie mit den drei Kindern aus Theodoros’ erster Ehe verfahren sollten. Am schwierigsten würde es sich bei Leandros, dem ältesten Sohn und legitimen Erben, gestalten. Er war ein gut ausgebildeter, geschickter Kämpfer, und ihnen fehlte bis jetzt ein Plan, um ihn aus dem Weg zu räumen. Bei seinen zwei jüngeren Geschwistern sah dies anders aus: Den zweijährigen Kimon könnte man leicht mit Hilfe von Gift beseitigen und es wie Fieber aussehen lassen, und Melina erwartete nach der Hochzeit mit Alexandros die starke Hand ihres Ehemannes, wenn sie keine gehorsame Gattin sein sollte. Schon sehr bald würde das zarte Mädchen sich unterordnen und widerstandslos alles tun, was Alexandros von ihr verlangte.

Doch die plötzliche Weigerung Theodoros’, seine einzige Tochter mit dem Schwager zu verheiraten, durchkreuzte ihren schönen Plan.

Megara starrte böse vor sich hin. Sie verstand nicht, weshalb ihr Mann den Vorschlag einer sofortigen Heirat zwischen Melina und Alexandros abgelehnt hatte. Dabei war sie so sicher gewesen, dass er ihn freudig aufnahm. Gerade heute Morgen noch gab er seiner Hoffnung Ausdruck, Melina bald an der Seite Alexandros’ als strahlende Braut zu sehen. Was war nur passiert?

 Megara hörte sich nähernde Schritte und schaute sich erwartungsvoll um. Gerade eben trat Theodoros mit ärgerlicher Miene in ihr Zimmer.

„Was ist los?“ fragte Megara erstaunt.

„Melina will morgen nicht abreisen“, brummte ihr Mann und setzte sich neben sie.

„So? Warum denn nicht?“

Einen kurzen Augenblick schöpfte Megara wieder Hoffnung, dass ihr Plan doch noch gelingen könnte.

„Findet mein Vorschlag, Alexandros zu heiraten, am Ende etwa die Zustimmung deiner Tochter?“

„Nein, das ist es nicht“, erklärte Theodoros missmutig. „Morgen ist der Todestag ihrer Mutter und sie will mit ihren Brüdern deren Grab besuchen, um ihr Speise- und Trankopfer darzubringen, wie es sich gehört.“

„Nun, sie tut nur ihre Pflicht“, meinte Megara und lächelte. „Solltest du deine Kinder nicht zum Grab deiner verstorbenen Ehefrau begleiten?“

„Das würde ich tun, wenn die Zeiten andere wären“, sagte Theodoros und seufzte. „Doch im Moment ist es viel zu gefährlich, sich auf den Friedhof zu begeben. Vergiss nicht, dass eine römische Legion sich vor den Toren der Stadt befindet und zum Teil schon die Besatzungskräfte innerhalb Attikas verstärkt hat, wie man mir berichtete.“

„Aber die Römer werden niemanden angreifen, der den Friedhof aufsucht, um den Jahrestag eines Ahnen zu begehen“, wandte Megara ein, während ein gehässiges Lächeln sich über ihr Gesicht verbreitete. Ihr Mann, der seinen Blick traurig zu Boden gerichtet hatte, merkte davon allerdings nichts. Natürlich wusste Megara, wie sehr Theodoros seine erste Frau geliebt hatte und deshalb auch an seiner Tochter hing, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war.

„Ich finde, du solltest deinen Kindern erlauben, ihre tote Mutter zu ehren. Leandros wird schon auf seine beiden jüngeren Geschwister aufpassen. Nach dem Totenopfer und den dazugehörigen Gebeten kann er Melina und Kimon ja zu einem deiner Landhäuser bringen. Es wird bestimmt  nichts passieren.“

„So? Meinst du wirklich, Megara?“ fragte Theodoros und sah zu seiner jungen Gattin auf, die ihn aufmunternd anlächelte und nickte.

„Man muss die Toten ehren!“ ermahnte sie ihn in ernstem Ton, worauf er ihre Hand ergriff und sie küsste.

„Ja, du hast natürlich recht“, murmelte er. „Also gut, dann werde ich es jetzt den Kindern sagen. Es ist ja einerlei, ob sie etwas später in dem Landhaus ankommen.“

Megara lächelte zufrieden. Sobald ihr Ehemann aufgestanden und ihr Gemach verlassen hatte, ergriff sie die kleine Glocke, die vor ihr auf dem Tisch stand, und schüttelte sie leicht. Gleich darauf erschien einer ihrer Sklaven.

„Hör zu, du musst meinem Bruder eine wichtige Nachricht überbringen“, erklärte sie leise, beugte sich dann vor zu seinem Ohr und flüsterte ihm etwas hinein...

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Nachdem man ihm die angeforderten Pläne in sein Quartier gebracht hatte, rief Lucius seine Unteroffiziere zu sich und besprach sich ausführlich mit ihnen, bevor sie sich dann gemeinsam daran machten, die Pläne gewissenhaft zu studieren. Aufgrund dessen wussten die Unteroffiziere nach einigen Stunden dann genau über die Pläne ihres Legaten Bescheid und waren dazu bereit, sie auf seinen Befehl hin in die Tat umzusetzen.

Mittlerweile war es Abend geworden und Lucius empfahl seinen Offizieren, ihre jeweiligen Soldaten für die morgige Operation vorzubereiten und sich dann zur Ruhe zu begeben. Im Morgengrauen sollten sie damit beginnen, heimlich die Häuser der vornehmen Athener zu überwachen. Er selbst wollte zusammen mit dem Statthalter morgen noch einmal den Wortführer der Rebellen aufsuchen, um ihn zur Vernunft zu bringen. Sollte dies nicht gelingen, würde auf sein Zeichen hin das vereinbarte Fanfarensignal ertönen, und die herrschende Schicht Athens würde eine äußerst unangenehme Überraschung erleben.

Müde zog sich Lucius auf sein Nachtlager zurück. Oh, er hasste es, durch die Uneinsichtigkeit einiger störrischer Männer eventuell dazu gezwungen zu sein, Unschuldige in diesen Machtkampf mit hineinzuziehen. Aber nach allem, was ihm Fabius von diesem Theodoros erzählt hatte, würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben.

Ihm fiel die kleine Melina wieder ein. Ob sie die Tochter eines vornehmen Atheners war? Wenn er nach ihrer Kleidung ginge, musste er diese Frage zu seinem Bedauern bejahen. Dennoch hoffte er, sie verschonen zu können... wenn sie sich versteckte und sich damit dem Zugriff seiner Leute entzog, würde er nicht nach ihr suchen lassen...

„Oh, ihr Götter“, flehte Lucius in Gedanken. „Bitte, wendet alles zum Guten, damit ich die Unschuldigen verschone... bitte, lasst Melina irgendwo anders Zuflucht finden als in Athen.“

 

 

 

Bereits am frühen Vormittag des nächsten Tages fand sich auf dem außerhalb von Athen liegenden Friedhof eine kleine Versammlung um eine schmale, hohe Grabstele, die das Relief einer jungen Frau zeigte. Darunter stand eingemeißelt der Name CORA.

Melina liefen genauso wie letztes Jahr die Tränen übers Gesicht. Die alljährlichen Opfer, welche man am Todestag eines nahen Angehörigen darbringen musste, machten ihr wieder einmal deutlich, dass ihre Mutter aus dem Leben geschieden und unwiederbringlich fort war.

Neben ihr sprach Leandros die Gebete für die Tote, pries sie als gute Ehefrau und Mutter und flehte die Götter der Unterwelt an, die Verstorbene im Schoß der Erde ihren Frieden finden zu lassen. Danach reichte ihm eine Sklavin eine goldene Schale mit Honigkuchen, worauf sich Leandros vor die Grabstele niederkniete und die durchlöcherte Schale in die Erde drückte.

„Oh Hades und Persephone“, sagte er dabei laut. „Ihr göttliches Paar der Unterwelt, seid gepriesen dafür, dass ihr allen Toten Obdach in eurem Reich gewährt. Habt Dank für diese letzte Zuflucht. Wir bitten euch, nehmt diese kleine Gabe huldvoll an!“

Die Umstehenden murmelten ebenfalls ein Gebet und dankten den Göttern der Unterwelt für ihre Gnade. Danach trat Quella neben ihre junge Herrin, die sich nun auch auf die Knie sinken ließ und von ihr eine silberne Schale, die ebenfalls am Boden mit Löchern versehen war, entgegennahm. Sie drückte sie neben das Speiseopfer für die Götter der Unterwelt in die Erde, ergriff eine kleine Karaffe, die ihr eine andere Sklavin reichte, und goss die darin befindliche Flüssigkeit in das silberne Gefäß, während sie sprach: „Oh Hades und Persephone, wir bitten euch, trinkt einen Schluck dieses guten Weines zum Dank dafür, dass ihr Cora in  euer Reich aufnahmt.“

Nun ließen sich die übrigen Anwesenden um die Grabstele nieder und drückten jeweils eine Schale in die Erde. Manche dieser Schalen enthielten Lebensmittel, andere hingegen waren leer und wurden mit Milch oder Wein gefüllt. Nachdem das geschehen war, baten alle das göttliche Paar der Unterwelt, mit der lieben Verstorbenen ein Festmahl zu begehen.

Schließlich kniete sich der zweijährige Kimon zwischen Melina und Leandros, legte einen kleinen Blumenkranz vor die Grabstele seiner Mutter, murmelte: „Danke!“ und schob dann seine kleinen Händchen jeweils in eine Hand seiner älteren Geschwister.

Dies war das Zeichen für alle an dem Trauerritual Beteiligten, sich an den Händen zu fassen und gemeinschaftlich ein Gebet für die Verstorbene zu sprechen. Danach war die gesamte Zeremonie abgeschlossen und man erhob sich, um dem Ausgang des Friedhofs zuzustreben, wo bereits eine große Rheda [1] stand, die sie hergebracht hatte und mit der man nun in das Landhaus von Theodoros, das sich an der Grenze zu Böotien befand, weiterfahren wollte.

Melina war bereits mit Quella, die den kleinen Kimon auf den Armen trug, in das Fahrzeug eingestiegen, als sie hörte, dass von draußen wildes Geschrei ertönte. Neugierig schaute sie aus dem Fenster und sah, dass etwa zehn Reiter, deren Gesichter derart verhüllt waren, dass man nur ihre Augen sah, mit schwingenden Schwertern auf die kleine Reisegesellschaft zurasten und begannen, den Begleittrupp, der von Leandros angeführt wurde, anzugreifen.

„Schnell! Schnell! Kommt rein!“ schrie Quella ängstlich den vier anderen Sklavinnen zu, die sich noch vor der Rheda befanden und wie gelähmt auf das Schauspiel starrten, das ihnen die Kämpfenden boten. Der Ruf der alten Amme brachte die Frauen jedoch wieder zu sich und sie stiegen hastig in den Wagen ein und schlossen die Türen.

„Herrin, bitte schließt das Fenster!“ flehte Quelle ihren Schützling an, aber Melina, die ungläubig beobachtete, was sich neben ihnen abspielte, schüttelte den Kopf. Es war ihr unmöglich, ihren Bruder aus den Augen zu lassen.

„Oh Eirene!“ flehte sie in Gedanken. „Bitte, vertreibe doch endlich den Geist des Krieges aus Attika! Überrede Ares, in Aphrodites Armen zu ruhen, damit endlich wieder Frieden im Lande herrscht! Nur du vermagst dies zu vollbringen, große Eirene.“ [2]

„Oh Nike! Oh Ares!“ hörte sie plötzlich hinter sich die angstvollen Stimmen der vier Sklavinnen. „Schenkt unserem jungen Herrn Leandros den Sieg über seine Feinde!“ [3]

Im selben Augenblick sah Melina, dass ihr älterer Bruder seinem Gegner das Schwert in die Brust rammte. Der dermaßen tödlich Getroffene fiel vom Pferd und blieb regungslos liegen. Die übrigen verhüllten Reiter schrieen auf, sobald sie das bemerkten, und ergriffen die Flucht, zumal sich der kleinen Reisegesellschaft in schnellem Tempo eine Reiterstaffel der römischen Besatzer näherte.

Leandros, der sie auch bemerkte, sah ihnen mit gleichmütigem Gesicht entgegen. Quella  und die vier Sklavinnen hingegen verkrochen sich ängstlich in die Ecken der Rheda, während Melina, die keinerlei Furcht vor den Römern hatte, weiterhin aus dem Fenster schaute. Sie bemerkte erstaunt, dass Leandros seinen Umhang mit der linken Hand ergriffen hatte und ihn fest an die Brust gedrückt hielt, während er Grüße mit den Römern austauschte.

„Wir haben von weitem gesehen, dass Ihr überfallen wurdet, und sind so schnell, wie es uns möglich war, zu Euch geeilt, um Euch zu helfen“, erklärte der Anführer des Reitertrupps, während er mit unverkennbarem Bedauern auf die drei toten Sklaven blickte, die sich tapfer gegen die Angreifer zur Wehr gesetzt hatten. „Für Eure Untergebenen kommt leider jede Hilfe zu spät. Tut uns sehr leid, junger Herr. Können wir  Euch in irgendeiner Weise behilflich sein ?“

„Nein, aber ich danke Euch für das Angebot“, erwiderte Leandros. „Uns bleibt nichts weiter zu tun, als die Toten zu begraben.“

Der junge Grieche nickte den übrig gebliebenen Sklaven zu, die sich nun daranmachten, ihre Gefährten von der Straße auf den Wegesrand zu betten, der sich vor der Mauer des Friedhofes befand.

Leandros selbst stieg vom Pferd und näherte sich dem verhüllten Toten, der ihn angegriffen hatte. Er beugte sich zu ihm hinab und nahm ihm das Tuch vom Gesicht. Melina, die das Ganze vom Fenster der Rheda aus atemlos beobachtete, entfuhr ein Schrei. Gleich darauf stürzte sie aus dem Wagen und kniete sich neben ihren älteren Bruder, der zusammengesackt war. Verzweifelt wandte sich die junge Frau an den Kommandanten der römischen Reiter.

„Bitte, helfen Sie meinem Bruder!“ schrie sie ihn mit Tränen in den Augen an.

Sofort eilten einige der Römer zu ihr hin, drehten den griechischen Jüngling um und einer der Soldaten presste ihm ein zusammengerolltes Stück Stoff gegen die Brust, aus der Blut heraussickerte, während ein anderer eilig Leandros’ Umhang von ihm abnahm, um damit das dicke Stoffbündel vor der Brust fest an den Körper zu binden.

„Wir bringen Euren Bruder in unser Lager, um ihn besser zu versorgen“, sagte der Kommandant des Reitertrupps in ruhigem Ton zu Melina. „Ich bin sicher, dass seine Verwundung nicht tödlich ist.“

„Kann ich meinen Bruder begleiten?“ fragte das Mädchen in besorgtem Ton und schaute wieder zu dem bewusstlosen Leandros, der gerade von einem der Römer aufs Pferd gehoben wurde.

„Herrin!“ protestierte die alte Quella aus der Kutsche heraus, wurde von Melina jedoch nicht beachtet. Zu groß war ihre Angst um das Leben ihres Bruders.

„Es wäre besser, wenn Ihr nach Hause zurückfahren würdet, junge Dame“, meinte der römische Kommandant. Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf den toten Angreifer, der nun mit unverhülltem Gesicht vor ihnen lag. „Kennt Ihr diesen Mann, junge Dame?“

„Ja... ja...“, kam es zitternd von Melinas Lippen und erneut stürzten Tränen aus ihren Augen. „Sein Name ist Alexandros Hipparchos... er ist der Schwager meines Vaters...“

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Mit stolzgeschwellter Brust saß Theodoros im großen Saal seiner Villa in einem breiten Holzsessel, der sich auf dem leicht erhöhten Podest befand, und erwartete mit überheblichem Blick die Besucher, die jeden Moment eintreten konnten.

Obwohl er es bisher hochmütig von sich gewiesen hatte, war der alte Grieche nun gezwungen, den römischen Statthalter von Attika und den Kommandanten der Truppen, die sich vor Athen befanden und es umlagert hatten, zu empfangen. Lucius Marcellus, so hieß der Armeeführer, hatte überall in der Stadt laut verkünden lassen, dass er Verhandlungen mit Theodoros Aigikoreus führen wolle und die Mitglieder des Volksrates dazu bitte. Um sein Gesicht nicht zu verlieren, musste der Rebellenführer notgedrungen die verhassten Römer empfangen. Lucius hatte ihm nämlich gleichzeitig durch einen Boten mitgeteilt, dass er – sollte Theodoros ihn und Fabius Maiorus Graeccus nicht empfangen – auf der Agora öffentlich die Frage aufwerfen lassen werde, was die Führer des Volksrates denn zu verbergen hätten, da sie nicht einmal zu Verhandlungen bereit waren. Theodoros wusste, dass dies tatsächlich Zweifel bei den Athenern säen würde. Nur deshalb musste er sich jetzt widerwillig anhören, was Lucius ihm sagen wollte. Dennoch empfand er ein triumphales Gefühl dabei, dass die Vertreter des römischen Imperiums ihn quasi zu diesem Treffen erpressen mussten. Für ihn war das ein deutliches Zeichen, dass Attika in diesem Kampf die Oberhand hatte.

Seine hochmütige Zuversicht spiegelte sich in den Gesichtern der übrigen Mitglieder des Volksrates, die sich ebenfalls im großen Saal eingefunden hatten und nun darauf warteten, dass der Statthalter und der Legat erschienen.

Megara, die neben ihrem Mann auf einem etwas niedrigeren Thron saß, hielt ebenfalls ihr Haupt stolz erhoben, während ein kaum wahrnehmbares Lächeln ihre Lippen umspielte. Theodoros hatte noch gar nicht bemerkt, dass Alexandros fehlte. Megara hoffte, dass es ihrem Bruder inzwischen gelungen war, Leandros zu töten und Melina zu entführen. Wenn alles gut ging, würden sie spätestens in drei Tagen ihren Gatten mit der Tatsache konfrontieren, dass seine geliebte Tochter mit Alexandros verheiratet und die Ehe bereits vollzogen worden war.

Beglückt durch diesen Gedanken harrte sie gelassen an der Seite ihres Mannes der Dinge, die kommen würden. Die römischen Besatzer schreckten sie nicht. Alexandros würde mit ihnen in Verhandlungen treten, sobald die Macht allein in seinen Händen lag.

Kaum hatte Megara diese Überlegungen abgeschlossen, zogen bewaffnete, römische Soldaten in den großen Saal ein und drängten die Anwesenden zurück. In den leeren Kreis, der daraufhin in der Mitte entstand, traten wenige Sekunden später Fabius Maiorus Graeccus und Lucius Marcellus, der selbstsicher neben dem Statthalter Attikas einherschritt.

„Ave!“ grüßten die beiden römischen Anführer laut, setzten sich jedoch nicht auf die vorbereiteten Stühle, die sich vor dem Podest befanden, auf dem Theodoros mit seiner Ehefrau thronte.

Der alte Grieche verzog mit verächtlichem Lächeln sein Gesicht und erwiderte höhnisch: „Verzeiht, dass ich es unterlasse,  Euch in meinem Haus willkommen zu heißen, denn das seid  Ihr nicht! Genauso wenig, wie  Ihr in meinem Land willkommen seid.“

„Eure Einstellung ist uns wohlbekannt, Theodoros Aigikoreus“, erwiderte Fabius, der Mühe hatte, seine Wut  zu zügeln .

Im Gegensatz dazu blickte Lucius dem Wortführer der Rebellen ebenso stolz ins Gesicht wie dieser ihm und meinte in kaltem Ton: „Ihr habt also Eure Einstellung nicht überdacht, Theodoros Aigikoreus?“

„Ich wüsste nicht, warum ich es  tun sollte!“ entgegnete der alte Grieche herablassend. „Ihr habt Euch den Eintritt in mein Haus erzwungen, Kommandant. Nun sagt mir endlich, was Ihr von mir wollt!“

„Ihr wisst genau, weshalb ich hier bin, Theodoros Aigikoreus“, sagte Lucius. „Gebt  Euren Widerstand gegen Rom auf! Ihr könnt gegen uns nicht gewinnen – und Ihr wollt doch nicht etwa, dass Eure Landsleute ihr Leben für eine aussichtslose Sache hingeben?“

„Leere Worte eines Barbaren!“ höhnte der alte Grieche. „Wer sagt denn, dass unser Kampf für die Freiheit aussichtslos ist? Wir werden euch besiegen, Römer!“

Bei den letzten Worten hatte sich Theodoros erhoben und man hörte laute Zustimmung von Seiten der übrigen Griechen, die sich im großen Saal befanden.

Mit unbewegter Miene ließ Lucius seinen Blick über die Menge schweifen und wandte sich schließlich wieder an den Rebellenführer: „Ist das wirklich Euer letztes Wort, Aigikoreus?“

„Wir werden uns der römischen Tyrannei nicht beugen!“ schrie Theodoros. „FREIHEIT FÜR ATHEN!“

„FREIHEIT FÜR ATHEN!“ krischen die übrigen Griechen begeistert.

„Nun gut, ihr wollt es nicht anders“, murmelte Lucius und rief dann laut: „FLAVIUS!“

Ein junger, römischer Offizier, der am Eingang gewartet hatte, schaute zu ihm und erkannte das Handzeichen, dass sein Kommandant ihm gab. Eine Sekunde später war er verschwunden.

„FREIHEIT FÜR ATHEN!“ schrieen die Griechen erneut. „FREIHEIT FÜR GRIECHENLAND! NIEDER MIT ROM!“

„Das Volk ist aufgebracht. Sollten wir nicht lieber verschwinden?“ wandte sich Fabius an Lucius. Doch dieser schüttelte nur den Kopf, während er unwillkürlich ein leicht spöttisches Lächeln um seine Mundwinkel erkennen ließ.

„Aber, Legatus, gleich wird hier ein Tumult ausbrechen!“

„Keine Sorge, Fabius“, meinte Lucius kalt. „Ich habe alles im Griff, und bald werdet Ihr sehen, wie klein diese jetzt noch aufgebrachten Athener sein werden. Nur Geduld!“

In diesem Moment erklangen von draußen laute Fanfarentöne, die immer wieder eine bestimmte Lautfolge spielten. Sofort wurde es im großen Saal totenstill.

„Was hat das zu bedeuten?“ wagte Megara zu fragen.

„Vermutlich ist das ein Hilferuf nach Rom – ein letzter Angstschrei unserer Besatzer, bevor sie von uns besiegt werden“, verkündete Theodoros hämisch und lachte laut auf. Seine Landsleute klatschten Beifall und fingen ebenfalls an, zu lachen, während wieder der Ruf einiger griechischer Männer ertönte: „Freiheit für Athen! Nieder mit Rom!“

„NICHT SO VOREILIG!“ brüllte Lucius in das Stimmengewirr der Rebellen, worauf die Menge verstummte und ihn erstaunt ansah. Der römische Armeeführer stand stolz und aufrecht da und lächelte ebenso hämisch wie Theodoros. Megara war das nicht geheuer.

„Hier stimmt etwas nicht!“ sagte sie laut.

„Schweig, Weib! Es steht dir nicht zu, deine Stimme zu erheben!“ fuhr Theodoros sie an.

„Reichlich unklug von Euch, nicht auf Eure Gattin zu hören“, mischte sich nun Lucius in spöttischem Ton ein.

„Was soll das heißen?!“ fragte der Rebellenführer aufgebracht.

„Die Fanfaren, Theodoros“, ließ sich Megara nun wieder vernehmen. Ihre Stimme klang beunruhigt und ihr Blick ruhte ängstlich auf dem  großen, blonden Römer, der sie böse anlächelte. „Die Fanfarenklänge haben irgendetwas zu bedeuten!“

„Ihr habt eine kluge Frau, Theodoros Aigikoreus“, meinte Lucius daraufhin. „Es wäre besser, wenn Ihr auf sie hören würdet, denn sie hat recht. Die Fanfarenklänge sind ein Zeichen.“

„Ein Zeichen?!“ fragte der Alte stirnrunzelnd. „Was für ein Zeichen?“

„Da ihr nicht mit uns kooperieren wolltet, sind wir gezwungen, zu härteren Maßnahmen zu greifen“, erklärte Lucius.

„Was soll das heißen, Römer?“ schrie Theodoros ihn an. „Wovon redet Ihr?“

„Geduldet Euch noch einen Augenblick, dann erfahrt Ihr es“, gab Lucius gleichmütig zurück. Schweigend starrte ihn nun die Menge der griechischen Männer an. Ihnen war sein Verhalten nicht geheuer und sie fühlten plötzlich, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. Dieser römische Offizier war so überlegen, so ruhig... er hatte etwas vor, das ihnen nicht gefallen würde...

Allzu lange mussten sie jedoch nicht warten, bis sie es erfuhren. Einige Minuten später eilte ein römischer Soldat in den großen Saal zu Lucius und wisperte diesem etwas ins Ohr. Ein Lächeln erhellte das Gesicht des Legaten und er wandte sich nun erneut an Theodoros: „Nun, wollt Ihr immer noch nicht akzeptieren, dass Euer Land ein Teil des römischen Imperiums ist und Ihr sowie Eure Anhänger damit als tributpflichtige Bürger dem Kaiser untersteht?“

„Nein! Wir freien Athener werden uns niemals einem Barbaren unterwerfen!“ schrie der Rebellenführer, doch die erwartete Zustimmung von Seiten seiner Anhänger blieb aus. Diese schauten vielmehr unsicher zu dem römischen Offizier hin, der immer noch selbstbewusst im Raum stand und lächelte.

„Wenn das so ist, sind wir leider gezwungen, eure Kinder als Geiseln mit nach Rom zu nehmen“, erklärte Lucius.

Eine Weile war es erneut totenstill im Raum, dann donnerte ihm Theodoros entgegen: „Das wagt Ihr nicht!“

„Es ist längst geschehen, alter Mann!“ antwortete Lucius nun in herablassendem Ton. Ein Blick der Verachtung traf denjenigen des Rebellenführers. „Wir haben alle eure Kinder in unserer Gewalt!“

Der römische Offizier bedachte nun die Anwesenden ebenfalls mit verächtlichem Blick und sagte laut: „Beglückwünscht euch selbst dazu, störrische Männer der Athener Volksvertretung, dass eure Kinder aus ihrer Familie gerissen und in einem fremden Land ihr weiteres Leben werden verbringen müssen!“

„Er lügt!“ schrie Theodoros laut auf. „Glaubt ihm nicht!“

„Warum zweifelt Ihr an der Wahrheit meiner Worte?“ fragte Lucius erstaunt.

„Ihr behauptet, dass Ihr alle unsere Kinder in Eurer Gewalt habt“, erklärte der Rebellenführer. „Aber das ist eine Lüge. Meine Kinder sind nicht in Eurer Hand, Legatus!“

„Ach, glaubt Ihr das wirklich, Theodoros?“

„Meine Kinder befinden sich außerhalb Athens!“

„Irrtum, Theodoros! Eure Kinder sind ebenfalls im Gewahrsam meiner Leute!“

„Ihr lügt, Römer!“ widersprach der Alte wütend.

Gleichmütig blickte ihm Lucius nun wieder ins Antlitz und meinte gelassen: „Wenn Ihr mir nicht glaubt, dann lauscht den Worten einer Augenzeugin.“

Der Armeeführer wandte sich an den Soldaten, der ihm soeben die Neuigkeiten ins Ohr geflüstert hatte, und befahl: „Bringt das Mädchen herein!“

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 Zwei der Sklavinnen waren aus der Rheda herausgesprungen und halfen nun der zitternden Melina, wieder in den Wagen einzusteigen. Kaum war sie drin, stürzte sie sich in Quellas Arme und weinte. Unter Tränen erklärte sie, dass es sich bei dem Gegner, den Leandros tödlich getroffen hatte, um Alexandros handelte. Die alte Amme und die vier Sklavinnen starrten sie erschrocken an, während Kimon, der sich an Quella gelehnt und sie umfasst hielt, anfing zu weinen. Zwar hatte der Zweijährige kaum verstanden, worum es ging, aber das Weinen seiner Schwester wirkte ansteckend auf den kleinen Jungen.

Mittlerweile hatte sich die Rheda in Bewegung gesetzt und fuhr, von einigen Männern der römischen Reiterstaffel begleitet, wieder zurück zum Haus von Theodoros Aigikoreus.

„Was sollte dieser Überfall, Quella?“ wandte sich Melina mit verweinten Augen an ihre Amme. Sie achtete weder auf die lauten Töne der Fanfaren, die in der ganzen Stadt erschallten, noch auf das bald darauf einsetzende Geschrei. Zu tief saß der Schock, dass der Bruder ihrer Stiefmutter sie angegriffen hatte.

„Bitte, Quella, kannst du mir nicht erklären, was Alexandros mit seinem Überfall auf uns bezweckte?“ fragte die junge Frau erneut. Die alte Amme schwieg. Natürlich ahnte sie, dass Megara ihren Bruder dazu angestiftet hatte. Aber sie wollte nicht diejenige sein, die es ihrer Herrin erklärte.

„Ach, kleine Herrin, weint doch nicht“, meinte eine der jungen Sklavinnen tröstend. „Wir sollten uns freuen, dass Euer Bruder diesen Verräter getötet hat.“

„Aber Leandros ist verwundet...“

„Er wird schon wieder gesund“, murmelte Quella nun und schloss Melina in ihre Arme. „Bitte, kleine Herrin, beruhigt Euch.“

„Wollten wir ursprünglich nicht Richtung Böotien fahren?“ fragte plötzlich eine der Sklavinnen, die gerade aus dem Fenster blickte.

„Ich will zurück nach Hause!“ schluchzte Melina.

„Nun, kleine Herrin, genau dort sind wir gleich wieder“, klärte die Sklavin sie auf.

„Wie bitte?!“ entfuhr es Quella erschrocken.

Einen Moment später wurde die Tür der Rheda aufgerissen und ein römischer Soldat befahl in grobem Ton: „Aussteigen!“

Eingeschüchtert folgten die vier Sklavinnen diesem Befehl sofort, während Melina sich erstaunt umwandte. Die Reiter vorhin waren doch sehr höflich gewesen. Was war passiert?

„Aussteigen!“ bellte der Römer erneut.

„Wir sollten besser gehorchen“, meinte Quella, die im Gegensatz zu ihrer jungen Herrin nicht vergessen hatte, dass Athen sich im Kriegszustand befand und die Römer ihre Feinde waren. Sie erhob sich, nahm den kleinen Kimon auf die Arme und stieg aus. Melina wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, zog sich die Kapuze über den Kopf und folgte den beiden. Draußen wurde sie gleich darauf Zeugin, wie einer der Römer Quella den Zweijährigen aus der Hand riss und sich anschickte, mit ihm in das Haus zu gehen.

„Kimon!“ protestierte die alte Amme. „Gebt mir sofort meinen kleinen Kimon zurück!“

„He! Was soll das bedeuten?!“ fragte nun auch Melina, der das Verhalten der römischen Soldaten, die sie umgaben, merkwürdig erschien. Sie sah, dass das Haus ihres Vaters von bewaffneten Römern umstellt war. Hinter sich hörte sie Schreie, drehte sich um und beobachtete fassungslos, wie römische Soldaten Jünglinge, Mädchen sowie kleinere Kinder aus einigen der Nachbarhäuser herausschleppten, sie zu sich aufs Pferd hoben und davonritten, während ihnen verzweifelte Frauen laut weinend und kreischend hinterherstarrten, von anderen Römern daran gehindert, ihnen nachzulaufen.

Beunruhigt trat Melina zu dem römischen Soldaten, der sie verwundert anglotzte, und forderte in strengem Ton: „Gebt mir meinen kleinen Bruder!“

„Tu, was die junge Dame dir sagt“, ließ sich nun der Kommandant der Reiterstaffel, die sie nach Hause begleitet hatte, vernehmen. Widerstandslos überließ der Römer dem Mädchen den Zweijährigen, der immer noch weinte. Melina wiegte ihn ein wenig hin und her.

„Bitte, geht ins Haus!“ forderte der Kommandant sie nun in freundlichem Ton auf. „Ihr werdet erwartet!“

Erstaunt warf das Mädchen ihm einen Blick zu, schaute zu Quella und schritt dann mit Kimon auf den Armen ins Haus, gefolgt von der alten Amme. Auch hier erblickte die junge Frau überall bewaffnete Römer. Einer der Soldaten bat sie in höflichem Ton, ihm zu folgen, und führte sie in den großen Saal, wo sie am Eingang stehen blieb und verwundert zur Kenntnis nahm, dass heute scheinbar eine große Volksversammlung einberufen worden war. Sie kannte fast alle der Anwesenden, die sie nun mit aufgerissenen Augen begafften, als würden sie sie zum ersten Mal sehen.

Melina ließ schweigend den Blick zur Mitte des Raumes wandern und erstarrte. Dort, neben Fabius Maiorus Graeccus, stand Lucius... ihr Lucius mit dem goldenen Haar...

Auch der römische Offizier, der sich bei ihrem Eintritt umgewandt hatte, schien überrascht. Einen kurzen Augenblick meinte sie, einen schmerzlichen Ausdruck in seinem Gesicht wahrzunehmen, aber dann wandte sich der blonde Römer wieder ihrem Vater zu.

„Melina!“ rief Theodoros im selben Moment aus und sie richtete ihre Augen nun auf ihn.

„Melina!“ ließ sich ihr Vater noch einmal lauter vernehmen. „Melina, komm her zu mir!“

Die junge Frau setzte sich langsam in Bewegung. Sie verstand noch nicht ganz, was hier vor sich ging. Aber sie fühlte sich unwohl. Warum nur herrschte in dem Raum, in dem sonst lebhaft diskutiert wurde, eine solch drückende Stille? Weshalb waren alle Augen auf sie gerichtet? Welches Interesse hatte man an ihr?

Als sie in der Mitte des Raumes ankam und sich ganz nah bei Lucius befand, ja ihn fast gestreift hätte, warf sie wieder einen fragenden Blick auf ihn und vermeinte erneut, eine leichte Traurigkeit in seinem Antlitz wahrzunehmen. Doch dann verhärteten sich seine Gesichtszüge, seine blauen Augen schienen sich in Eis zu verwandeln.

Erschrocken darüber wollte Melina sofort weitergehen, aber Lucius hinderte sie daran, indem er sein Schwert aus der Scheide zog und ihr damit den weiteren Weg versperrte.

„Bleib genau hier stehen!“ befahl er ihr in strengem Ton und sie gehorchte augenblicklich.

Jetzt wandte sich der blonde Römer wieder an ihren Vater: „Nun, Theodoros Aigikoreus, befrag doch dieses Mädchen hier, ob ich die Wahrheit sage oder nicht!“

„Wage es ja nicht, meiner Tochter auch nur ein Haar zu krümmen!“ schrie der Rebellenführer.

„Ich habe nicht vor, irgendeinem eurer Kinder ein Leid anzutun“, erklärte Lucius kühl. „Allein, es liegt an euch Athenern, ob ich sie verschone. – Also, frag deine Tochter ruhig, ob ich die Wahrheit gesagt habe, Theodoros!“

Die Wangen des Rebellenführers hatten alle Farbe verloren und trotz seines zornigen Gebahrens gegenüber dem römischen Legaten war offensichtlich, wie unsicher er inzwischen war.

„Melina“, sprach er sie nun an. „Melina, dieser Römer behauptet, er hätte die Kinder aller hier Anwesenden in seiner Gewalt. Kannst du uns etwas darüber sagen?“

„Nun, ich... ich habe gesehen, dass... nun ja, Vater, ich fürchte, er sagt die Wahrheit“, erwiderte das Mädchen stockend. „Viele römische Soldaten haben Kinder und junge Leute aus der Stadt gebracht...“

Lautes Raunen ging durch den Saal. Melina bedachte die Menge mit mitleidigem Blick, während sie ihren kleinen Bruder, der leise weinte, an sich drückte. Als sie wieder zu ihrem Vater schaute, sah sie, dass er ebenfalls betroffen auf seine Anhänger starrte. Nur Megara schickte ihr einen Blick voller Hass. Schnell wandte sie ihre Augen von denjenigen ihrer Stiefmutter ab und widmete sich voller Sorge wieder ihrem Brüderchen.

„Melina“, vernahm sie nun wieder die Stimme ihres Vaters. „Wo ist Leandros?“

Die junge Frau erhob ihren Blick wieder zu Theodoros und antwortete: „Er ist verletzt worden!“

„Verletzt!“ rief ihr Vater entsetzt auf. „Haben die römischen Hunde ihm etwa...?“

„Hüte deine Zunge, Theodoros!“ wies Fabius ihn in zornigem Ton zurecht.

„Nein, Vater, es waren keine Römer, die Leandros verwundet haben“, beeilte Melina sich zu sagen. „Wir sind von vermummten Gestalten angegriffen worden.“

„Angegriffen?“ fragte der Rebellenführer verständnislos. „Wer hat  euch angegriffen?“

„Es war Alexandros“, erwiderte das Mädchen. „Er ist mit etwa zehn Männern auf uns zugestürmt und hat versucht, Leandros umzubringen!“

„Das ist eine Lüge!“ schrie Megara nun empört auf und sprang von ihrem Sitz. „Mein Bruder gehört zur Familie und hat gar keinen Grund, so etwas zu tun!“

„Er war es!“ rief Melina laut aus und sah hilfesuchend zu ihrem Vater, der sie entsetzt anstarrte. „Er hat Leandros schwer verletzt... bitte, Vater, du musst mir glauben!“

„Wie kannst du es wagen, meinen Bruder eines solchen Verbrechens zu bezichtigen?!“ schrie Megara das Mädchen zornig an. Ihr Gesicht war rot und wutverzerrt. Sie wandte sich an Theodoros: „Alexandros war dein Verbündeter! Niemals würde er einen derartigen Verrat begehen!“

„Ich sage die Wahrheit!“ beschwor Melina ihren Vater. Kimon begann aufgrund des Geschreis, erneut zu weinen, während die junge Frau ihren Vater eindringlich anblickte.

Dieser schüttelte den Kopf und murmelte: „Ich kann nicht glauben, dass Alexandros euch angegriffen hat. Es handelt sich sicher nur um ein Missverständnis.“

„Warum glaubst du mir nicht?!“ fragte Melina. „Alexandros war noch nie vertrauenswürdig!“

„Halte endlich deinen vorlauten Mund!“ mischte sich Megara nun wieder in das Gespräch ein. Dann wandte sie sich erneut  ihrem Mann zu. „Wir sollten uns anhören, was Alexandros dazu zu sagen hat!“

„Ja! Das werden wir tun!“ meinte Theodoros, beachtete seine Tochter nicht weiter und richtete das Wort an Lucius: „Bringt meinen Schwager herein, damit wir auch seine Version der Geschichte hören.“

Der blonde Römer winkte daraufhin einen seiner Soldaten herbei, raunte ihm etwas ins Ohr und dieser verschwand. Dann bedachte er Melina mit einem intensiven Blick, ohne dass sein Gesicht irgendeine Emotion erkennen ließ. Das Mädchen merkte davon allerdings nichts, da es mit traurigen Augen seinen Vater beobachtete. Dieser kümmerte sich nur um Megara, deren Hand er liebevoll drückte.

Harte Schritte hinter ihr ließen Melina erschrocken herumfahren. Zwei kräftige römische Soldaten trugen eine in ein weißes Tuch gehüllte Gestalt herein und legten sie vor dem Podest des Hausherrn nieder, ehe sie sich wieder zurückzogen.

Megara, deren Augen sich bei dem Tun der Römer weiteten, fragte nun mit angehaltenem Atem: „Was... was ist das?“

„Ja, was soll das bedeuten, Legatus?!“ rief Theodoros aufgebracht. „Weshalb legt  Ihr mir dieses Bündel hier zu Füßen? Ich hatte darum gebeten, meinen Schwager hereinzubringen.“

„Das haben wir getan!“ erwiderte Lucius kalt und deutete auf den verhüllten Toten am Boden. „Schau doch selbst nach!“

Mit unsicheren Schritten und zitternder Unterlippe stieg Megara vom Podest, beugte sich zu der bedeckten Gestalt hinunter und zog ihr das Tuch vom Gesicht. Ein Aufschrei entfuhr ihren Lippen.

„Alexandros!“ rief sie laut aus, begann zu kreischen und ließ sich auf den entseelten Leib ihres Bruders fallen. „Nein! Nein! Alexandros! Alexandros!“

Bestürzt schaute Theodoros auf sie hinab. Er konnte kaum glauben, was seine Augen ihn sehen ließen. Sein Verbündeter war tot... tot...

Mit wütendem Gesicht wandte er sich nun wieder Lucius und Fabius zu.

„Das werdet ihr bereuen!“ zischte er zwischen seinen Zähne hervor. „Glaubt ihr etwa, dass sein Tod ungesühnt bleibt?!“

„Vater, die Römer haben Alexandros nicht getötet!“ rief Melina nochmals laut. „Verstehst du denn nicht, Vater?! Alexandros hat uns angegriffen und ist bei seinem Versuch, Leandros zu töten, umgekommen! – Alexandros ist ein Verräter gewesen!“

Aufgeregtes Stimmengewirr erfüllte nach diesen Worten den Raum. Zufrieden blickte Lucius um sich. Die Athener Oberschicht war verwirrt und entsetzt, dass ihr Rebellenführer, den sie doch für einen so weitblickenden Mann gehalten hatten, von seinem eigenen Schwager und Verbündeten dermaßen hintergangen worden war. Der Legat konnte förmlich spüren, wie das Vertrauen in Theodoros Aigikoreus dahinschwand.

„Nun, Athener!“ wandte sich Lucius in lautem Ton an die aufgebrachte Menge. „Wollt  ihr  euch nicht endlich ergeben und Rom die Treue schwören?“

„Nein!“ fuhr Theodoros mit zornfunkelnden Augen auf. „Nein, niemals!“

„Theodoros, sei doch vernünftig!“ hörte der Rebellenführer daraufhin mehrere seiner Anhänger rufen. Es blieb nicht bei dieser einen Aufforderung.

„Tun wir, was er sagt!“

„Ja, wir wollen Rom die Treue schwören!“

„Lass uns tun, was er sagt, Theodoros! Er hat unsere Kinder!“

„Wir haben verloren!“

Ungläubig blickte Theodoros in die Menge seiner Anhänger. Er konnte kaum glauben, dass sie so schnell dazu bereit waren, sich Rom zu unterwerfen.

„Habt  ihr den Verstand verloren, Athener?!“ fuhr er sie an.

„Du hast den Verstand verloren, Aigikoreus!“ schrie ihm einer seiner Nachbarn entgegen. „Hast du denn nicht gehört, was deine Tochter sagte? Hipparchos wollte deinen Sohn töten! Er hat dich verraten! Er hat uns alle verraten! Sollen etwa unsere Kinder wegen dieses Verräters sterben?“

„Nein!“ rief nun ein anderer Grieche. „Wir haben verloren und werden uns Rom unterwerfen! Tun wir es für unsere Kinder!“

„Ja! Ja! Wir wollen Rom die Treue schwören!“ ließen sich viele Stimmen nun vernehmen.

„Da hörst du es, Aigikoreus“, wandte sich Lucius daraufhin wieder dem Rebellenführer zu. „Gib endlich auf und unterwirf dich! Schwöre auf der Stelle, dass du von nun ab ein treuer Diener Roms sein wirst!“

Doch Theodoros starrte den römischen Armeeführer mit hasserfüllten Augen an und schüttelte den Kopf. Die Züge Lucius’ verfinsterten sich.

„Du willst also weiterhin uneinsichtig bleiben, Aigikoreus?!“ donnerte er ihm entgegen.

„Ich werde mich niemals Barbaren unterwerfen!“ entgegnete der Alte. „Ich bin ein freier Athener!“

Lucius blickte nun wieder auf Melina, die neben ihm stand, den weinenden kleinen Bruder fest an sich gedrückt. Er gab einem seiner Soldaten mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er dem Mädchen das Kind fortnehmen sollte. Der Legionär trat neben die junge Frau und forderte sie auf: „Gebt mir das Kind!“

„Was?!“ entfuhr es Melina entsetzt.

„Du hast richtig verstanden, Mädchen!“ sagte Lucius in hartem Ton zu ihr, worauf sie ihren Blick auf sein Antlitz richtete und ihn ungläubig anstarrte. „Gib ihm das Kind!“

„Nein! Nein!“ schrie Melina auf und presste Kimon, soweit dies überhaupt möglich war, noch fester an sich. „Ich werde  euch meinen Bruder niemals überlassen!“

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln zuckte um den Mund des Armeeführers und er wandte sich wieder an Theodoros.

„Was sagst du  dazu, Aigikoreus? Deine  Tochter wagt es, mir zu widersprechen. Findet ein solches Verhalten deine  Zustimmung, alter Mann?“

„Meine Tochter weiß, dass wir Athener für eine gerechte Sache kämpfen, und steht auf unserer Seite!“ rief Theodoros laut aus.

„Ich denke, dass der Widerstand deiner Tochter eher mit ihrer Liebe zu ihrem kleinen Bruder zu tun hat“, meinte Lucius. Er gab zwei seiner Soldaten ein Handzeichen und ehe Melina es sich versah, traten diese an sie heran, hielten sie mit festem Griff fest, während der Legionär, der vor ihr stand, ihr Kimon fortnahm, ohne dass sie etwas dagegen machen konnte.

„Nein! Nein!“ schrie das Mädchen auf und Tränen stürzten ihr aus den Augen. „Nein!“

Sie versuchte, sich den Händen der Soldaten zu entwinden, aber es gelang ihr nicht. Hilflos musste sie mit ansehen, wie der andere römische Soldat ihren kleinen Bruder in Lucius’ Arme legte.

„Siehe, Theodoros Aigikoreus, ich halte deinen jüngsten Sohn in Händen!“ wandte er sich nun in strengem Ton wieder an den Rebellenführer. „Dein ältester Sohn befindet sich bereits in meiner Gewalt und wird von mir nach Rom gebracht werden. Wenn du den Kleinen hier nicht auch noch verlieren willst, dann gib endlich deinen Widerstandsgeist auf, alter Mann!“

„Niemals!“ schleuderte ihm Theodoros entgegen.

Irritiert starrte Lucius den Rebellenführer an. Er hatte erwartet, dass dieser alles dafür tun würde, wenigstens seinen jüngsten Sohn bei sich zu behalten. Aber eine solche Reaktion von Seiten des alten Griechen war ihm völlig unerklärlich.

„Nein! Nein!“ hörte er Melina neben sich aufschreien. „Nein, Lucius! Lass meinen Bruder frei! Er ist doch noch so klein! Nimm statt seiner lieber mich als Geisel!“

Diese Worte ließen nun Megara, die die ganze Zeit über dem Körper des toten Alexandros gelegen und leise geweint hatte, wieder aufblicken. Mit hasserfüllter Stimme rief sie: „Ja, Römer, nehmt sie nur mit! Sie ist der Liebling ihres Vaters und eine viel bessere Geisel als der kleine Junge!“

„Tatsächlich?“ fragte Lucius und ein böses Lächeln glitt über sein Gesicht, während er Theodoros musterte, der offensichtlich erschrocken über die Worte seiner Gattin auf jene  starrte. Dieses Verhalten genügte dem Legaten, um die Wahrheit der Worte Megaras zu erkennen. Er reichte dem Legionär, der ihm Kimon gegeben hatte, den Jungen zurück. Dann wandte er sich an die Soldaten, die Melina immer noch fest gepackt hielten und nickte ihnen zu. „Bringt das Mädchen in mein Quartier. Sie steht unter meinem Schutz! Und behandelt sie ehrerbietig! Sie ist eine wertvolle Geisel!“

„Nein!“ schrie Theodoros plötzlich und blickte aufgrund dieser Worte wieder zu dem Armeeführer. „Nicht meine Tochter! Ich flehe Euch an, Legatus, lasst mir meine Tochter! Ich tue auch alles, was Ihr von mir verlangt!“

Mit diabolischem Lächeln blickte Lucius auf den alten Griechen und meinte: „Das Mädchen scheint wirklich ein sehr viel besseres Unterpfand zu sein, um deinen Widerstandsgeist zu brechen, als deine beiden Söhne, Aigikoreus! Aber um sicherzustellen, dass die Rebellion nicht erneut aufflammt, nehme ich alle deine Kinder mit nach Rom. Mir scheint, dies ist die beste Garantie dafür, dass Athen wieder zu der friedlichen Stadt wird, die sie jahrzehntelang war.“

Mit diesen Worten wandte sich der Armeeführer um und verließ, dicht gefolgt von Fabius, den großen Saal. Er ließ die Athener ratlos zurück und vernahm mit Befriedigung, wie diese begannen, in vorwurfsvollem Ton auf Theodoros einzureden, sobald er den Raum verlassen hatte.

Als Lucius aus dem Haus trat, wurde er hingegen Zeuge, wie eine alte Frau auf die Soldaten, die Melina in Gewahrsam genommen hatten, heulend und jammernd einredete, während sie sich an die Kleidung der Legionäre geklammert hielt und auf diese Weise versuchte, sie am Fortkommen zu hindern.

„Was ist hier los?!“ fragte der Offizier in herrischem Ton.

„Diese Alte hier lässt sich nicht abschütteln, Legatus!“ antwortete einer der Soldaten.

„Werdet ihr nicht einmal mit einer alten Frau fertig!“ fuhr Lucius seine Untergebenen an, packte Quella am Genick und schüttelte sie, worauf sie sofort ihren Griff von der Kleidung der Römer löste.

„Nein, bitte!“ flehte Melina mit lauter Stimme und der Armeeführer richtete sofort seine Augen auf sie. „Bitte, tue ihr nichts, Lucius! Diese Frau ist meine Amme! Lass sie gehen!“

Mit grimmigem Gesicht nickte der Offizier und warf die Alte zu Boden.

„Mein Lämmchen!“ jammerte Quella und blickte ihre junge Herrin bittend an. „Mein Lämmchen! Ich kann Euch doch nicht alleine lassen!“

„Gehört das Weib dir, Melina?“ fragte Lucius.

„Ja, sie hat mich großgezogen“, erwiderte das Mädchen. „Sie ist meine Dienerin. Wir waren bisher immer zusammen.“

„Dann soll es auch so bleiben“, sagte der Armeeführer, dessen Züge sich ein wenig entspannten. Er blickte nun viel freundlicher auf die alte Frau zu seinen Füßen. Dann fuhr er, an Quella gerichtet, fort: „Pack’ ein paar Sachen für deine Herrin zusammen, Alte. Flavius wird dich damit später zum Quartier deiner Herrin bringen.“

Lächelnd wandte Lucius sich dann wieder an das Mädchen.

„Hast du besondere Wünsche, Melina?“

„Ja, ich möchte, dass mein kleiner Bruder bei mir bleibt“, bat sie. „Außerdem wäre es gut, wenn die Sklavin, die Kimon auch sonst immer versorgt hat, uns nach Rom begleiten könnte.“

„Gut, ich habe nichts dagegen“, meinte Lucius und sah dann wieder zu Quella. „Du hast gehört, was deine Herrin will, Alte. Ich erwarte, dass du die Sklavin nachher mitbringst.“

„Und... und wenn mein Herr etwas dagegen hat?“ wagte die Amme zu fragen.

„Ich bin sicher, Theodoros Aigikoreus wird den Wünschen seiner Tochter nachkommen“, erwiderte Lucius mit verächtlichem Lächeln. „Schließlich ist es seine Schuld, dass sie nun in meiner Hand ist...“

„Wir hätten dies viel früher wissen müssen, dann wäre uns einiges erspart geblieben“, fiel der römische Statthalter dem Legaten ins Wort, wobei er Melina grinsend betrachtete. Ein Verhalten, dass dem Offizier nicht entging.

„Nun, Fabius, es stellt sich wirklich die Frage, warum Ihr es nicht herausfandet“, sagte Lucius mit kalter Stimme zu ihm. Der Blick, den er dabei dem Statthalter schenkte, ließ diesem das Blut in den Adern gefrieren. „Ihr lebt schon so lange hier in Attika, dass man von Euch erwarten konnte, über die Befindlichkeiten der herrschenden Persönlichkeiten Athens Bescheid zu wissen. Leider habt Ihr Euch in dieser Hinsicht als große Enttäuschung erwiesen, so dass man in Rom prüfen wird, ob Ihr Statthalter Attikas bleibt.“

Mit diesen Worten drehte Lucius sich um, ging auf Melina zu und reichte ihr seine Hand.

„Komm, ich bringe dich ins Lager“, meinte er freundlich, geleitete sie zu seinem Pferd, hob sie auf dessen Rücken und stieg dann selbst auf. Danach wandte er sich an den jungen Offizier, der vorhin auch den Saal auf sein Zeichen verlassen hatte, und befahl ihm: „Behalte die Alte im Auge, Flavius, und bring sie nachher mit der anderen Sklavin und den Sachen von Aigikoreus’ Tochter zu mir. Bis dahin ist sicherlich ein Quartier für meinen kleinen Gast hergerichtet.“

„Jawohl, Legatus!“ antwortete Flavius, worauf sein Vorgesetzter zufrieden nickte und dann mit seinem Begleittrupp zurück ins Lager außerhalb der Stadt ritt. Sobald sie seinem Blickwinkel entschwunden waren, wandte sich der junge Römer an die schluchzende Quella und meinte in sanftem Ton: „Nun, Alte, es wird Zeit, den Wünschen deiner Herrin nachzukommen. Du willst doch sicher, dass es ihr und ihrem Bruder in unserem Lager an nichts mangelt, oder? Ich werde hier draußen auf dich warten. Beeil dich!“

Quella, der angesichts der Übermacht der römischen Soldaten, die immer noch die Villa ihres Herrn umstellt hatten, klar war, dass sie im Moment nichts anderes tun konnte, als den Feinden zu gehorchen, kehrte ins Haus zurück, suchte das Gemach ihrer jungen Herrin auf und begann, einige ihrer Kleidungsstücke und persönlichen Sachen in eine große Kiste zu packen...

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[1] Rheda = Geschlossenes Kutschfahrzeug in der Antike, in der mehrere Personen Platz fanden.

[2] Eirene = griechische Göttin des Friedens  / Ares = griech. Kriegsgott / Aphrodite = griech. Göttin der Liebe.

[3] Nike = griech. Siegesgöttin

 

 

Melina zitterte noch immer, als Lucius sie in das große Zelt geleitete, das ihm als Quartier diente. Er betrachtete sie lächelnd und deutete auf einen Stuhl: „Bitte, setz dich doch.“

Schweigend kam die junge Frau dieser Aufforderung nach und schaute dann erwartungsvoll auf den Legaten. Hinter diesem trat nun der Legionär ein, der ihr vorhin ihren kleinen Bruder aus den Armen genommen hatte. Kimon weinte noch immer.

„Gib ihr das Kind zurück!“ befahl Lucius dem Soldaten, der dies umgehend tat.

Glücklich nahm Melina den Zweijährigen in Empfang, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Sscht! Es ist alles wieder gut, Kimon. Bald wird Tia bei uns sein.“

Auf ein Zeichen Lucius’ verließ der Legionär sofort das Zelt und der Offizier wandte sich nun wieder dem Mädchen zu.

„Ganz offensichtlich liebst du deinen kleinen Bruder, Melina. Wie kommt es, dass dein Vater ihm gegenüber so gleichgültig ist?“

Die junge Frau blickte zu dem Römer auf und starrte ihn sprachlos an.

„Willst du es mir nicht verraten, Melina? Ist es denn solch ein schreckliches Geheimnis?“

„Es ist überhaupt kein Geheimnis“, erwiderte das Mädchen, während sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. „Unsere Mutter starb kurz nach Kimons Geburt...“

„Ich verstehe...“, murmelte Lucius und schwieg. Der Anblick der beiden hilflosen Geschwister rief in ihm Mitleid hervor. Sie waren ohne Zweifel unschuldige Opfer dieser Rebellion und es schmerzte ihn, sie als Druckmittel gegen ihren uneinsichtigen Vater benutzen zu müssen. Nur wegen dessen Machthunger wurden sie ihrer Heimat entrissen und blickten einer ungewissen Zukunft in Rom entgegen.

„Es tut mir wirklich leid, Melina, dass alles so gekommen ist“; fuhr Lucius in entschuldigendem Ton fort. „Doch ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit es dir und deinen Geschwistern gut geht.“

„Danke, das ist sehr freundlich“, erwiderte das Mädchen unter Tränen. „Kannst du mir schon sagen, was mit Leandros ist? Sind seine Verletzungen sehr schlimm?“

„Ich glaube nicht“, meinte Lucius. „Jedenfalls schwebt dein älterer Bruder nicht in Lebensgefahr.“

„Kann ich ihn sehen?“

„Nein, Melina, im Augenblick nicht! Ich bitte dich, hier im Zelt zu bleiben, bis deine Sklavin eintrifft. Bis dahin ist sicherlich ein Zelt für dich bereit“, sagte der Offizier. „Hab keine Angst, Melina. Niemand hier wird dir etwas tun. Du stehst unter meinem persönlichen Schutz.“

Mit diesen Worten verließ Lucius das Zelt und ließ sie ratlos zurück. Sie wusste nicht, was sie von dem Verhalten des blonden Römers halten sollte. Einmal war er freundlich zu ihr, dann wieder kalt. Es war verwirrend...

Das herzzerreißende Schluchzen ihres kleinen Bruders klang ihr ins Ohr und verursachte ihr allmählich Kopfschmerzen.

„Bitte, Kimon, beruhige dich doch“, flüsterte sie. „Es ist alles wieder gut. Quella und Tia werden jeden Augenblick kommen.“

Aber der Kleine weinte weiter. Sein Gesichtchen war mittlerweile krebsrot und heiß. Besorgt wischte Melina ihm mit einem Teil ihres Umhangs über die Stirn und drückte ihn an sich.

Was mochte jetzt nur mit ihnen geschehen?

Ob sie Lucius vertrauen konnte? Ob sie es wirklich glauben konnte, dass er sie schützte?

Würde er sie wirklich als Geiseln nach Rom verschleppen? Oder würde er sie wieder freilassen, sobald ihr Vater sich einsichtig zeigte und dem Imperium die Treue schwor?

„Vater wird die Römer immer als Feinde betrachten“, dachte Melina traurig. „Es ist ganz unverkennbar, dass er nichts von ihnen hält und man einem unter Zwang abgegebenem Treueschwur von ihm nicht trauen kann...“

Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste das Mädchen bei diesem Gedanken. Sie wagte kaum, ihn weiterzuführen. Lucius war kein dummer Mann, sondern hatte ihren Vater bestimmt schon durchschaut. Aber das bedeutete im Umkehrschluss, dass ihre Zukunft in Rom lag, bei Fremden... was erwartete sie dort genau...?

Als ein weiteres Aufschluchzen von Kimon sie zurück in die Gegenwart holte, wollte Melina ihn wieder damit beruhigen, dass alles gut sei, aber sie war nicht dazu fähig. Sie konnte ihren kleinen Bruder, selbst wenn dieser erst zwei Jahre alt war, einfach nicht belügen...

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Quella hatte die Kiste für Melina noch nicht fertig gepackt, als sie herannahende Schritte hörte und erschrocken herumfuhr.  An der Tür zu Melinas Gemach stand, ebenso überrascht wie sie, Theodoros Aigikoreus und starrte sie an.

„Was tust du da?“ fragte er und schaute auf die noch geöffnete Kiste, in der sich bereits einige Kleider und Tücher befanden.

„Ich nehme ein paar Sachen für Melina mit“, erklärte die Alte. „Der Legatus erlaubte es.“

„Aha... so, so...“, murmelte Theodoros und schien sichtlich irritiert.

„Bitte, Herr“, nutzte Quella ihre Chance. „Melina bat darum, dass Tia mit uns kommt, um Kimon zu versorgen. Seid Ihr damit einverstanden?“

„Wie?“ Theodoros brauchte einige Sekunden, um das Gesagte zu begreifen. „Ja... ja, natürlich! Kimon braucht seine Kinderfrau... Nimm Tia ruhig mit!“

Sein Blick suchte traurig das Zimmer seiner Tochter ab und blieb an den beiden Puppen, die auf ihrem Bett saßen, hängen.

„Quella, nimm die beiden Puppen mit!“ befahl er der Alten. „Sie sind ein Geschenk ihrer Mutter und sicher möchte Melina sie bei sich haben. Du weißt, wie sehr sie an ihrer Mutter hing, und mein armes Mädchen braucht doch etwas, woran sie sich klammern kann... wenn schon nicht ich, ihr eigener Vater, sie vor dem Zugriff des Feindes zu schützen imstande bin... vielleicht vermag der Geist ihrer Mutter dies...?“

„Ach, Herr, niemand konnte seine Kinder vor der heimtückischen Gefangennahme durch die Römer schützen“, sagte Quella. „Macht Euch keine Vorwürfe. Es ist nicht Eure Schuld...“

„Doch! Doch, es ist meine Schuld!“ fuhr Theodoros auf. „Meine Kinder wären jetzt noch hier, wenn ich nicht auf Alexandros gehört hätte. Nun haben mich die Moiren bestraft, und sie taten gut daran! Wie konnte ich in meiner Hybris nur glauben, die römischen Besatzer vertreiben zu können?!“ [1]

„Pass gut auf Melina auf, Quella“, bat er sie.

„Natürlich, Herr. Das habe ich ja bereits ihrer Mutter am Totenbett versprochen“, sagte die Amme.

„Vergiss nie, dass die Römer unsere Feinde sind“, ermahnte Theodoros sie. „Im Moment bleibt mir zwar nichts anderes übrig, als mich dem Willen der römischen Barbaren zu fügen, da dieser Lucius Marcellus meine Kinder sowie die Kinder des Athener Volksrates als Geiseln genommen hat, aber das Schicksal könnte sich auch wieder wenden. Doch vorerst gilt es, das Leben unserer Kinder zu schützen.“

„Ja, Herr!“

„Meine kleine Melina ist sicherlich voller Angst“, murmelte Theodoros nachdenklich. „Wenn ich daran denke, wie schrecklich der heutige Tag für meinen Augenstern gewesen sein muss... erst das Totenopfer, das das Herz Melinas immer mit Trauer erfüllt, und dann der verräterische Überfall Alexandros’, den ich für meinen Bundesgenossen hielt...“

Theodoros hielt einen Moment in seinen Überlegungen inne, während sich sein Mund zu einem bitteren Zug verzog, und er murmelte: „...und ich alter Narr habe Alexandros vertraut... hätte ihm beinahe meine einzige Tochter zur Frau gegeben... Warum nur habe ich kein Ohr für die Einwände Melinas gehabt? Sie hat diesen Mann viel besser eingeschätzt als ich...“

Wieder schwieg der alte Grieche einen Augenblick und starrte traurig auf den Boden. Schließlich richtete er sich mit Augen, die Quella unendlich müde erschienen, an die Amme: „Nun ist meine Tochter in die Hände eines Legatus  gefallen, der den Ruf besitzt, besonders hart zu sein. Wer weiß, Quella, ob er meinem Augenstern keinen Schmerz zufügt!“

„Das wird er nicht wagen, Herr!“

Mit bitterem Lächeln blickte Theodoros auf Quella und erwiderte: „Wer sollte ihn daran hindern? Sie und ihre Brüder sind in seiner Hand.“

Er schwieg und blickte wieder nachdenklich zu der Alten. Dann fuhr er fort: „Wie konnte Megara nur so niederträchtig sein und dem Legatus  verraten, wie teuer mir Melina ist? Nur deshalb hat Lucius Marcellus sie als Geisel mit sich genommen!“

„Eure Gattin war vom Schmerz überwältigt! Schließlich wurde ihr ihr toter Bruder vor die Füße gelegt!“

„Ihr Bruder – der Verräter Alexandros! Und ich Verblendeter habe mich an die Schwester dieses Verräters gebunden! Sie erwartet sogar ein Kind von mir!“

Theodoros verzog angewidert das Gesicht. Quella erschrak. Zwar mochte sie Megara auch nicht, aber was konnte ihr ungeborenes Kind dafür, dass Alexandros ein Verräter gewesen war?

„Oh, Herr! Bedenkt, dass das Kind, dass Eure Gattin unter dem Herzen trägt, auch von Eurem Blut ist!“

„Ja, das ist wahr – leider!“ seufzte Theodoros. Wieder sah er nachdenklich auf Quella. Dann meinte er: „Ich möchte meinem Augenstern ein Geschenk machen, da sie mich gezwungenermaßen verlässt...“

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 Traurig betrachtete Lucius das kleinere Zelt, das man hinter seinem für Melina errichtet hatte. Es bot ausreichend Platz für sie, ihren jüngeren Bruder und die beiden Sklavinnen. Hier würde die kleine Griechin sich gewiss wohler fühlen als in seiner Gegenwart, und außerdem konnte er sich dann wieder in Ruhe mit seinen Offizieren in seinem Quartier beraten.

Welch ein grausames Spiel die Götter doch mit den Menschen trieben!

Womit hatten die Kinder der Athener Oberschicht, und insbesondere ein so reizendes Mädchen wie Melina, es verdient, dass sie als Geiseln nach Rom gebracht werden würden? Ihr einziges Verbrechen bestand lediglich darin, dass sie die Nachkommen von Rebellen waren.

Wenn er daran dachte, wie schön es mit der jungen Griechin gestern an der verborgenen Stelle im Wald gewesen und wie unbefangen sie ihm begegnet war, tat es ihm in der Seele weh. Niemals würde er zulassen, dass so ein schmieriger Hund wie dieser Fabius Maiorus Graeccus, der das liebliche Mädchen mit lüsternen Augen betrachtet hatte, seine kleine Freundin in die Finger bekam! Nicht ohne Grund befand Melina sich unter seinem persönlichen Schutz! Damit brachte Lucius unmissverständlich zum Ausdruck, dass es sein Wunsch war, das Mädchen in sein Haus aufzunehmen. Sie könnte seiner kleinen Tochter Divia Gesellschaft leisten und ihr sicherlich einiges beibringen, das nützlich für sie wäre...

„Oh, seht, Legatus, welch ein Zug sich uns nähert!“ rief einer seiner Soldaten plötzlich aus und deutete mit seinem Finger auf etwas, dass sich hinter ihm befinden musste. Als Lucius sich umwandte, erblickte er Flavius, dem eine große, von zwei kräftigen Maultieren getragene Sänfte folgte, die ein ihm unbekannter Mann führte. Neben diesem gingen eine junge Frau und die alte Amme Melinas her, flankiert von mehreren römischen Soldaten.

„Was soll das, Flavius?!“ wandte Lucius sich aufgebracht an seinen Unteroffizier.

„Tut mir leid, Legatus“, erwiderte der junge Mann. „Aber Theodoros Aigikoreus bestand darauf, seiner Tochter dieses Gefährt zu übersenden. Angeblich ist sie gewohnt, darin zu reisen.“

Er hielt einen Augenblick mit seiner Rede inne und wartete auf eine Reaktion seines Vorgesetzten. Als diese ausblieb, fuhr Flavius fort: „Das Mädchen scheint eine sehr viel wertvollere Geisel zu sein, als wir bisher annahmen.“

„Ja, angesichts dieser väterlichen Gabe ist es wohl tatsächlich so“, murmelte Lucius. Er starrte nachdenklich auf die Sänfte und meinte nach einer Weile: „Die junge Dame und ihr Bruder werden in dem kleinen Zelt hinter meinem Quartier untergebracht und dürfen es nur mit meiner Erlaubnis verlassen. Ich gestatte es nicht, dass außer mir oder ihren beiden Sklavinnen dort jemand hinaus- oder hineingeht, verstanden?!  Du bist mir persönlich für Aigikoreus’ Tochter verantwortlich, Flavius! Sorge dafür, dass man das Mädchen gut bewacht und dass niemand sie entführen oder ihr gar zur Flucht verhelfen kann.“

„Zu Befehl , Legatus!“

„Und soweit es möglich ist, erfülle Aigikoreus’ Tochter alle ihre Wünsche“, sagte Lucius und lächelte ein wenig.

„Ja, Legatus!“ erwiderte Flavius dienstbeflissen. „Demnach erlaubt  Ihr also, dass das Mädchen in der Sänfte reisen darf, wie ihr Vater dies wünscht?“

„Lass die Sänfte untersuchen! Und wenn sie keinerlei Ausschlupf zur Flucht für die Kleine bietet, habe ich nichts dagegen, dem Wunsch des alten Aigikoreus zu entsprechen. Der Weg zurück nach Rom ist weit. Melina soll ruhig bequem reisen.“

„Aber, Legatus!“ wandte Flavius ein. „Wenn Ihr es ihr erlaubt, werden sicher bald weitere Sänften für die anderen weiblichen Geiseln folgen.“

„Wie viele griechische Mädchen haben wir denn in unserer Gewalt, weil sie die einzigen Kinder ihres Vaters sind?“ wandte sich Lucius an einen der Legionäre.

„Ungefähr zwölf, Legatus!“ bekam er zur Antwort.

„Ich denke, dass wir diese Anzahl an Sänften ertragen können“, meinte der Armeeführer daraufhin zu Flavius. „Allerdings glaube ich nicht, dass die anderen Griechen dem Beispiel von Aigikoreus folgen! Nicht alle diese Herren hängen so an ihrer Tochter. Deshalb lautete mein Befehl ja, vor allem die erstgeborenen Söhne gefangen zu nehmen.“

Quella hatte den Ausführungen des Armeeführers aufmerksam gelauscht und betrachtete ihn nun mit bösen Augen. Doch niemand beachtete die alte Sklavin, die in den Worten des blonden Römers all das bestätigt fand, was ihr Herr Theodoros ihr über die Besatzer eingebläut hatte. Demnach waren sie ein barbarisches Volk voller Heimtücke und Grausamkeit und es käme einem Verrat gleich, sich in irgendeiner Weise mit ihnen einzulassen. Und egal, wie freundlich sie sich gaben, ihnen durfte man nicht trauen. Noch allzu deutlich klangen der Alten die sorgenvollen Worte ihres Herrn im Ohr: „Melina ist jung, unerfahren und vertrauensselig. Du musst sie immer wieder daran erinnern, dass die Römer unsere Feinde sind, Quella. Versprich mir, meine Tochter zu beschützen, so gut du es vermagst!“

Nun, Herr Theodoros schien die Römer richtig eingeschätzt zu haben. Ihr Anführer gab sich ihrer jungen Herrin gegenüber freundlich, als er sie in das kleinere Zelt führte, während ihnen die jüngere Sklavin mit Kimon auf den Armen folgte.

„Nun, Alte, worauf wartest du?“ fragte Flavius, der gerade vom Pferd abgestiegen war und sich wunderte, dass Quelle immer noch neben dem Maultierführer stand. „Ich bin sicher, deine Herrin erwartet dich in ihrem Quartier.“

„Die Truhe mit den Sachen meiner Herrin befindet sich in der Sänfte und ich muss dabei sein, um Anweisungen zu geben, wenn man sie hinaushebt, damit nichts passiert“, erklärte die alte Sklavin.

Der junge Offizier lachte verächtlich und schüttelte den Kopf.

„Wir brauchen dich hier nicht!“ sagte er dann. „Geh in das kleine Zelt zu deiner Herrin. Sie erhält ihre Kiste, sobald wir sie untersucht haben.“

„Euch geht der Inhalt dieses Behältnisses nichts an!“ protestierte Quella lautstark. „Darin befindet sich das Eigentum meiner Herrin!“

„Wir wollen es der jungen Dame auch nicht vorenthalten“, spottete Flavius. „Aber bevor sie ihre Sachen bekommt, müssen wir überprüfen, ob sich in der Truhe nicht Waffen befinden. Wer weiß, was der alte Aigikoreus darin versteckt hat?“

„Wie könnt Ihr es wagen, in einem solch verächtlichen Tonfall von meinem Herrn zu sprechen!“ fuhr Quella den jungen Offizier an.

„Ach, verschwinde endlich, Alte! Deine junge Herrin bedarf gewiss deiner Dienste!“

„Nein! Ich lasse nicht zu, dass ihr die feinen Sachen meiner Herrin durchwühlt!“ schrie Quella empört auf. „In der Kiste ist nichts, was von Interesse für euch ist. Es geht euch nichts an!“

Die lautstarke Auseinandersetzung zwischen der alten Sklavin und dem jungen Offizier war auch Melina und Lucius, die sich in dem kleinen Zelt aufhielten, nicht entgangen. Fragend blickte das Mädchen den Armeeführer an, der daraufhin sofort  hinausging, um nachzusehen, was los war. Melina wollte ihm folgen, aber zwei römische Speere wurden vor ihr gekreuzt, so dass sie nicht aus dem Zelt konnte. Ihr blieb nichts weiter übrig, als das Geschehen von dort, wo sie stand, zu beobachten.

„Nun, Flavius! Weshalb wird hier so ein Geschrei veranstaltet?!“ fragte Lucius streng.

„Die Alte da macht Ärger, Legatus!“ erklärte der junge Offizier mit wütendem Ton. „Sie will uns daran hindern, die Truhe von Aigikoreus’ Tochter zu untersuchen!“

„Eure Leute werden die feinen Sachen meiner Herrin beschmutzen!“ verteidigte sich Quella.

„Bringt die Truhe in das Quartier der jungen Dame!“ befahl Lucius mit harter Stimme. „Dort wird die Alte es vor meinen Augen auspacken!“

„Wie Ihr wünscht, Legatus!“ erwiderte Flavius und gab zwei kräftigen Männern ein Handzeichen, den großen Kasten, in dem sich Melinas Sachen befanden, aus der Sänfte zu heben und in das kleine Zelt zu bringen, das dem Mädchen als Quartier diente. Während die Soldaten diesem Befehl nachkamen, sandte der junge Unteroffizier Quella Blicke zu, die sie zu erdolchen schienen. Doch die Alte beeindruckte das in keiner Weise. Mit leichtem Lächeln begab sie sich nun in das kleine Zelt, um ihrer jungen Herren gegen den römischen Barbarenführer beizustehen. Doch sie glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können, als sie eintrat.

„Ich danke dir, Lucius“, sagte Melina gerade. „Es wäre mir wirklich sehr unangenehm gewesen, wenn meine Kleidungsstücke den Augen fremder Männer preisgegeben worden wären.“

„Ja, das dachte ich mir“, erwiderte der blonde Römer  freundlich. „Ich bin mir auch sicher, dass sich in dieser Truhe nichts befindet, was von Interesse für uns wäre. Dein Vater ist nicht so dumm, um dich unnötig in Gefahr zu bringen.“

„Herr Theodoros tut alles, damit es seinen Kindern an nichts mangelt“, mischte sich nun Quella ungefragt in den Dialog der beiden ein.

Lucius blickte sie daraufhin befremdet an. Dann wandte er sich an Melina: „Erhebt deine Sklavin immer ungefragt ihre Stimme?“

„Ich betrachte Quella nicht als meine Sklavin, sondern als mütterliche Freundin, die mir alles sagen darf“, erklärte das Mädchen.

„Na schön“, murrte der Armeeführer, aber es war deutlich herauszuhören, dass ihm dies nicht passte. „Das mag in der Vergangenheit so gewesen sein. Aber mittlerweile bist du zu einer jungen Dame herangereift und es gehört sich nicht, dass deine Sklavin einfach das Wort ergreift! Gewöhne ihr dies ab, sonst könnte sie noch in ernsthafte Schwierigkeiten kommen!“

Mit diesen Worten verließ Lucius das Zelt. Melina blickte ihm fassungslos nach, während Quella nahe an sie herantrat und flüsterte: „Dieser Römer ist unser Feind, vergesst das nicht, kleine Herrin. Er will einen Keil zwischen uns treiben!“

„Ach, Unsinn!“ wies das Mädchen sie  streng  zurecht. Diesen Ton kannte die Alte von ihr nicht. „Lucius macht uns lediglich darauf aufmerksam, dass wir uns in Rom nicht mehr so geben können wie wir es hier gewohnt sind. Es ist besser, wenn wir uns so rasch wie möglich darauf einstellen. Ich will nicht, dass meinen Brüdern oder dir und Tia etwas geschieht. Also halte dich in Zukunft lieber ein wenig zurück, Quella!“

„Ich werde es versuchen, da Ihr es so wünscht“, versprach die Alte. „Natürlich sehe ich ein, dass es im Augenblick besser ist, sich zu fügen. Doch ich bin mir sicher, dass wir auch wieder freikommen werden, Herrin.“

„Ich habe wenig Hoffnung darauf“, meinte Melina traurig. „Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass Rom unsere neue Heimat wird. Lucius kann ja gar nicht anders handeln, wenn er glaubhaft bleiben will.“

„Lucius!“ Quella spie die Worte dieses Namens förmlich aus, als wären sie etwas Ekel erregendes. „Wie konntet Ihr Euch vorhin nur so weit herablassen, Euch bei ihm zu bedanken, Herrin?“

„Na, hör mal! Schließlich hat er es verhindert, dass seine Soldaten meine Truhe durchwühlen und meine Sachen berühren!“

„Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, wenn er seinen Leuten derartige Unverschämtheiten verbietet, Herrin! Immerhin seid Ihr die Tochter des...“

„Schweig, Quella!“ schnitt Melina ihr das Wort ab und schaute sie wütend an. „Ich bin die Tochter eines Mannes, der sein Volk gegen das römische Imperium aufgewiegelt hat. Der Preis, den er und die Athener dafür bezahlen müssen, ist hoch. Sicherlich wird man dies meinem Vater niemals verzeihen! Weder die Römer noch die Athener werden es je vergessen. Und deshalb befinden wir uns jetzt hier als Geiseln, Quella, ohne Anrecht darauf, gut behandelt zu werden oder gar Forderungen zu stellen. Wir sind nichts weiter als Gefangene Roms und müssen uns fügen! Das ist der Preis für die Rebellion gegen das römische Imperium!“

„Ach, Herrin, sagt doch nicht so schreckliche Dinge!“ beschwor die Alte sie.

„Ich sage nur die Wahrheit! Es hilft nichts, wenn wir die Augen davor verschließen!“ erklärte Melina in bitterem Ton. Sie begegnete dem Blick der jungen Sklavin Tia, die sie erschrocken anstarrte, während sie Kimon auf eine einfache Lagerstatt hingelegt und zugedeckt hatte. Er schlief bereits tief und fest.

„Was glaubt Ihr, was uns in Rom erwartet, Herrin?“ fragte Tia  leise .

„Ich weiß es nicht“, seufzte Melina und ließ sich nun auf einen Schemel sinken. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen.

„Nicht doch, Herrin, Ihr dürft nicht verzweifeln“, meinte Quella nun tröstend und ließ sich zu den Füßen der jungen Frau nieder. „Man wird uns bestimmt befreien... bestimmt...“

„Du machst dir etwas vor, Quella“; schluchzte Melina. „Unsere Eltern werden sich hüten, etwas zu unternehmen, was Lucius Marcellus oder Fabius Graeccus verärgern könnte. Nein, Quella, man wird uns nach Rom bringen – so wie der Legatus es gesagt hat. Finde dich endlich damit ab!“

„Aber, Herrin...!“

„Ich will nichts mehr hören, Quella!“

Die alte Sklavin schwieg und betrachtete sich sorgenvoll ihre Schutzbefohlene. Sie wusste im Inneren, dass Melina recht hatte, aber sie wollte sich nicht damit abfinden...

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[1] Moiren = griechische Schicksalsgöttinnen / Hybris = frevelhafter Übermut. Man hält sich für göttergleich.

 

 

 

 

Drei Tage lang ließ Lucius die Athener im Dunkeln darüber, was weiter geschehen würde. In vielen Häusern der gehobenen Schicht herrschte tiefe Trauer darüber, seine Nachkommen verloren zu haben. Man hatte sich mittlerweile resigniert damit abgefunden, die Kinder niemals wiederzusehen.

Theodoros Aigikoreus, den seine Mitstreiter für dieses Unglück verantwortlich machten, erging es nicht anders. Die Stille in seinem Hause bedrückte ihn sehr. Rührte sie doch daher, dass sich seine Kinder in der Gewalt von Barbaren befanden, statt wie geplant, sicher versteckt in einer seiner Landvillen.

Hinzu kam sein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Landsleuten, die ihm zu recht Vorwürfe machten. Schließlich war er auf den Verräter Hipparchos hereingefallen, der nicht nur ihn hintergangen hatte, sondern auch seine Anhänger. Reumütig gab er seinen Fehler zu, worauf sich die Athener beruhigten, zumal Theodoros ihnen versprach, alles zu tun, damit Lucius Marcellus sich dazu herabließ, ihre Kinder wieder freizugeben. Das bedeutete, dass er öffentlich vor dem römischen Legaten und dem Statthalter Attikas seine Niederlage eingestehen  und dem Imperium Treue schwören müsste. Welch eine Demütigung für ihn, den stolzen Griechen! Wenn er daran dachte, würde er sich lieber umbringen als sich Rom zu unterwerfen, aber der Gedanke an die Kinder seiner Mitstreiter sowie an seine eigenen hinderte ihn daran. Vielleicht könnte er ja bald wieder seine geliebte Tochter und seinen ältesten Sohn in die Arme schließen. Allein für das Leben dieser beiden würde er jedes Opfer bringen...

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Melina hatte sich mittlerweile ein wenig an das Leben im römischen Lager gewöhnt, und als Tia, die von dem Soldaten, der für die Zuteilung der Nahrungsmittel zuständig war, etwas Milch für Kimon geholt hatte, ihr berichtete, dass das Gerücht im Lager umginge, Lucius Marcellus wolle bald noch einmal mit Theodoros und seinen Anhängern Verhandlungen führen, schöpfte sie wieder Hoffnung auf einen guten Ausgang ihrer  unglücklichen Lage.

Der Armeeführer war ihr seit ihrem Aufenthalt im Lager stets freundlich und überaus höflich begegnet, wenn er sie manchmal aufsuchte und sich erkundigte, wie es ihr ginge. Gestern hatte er sie sogar zu ihrem älteren Bruder in ein anderes Zelt begleitet, damit sie sich ein wenig mit ihm unterhalten konnte. Leandros freute sich sehr, sie zu sehen. Zwar musste er noch liegen, aber es schien ihm wieder gut zu gehen. Seine Verletzungen hatten viel schlimmer ausgesehen als sie waren. In wenigen Worten berichtete sie ihm, was in der Zwischenzeit in Athen geschehen war und dass sie nun Geiseln von Lucius Marcellus seien.

Mit unbewegter Miene hörte sich der junge Mann alles an.

„Nun ja, mich überrascht die Vorgehensweise der Römer nicht“, sagte Leandros dann. „Vater hatte so etwas ja schon geahnt, aber dass es in einem derartigen Ausmaß erfolgen würde, hätte niemand für möglich gehalten. Wir haben Lucius Marcellus unterschätzt und müssen nun die Folgen unserer Rebellion ertragen. Es ist zwar bitter, aber es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als unsere Niederlage einzugestehen und uns Rom zu unterwerfen.“

„Ich fürchte, Vater ist dazu nicht bereit“, seufzte Melina.

„Unser Vater ist kein Dummkopf und wird nicht das Leben so vieler Unschuldiger gefährden“, widersprach ihr Bruder. „Nein, er wird sich beugen – dafür werden schon die anderen Athener sorgen; und danach lässt Lucius uns bestimmt wieder zu unseren Familien zurück.“

„Glaubst du das wirklich, Leandros?“ fragte die junge Frau ungläubig.

„Natürlich, Melina! Die Römer haben keine Lust darauf, so viele junge Griechen mit sich nach Rom zu schleppen – wo sollen sie uns denn alle unterbringen?“

Der junge Mann lachte kurz auf, wurde gleich darauf aber wieder ernst.

„Nein, die Römer bereiten mir keine Sorgen“, erklärte er dann leise. „Was mich beunruhigt, ist der Verrat in den eigenen Reihen. Alexandros’ Überfall hatte sicherlich den Sinn, mich und Kimon zu töten. Sein Plan sah gewiss auch vor, dich zu entführen, um dich zur Heirat mit ihm zu zwingen. Mit diesem Schachzug wäre er automatisch zum Nachfolger unseres Vaters geworden; und wer weiß, wie lange Vater danach noch gelebt hätte...“

Melinas Augen hatten sich während dieser Überlegungen ihres Bruders vor Entsetzen geweitet und alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

„Können Menschen denn zu solch einer Gemeinheit fähig sein?“ flüsterte sie tonlos.

„Ja, Schwesterchen“, antwortete Leandros und sah sie eindringlich an. „Manche Menschen sind es; und ich bin mir ziemlich sicher, dass Alexandros diesen Plan zusammen mit Megara ausgeheckt hat. Deshalb mache ich mir Sorgen um Vater. Schließlich ist unsere Stiefmutter immer noch in seiner Nähe...“

„Aber Vater weiß inzwischen, dass ihr Bruder ein Verräter war.“

„Vergiss nicht, Melina, dass Megara schwanger ist. Möglicherweise hat sie Vater mittlerweile wieder mit schönen Worten eingelullt und ihm glaubhaft gemacht, dass sie mit den Machenschaften ihres Bruders nichts zu tun hat.“

„Ach, ich kann mir nicht vorstellen, dass Vater noch auf sie hört. Er war ziemlich entsetzt über den Verrat seines Verbündeten!“

„Oh, Melina, du bist noch so jung! Du ahnst ja gar nicht, welche Macht manche Frauen über ihre Männer haben...“, seufzte Leandros und betrachtete sie besorgt. Er streckte seine Hand aus, ergriff diejenige seiner kleinen Schwester und drückte sie. „Sei unbesorgt! Wir sind gewiss bald wieder zu Hause, Melina, und dann kümmere ich mich um Megara! Ich bin sicher, Vater lässt sich nach diesem Schock über den Verrat Alexandros’ wieder zur Vernunft bringen. Schließlich liebt er unsere Stiefmutter nicht!“

Die Worte ihres Bruders hatten ihr einerseits Zuversicht gegeben, andererseits aber auch Sorgen um den Vater in ihr hervorgerufen. Oh, sie wünschte sich, sie wäre wieder zu Hause...

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Am Morgen des vierten Tages nach Lucius’ Gefangennahme der Kinder seiner Gegner erhielt Fabius Maiorus Graeccus eine Botschaft des Legaten, dass er noch heute früh eine Volksversammlung auf der Agora einberufen sollte. Der Statthalter zögerte nicht, dieser Aufforderung umgehend nachzukommen, fragte sich jedoch, was Lucius Marcellus wohl vorhaben mochte. Er hatte ihn seit drei Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen und die Worte des Armeeführers, dass man seine Fähigkeiten als Statthalter in Rom prüfen werde, klangen ihm immer noch in den Ohren. Er hoffte, dass dies vorerst nur eine leere Drohung war, weil er sich über Aigikoreus’ Tochter geäußert und sie mit etwas zu offensichtlichem Wohlgefallen betrachtet hatte. Das war sehr dumm von ihm gewesen, da ihm natürlich nicht entgangen war, dass Lucius ebenfalls ein Auge auf die Kleine geworfen hatte. Stellte sie gar unter seinen persönlichen Schutz! Allein dies hätte ihm klarmachen müssen, besser kein unnötiges Wort über die Tochter des Rebellenführers zu verlieren. Da er seinen Posten als Statthalter Attikas behalten wollte, würde er alles vermeiden, was den Zorn Lucius’ heraufbeschwören könnte.

 

Eine Stunde später befanden sich alle erwachsenen Männer Athens auf der Agora und warteten darauf, dass der römische Statthalter  eintraf und ihnen verriet, zu welchem Zweck man sich hier versammelt hatte.

Endlich erschien Fabius Maiorus Graeccus an der Seite des Armeeführers, der für den Raub ihrer Kinder verantwortlich war, begab sich mit diesem, flankiert von einer Garde von bewaffneten Legionären, in die Mitte des Marktplatzes und blickte dann um sich, bevor er die Stimme erhob: „Athener! Euer Aufstand ist niedergeschlagen worden von den Truppen des römischen Imperiums! Ihr müsst endlich anerkennen, dass wir euch besiegt haben!“

Unüberhörbares Gemurmel folgte  dieser Ansprache des Statthalters, aber niemand wagte es, laut dagegen zu protestieren. Mittlerweile hatte es sich in der Stadt herumgesprochen, dass die Kinder der Oberschicht als Geiseln im römischen Lager gefangengehalten wurden, und keiner der Griechen wollte es riskieren, dass einem dieser Kinder ein Leid geschah.

Zufrieden blickte Lucius Marcellus auf die Athener und ergriff nun das Wort: „Hört mir gut zu, Athener! Wenn ihr jetzt alle auf der Stelle Rom die Treue schwört, wird euren Kindern kein Leid geschehen! Das Schicksal dieser jungen Griechen liegt allein in euren Händen !“

Als hätte er nur auf diese Worte gewartet, trat Theodoros Aigikoreus vor die beiden Römer, ließ sich auf die Knie sinken und verkündete laut: „Ich unterwerfe mich und schwöre dem Imperium Treue. Feierlich verspreche ich, nichts gegen Rom zu unternehmen und alles zu unterbinden, was gegen die Interessen des römischen Kaiserreichs verstößt!“

„Schwöre es beim Leben deiner Kinder!“ forderte Lucius mit harter Stimme.

Ein hasserfüllter Blick traf ihn aus den Augen des alten Rebellenführers, den er mit ebenso viel Hass erwiderte.

„Ich schwöre Rom die Treue – beim Leben meiner Kinder!“ sagte Theodoros dann und senkte daraufhin den Blick.

Kaum waren diese Worte verklungen, als sich die übrigen Athener ebenfalls auf die Knie sinken ließen und dem Beispiel ihres Anführers folgend dem römischen Imperium die Treue schworen.

„Beim Leben eurer Kinder!“ forderte Lucius auch von ihnen. Dieser Forderung kamen die Griechen sofort nach.

Während  dem Armeeführer ein schwaches Lächeln über das Gesicht huschte und er einen triumphierenden Blick auf die gedemütigten Rebellen kaum verbergen konnte, starrte Fabius Maiorus Graeccus ungläubig auf die Menschenmasse und warf dann einen Seitenblick auf Lucius Marcellus. Innerhalb weniger Tage war diesem Mann gelungen, was er in langen Verhandlungen und heftigen Kämpfen gegen die Griechen vergeblich zu erreichen versucht hatte. Aber nie wäre er selbst auch nur auf den Gedanken gekommen, skrupellos die Kinder seiner Feinde aus deren Häusern zu rauben und mit solch einer üblen List die Gegner in die Knie und zum Treueschwur zu zwingen. Oh ja, dieser Frieden würde halten, da Lucius die jungen Griechen als Geiseln nach Rom mitnahm.

Fabius musste einräumen, dass dadurch zwar ein erneutes Blutvergießen vermieden worden war,  dennoch behagte ihm die Vorgehensweise des Legatus  nicht. Durch diese Heimtücke gewann man nicht die Loyalität besetzter Völker, sondern schürte nur Hass, der zwar nicht offen geäußert wurde, aber dennoch unterschwellig weiterbrannte. Ihm waren die Blicke nicht entgangen, mit denen sie von vielen der Athener bedacht wurden. Hass und Verachtung lagen darin. Dieser Friede war äußerst brüchig. Lucius musste das doch auch klar sein.

Erneut sah der Statthalter den Legatus  an. Dieser wirkte so selbstsicher und überheblich, dass er sich davon abgestoßen fühlte und seine Augen wieder abwandte. Er hatte keinerlei Handhabe, um Lucius in seine Schranken zu weisen, war dieser doch ein mächtiger Mann, der innerhalb Roms ein hohes Ansehen genoss und eine erfolgreiche Militärkarriere hinter sich hatte... und es war gefährlich, sich mit einem so hohen Offizier anzulegen. Was konnte er ihm schließlich auch vorwerfen? Dass er ihm geholfen hatte, eine Rebellion niederzuschlagen? Dass er durch Erpressung Blutvergießen vermieden und die Athener dazu gezwungen hatte, Rom gegenüber Loyalität zu schwören?

Nein, er musste Lucius Marcellus vielmehr dankbar sein!

Allein... diese Dankbarkeit hinterließ einen bitteren Beigeschmack bei Fabius.

„Nun, Athener, da ihr euch jetzt unterworfen und dem Imperium gegenüber Treue gelobt habt, wird Gnade vor Recht ergehen“, hörte der Statthalter neben sich die Stimme des Legatus . „Den meisten gebe ich ihre Kinder zurück! Bei einigen, die maßgeblich an der Rebellion beteiligt waren, prüfe ich dies genauer...“

Lucius sah bei diesen Worten auffällig in die Richtung Theodoros’, erkannte in dessen Augen eine aufkeimende Hoffnung und fuhr dann fort: „Allerdings kann ich jetzt schon sagen, dass die drei Kinder des Aigikoreus als Geiseln nach Rom gebracht werden. Als Anführer muss er den höchsten Preis für die Rebellion bezahlen!“

Im selben Augenblick erlosch der Funke der Zuversicht in den Augen des alten Mannes. Fabius hatte es genau beobachtet und empfand Mitleid mit Aigikoreus, obwohl dieser ihn vor kurzem erst beleidigt hatte. Konnte Lucius sich denn nicht damit zufrieden geben, ihn besiegt und gedemütigt zu haben? Musste er ihm noch all seine Kinder nehmen, wo es doch sicherlich ausreichte, nur dessen ältesten Sohn als Geisel nach Rom zu führen?

Der Statthalter ließ seinen Blick noch einmal zu dem Armeeführer gleiten und erschrak über die harten Züge dieses Mannes sowie den Hass, der in seinen Augen glomm, und der einzig Theodoros Aigikoreus galt. Der alte Grieche war zwar ihr Gegner gewesen, aber es gab eigentlich keinen Grund, weshalb Lucius ihm gegenüber mehr Feindseligkeit hegen sollte als gegen die anderen Rebellen. Lag es möglicherweise daran, dass Aigikoreus einen unbeugsamen Charakter besaß und sich erst durch die Gefangennahme seiner Tochter bezwingen ließ, während ihm seine beiden Söhne anscheinend gleichgültig waren?

Es fiel Fabius schwer, das zu glauben. Schließlich kannte Lucius die Familie kaum und er sah auch nicht so aus, als sei er ein sentimentaler Mensch. Warum also dieser Hass zwischen den beiden Männern? Denn Theodoros erwiderte Lucius’ Blick ebenso feindselig.

Nun erst fiel Fabius auf, wie ähnlich sich die beiden doch waren. Dieselbe Arroganz und dieselbe Härte in ihren Gesichtern. Sie erschienen ihm wie zwei wütende Löwen, die jeden Augenblick aufeinander losgehen wollten, um ihre Stärke zu messen. Dabei es war längst entschieden, wer gewonnen hatte, und zwar ohne Kampf...

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Als Theodoros mit schweren Schritten und gesenktem Haupt in sein Gemach zurückkehrte, erwartete ihn dort bereits seine schwangere Frau.

„Nun, warum hat euch Lucius Marcellus auf die Agora einberufen?“ fragte sie neugierig.

Theodoros hob seinen Blick zu ihr, sein Gesicht verfinsterte sich.

„Er zwang uns, dem römischen Imperium die Treue zu schwören!“ grummelte er. Allein die Erinnerung an diese Demütigung rief wieder tiefen Hass gegen Megara hervor. In ihr glaubte er, die Ursache dieser Schmach gefunden zu haben. War sie es doch gewesen, die mit ihrem heimtückischen Bruder ein Komplott gegen seine Kinder und ihn geschmiedet hatte, ebenso wie sie es gewesen war, die Lucius Marcellus verriet, dass er seine Tochter Melina, das Ebenbild ihrer Mutter, über alles liebte. Nur deshalb befand sich sein Augenstern jetzt in der Gewalt dieses Legaten. Und allein aus Angst um Melinas Leben hatte er sich dazu überwunden, sich vor den römischen Barbaren in den Staub zu werfen...

Theodoros bedachte die schwangere Megara mit bösem Blick. Oh, wie sehr er diese Frau hasste! Ihr Anblick war ihm zuwider. Verdankte er es doch ihr, dass die Römer über ihn triumphierten.

„So, er zwang euch also, euch Rom zu unterwerfen“, meinte Megara nun spöttisch. „Was folgt daraus, mein Gemahl? Heißt das etwa, dass deine über alles geliebte Tochter nach Hause zurückkehren wird?“

„Ich wäre glücklich, wenn dem so wäre“, fuhr der Alte sie an. „Stattdessen wird der Legatus sie mit sich nach Rom nehmen... und Leandros ebenfalls...“

„Sieh an“, murmelte Megara mit leiser Ironie in der Stimme. „Lucius Marcellus ist also kein Dummkopf. Er weiß, dass dein Treueschwur ohne Druckmittel keinen Pfifferling wert ist.“

„Schweig, verfluchtes Weibsstück!“ schrie Theodoros sie an. „Was fällt dir überhaupt ein, mir in derart unverschämter Weise zu begegnen?! Das steht einer anständigen Ehefrau nicht an! Mach dich lieber nützlich, wie es einer Vertreterin deines Geschlechts geziemt, und setz dich an den Webstuhl!“

„Wie redest du mit mir?!“ entgegnete Megara  aufgebracht. „Ich habe extra hier auf dich gewartet, damit wir besprechen können, wie es nun weitergeht, und du beschimpfst mich derart! Das habe ich nicht verdient!“

„Ich wüsste nicht, was ich mit dir zu besprechen hätte, Verräterin!“

„Du tust mir Unrecht, Theodoros!“

„Wegen dir und deiner frechen Zunge habe ich meine Tochter verloren!“

„Das ist nicht wahr! Lucius hatte sie bereits in seiner Gewalt, bevor er erfuhr, dass sie dein Liebling ist! Er hätte sie auf jeden Fall mit sich genommen, glaub mir!“

„Dummes Zeug!“ schrie Theodoros. „Geh! Mir aus den Augen!“

„Du glaubst mir nicht?“ rief Megara theatralisch aus und barg ihr Gesicht in beide Händen.

„Nein! Denn du bist eine Verräterin! Genau wie dein Bruder ein feiger Verräter war!“

„Alexandros ist kein Verräter gewesen!“

Theodoros stieß ein lautes Schnauben aus, ohne etwas  darauf zu erwidern.

„Bitte, glaube mir doch!“ sagte Megara nun eindringlich und sah ihn mit feuchten Augen an. „Bitte, bedenke doch, dass ich deinen Sohn unter meinem Herzen trage!“

„Ich brauche keinen weiteren Sohn, ich habe bereits zwei Söhne – und mein Ältester wird eines Tages meine Nachfolge antreten“, gab Theodoros bissig zurück.

„So ein Unsinn! Er ist in der Hand der Römer, zudem noch schwer verwundet“, entgegnete Megara.

„Schweig, Weib! – Oh, wie sehr bereue ich es, mich mit dir verbunden zu haben; und zu allem Unglück erwartest du noch ein Kind von mir... ein Kind, dass mir genauso hassenswert ist wie du und dein Bruder!“

„Es ist dein eigenes Fleisch und Blut!“

„Ich werde dieses Kind verstoßen!“ zischte Theodoros. „Das ist ein Versprechen!“

Nachdem er diese Drohung gegen das ungeborene Leben in Megaras Leib ausgesprochen hatte, verfinsterte sich das Gesicht seiner jungen Frau und sie funkelte ihn mit bösen Augen an.

„Gib dich keinen Illusionen hin, alter Mann!“ sagte sie mit schneidender Stimme. „Deine Kinder wirst du gewiss niemals wiedersehen. Lucius Marcellus wird sie nach Rom mitnehmen und dort als Geiseln festhalten. Doch es wäre niemals dazu gekommen, wenn du auf mich gehört hättest. Melina wäre als Ehefrau meines Bruders völlig nutzlos für die Römer gewesen, Kimon bei ihr in Sicherheit...“

„Schweig endlich! Meine schöne Tochter war viel zu schade für Alexandros!“

„Deine schöne Tochter – was wird nun aus ihr? Meinst du, sie findet in Rom einen Ehemann?!“ spottete Megara. „Dir ist sicherlich bekannt, dass es einem römischen Bürger nicht gestattet ist, eine Nichtrömerin zu heiraten, nicht wahr?“

„Einige Söhne meiner Freunde und Verbündeten werden sich auch in Rom befinden“, wandte Theodoros ein. „Unter diesen mag sie sich einen jungen Mann als Gatten wählen.“

Megara lachte laut und höhnisch auf.

„Glaubst du wirklich, man lässt unsere gefangenen Kinder zusammenbleiben? Wach auf, mein Gemahl! Sobald unsere Söhne das passende Alter haben, steckt man sie in ein römisches Ausbildungslager, um aus ihnen Soldaten des Imperiums zu machen. Unsere Töchter hingegen kommen unter die Vormundschaft irgendwelcher vornehmer Römer und danach kümmert sich niemand mehr darum, was mit ihnen geschieht. Deine verwöhnte, vorlaute Melina wird gefangen in irgendeinem römischen Haushalt verblühen...“

„Ach was! Das glaube ich nicht! Melina ist ein wohlerzogenes Mädchen, das jeder gernhaben muss.“

„Hm... kann schon sein, dass jemand aus dem römischen Haushalt, in dem sie leben wird, sie gern hat“, murmelte Megara mit hämischem Lächeln. „Der Herr des Hauses könnte womöglich Wohlgefallen an einer Jungfrau finden...“

Klatsch! Klatsch!

Theodoros hatte seiner Frau links und rechts eine harte Ohrfeige gegeben.

„Wage es ja nicht noch einmal, so etwas Ungehöriges in einem derart anmaßenden Ton zu mir zu sagen!“ fuhr er sie an. „Vergiss nicht, dass ich dein Ehemann bin und du mir Respekt und Gehorsam entgegenzubringen hast! Es steht dir nicht zu, mir mit Dreistigkeit zu begegnen!“

„Ja! Misshandle mich nur!“ fauchte Megara, die sich ihre schmerzenden Wangen hielt, ihn an. „Das bringt Leandros und Melina auch nicht zurück! Lässt Lucius Marcellus dir wenigstens Kimon?“

„Nein, den kleinen Muttermörder nimmt er ebenfalls mit sich! – Sei’s drum! Vielleicht ist es besser, diesen Jungen, für dessen Leben meine geliebte Frau mit dem Leben bezahlen musste, aus den Augen zu haben!“

„Dir bleibt also keiner deiner Söhne“, entgegnete Megara. „Umso unverständlicher, dass du unser gemeinsames Kind nicht behalten willst! Es wird der einzige Nachkomme sein, der dir bleibt...“

„Dein Kind ist dem Tod geweiht, Megara!“ sagte Theodoros mit harter Stimme. „Und dich werde ich nach seiner Geburt verstoßen und mich scheiden lassen! Bis dahin solltest du das Leben hier noch genießen! Wer weiß, wie lange du ohne den Schutz männlicher Verwandter und ohne finanzielle Mittel überleben kannst. Drum schweig, Weib, und geh mir aus den Augen!“

Megara blieb stumm und schenkte ihrem alten Ehemann einen giftigen Blick, bevor sie sich umwandte und sein Gemach verließ...

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 Noch am selben Tag wurden die meisten der Kinder des Athener Volksrates zu ihren Eltern zurückgebracht und von diesen glücklich in die Arme geschlossen. Die Lust auf Rebellion war den stolzen Athenern vorerst ausgetrieben.

Lediglich die Kinder des Aigikoreus sowie die ältesten Söhne fünf seiner Freunde behielt Lucius Marcellus als Geiseln. Auf die vorsichtige Nachfrage von Fabius Graeccus begründete er dies damit, dass nur auf diese Weise ein dauerhafter Friede in Attika gesichert wäre. Dem Schwur des alten Rebellenführers und seiner engsten Freunde sei nicht zu trauen. Um diese Aufrührer daran zu hindern, erneut einen Aufstand anzuzetteln, bot es sich geradezu an, ihre Kinder, deren Leben sie bestimmt nicht riskieren würden, als Unterpfand mit nach Rom zu nehmen.

Lucius selbst bedauerte einerseits dieses Vorgehen – andererseits blieb so die reizende Melina in seiner Nähe. Er war sich auch sehr sicher, dass der Kaiser nichts dagegen hätte, die junge Griechin unter seine Obhut zu stellen. Der Gedanke daran, dass er Melina dann regelmäßig sehen würde, hob die Stimmung des Legaten enorm.

 

Die junge Frau hingegen war alles andere als erfreut über den Umstand, dass sie und ihre Geschwister als Geiseln nach Rom gebracht werden würden. Die ganze Nacht hatte sie zusammen mit der jungen Sklavin Tia geweint, denn beide fürchteten sich vor der Fremde. Quella tat dies ebenfalls, hatte sich jedoch mit dem kleinen Kimon in die entgegengesetzte Ecke des Zeltes verzogen und war darauf bedacht gewesen, dass der kleine Junge das Geweine der beiden Mädchen nicht vernahm und darüber erwachte.

Während Kimon in den Armen der alten Sklavin ruhte, gab Quella sich ihren Gedanken hin. Sie war schon sehr enttäuscht darüber, dass sie mitsamt ihrer Herrschaft nicht nach Hause zurückkehren durfte. Am liebsten hätte sie sich wie Tia und ihre Herrin dem Kummer überlassen, aber jemand musste sich um Kimon kümmern, der viel zu klein war, um zu verstehen, was mit ihnen geschah. Melina bedurfte eigentlich nicht mehr ihrer Dienste, da sie längst zu einer jungen Frau herangereift war – und Quella fürchtete sich davor, dass Melina sie fortschicken könnte. Wer sollte dann ihr unschuldiges Lämmchen vor den römischen Barbaren beschützen? Wie sollte sie dann das Versprechen halten, das sie Melinas Mutter auf dem Sterbebett gegeben hatte, immer auf das Mädchen zu achten, damit ihm nichts geschah? Und außerdem hing Quella mit zärtlicher Liebe an ihrer jungen Herrin, die sie fast wie eine eigene Tochter ansah. Eine Trennung würde sie nicht verkraften. Allein der Gedanke an die Möglichkeit daran, schnitt der alten Sklavin tief ins Herz. Sie legte Kimon, der fest schlief, auf sein Nachtlager und deckte ihn zu. Dann ging sie zu Melina und Tia hinüber und ließ sich zu Füßen ihrer jungen Herrin nieder.

„Kleine Herrin“, flüsterte Quella und ergriff ihre Hände, die Melina ihr nicht entzog. „Wir dürfen uns niemals trennen – hört  Ihr? Wenn wir zusammenbleiben, ist alles zu ertragen.“

„Ja“, gab Melina unter Schluchzen zu. „Wie recht du hast. Aber werden die Römer das zulassen?“

„Der Legatus hat einen großen Einfluss und wenn Ihr ihn bittet, Herrin, dann sorgt er bestimmt dafür, dass wir zusammenbleiben“, meinte die alte Amme zuversichtlich.

„Sicherlich ist es möglich, solange wir unterwegs sind“, meinte Melina. „Aber sobald wir in Rom angekommen sind, entscheidet der Kaiser darüber, was mit uns allen geschieht.“

„Bittet den Legatus  darum, Herrin! Er ist ein angesehener Römer und der Kaiser wird auf ihn hören, wenn er darum ersucht, dass wir zusammenbleiben dürfen.“

„Warum sollte Lucius das für uns tun, Quella?“

Die alte Sklavin warf einen raschen Blick auf Tia und sagte zu dieser: „Geh, sieh nach Kimon!“

Das Mädchen sprang sofort auf und eilte in die andere Ecke des Zeltes zu dem Jungen, während Quella sich nun neben Melina niederließ und im Flüsterton fortfuhr: „Oh, kleine Herrin, es hat doch ganz den Anschein, dass der Legatus Euch wohlgesonnen ist. Wenn Ihr ihn nun recht freundlich um diesen kleinen Gefallen bittet, wird er ihn Euch nicht abschlagen.“

„Ich dachte, du missbilligst mein freundliches Verhalten gegenüber Lucius?“ wunderte sich Melina.

„Das tat ich auch, aber es war dumm von mir“, gab Quella zu. „Bitte, kleine Herrin, verzeiht mir diesen Fehler. Ihr habt natürlich recht, wenn Ihr ihm freundlich begegnet. Schließlich sind wir in seiner Gewalt und können kaum mehr tun, als ihn uns gewogen zu halten, damit es uns gut geht. Das habe ich  zuerst nicht bedacht, Herrin, da ich so erschrocken war über den Überfall und die wenig später darauf folgende Gefangennahme durch die Römer.“

„Ja, das verstehe ich gut, denn mir ging es genauso“, meinte das Mädchen und drückte die Hand ihrer alten Amme. „Also gut, ich werde Lucius darum bitten, sich für uns einzusetzen. Mehr kann ich nicht tun.“

Quella ließ sich wieder zu Füßen der jungen Frau sinken und küsste deren Hand. Dann blickte sie mit feuchten Augen zu ihr auf.

„Ihr tut recht daran, Herrin. Und nun versucht bitte, noch ein wenig zu schlafen.“

 

Natürlich gelang es Melina nicht, dem frommen Wunsch Quellas zu entsprechen. Zu viele Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Sie wollte weder ihre Heimat noch ihren Vater verlassen, wenngleich dieser recht streng zu ihr war. Dennoch schmerzte es sie sehr, als ihr klar wurde, dass sie ihren Vater, den sie trotz allem vermisste, wahrscheinlich niemals wiedersehen würde. Leise weinte sie und flehte innerlich die Götter  an, alles zum Guten zu wenden.

Der nächste Morgen dämmerte bereits herauf, ohne dass es der jungen Griechin gelungen wäre, ein Auge zuzutun. Bald darauf hörte sie, wie man begann, das Lager abzubauen. Erschrocken erhob sie sich, eilte an den Eingang des Zeltes und sah, dass es sich tatsächlich so verhielt. Unwillkürlich schlug sie sich die Hände vor die Augen und ließ ein lautes, langgezogenes Schluchzen vernehmen, das die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung sofort auf sich zog.

„Was ist los, Herrin?“ fragten Quella und Tia, die aus einem unruhigen Schlaf auffuhren, während Kimon wieder zu weinen begonnen hatte.

„Es ist soweit!“ erklärte Melina. „Heute ist der Tag, an dem man uns aus Griechenland fortführen wird.“

„Ganz recht!“ mischte sich einer der Legionäre, die vor ihrem Zelt Wache standen, in das Gespräch und schenkte Melina, die ihn daraufhin ängstlich anstarrte, ein hämisches Lächeln. „Sagt Euren Sklavinnen, dass sie Eure Sachen zusammenpacken, junge Dame. Ich bin sicher, Lucius Marcellus wird Euch in wenigen Augenblicken davon in Kenntnis setzen, dass wir bald nach Rom aufbrechen werden – Eurer neuen Heimat, schönes Kind!“

„Kommt weg vom Eingang, Herrin!“ rief Quelle und zog gleich darauf Melina, die den römischen Soldaten immer noch fassungslos ansah, in das Zelt zurück. „Ich bitte Euch, Herrin, lasst Euch vor diesen Barbaren nicht so gehen. Denkt doch daran, wer Ihr seid.“

„Ach, Quella, ich will nicht nach Rom“, wisperte das junge Mädchen und schaute nun ihre Amme an. „Sag, glaubst du wirklich, dass Lucius mich mag?“

„Das ist unverkennbar, Herrin“, gab die Alte in leisem Ton widerwillig zu.

„Vielleicht kann ich ihn ja doch überreden, mich zu meinem Vater zurückzulassen“, meinte Melina hoffnungsvoll.

„Ihr könnt es versuchen“; erwiderte Quella, obwohl sie überzeugt davon war, dass der Legatus es gerade deshalb nicht zulassen würde, weil ihm ihre junge Herrin gefiel. Doch darüber verlor sie kein Wort, um Melina nicht zu verängstigen. Allerdings hielt die alte Sklavin es für angebracht, nicht von der Seite der jungen Dame zu weichen, um sie vor eventuellen Zudringlichkeiten des Armeeführers zu schützen, dem sie misstraute. Mochte er auch noch so freundlich tun, er war und blieb der Feind.

„Guten Morgen!“ ließ sich nun die laute Stimme des Legatus  vernehmen und einen Augenblick später betrat er das Zelt. „Einer meiner Legionäre meldete mir, dass du bereits wach bist, Melina. Möchtest du nicht mit hinüber in mein Quartier kommen und ein Frühstück mit mir einnehmen? Wir brechen in etwa zwei Stunden auf. Bis dahin können deine Sklavinnen deinen kleinen Bruder versorgen und dann eure Sachen zusammenpacken.“

„Bitte, Lucius, lass mich und Kimon nach Hause zurückkehren“ flehte das Mädchen ihn an. Tränen liefen über ihre Wangen. „Ich bin sicher, dass mein Vater jetzt vernünftig sein wird.“

„Nein, Melina, das kann ich nicht – so leid es mir tut!“ erwiderte der Legatus in sachlichem Ton und streckte ihr seine Hand entgegen. „Komm nun, liebes Kind, du solltest  dich ein wenig für die lange Reise stärken.“

Diese Worte machten der jungen Frau klar, dass sie sich mit ihrem Schicksal abfinden musste, als Geisel nach Rom gebracht zu werden. Rasch wischte sie sich mit dem Handrücken ihre Augen trocken und wollte dann mit Lucius das Zelt verlassen, als sich Quella unversehens an ihre Seite gesellte, um mit ihnen zu gehen.

„Was soll denn das?!“ fuhr Lucius die Sklavin an.

„Ich begleite meine Herrin“, erklärte die Alte.

„Nichts da!“ erwiderte der Armeeführer in strengem Ton. „Du bleibst hier und wirst zusammen mit der anderen Sklavin den kleinen Jungen versorgen und dann die Sachen deiner Herrin zusammenpacken!“

„Ich weiche niemals von der Seite meiner Herrin“, protestierte die Alte.

„Bitte, Quella, tu, was man dir sagt“, sagte Melina daraufhin, die sich über das Verhalten ihrer Amme wunderte. „Du hast ja gehört, dass wir heute Morgen abreisen.“

„Aber, Herrin!“

„Wirst du wohl gehorchen!“ fuhr Lucius die Alte an. Sie wich erschrocken zurück und musste tatenlos mit ansehen, wie er Melina aus dem Zelt herausführte. Im Augenblick konnte sie nichts tun, um das ihr anvertraute Mädchen zu schützen. Doch glaubte sie, dass die Kleine momentan nicht in Gefahr war, denn der Legatus würde sie sicherlich nicht bedrängen, solange sie unterwegs nach Rom waren...

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 Lucius, der nicht ahnte, welche Gedanken die alte Sklavin hegte, saß nun Melina gegenüber an einem kleinen Tisch und ermutigte sie, doch etwas zu essen.

„Ich bin nicht hungrig“, sagte das Mädchen. Erneut erhob sie ihre dunklen Augen zu dem blonden Römer und sah ihn bittend an. „Musst du mich denn wirklich nach Rom mitnehmen?“

„Ja, Melina“, erwiderte er, worauf sie ihren Blick senkte und zu weinen begann. Er beugte sich ein wenig zu ihr hinüber und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Es tut mir wirklich sehr leid, dass alles so gekommen ist, liebes Kind. Ich wünschte, wir hätten uns unter angenehmeren Umständen kennengelernt.“

„Ich möchte nicht fort von hier“, schluchzte sie. „Ich habe solche Angst!“

„Du brauchst keine Angst zu haben“, versuchte Lucius das Mädchen zu beruhigen. „Wir Römer pflegen wertvolle Geiseln gut zu behandeln, Melina!“

„Kann ich denn wenigstens noch einmal meinen Vater sehen, um mich von ihm zu verabschieden?“ fragte die junge Griechin.

„Nein!“ antwortete der Armeeführer mit unerbittlicher Stimme. „Dein Vater hat es nicht verdient, dich noch einmal zu sehen!“

„Und was ist mit mir? Du bestrafst nicht nur meinen Vater, sondern auch mich! Womit habe ich das verdient, Lucius?“

„Bitte, Melina, mach mich nicht für die Taten deines Vaters verantwortlich!“ wies der Römer sie zurecht. „Wenn er diese Rebellion nicht angezettelt hätte, wären weder du noch deine Geschwister und die fünf jungen Griechen jetzt unsere Geiseln. Glaub mir, ich hätte gerne darauf verzichtet, euch gefangenzunehmen.“

„Tut mir leid, Lucius“, entschuldigte sich das Mädchen. „Natürlich hast du recht: Der Hochmut meines Vaters ist schuld an diesem ganzen unsinnigen Krieg. Sonst wären wir beide sicher gute Freunde geworden.“

Der Legatus ergriff die Hand Melinas und meinte mit sanfter Stimme: „Das können wir doch sein – ungeachtet der Umstände.“

„Aber wir sind Feinde! Du hast meine Brüder und mich als Geiseln genommen. Was sind wir denn anderes als deine Gefangenen? Was wird uns in Rom erwarten, Lucius?!“

„Ich betrachte dich nicht als meine Gefangene! Du bist mein Gast... und wenn es nach mir geht, wirst du ein lieber Gast in meinem Hause sein, Melina!“

„Wirklich?“ fragte sie ungläubig.

„Ja, wirklich!“ antwortete er und strich ihr sanft über die Wange. „Ich bin sicher, man wird meine Bitte, dich in meinem Hause aufzunehmen, nicht abschlagen.“

„Und meine Brüder?“ wollte Melina wissen. „Was wird aus Leandros? Was wird aus Kimon?“

„Leandros und die anderen jungen Griechen werden in Rom eine militärische Ausbildung erhalten und dadurch auch mit unseren Sitten und Gebräuchen vertraut gemacht werden. Fast alle, die wir dermaßen erzogen haben, stehen danach treu zu Rom. Vielleicht kann dein Bruder eines Tages nach Athen zurückkehren...“

„Und was wird aus Kimon? Kann er bei mir bleiben?“

„Das kann ich nicht versprechen, Melina. Aber ich werde dem Kaiser deinen Wunsch vortragen.“

Dankbar lächelte das Mädchen Lucius an.

„Du bist doch kein so  harter Mann, wie alle behaupten“, meinte sie dann. „Als du damals die Geiselnahme durchführen ließest, glaubte ich zuerst, du seiest die Verkörperung der grausamen Sonnenstrahlen, die Apoll manchmal auf die Erde sendet, um die Menschen zu strafen... und mein Vater war ja sehr hochmütig...“

„Er hat seine Lektion erhalten und ich bin sicher, dass sie ihm unvergesslich bleibt“, sagte Lucius und betrachtete die junge Griechin mit Wohlgefallen. „Tut mir wirklich leid, dass du wegen der Sturheit deines Vaters in eine solch unangenehme Situation geraten bist, Melina. Aber wenn es etwas gibt, womit ich dir eine Freude machen kann, dann sag es ruhig.“

„Ist es möglich, dass ich meinen älteren Bruder sprechen kann?“ fragte das Mädchen daraufhin.

„Natürlich ist das möglich!“

„Und vielleicht...“, begann Melina zaghaft und warf Lucius dabei scheue Blicke zu.

„Ja? Was möchtest du noch?“ forderte dieser sie in freundlichem Ton auf.

„Du erinnerst dich doch sicherlich noch an den kleinen Fluss im Wald, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind?“

„Gewiss, Melina, und es wird mir ein Vergnügen sein, dich dorthin zu begleiten...“

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 Nach einem kurzen Gespräch mit Leandros, der seine kleine Schwester beruhigte und ihr versicherte, dass die Römer ihn bisher gut behandelt hätten, fand Melina Lucius bereits vor dem Krankenlager auf sie wartend. Nachdem er das Mädchen auf sein Pferd gehoben hatte und selbst aufgestiegen war, ritten sie gemeinsam zu dem verborgenen Fluss im Wald.

Als Melina ihren Lieblingsort sah, strahlte sie über das ganze Gesicht und lief vergnügt eine Weile im Kreis herum. Lucius beobachtete sie lächelnd. Sie war so eine liebenswerte, junge Frau ohne Falschheit und Hochmut. Kaum zu glauben, dass sie wirklich die Tochter Aigikoreus’ sein sollte. Sie konnte nichts für das Verhalten ihres Vaters und daher würde sie es gut bei ihm haben. Oh, er hoffte so sehr, dass der Kaiser ihm dieses liebliche Geschöpf überließ...

Melina setzte sich nun am Ufer des Flusses nieder und zog ihre Schuhe aus. Noch ein letztes Mal wollte sie ihre Füße vom kühlen Wasser umspülen lassen. Dies löste in Lucius die angenehme Erinnerung an den Tag seiner Ankunft in Attika aus und er setzte sich neben sie und tat es ihr gleich. Erstaunt musterte ihn Melina daraufhin und er ergriff ihre Hand und drückte sie, wobei er ihr einen zärtlichen Blick schenkte. Errötend wandte sich das Mädchen ab. Zu deutlich erinnerte sie sich des Kusses, den er ihr am Tag ihrer ersten Begegnung gegeben hatte. Jetzt spürte sie, wie er sie mit einem Arm umfasste und mit der anderen Hand ihren Kopf zu sich hob. Sie schloss die Augen und empfing erneut einen Kuss von ihm, intensiver nun als der erste, da sie sich nicht dagegen wehrte.

„Kleine Melina“, flüsterte Lucius und drückte sie an sich. „Du bist so süß.“

Erneut wollte er ihren Mund mit seinen Lippen verschließen, aber sie wand sich plötzlich aus seinen Armen und setzte sich aufrecht.

„Das gehört sich nicht, Lucius“, murmelte sie und starrte ins Wasser.

„Es weiß doch niemand davon, Honigmädchen.“

„Ich weiß es – und es ist einfach nicht richtig von dir, mich so zu überrumpeln. Sag mir, was ich davon halten soll.“

„Ich mag dich sehr gern, Melina, und du gefällst mir.“

Diese Worte lösten ein unbekanntes Gefühl bei der jungen Frau aus, das sie nicht einordnen konnte. Ihr war plötzlich sehr heiß und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Lucius strich zärtlich über ihre Wange, die feuerrot war.

„Ja, du hast recht, Melina“, sagte er leise. „Wir sollten uns Zeit lassen, uns besser kennenlernen. Ich kann mir auch vorstellen, wie durcheinander du zur Zeit bist.“

Seine leichte Berührung holte das Mädchen in die Gegenwart zurück und sie wandte sich ihm zu. Ihre runden, braunen Augen schimmerten feucht.

„Ich habe solche Angst, nach Rom zu gehen“, flüsterte sie.

„Das brauchst du nicht“, gab er in ruhigem Ton zurück und lächelte. „Ich nehme dich mit zu mir nach Hause...“

„Aber der Kaiser...?“

„Er wird nichts dagegen haben, Melina, und ich hoffe, dass du dich bei mir wohlfühlen wirst...“

 

 

 

 

Es war ein angenehmer Spätnachmittag und die Sonnenstrahlen tauchten den Garten der großen Villa in ein warmes, freundliches Licht. Auch spiegelten sie sich in leuchtenden, kleinen Funken in dem dort angelegten Teich. Am Rande desselben saß ein etwa zehnjähriges Mädchen, das rote Haar zu einem kunstvollen Knoten am Hinterkopf festgesteckt, und betrachtete völlig versunken das Spiel der Lichtfunken auf dem Wasser, während es den Worten einer circa  dreißigjährigen Frau in einfacher, weißer Baumwollkleidung lauschte, die etwas aus einem Pergament vorlas. Beobachtet wurden diese beiden von einer unweit von ihnen auf der Terrasse sitzenden, elegant gekleideten Frau von ungefähr vierzig Jahren, ohne Zweifel die Herrin des Hauses. Aber weder der Anblick ihrer kleinen, vergnügt wirkenden Tochter noch die Schönheit des Gartens entlockten der Matrona ein Lächeln, was ihrem ohnehin strengen Gesicht ein noch härteres Aussehen verlieh.

Niemand ahnte, dass Selene sich Sorgen um ihre Ehe mit Lucius Marcellus machte. Nach außen hin wirkten sie wie ein zufriedenes Paar, aber ihr Gatte hatte sie seit ihrer letzten Fehlgeburt vor einem halben Jahr nicht mehr in ihrem Gemach besucht. Anscheinend hatte er es völlig aufgegeben, von ihr je den erwünschten männlichen Erben zu bekommen.

Selene selbst konnte es ihrem Mann nicht verdenken. Bislang war das einzige Kind, das sie lebend zur Welt brachte, ihre Tochter Divia. Zwar wurde diese von dem Vater geliebt und verwöhnt, dennoch hatte Lucius seiner Frau gegenüber mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass er sich einen Sohn wünschte. Oh, sie gäbe alles darum, ihm diesen männlichen Nachkommen zu schenken. Nach Divia war sie zwar noch mehrfach guter Hoffnung gewesen, aber entweder kamen diese Kinder tot zur Welt oder zu früh, um dann zu sterben. Selene war jedes Mal verzweifelt, wenn sie wieder eines ihrer Kinder verloren hatte, und außerdem waren die kurz aufeinanderfolgenden Schwangerschaften ihrer Gesundheit überaus abträglich. Die letzte Fehlgeburt hatte sie sehr erschöpft, weshalb sie einerseits froh war, dass Lucius sie in Ruhe ließ, andererseits fürchtete sie, dass er vielleicht mit dem Gedanken spielte, sich von ihr scheiden zu lassen. Denn anders als sonst war er dieses Mal nicht zu ihr gekommen, um sie über den Verlust des gemeinsamen Kindes hinwegzutrösten. Vielmehr deutete er an, dass auf ihrer Verbindung wohl kein Segen lag.

Als Selene dies ihrer Mutter bei deren letztem Besuch schilderte, meinte diese, sie solle sich nicht so viel Gedanken darüber machen. Sie könne sich nicht vorstellen, dass Lucius sich nach all den Jahren scheiden lassen wolle. Immerhin respektiere er sie doch und behandele sie gut. Zwar musste Selene dies einräumen, dennoch beschlich sie in letzter Zeit des Öfteren das Gefühl, dass ihre Ehe vor dem Aus stand.

Als Lucius vor einigen Wochen nach Attika aufbrach, um einen Aufstand niederzuschlagen, war sein Abschied von ihr nur sehr kühl gewesen, während er die kleine Divia geherzt und geküsst hatte.

„Bringst du mir etwas aus Griechenland mit, Vater?“ hatte ihre gemeinsame Tochter dann gefragt.

„Wir werden sehen“, meinte Lucius nur und lächelte nachsichtig.

Nachdem er Divia aus seinen Armen entlassen hatte, war Selene zu ihm getreten in der Absicht, ihn zu umarmen, aber er ließ es nicht zu. Er drückte ihr lediglich einen trockenen Kuss auf die Stirn, murmelte: „Auf Wiedersehen, Selene!“ und ging dann fort, ohne ihr noch einen Blick zu schenken. Seitdem wusste sie, dass seine Gefühle für sie abgekühlt waren.

Selene fürchtete, dass ihr Gemahl ihr nach seiner Rückkehr aus Attika die Scheidung vorschlagen werde und hoffte deswegen, er bliebe recht lange fort. Doch heute früh hatte sie eine Botschaft Lucius’ erhalten, dass er vor den Toren Roms verweile und im Laufe des Tages heimkehren werde. Wahrscheinlich würde er einen Gast mitbringen und bat sie, für diesen ein Gemach herzurichten, und außerdem solle sich seine griechische Sklavin Philine zur Bedienung dieses Gastes bereithalten.

Verwundert hatte Selene diese Botschaft gelesen. Wen würde ihr Mann da nur mitbringen? Nun ja, immerhin verhinderte ein Fremder im Haus zunächst sicherlich das unangenehme Gespräch einer Scheidung...

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Der Empfang, den Vespasianus Lucius Marcellus und seinen Unteroffizieren bereitete und bei dem man dem Kaiser die jungen Geiseln vorführte, dauerte lange, denn der Herrscher wollte einen ausführlichen Bericht über die Vorkommnisse in Athen haben. Genauso wie Lucius kam er dann zu dem Schluss, dass man  sorgfältig prüfen müsse, ob Fabius Graeccus seinen Aufgaben als Statthalter noch gewachsen war.

„Aber immerhin hat er seinen Posten viele Jahrzehnte lang zur Zufriedenheit Roms ausgefühlt“, meinte Vespasianus abschließend. „Wir sollten nicht außer Acht lassen, dass Fabius sich damit verdient gemacht hat, aber nun ein gewisses Alter erreicht hat, in dem er den Aufgaben eines Statthalters in einer solch schwierigen Region wie Athen nicht mehr gewachsen sein dürfte. Deshalb werde ich ihn in den wohlverdienten Ruhestand schicken und ihm des Weiteren ein Anwesen in Pompeji schenken. Wir müssen nur noch einen geeigneten Nachfolger für Fabius Graeccus finden.“

„Eine weise Entscheidung, Imperator“, sagte Lucius daraufhin.

„Nun, mein lieber Marcellus, zu diesem Zweck müssen wir uns in Ruhe zusammensetzen“, erwiderte Vespasianus und lächelte. „Jedenfalls bin ich sehr zufrieden damit, dass Ihr ein Blutvergießen verhindert habt – wenngleich es Leute geben mag, die mit Eurem Vorgehen sicherlich nicht einverstanden wären. Sei’s drum, Marcellus, Ihr habt Euch eine Belohnung verdient. Gibt es etwas, das Ihr Euch wünscht?“

„Nun, wenn es nicht zu vermessen ist, bitte ich Euch darum, die Tochter des Aigikoreus und ihren kleinen Bruder in mein Haus bringen zu dürfen, Imperator.“

„Oh, ich habe schon gehört, dass Ihr das  Mädchen unter Euren Schutz gestellt habt, Marcellus. Gab es dafür einen besonderen Grund?“

„Ich wollte verhindern, dass man sie belästigt. Immerhin ist es eine junge Dame aus gutem Hause.“

„Da habt Ihr recht, Marcellus“, meinte Vespasianus und schaute zu Melina hinüber, die schüchtern neben ihrem Bruder Leandros saß und seine Hand hielt, während er beruhigend auf sie einsprach. Der Kaiser lächelte unwillkürlich und wandte sich wieder dem Legatus zu: „Außerdem ist die junge Dame  überaus anmutig. Ihr tatet Recht daran, sie unter Euren Schutz zu stellen. – Nun gut, ich überlasse Euch das Mädchen gern. Betrachtet sie als ein persönliches Geschenk von mir, mein lieber Lucius. Ich bin sicher, dass Ihr die Kleine gut behandeln werdet.“

„Aber natürlich, Imperator“, versprach der Angesprochene und verneigte sich leicht. „Ich danke Euch!“

„Die jungen Griechen  hingegen werden ein römisches Ausbildungslager besuchen“, führte Vespasianus weiter aus und lächelte. „Wenn es uns gelingt, aus ihnen loyale Anhänger Roms zu machen, haben wir sechs vielversprechende Offiziere gewonnen.“

„Aber was wird aus dem zweijährigen Knaben?“ fragte Lucius, der noch nicht die Hoffnung aufgegeben hatte, dass der Kaiser ihm auch Melinas kleinen Bruder überließ.

„Ihr wisst sicherlich, dass Senator Valerianus keine eigenen Kinder hat und gern einen kleinen Jungen adoptieren würde“, erklärte der Herrscher lächelnd. „Wenn ich es richtig verstanden habe, legt Aigikoreus keinen allzu großen Wert auf seinen jüngsten Sohn. Was läge also näher, als den Kleinen zu einem römischen Bürger zu erziehen? Valerianus ist sicher überaus glücklich, endlich einen Sohn zu haben.“

„Das verstehe ich“, gab Lucius zu. „Ich bin auch davon überzeugt, dass der Junge es gut bei dem Senator hat. Doch ich besitze ebenfalls keinen männlichen Nachkommen und wäre durchaus bereit, den kleinen Aigikoreus zu adoptieren.“

„Aber, Lucius“, entgegnete der Kaiser mit sanfter Stimme. „Ihr habt bereits die junge Griechin bekommen. Und wer sagt denn, dass Ihr nicht noch einen Sohn zeugen werdet?“

„Aigikoreus’ Tochter wird totunglücklich sein, wenn man ihr den jüngsten Bruder nimmt“, erklärte der Legatus.

„Ihr werdet es gewiss verstehen, das Mädchen zu trösten“, erwiderte Vespasianus. Dann gab er einem Sklaven einen Wink, Melina zu ihm zu bringen. Diese trat zögernd vor den Kaiser.

„Keine Angst, liebes Kind“, sprach der Imperator sie freundlich an und lächelte. „Lucius Marcellus bat mich, Euch in sein Haus aufnehmen zu dürfen, und ich habe dem zugestimmt. Ist das in Eurem Sinne, junge Dame?“

„Ja“, hauchte Melina und der Anflug eines Lächelns glitt über ihre Züge. „Ich danke Euch, Imperator...“

„Auch für Euren jüngsten Bruder ist gesorgt“, fuhr Vespasianus daraufhin fort. „Er wird zu einem netten, älteren Ehepaar gegeben, das ihn zu einem römischen Bürger erzieht.“

„Was?!“ entfuhr es dem Mädchen und sie blickte den Kaiser entsetzt an. „Ach bitte, Imperator, tut das nicht! Bitte, lasst mir meinen kleinen Bruder!“

„Beunruhigt Euch nicht, junge Dame“, sagte der Herrscher. „Es wird dem Kleinen wohlergehen.“

Leandros trat nun neben seine Schwester und legte behutsam einen Arm um sie.

„Komm jetzt, Melina, setz dich noch ein wenig hin“, sagte er leise zu ihr. Aber sie starrte unentwegt auf den Kaiser, als könne sie nicht fassen, was dieser ihr eben gesagt hatte.

Besorgt schaute Lucius sie an und ihm schien, dass sie noch blasser geworden war als vorhin bei ihrem Eintritt in den Saal.

„Mein liebes Kind, macht Euch keine Sorgen“, ließ sich nun Vespasianus wieder vernehmen. „Euer jüngerer Bruder ist bereits mit seiner Sklavin auf dem Weg zu seinen neuen Eltern.“

Melina wandte sich wortlos um und rannte aus dem Saal hinaus. Sie suchte den kleinen Raum auf, in den man vorhin ihre beiden Sklavinnen und Kimon gebracht hatte. Dort fand sie nur noch Quella vor, die ihre junge Herrin mit Tränen in den Augen empfing.

„Ich konnte nichts tun“, sagte die Alte. „Zwei römische Soldaten haben Tia und Kimon mit sich genommen.“

„Nein! Nein!“ rief das Mädchen aus, wandte sich um und wollte hinauslaufen, aber Lucius, der ihr gefolgt war, hielt sie auf.

„Es ist zu spät, Melina“, sagte er.

„Mein kleiner Bruder“, schluchzte sie. „Oh, Lucius, was wird aus meinem Kimon?“

„Er wird es bei seinen neuen Eltern gut haben“, erwiderte der Armeeführer in tröstendem Ton. „Der Imperator hat eine weise Entscheidung damit getroffen, auch wenn sie dich erstmal schmerzt, Melina.“

„Kimon! Kimon!“

„Es war ein langer Tag, kleine Melina“, redete Lucius sanft auf sie ein. „Du wirkst erschöpft. Am Besten, wir gehen jetzt zu mir nach Hause, damit du dich ausruhen kannst.“

Die junge Frau schien seine Worte nicht gehört zu haben, sondern ließ sich weinend zu Boden sinken.

„Oh, Herrin, was für ein Unglück“, fiel Quella jammernd ein.

„Schluss damit!“ fuhr Lucius die Alte an. Dann deutete er auf Melina und sagte in hartem Ton: „Bring deine junge Herrin in ihre Sänfte! Dort wartet ihr auf mich! Ich muss mich noch bei dem Imperator für Melinas Verhalten entschuldigen und mich verabschieden.“

Dann verließ der Offizier den kleinen Raum. Quella starrte ihm mit bösem Blick nach. Gleichzeitig konnte sie erkennen, dass eine Flucht  unmöglich war. Überall standen bewaffnete Legionäre, auch an der Sänfte Melinas.

„Ihr habt gehört, was der Legatus befohlen hat“, mahnte Quella das immer noch auf dem Boden kniende Mädchen. „Es ist besser, wenn wir ihm gehorchen, Herrin.“

Melina nickte und wischte sich mit den Handrücken die Augen trocken. Aber immer wieder flossen Tränen daraus hervor. Dennoch versuchte die junge Frau, sich zusammenzunehmen. Ihr Verhalten gegenüber dem römischen Kaiser war sicherlich alles andere als respektvoll gewesen und es gehörte sich auch nicht, einfach aus dem Saal zu rennen, egal, aus welchem Grund.

„Hoffentlich bekommt Lucius wegen mir jetzt keine Schwierigkeiten“, murmelte sie traurig.

„Was kümmert Euch dieser Römer?“ brummte Quella verärgert. „Ihr seht ja, dass er keinerlei Verständnis für Euch hat, Herrin.“

„Du tust ihm Unrecht“, widersprach Melina. „Ich bin sicher, Lucius hat bei dem Kaiser zu unseren Gunsten gesprochen und ihn auch darum gebeten, dass Kimon bei mir bleiben darf. Er kann sicher nichts dafür, dass der Imperator anders entschieden hat.“

Quella schwieg. Wieder einmal nahm ihre junge Herrin diesen römischen Offizier in Schutz, was nur ihren Verdacht erhärtete, dass Melina in Lucius Marcellus verliebt war. Sie hatte es bereits am Tag ihrer Abreise bemerkt, als die junge Frau lächelnd von dem gemeinsamen Frühstück mit dem Armeeführer zurückgekehrt war. Wahrscheinlich hatte Lucius es darauf angelegt, Melina den Kopf zu verdrehen, um sie später leichter verführen zu können. Dafür sprach, dass sich der Legatus während ihrer Reise nach Rom auffallend oft nach Melinas Befinden erkundigte, persönlich nach ihr sah und sie sowie ihren ältesten Bruder fast jeden Abend in sein Zelt zum Essen einlud. Es war Quella zudem ein weiterer Dorn im Auge, dass auch Leandros ebenso wie seine Schwester Gefallen an der Gesellschaft von Lucius fand. Doch mit ihren Warnungen stieß sie bei ihrer jungen Herrin auf taube Ohren.

„Vergesst nicht, dass die Römer unsere Feinde sind“, mahnte sie das Mädchen oft leise, wenn es nach dem Abendessen von Lucius zurückkam. „Und dieser Legatus hat keine guten Absichten mit Euch.“

„Du übertreibst, Quella“, erwiderte Melina dann stets. „Er ist doch freundlich zu uns und wir werden  auch gut behandelt, nicht wahr?“

Dieser Einwand ließ sich schlecht entkräften, denn die Römer verhielten sich wirklich korrekt ihnen gegenüber. Doch kaum waren sie in Rom angekommen, zeigten sie ihr wahres Gesicht. Es war grausam, einen so kleinen Jungen wie Kimon von seiner Familie zu trennen. Aber konnte man von Barbaren denn anderes erwarten?

Sich nähernde, feste Schritte schreckten die Alte aus  ihren Gedanken auf. Lucius, bekleidet in voller Montur, kehrte in den kleinen Raum zurück. Dicht hinter ihm trat Leandros ein.

„Warum seid ihr noch nicht in der Sänfte?!“ fragte der Armeeführer streng.

„Wir wollten gerade dorthin gehen“, erwiderte Melina, deren Gesicht immer noch tränenverschmiert war, in entschuldigendem Ton. „Tut mir leid, dass ich eben die Beherrschung verloren habe. Hoffentlich war der Imperator nicht allzu verstimmt?“

„Nein, für Frauen hat er sehr viel Verständnis“, antwortete Lucius ein wenig milder und konnte nicht verhindern, dass sich ein Grinsen auf sein Gesicht stahl. Er reichte Melina seine Hand, die diese sogleich ergriff, und fuhr fort: „Er lässt dir nochmals ausrichten, dass du dir keine Sorgen machen sollst.“

Leandros trat zu auf seine Schwester zu.

„Es ist Zeit für uns, Abschied zu nehmen“, sagte der junge Mann und lächelte Melina aufmunternd zu. Deren Unterlippe begann wieder leicht zu zittern und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Während der ganzen Zeit hatte sie verdrängt, dass sie sich in Rom auch von ihrem ältesten Bruder trennen musste. „Mach dir nicht so viele Gedanken um mich und Kimon. Ich bin sicher, dass wie uns wiedersehen werden, Melina. Bis dahin mögen die Götter dich beschützen. Auf Wiedersehen, kleine Schwester.“

Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, nickte dann Quella zu, verließ den Raum und kehrte in den großen Saal zurück. Lucius ließ Melina hingegen keine Zeit, ihrem Bruder hinterherzustarren, sondern zog sie mit sanfter Gewalt aus dem Raum in den Hof hinaus, wo bereits ein frisch gesatteltes Pferd und die Sänfte der jungen Frau auf sie warteten, um sie in das Haus Lucius’ zu bringen. Aber bevor Melina ihr Gefährt erreicht hatte, wurde ihr schwindelig und einen Augenblick später sank sie ohnmächtig zu Boden...

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Angespannt wartete Selene zusammen mit Divia, die es kaum erwarten konnte, sich freudig in die Arme ihres Vaters zu stürzen, auf Lucius. Doch der Tag verging und Dunkelheit senkte sich über die Stadt, ohne dass ihr Gemahl erschien. Allmählich wurde Divia ungeduldig und fragte ein ums andere Mal, wo denn der Vater bliebe. Schließlich hielt Selene es für angebracht, sie ins Bett zu schicken.

„Nein!“ rief das Mädchen trotzig und schüttelte den Kopf. „Ich werde auf Vater warten! Warum kommt er denn nicht endlich?!“

„Ich weiß es nicht, Divia.“

„Vielleicht hast du dich im Tag geirrt, Mutter? Vielleicht kommt Vater erst Morgen?“

„Nein, Divia, dein Vater teilte mir mit, dass er heute kommt und einen Gast mitbringt.“

„Aber wo bleibt Vater denn nur?“ quengelte das Mädchen.

Selene warf einen Blick zu Philine, der griechischen Sklavin, die sich bereits seit einigen Jahren in den Diensten ihres Gemahls befand.

„Sicherlich befindet euer Vater sich noch mit seinen Offizieren beim Kaiser , Divia. Ihr wisst doch, dass so eine Besprechung sehr lange dauern kann“, erklärte Philine freundlich, was ihr ein Lächeln Selenes eintrug. „Euer Vater ist ein wichtiger Mann und auf seine Meinung wird großer Wert gelegt. Sicherlich befindet er sich noch mit seinen Offizieren beim Kaiser. Ihr solltet stolz darauf sein, einen solchen Mann zum Vater zu haben, Divia.“

„Schon, aber ich vermisse ihn“, maulte das Mädchen.

 „Es ist bereits sehr spät“, meinte Selene in ernstem Ton. „Ich halte es für besser, wenn du nun zu Bett gehst, Divia.“

„Aber dann kann ich Vater nicht mehr begrüßen.“

„Ich weiß nicht, wann er heimkommt“, seufzte Selene, der die Warterei ebenfalls auf die Nerven ging. „Möglicherweise wird es sehr spät, mein Kind. Also komm, sei vernünftig und geh’ jetzt schlafen. Ostra wird dich in dein Zimmer begleiten. Du kannst deinen Vater dann morgen begrüßen.“

„Ostra? Warum begleitet mich nicht Philine?“ fragte Divia misstrauisch.

„Weil dein Vater wünscht, dass Philine bei seiner Ankunft zugegen ist“, erklärte Selene. „Wie du weißt, hat er uns einen Gast angekündigt – wahrscheinlich ist es ein Grieche und Philine soll ihn unterhalten.“

„Auf den Gast könnte ich verzichten“, murrte Divia. Selene lachte ein wenig, weil ihre Tochter dabei ein überaus grimmiges Gesicht zog, und meinte: „Sei nicht so voreilig, Divia! Am Ende findet der Gast dein Wohlgefallen!“

„Pah! Bestimmt nicht, wenn er der Grund dafür ist, dass Vater erst so spät nach Haus kommt“, gab das Mädchen patzig zurück.

„Warten wir es ab!“ meinte Selene lächelnd. „Nun geh zu Bett, Divia. Schlaf gut, mein Kind.“

Das Mädchen gab Selene einen leichten Kuss auf die Wange und erwiderte: „Gute Nacht, Mutter. Gib Vater auch von mir einen Kuss.“

„Das mache ich, Divia“, versprach sie, worauf die Kleine zufrieden schien, ihr zunickte und in Begleitung besagter Sklavin namens Ostra verschwand.

„Ach, dieses Kind wächst mir manchmal über den Kopf“, wandte sich Selene seufzend an Philine. „Ob wir Divia nicht zu sehr verzogen haben?“

„Eure Tochter ist zwar ein wenig lebhaft, aber sie besitzt ein gutes Herz“, meinte die griechische Sklavin lächelnd. „Sicherlich wird sie einmal eine wunderbare Frau sein.“

„Ich hoffe, dass du recht hast, Philine. Mir scheint Divia oft sehr ungezogen und ich mache mir Sorgen um sie“, murmelte Selene, wurde jedoch durch sich nähernde Geräusche hellhörig. Einen Augenblick später kam ein Sklave ins Haus und meldete: „Der Herr ist da!“

Gleich darauf trat Lucius ins Haus und musterte seine Frau, Philine und einige andere Sklaven aufmerksam.

„Willkommen zu Hause!“ begrüßte Selene ihren Mann.

„Danke! Ich freue mich auch, endlich wieder hier zu sein!“ erwiderte er kühl und schenkte seiner Gattin nur einen kurzen Blick, bevor er sich mit ihr zusammen zu dem kleinen Hausaltar begab, um den Lar familiaris [2] zu begrüßen. Sobald diese kleine Zeremonie vollzogen war, wandte sich der Hausherr wieder seiner Frau zu und fragte: „Ist alles für meinen Gast bereit?“

„Natürlich, Lucius! So wie du es gewünscht hast“, erwiderte Selene.

„Gut! Dann bringe ich sie jetzt rein“, murmelte der Legat und ging wieder hinaus.

„Sie?“ wisperte seine Frau erstaunt und tauschte mit Philine einen fragenden Blick aus, ehe sie sich wieder der Eingangstür zuwandte und erstarrte. Ein fremdes, junges Mädchen im Haus wäre an sich schon beunruhigend genug gewesen. Doch der Umstand, dass Lucius soeben solch ein Geschöpf auf seinen Armen über die Schwelle seines Hauses trug, schien Selene ein übles Omen zu sein, denn man tat dies eigentlich nur mit einer Braut. War das blasse, junge Ding, das bereits tief zu schlafen schien, etwa ihre Nachfolgerin?

„Führ’ mich in das Gemach, das für den Gast bereitet wurde!“ wandte Lucius sich an Philine, die sofort voranging, um ihrem Herrn den Weg zu weisen. Ihnen folgte eine alte Frau mit finster zusammengezogenen Augenbrauen, die anscheinend zu dem jungen Mädchen gehörte, welches Lucius als seinen Gast bezeichnete.

Neugierig trat Selene aus dem Haus und erkannte im Licht der Fackeln, die von mehreren Sklaven gehalten wurden, eine große, von zwei Maultieren getragene Sänfte. Kopfschüttelnd kehrte die Matrona ins Haus zurück und wartete, bis ihr Mann endlich wieder in der Vorhalle erschien.

„Was hast du mir da für ein Mädchen ins Haus gebracht, Lucius?“ fragte sie in vorwurfsvollem Ton.

Ärgerlich blickte er zu seiner Gattin auf und murrte: „Sie ist eine griechische Geisel, die der Imperator mir überlassen hat. Sie wird in meinem Haus wohnen und Divia Gesellschaft leisten.“

„Warum muss dieses Mädchen ausgerechnet bei uns wohnen?“

„Weil ich es will, Selene!“

„Und welche Funktion hat sie?“

„Melina ist mein Gast!“ fuhr Lucius seine Frau an, die unwillkürlich zurückwich. „Philine wird sich um sie kümmern, damit sie sich gut hier einlebt.“

„Du gibst ihr eine deiner eigenen Sklavinnen zur Bedienung?“ fragte Selene fassungslos. „Soll das etwa heißen, dass du diese kleine Griechin gesellschaftlich mit uns auf eine Stufe stellst, obwohl sie eine Gefangene ist?“

„Ja, das soll es heißen“, gab ihr Mann zurück.

„Wie kannst du nur eine Sklavin uns gleichstellen, Lucius?!“

„Melina Aigikoreusa ist keine Sklavin, sondern eine wertvolle Geisel! Und ich verlange, dass du sie respektvoll behandelst, Selene! Sie ist Gast in meinem Hause! Ein lieber Gast, der dir kaum Umstände bereiten wird!“

„Nun gut, Lucius, jetzt weiß ich es ja“, versuchte seine Frau ihn zu beschwichtigen. „Warum kommt ihr erst so spät? Divia war ganz enttäuscht, dass sie dich nicht mehr persönlich begrüßen konnte.“

„Der Kaiser hat einen Empfang für uns gegeben und wollte genauestens wissen, was sich in Athen abgespielt hat. Deshalb ist es etwas später geworden“, erklärte Lucius. „Tut mir leid, dass ihr so lange gewartet habt. Und jetzt entschuldige mich bitte, Selene, ich bin müde und möchte mich zurückziehen. Wir reden dann morgen ausführlich. Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ hauchte seine Frau und blickte ihm enttäuscht hinterher. Offensichtlich hatte er sich nicht voller Sehnsucht nach ihr verzehrt, wie noch am Anfang ihrer Ehe. Doch dies lag lange zurück und sie wollte eigentlich keinen Gedanken mehr daran verschwenden.

Ungeduldig wies Selene die Sklaven an, die Sänfte der jungen Griechin in die Stallungen zu bringen und dann die beiden Maultiere abzuschirren und zu versorgen. Währenddessen ging ihr das Bild nicht mehr aus dem Kopf, wie ihr Mann das Mädchen über die Schwelle dieses Hauses getragen hatte. Es brannte ihr auf der Seele zu erfahren, was genau sich zwischen der Kleinen und Lucius abgespielt hatte, dass er sie unbedingt hier im Haus haben wollte... nun ja, es war ein junges Ding und ohne Zweifel hübsch. Diese Erkenntnisse beunruhigten Selene sehr, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als bis morgen zu warten, um eventuell Antworten auf all die Fragen zu erhalten, die ihr gerade im Kopf herumgingen...

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[1]  Lar familiaris = Schutzgeist der Familie (Hausgemeinschaft)

 

Divia hatte sich schlafend gestellt, um die alte Ostra loszuwerden. Nachdem die Sklavin endlich das Zimmer des Mädchens verlassen hatte, erhob sich die Zehnjährige und schlich sich zur Tür. Sie war entschlossen, so lange aufzubleiben, bis ihr Vater heimgekommen war. Wenige Minuten später hörte sie bereits seine geliebte Stimme, doch etwas hielt das Mädchen davon ab, aus ihrem Zimmer zu stürmen, um den Vater zu begrüßen. Sie wartete eine Weile, dann vernahm sie die Stimmen ihrer Eltern. Sie stritten, was Divia noch nie bei ihnen erlebt hatte. Irgendetwas musste passiert sein. Ob es mit diesem mysteriösen Gast zusammenhing, den Vater mitbringen wollte?

Vorsichtig verließ Divia ihr Zimmer und schlich in die Vorhalle, wo sie nur noch mitbekam, wie ihr Vater in Richtung seiner Räume verschwand, während ihre Mutter hinausging, um den Sklaven Anweisungen zu geben. Ansonsten war niemand zu sehen, der ihr unbekannt wäre. Entweder war der geheimnisvolle Gast gar nicht gekommen oder er befand sich bereits in den für ihn hergerichteten Räumen.

Divia wunderte sich sehr, denn es war äußerst ungewöhnlich, dass ihr Vater sich gleich nach seiner Ankunft zu Hause zurückzog, zumal er einen Gast mitgebracht hatte. Irgendetwas war anders als sonst. Neugierig begab sich Divia mit leisen Schritten wieder nach oben, wo man einen großen Raum für den erwarteten Besucher hergerichtet hatte. Sie schlich sich vorsichtig an den Eingang des Zimmers, das von einer kleinen Öllampe etwas erhellt wurde. Neben dem Bett saßen Philine und eine ihr unbekannte Frau, die beide besorgt auf die schlafende Person blickten, die mit einer warmen Decke zugedeckt, in dem Nachtlager lag. Divia konnte den Schläfer vom Eingang aus jedoch nicht sehen, weshalb sie keck in das Zimmer hineinging und an das Fußende des Bettes trat, um ebenfalls einen Blick auf den Gast zu werfen.

„Aber... aber das ist ja ein Mädchen!“ rief   Divia überrascht aus.   Nun erst fuhren Philine und die Fremde herum und starrten das Kind an.

„Divia, was macht Ihr hier?“ fragte Philine leise. „Ihr solltet längst schlafen!“

„Ich habe kein Auge zubekommen“, erwiderte die Zehnjährige und deutete dann auf die Schlafende. „Wer ist das, Philine?“

„Meine Herrin Melina!“ antwortete statt ihrer die Fremde und warf sich  schützend auf die Schlafende, wobei sie ihre Augen jedoch keine Sekunde von Divia ließ. „Wagt es ja nicht, meiner Herrin zu nahe zu kommen!“

Das Kind warf einen fragenden Blick auf Philine.

„Wer sind die beiden? Und warum glaubt die alte Frau, dass ich etwas von ihrer Herrin will? Ich kenne sie ja gar nicht!“

„Die junge Frau im Bett ist jener Gast, von dem Euer Vater sprach, Divia. Es ist Melina Aigikoreusa aus Griechenland, die für einige Zeit im Hause Eures Vaters leben wird“, klärte die griechische Sklavin das zehnjährige Mädchen auf.

„Meinst du, dass sie mit mir spielt e?“ wollte Divia wissen.

„Dies obliegt der Entscheidung Eures Vaters. Momentan bedarf die junge Dame dringend der Ruhe, denn die lange Reise hat sie sehr erschöpft; und Ihr solltet auch wieder Euer Schlafgemach aufsuchen. Es ist bereits sehr spät“, ermahnte Philine das Kind.

„Na schön“, murrte Divia, die missmutig wahrnahm, dass die fremde Alte sie mit bösen Blicken anschaute, während sie immer noch schützend über der jungen Frau lag, für die die Zehnjährige sich interessierte. „Ich werde Vater morgen darum bitten, dass Melina mit mir spielt.“

„Tut das, Divia“, meinte Philine in freundlichem Ton. „Aber jetzt geht schlafen. Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ erwiderte das Kind den Gruß und verließ dann endlich das Zimmer.

„Merkwürdige Sitten herrschen hier in Rom“, murmelte Quella, ohne ihre Position zu verändern. „In Griechenland schlafen um diese Zeit minderjährige Kinder bereits. War das etwa die Tochter von Lucius Marcellus?“

„Ja, das war sie“, bestätigte Philine. „Und ich versichere dir, Alte, dass in Rom kaum andere Sitten herrschen als in unserer Heimat. Die kleine Divia konnte nur nicht schlafen, weil sie sich so darauf freute, dass ihr Vater nach Hause kam. Das ist doch nichts Ungewöhnliches.“

„Wie kann man sich nur freuen, wenn Lucius Marcellus kommt?“ brummte Quella. „Dieser böse Mann ist schuld daran, dass meine Herrin und ihre Geschwister entführt und auseinandergerissen wurden, um ihr Leben nun in Rom unter Barbaren zu fristen.“

„Hüte deine Zunge, alte Frau“, ermahnte Philine sie in ernstem Ton. „Soviel mir bekannt ist, hat doch der Vater deiner jungen Herrin den Aufstand in Athen angezettelt. Wenn du also unbedingt jemandem die Schuld an eurer Situation geben willst, dann halte dich an deinen Herrn Aigikoreus.“

„Mein Herr wollte nichts weiter als Freiheit von der römischen Besatzungsmacht!“ verteidigte Quella, die sich nun endlich wieder auf ihren Schemel neben dem Bett setzte, ihn heftig.

„Schweig endlich, alte Frau!“ zischte Philine sie wütend an. „Wenn jemand deine aufrührerischen Reden hört, wirst du hart bestraft.“

„Barbaren! Nichts als Barbaren!“ brummte Quella daraufhin  leise . Sie warf einen Blick voller Mitgefühl auf die Schlafende. „Meine arme, kleine Herrin. Sie hat niemandem etwas Böses getan und ist nun hier gefangen im Haus des Feindes...“

„Ich kann verstehen, dass die neue Situation für euch zunächst unangenehm ist, aber die Römer sind alles andere als Barbaren – und Lucius Marcellus ist ein guter Herr. Melina Aigikoreusa kann sich glücklich schätzen, unter seinem Schutz zu stehen“, widersprach Philine der Alten in ruhigem Ton. „Er wird deine junge Herrin gut behandeln und dich auch, wenn du deine Zunge im Zaum halten kannst. Finde dich endlich mit der Situation ab!“

Melina regte sich nun unter der Decke und stöhnte leise auf.

„Herrin, ist Euch nicht wohl?“ fragte Quella in besorgtem Ton und beugte sich über sie.

Die junge Frau schlug langsam die Augen auf und lächelte, als sie ihre alte Amme erblickte.

„Quella, zum Glück bist du noch bei mir“; flüsterte Melina mit schwacher Stimme. Dann setzte sie sich langsam auf und betrachtete sich erstaunt ihre Umgebung. Ihr Blick fiel dabei auch auf Philine, die die junge Frau anlächelte.

„Wer seid Ihr?“ fragte Melina. „Und wo bin ich hier?“

„Ihr seid im Hause von Lucius Marcellus, meinem Herrn“, erwiderte die griechische Sklavin. „Mein Name ist Philine und mein Herr wünscht, dass ich mich um Euch kümmere. Habt Ihr einen Wunsch, Melina Aigikoreusa?“

„Ja, aber ich fürchte, Ihr könnt ihn nicht erfüllen“, sagte das Mädchen. „Oder liegt es in Eurer Macht, mich und meine Geschwister nach Hause zurückzubringen?“

„Nein, aber wenn Ihr etwas Bestimmtes essen oder trinken wollt, kann ich es Euch gewiss besorgen“, antwortete Philine.

„Steht Ihr schon lange im Dienste von Lucius Marcellus?“

„Ja, er hat mich als junges Mädchen einem Sklavenhändler abgekauft. Seitdem bin ich hier in seinem Hause, gehe seiner Gattin zur Hand und kümmere mich seit der Geburt seiner Tochter um das Kind.“

„Er ist verheiratet?“ entfuhr es Melina erstaunt. Lucius hatte diesen Umstand auf der ganzen Reise nach Rom mit keinem Wort erwähnt.

„Aber ja, bereits seit beinah 15 Jahren“, erwiderte Philine. „Die Verbindung wurde von den Familien der beiden gewünscht.“

„Und... wie ist... seine... Frau...?“ kam es stockend von Melina, der die Tatsache, dass Lucius gebunden war, innerlich großen Schmerz bereitete, und sie fragte sich, warum er ihr seine Ehefrau verschwiegen hatte. Er besaß sogar eine Tochter... Umso unverständlicher erschien es ihr nun, dass er sie nicht zu ihrem Vater zurückkehren ließ.

„Sie ist zwar nicht besonders freundlich, aber sie behandelt uns gut“, erklärte Philine gerade. „Ihr braucht keine Angst vor der Matrona zu haben, Melina. Sie tut, was ihr Mann von ihr verlangt.“

„Wisst Ihr zufällig, was das für Leute sind, zu denen der Kaiser meinen kleinen Bruder bringen ließ?“ fragte die junge Griechin unvermittelt. „Ich mache mir solche Sorgen um Kimon. Er hat sicherlich große Angst.“

„Ich kann Euch leider in dieser Hinsicht nicht weiterhelfen“, erwiderte Philine. „Ihr müsst dies schon den Herrn fragen.“

„Lucius Marcellus ist nicht unser Herr!“ warf Quella giftig ein, was ihr einen ärgerlichen Blick der griechischen Sklavin einbrachte.

„Lucius Marcellus ist der Herr dieses Hauses!“ stellte Philine in strengem Ton klar. „Jeder, der hier lebt, hat sich seinem Willen zu beugen! Auch du!“

„Ich werde mich niemals...“, begann die Alte, aber Melina unterbrach sie: „Bitte, Quella, halte endlich deine Zunge im Zaum. Es nützt uns nichts, wenn du mit jedem hier einen Streit beginnst. Du hast doch gehört, dass Lucius hier das Sagen hat – und wir werden uns dem fügen müssen.“

Mit angedeutetem Lächeln wandte sich die junge Frau nun an Philine: „Ich danke Euch, dass Ihr versucht, uns die Regeln dieses Hauses näherzubringen. Bitte, verzeiht meiner Dienerin, sie ist noch ein wenig durcheinander. All dies hier ist neu für sie.“

„Natürlich, das verstehe ich gut“, gab Philine freundlich zurück.

„Könntet Ihr uns nun allein lassen?“ fragte Melina. „Ich möchte noch ein wenig schlafen; und Quella bedarf sicherlich auch der Ruhe.“

„Na schön, wenn Ihr es so wünscht“, sagte die griechische Sklavin und erhob sich. „Ich werde gleich veranlassen, dass man ein kleines Bett für Eure Dienerin hier aufstellt.“

„Nicht nötig, Quella kann heute neben mir schlafen. Hier ist doch Platz genug“, meinte Melina und rückte ein Stück zur Seite, damit ihre Amme sich neben sie legen konnte.

Philine runzelte die Stirn und entgegnete: „Das wird dem Herrn gar nicht recht sein!“

„Diese eine Nacht wird es schon gehen“, sagte die junge Frau streng. „Und nun lasst uns allein, Philine.“

Die Angesprochene kam dieser Aufforderung nach. Sobald sie den Raum verlassen hatte, kuschelte sich Melina an Quella, die sich mittlerweile neben sie gelegt hatte, und ließ ihren Tränen freien Lauf.

„Warum hat Lucius mir nichts über seine Frau und seine Tochter erzählt?“, schluchzte sie.

„Hab ich Euch nicht vor diesem Mann gewarnt, Herrin?“ antwortete die alte Sklavin, wobei sie tiefe Befriedigung über Melinas Enttäuschung empfand, da sie glaubte, diese sei heilsam für sie. Dass die Gefühle der jungen Frau tief verletzt waren, interessierte Quella dabei nicht. Ihrer Meinung nach konnte es gar nicht schnell genug gehen, dass Melina endlich erkannte, wie wenig vertrauenswürdig Lucius Marcellus war. Die Alte war sicher, dass die Verliebtheit ihrer jungen Herrin zu diesem Mann erloschen war. „Wir sollten auf der Hut vor Lucius sein!“

Ihre Worte hatten zur Folge, dass Melina von einem erneuten Weinkrampf geschüttelt wurde. Quella schloss sie in ihre Arme und murmelte: „Weint Euch ruhig aus, Herrin, denn das Unglück, das uns traf, ist grauenhaft und ich frage mich, weshalb die Götter uns dermaßen gestraft haben.“

„Die Hybris meines Vaters, Quella“, schluchzte Melina. „Wir bezahlen für die Hybris meines Vaters; und dieser bereut es gewiss bitterlich, was er getan hat. Doch es hilft alles nichts, Quella, die Strafe der Götter hat uns ereilt und wir müssen uns darin fügen.“

„Vielleicht wendet sich das Schicksal doch noch zum Guten, Herrin, und die Götter haben Mitleid mit uns...“, versuchte die Alte zu trösten, aber Melina erwiderte nichts darauf, sondern gab sich ihren Tränen hin und weinte sich in den Schlaf...

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Der erste Hahnenschrei weckte Lucius aus seinem unruhigen Schlaf. Sein erster Gedanke galt Melina, um die er sich sorgte. Rasch zog er sich an und ging in den Raum, in dem die junge Frau untergebracht worden war. Allerdings hätte er nicht erwartet, die kleine Griechin in den Armen ihrer alten Dienerin schlafend vorzufinden. Das Mädchen sah traurig aus, die Alte verhärmt. Immerhin verriet ihm dieses Bild, dass Melina zumindest doch irgendwann nachts aus ihrer Ohnmacht wieder erwacht war. Das Einzige, das ihn störte, war die alte Sklavin im Bett der jungen Griechin. Es wurde wirklich Zeit, dass er der Kleinen klarmachte, dass sie sich von ihrer Dienerin nicht alles bieten lassen durfte. Doch das würde er zu einem späteren Zeitpunkt klären, wenn sich Melina ein wenig eingelebt hatte. Zum Glück gab es seine treue Sklavin Philine, die der jungen Dame dabei sicherlich ein wenig zur Seite stand. Wo war sie eigentlich? Er hatte sie extra gebeten, immer in Melinas Nähe zu bleiben.

Lucius verließ das Gästezimmer und schaute sich um. Er erblickte seine Sklavin, die sich unweit des Eingangs in eine Ecke gekauert hatte und schlief.

„Philine!“ rief er leise, um Melina nicht zu wecken. Sofort war die Gerufene wach und schaute zu ihm auf. Sobald sie ihn erkannte, erhob sie sich.

„Ja, Herr?“

„Sag mir, Philine: Wie geht es Melina?“

„Sie ist noch sehr erschöpft und etwas verwirrt, Herr.“

„Demnach war sie also kurz wach?“

„Ja, Herr, und sie fragte sofort nach ihrem kleinen Bruder.“

„Nun gut, das ist verständlich“, murmelte Lucius. „Bitte, sorge dafür, dass Melinas alte Dienerin eine eigene Schlafgelegenheit bekommt. Es geht doch nicht, dass sie im Bett bei ihrer Herrin schläft.“

„Ich sagte der jungen Dame, dass Ihr gewiss etwas dagegen hättet, Herr, aber Melina Aigikoreusa bestand darauf, dass die alte Frau bei ihr schlief“, berichtete die griechische Sklavin.

„Hm... die junge Dame ist zu gutmütig“, brummte Lucius. „Also, Philine, du sorgst dafür, dass die Alte heute Nacht woanders schläft. Melina muss sich daran gewöhnen, erwachsen zu sein. Sie wird sich mit der Zeit schon hier einleben. Bring sie nachher zum Frühstück hinunter. Ich möchte, dass sie meine Frau und meine Tochter kennenlernt.“

„Ja, Herr!“

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Selene hatte in dieser Nacht auch kaum ein Auge zumachen können. Die Tatsache, dass eine junge Frau hier im Hause war, beunruhigte sie zusehends und sie fragte sich immer wieder, warum Lucius dieses Mädchen mitgebracht hatte. Nach seinen Aussagen wollte er sie nicht als Sklavin betrachten, obwohl sie rein formell diesen Status hatte. Was also bewog ihren Mann, die junge Griechin so wertzuschätzen, dass er sogar von ihr verlangte, sie als eine ihr Gleichwertige zu betrachten?

Mit diesen unruhigen Gefühlen erschien Selene schließlich am Frühstückstisch, wo ihr Mann bereits saß und etwas zu sich nahm.

„Guten Morgen, Lucius“, begrüßte sie ihn, wenig erstaunt, denn er stand meistens mit dem ersten Hahnenschrei auf. „Hast du gut geschlafen?“

„Mein Schlaf war ein wenig unruhig“, gab er zu und schenkte seiner Frau die Andeutung eines Lächelns. „Aber es ist schön, wieder zu Hause zu sein. Wie ist es dir und Divia derweil ergangen?“

„Wir haben dich vermisst“, behauptete Selene. In Wirklichkeit war Divia diejenige gewesen, die es kaum erwarten konnte, dass ihr Vater wieder nach Hause kam, während sie selbst der Ankunft ihrer Mannes mit gemischten Gefühlen entgegensah. „Ich hörte, dass deine Mission in Athen erfolgreich gewesen war?“

„Ja, das kann man sagen“, meinte er zögerlich. „Jedenfalls konnten wir den Aufstand niederschlagen. Doch um den Frieden zu bewahren, war ich gezwungen, einige junge Griechen als Geiseln mit nach Rom zu nehmen.“

„Und dieses Mädchen, das du mitgebracht hast, gehört dazu?“

„Ja, Selene. Die junge Dame ist die Tochter des Anführers der Rebellen. Ihre beiden Brüder sind ebenfalls hier in Rom. Der ältere erhält zusammen mit einigen anderen jungen Griechen eine militärische Ausbildung, der jüngere befindet sich in einer anderen Familie.“

„Und warum hat Vespasianus ausgerechnet dir diese weibliche Geisel aufgebürdet?“

„Weil ich ihn darum gebeten habe.“

„Weswegen, Lucius?“ fragte Selene mit unverkennbarer Nervosität in der Stimme. „Bitte, sag mir die Wahrheit. Jetzt sind wir doch ganz unter uns.“

„Die junge Frau ist mir sehr sympathisch und ich dachte, unsere Divia könnte ein wenig Gesellschaft gebrauchen“, antwortete ihr Mann. „Wenn Melina sich um unsere Tochter kümmert, wird sie das gewiss davon ablenken, dauernd an ihre beiden Brüder zu denken. Die Kleine leidet sehr darunter, dass man sie aus ihrer Heimat gebracht und von ihren Geschwistern getrennt hat.“

„Mehr steckt nicht dahinter?“ fragte Selene ungläubig.

„Ich bitte dich, was sollte dahinterstecken?“ wollte Lucius wissen.

„Nun, ich dachte... das junge Mädchen ist sehr hübsch...“, sagte seine Frau stockend.

„Ja, und?“

„Du hast mich schon sehr lange nicht mehr nachts aufgesucht, Lucius.“

„Ich wollte dich nicht bedrängen, meine Liebe. Immerhin setzen dir die Fehlgeburten sehr zu. Daher hielt ich es für besser, dich eine Zeitlang in Ruhe zu lassen“, erklärte er in sachlichem Ton, doch Selene wurde das Gefühl nicht los, dass dies nur eine Ausflucht war. Dann blickte er sie plötzlich überrascht an. „Ach, du hast geglaubt, dass Melina und ich... Also wirklich, Selene, du traust mir ja allerhand zu...“

„Ich könnte es verstehen, Lucius, immerhin scheine ich nicht in der Lage zu sein, dir Kinder zu schenken“, murmelte sie traurig. Er schwieg und bedachte sie nur mit einem langen Blick.

Einen Moment später näherten sich ihnen Schritte und Philine erschien mit Melina am Frühstückstisch. Die junge Griechin war frisch frisiert und sah auch nicht mehr so verweint aus, wie Lucius sie heute Morgen gefunden hatte. Offensichtlich hatte Philine sich ihrer angenommen und sie zurechtgemacht.

„Guten Morgen“, sagte Melina schüchtern, während Philine den Raum wieder verließ.

„Guten Morgen!“ begrüßte Lucius sie. Sein Blick ruhte voller Wohlgefallen auf ihr, was seiner Frau nicht entging. „Komm, setz dich zu uns. Du musst etwas zu dir nehmen.“

Gehorsam tat die junge Frau, wozu der Hausherr sie aufgefordert hatte. Selene reichte ihr ein Stück Brot und einen Becher mit Wein, was Melina dankend entgegennahm. Während sie schweigend aß, betrachtete die Matrona sie genauer. Die kleine Griechin hatte ein feingeschnittenes Gesicht, große dunkle Augen mit langen Wimpern und einen schön geschwungenen Mund mit vollen Lippen. Das Einzige, was nicht so ganz in dieses Antlitz passte, war die etwas zu groß geratene Knollennase, doch genau das verlieh Melina etwas Besonderes. Lucius jedenfalls konnte seine Augen kaum von der jungen Dame wenden, wie Selene erneut beunruhigt zu Kenntnis nahm. Selbst, wenn ihr Mann die Kleine noch nicht angerührt hatte, so war es nur eine Frage der Zeit, bis er es tat. Sie vermeinte, die Begierde nach der hübschen Griechin überdeutlich in seinen Augen lesen zu können.

„Geht es dir ein wenig besser, Melina?“ fragte Lucius.

Die Angesprochene nickte stumm und hielt ihre Augen gesenkt.

„Darf ich dir meine Frau Selene vorstellen?“ fuhr der Hausherr fort, worauf das Mädchen endlich wieder aufsah und dem Blick der Matrona begegnete. Beide nickten sich kurz zu, bevor Melina ihre Augen wieder senkte. Selene hatte der Blick der jungen Griechin ins Herz geschnitten und wahrscheinlich hätte sie Mitleid mit ihr gehabt, wenn sie nicht zugleich auch von einer heftigen Eifersucht erfasst worden wäre, denn diese anmutige Geschöpf hatte bereits das Wohlgefallen ihres Gemahls auf sich gezogen.

Selenes Eifersucht bekam zusätzliche Nahrung, als etwa 10 Minuten später Divia erschien und ebenfalls mit Melina bekannt gemacht wurde. Das Kind fasste sofort eine heftige Zuneigung zu dem fremden Mädchen und zog es gleich nach seinem Frühstück mit sich nach draußen, um Melina den Garten zu zeigen. Die kleine Griechin folgte ihr widerstandslos und Lucius erhob sich einen Augenblick später, um ihnen nachzugehen. Verärgert nahm Selene dieses Verhalten zur Kenntnis. Seit dieses junge Ding erschienen war, hatte ihr Mann kein Wort mehr mit ihr gewechselt. Sie stand nun auch auf und ging in den Garten. Dort fand sie Lucius auf der Terrasse stehend und die beiden Mädchen beobachtend. Neben ihrem Mann erblickte Selene voller Erstaunen eine alte Frau, die einen besorgten Ausdruck in ihrem Gesicht hatte, während sie genauso wie ihr Mann die zwei Mädchen beobachtete.

„He, du!“ sprach Selene sie in strengem Ton an, worauf die Alte sich ihr erschrocken zuwandte. „Wer bist du?“

„Mein Name ist Quella und ich bin die Dienerin von Melina Aigikoreusa“, erwiderte die Alte.

„Ach? Man hat der jungen Dame also eine Bedienstete gelassen?“ meinte Selene daraufhin verwundert und zog die alte Sklavin mit sich in eine ruhigere Ecke, so dass Lucius sie nicht hören konnte. Dieser jedoch beachtete sie kaum, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf Melina und Divia. Letztere führte die junge Griechin durch den Garten und plapperte munter drauflos. Aber Selene interessierte sich weder für ihre Konkurrentin noch für ihre Tochter. Vielmehr hoffte sie, von der Alten etwas Interessantes zu erfahren.

„Ihr müsst die Herrin des Hauses sein“, sagte Quella nun leise. „Oh, bitte, Herrin, lasst nicht zu, dass man mich von meinem Lämmchen trennt. Melina braucht mich doch!“

„Nun beruhige dich mal“, erwiderte Selene in mildem Ton. „Aus deinen Worten schließe ich, dass du Melina Aigikoreusa aufgezogen hast?“

„Das ist richtig, Matrona! Doch nun will man mich von meinem Lämmchen trennen.“

„Nun, deine Herrin ist mittlerweile erwachsen und bedarf keiner Kinderfrau mehr. Es ist nur allzu verständlich, dass sie dich wegschickt.“

„Aber es ist nicht meine Herrin, die mich fortschickt, denn sie weiß meine Dienste durchaus zu schätzen. Außerdem habe ich ihren Eltern versprochen, gut auf mein Lämmchen zu achten. Doch Euer Mann, Matrona, wünscht, dass ich nachts nicht mehr bei meiner Herrin bleiben darf.“

„Was, Lucius verbietet dir, nachts bei deiner Herrin zu verweilen?“ fragte Selene und der Schreck über diese Information war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

„So ist es, Matrona. Und dabei fürchtet sich Melina so sehr im Dunkeln“, erwiderte Quella.

„Demnach hast du bislang immer im Gemach deiner jungen Herrin übernachtet?“

„Ja, Matrona.“

„Deine Herrin ist also noch eine unberührte Jungfrau?“

„Natürlich! Sie ist ein anständiges Mädchen und ihre Reinheit nur für ihren zukünftigen Ehemann bestimmt, wie es sich gehört.“

„Mich wundert, dass ihr Vater sie nicht schon längst verheiratet hat.“

„Oh, eine Hochzeit war schon geplant, aber in Griechenland wartet man damit, bis die Braut heiratsfähig ist“, klärte Quella die Hausherrin auf. „Der rote Mond [1] verschonte meine Herrin bislang jedoch, womit sie noch den Status eines Kindes hat. Jedenfalls ist das in meiner Heimat so.“

„In Rom gilt dies ebenfalls“, sagte Selene, der aufgrund von Quellas Worten ein Stein vom Herzen fiel. Die Gefahr, dass Melina ihr ihren Ehemann wegnahm, war vorerst also gebannt. „Nun, ich werde versuchen, meinen Mann umzustimmen, damit du auch weiterhin den Schlaf deiner jungen Herrin bewachen kannst.“

„Vielen Dank, Matrona.“

Quella, die in Selene eine Verbündete gefunden zu haben glaubte, fiel vor dieser nieder und küsste dankbar deren Hand.

„Schon gut“, wehrte die Römerin ab, die das Verhalten der Alten unangenehm berührte, entzog ihr ihre Hand und ging dann zu ihrem Mann, dessen Blick immer noch gebannt an Divia und Melina hing, die sich gegenseitig einen kleinen Ball zuwarfen und dabei lachten.

„Scheint so, als ob die Stimmung deines jungen Gastes sich ein wenig gebessert hätte“, meinte Selene. „Übrigens hat die kleine Geisel sehr viel mehr mit unserer Tochter gemeinsam als man annehmen sollte. Bei beiden kann der Acker noch nicht bestellt werden.“

„Was?!“ entfuhr es Lucius und er wandte sich mit spöttischem Gesichtsausdruck seiner Gattin zu. „Von wem hast du denn diese Neuigkeit erfahren?“

„Die Sklavin der jungen Griechin hat es mir verraten“, antwortete Selene. „Aus diesem Grunde ist Melina auch noch nicht verheiratet. In den Augen der Alten ist sie damit noch ein Kind und darum möchte sie auch nachts bei ihrer Herrin bleiben.“

„Das alte Weib nimmt sich ein wenig viel heraus“, brummte Lucius. „Sie würde allerhand erzählen, damit niemand ihrem Lämmchen zu nahe kommt. Ich bitte dich, den Worten der Alten nicht allzu viel Beachtung zu schenken, Selene. Du siehst doch selbst, dass Melina kein Kind mehr ist.“

„Gerade deshalb nimmt es mich wunder, dass sie nicht verheiratet ist“, meinte die Römerin. „Aus diesem Grund bin ich geneigt, der alten Frau zu glauben. Sieh mal, Lucius, für sie ist Melina wie ein eigenes Kind. Kannst du es ihr da verübeln, wenn sie ihr Lämmchen, wie sie die junge Frau nennt, beschützen möchte? Irgendwie rührt mich diese Alte.“

„Ach, tatsächlich?“ der Spott in Lucius’ Stimme war unüberhörbar. „Nun, dann finde eine sinnvolle Beschäftigung für sie, denn mir geht ihr gluckenhaftes Getue um Melina auf die Nerven. Es ist weder angebracht noch nötig. Die junge Dame bedarf keiner Kinderfrau mehr, aber vielleicht... nun vielleicht kann die Alte sich ein wenig um Divia kümmern. Unsere Tochter ist sowieso etwas zu wild.“

„Ich dachte, unser lieber Gast soll das tun? Deswegen wolltest du die kleine Griechin doch hier im Haus haben?“

„Melina ist keine Bedienstete, sondern eine junge Dame“, stellte Lucius kühl fest. „Sie braucht sich nicht ständig um unsere Tochter zu kümmern, sondern nur, wenn sie es möchte. Außerdem fände ich es schön, wenn du dich ein wenig ihrer annehmen könntest, Selene. Melina braucht eine adäquate Gesprächspartnerin, jemand, der ihr hilft, sich hier einzuleben. Ich möchte, dass sie sich bei uns wohlfühlt.“

„Aber natürlich“, erwiderte Selene in sachlichem Ton und schwieg dann. Ihr gefiel die ganze Situation und die Fürsorge ihres Mannes um die junge Griechin überhaupt nicht...

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[1] Roter Mond = eine alte Umschreibung für Menstruation.

 

 

 

Etwas später an diesem Vormittag suchte Lucius eine Therme auf. Während er im Wasser entspannte, dachte er darüber nach, was seine Frau ihm unterstellt hatte und es amüsierte ihn. Natürlich fand er Melina süß und es gab Momente, in denen er sich vorstellte, dass sie seine Geliebte sei – aber viel mehr als Phantasien gab es nicht. Die junge Frau war ziemlich schüchtern und hielt sehr auf Anstand, was man angesichts ihrer Herkunft und Erziehung nicht anders erwarten durfte – und er respektierte es. Es gefiel ihm und es reizte ihn. Gewiss wäre es ein Vergnügen, ein solch unschuldiges Mädchen zu verführen... doch er sollte nicht solche Gedanken über eine Schutzbefohlene hegen.

Tatsächlich hatte er bei ihrer Ankunft vor den Toren Roms solcherart Gedanken verdrängt und sich darauf gefreut, wieder nach Hause zu kommen und ein wenig entspannen zu können. Als er den Imperator darum bat, Melina und ihren jüngeren Bruder bei sich aufnehmen zu dürfen, stand bei ihm das Wohlergehen dieser beiden im Vordergrund und das Mitleid, das er mit ihnen empfand. Ihm selbst hatte es auch überaus weh getan, als sich die schönen Augen Melinas aufgrund der Trennung von ihren Geschwistern unaufhörlich mit Tränen füllten.

Und als sie bewusstlos wurde und nicht mehr erwachen wollte, hatte er Angst um die junge Frau gehabt und sie so schnell wie möglich in sein Haus zu Philine gebracht, die ihn nach einem kurzen Blick auf Melina dahingehend beruhigte, dass die Kleine keineswegs in Lebensgefahr schwebte, sondern unter starker Erschöpfung litt.

Er war wirklich froh gewesen, als er sie heute Morgen wohlauf wiedersah; und nachdem er sie später fröhlich mit Divia spielen gesehen hatte, war er beruhigt in die Therme aufgebrochen. Wesentlich zu seiner guten Laune trug auch bei, dass er seiner Frau die Dienerin Melinas als neue Kinderfrau Divias empfohlen hatte und er war sicher, dass Selene seinen Vorschlag in die Tat umsetzte. So war er endlich die Alte los und konnte sich ungestört mit der kleinen Griechin unterhalten, wobei er es genießen würde, dass seine Frau ihn dabei misstrauisch beobachtete. Vielleicht loderte die Leidenschaft, die in der Anfangszeit ihrer Ehe geherrscht hatte und die mit den Jahren bei ihnen beiden stark abgeflaut war, erneut wieder auf. Denn mittlerweile hatte er den Eindruck gewonnen, dass Selene nicht allzu traurig darüber war, wenn er auf einen längeren Feldzug aufbrach. Allerdings konnte ihn dieser Eindruck täuschen, denn die letzte Fehlgeburt schien doch sehr an Selenes Kräften gezehrt zu haben. Womöglich war sie immer noch geschwächt und nicht fähig, das Leben so zu meistern wie bisher. Deshalb hatte er sie ja auch in Ruhe gelassen.

Aber die Ankunft der jungen Griechin in seinem Haus schien ihre Lebensgeister aufzuwecken und ihre Aufmerksamkeit endlich wieder auf ihn zu lenken. Ihm war das  recht, denn er verstand sich gut mit Selene, auch wenn sie nur deswegen geheiratet hatten, weil ihre beiden Elternpaare diese Verbindung für wünschenswert hielten. In den 15 Jahren, die sie nun miteinander verheiratet waren, war zwischen ihnen eine enge Vertrautheit entstanden, in der sie sich miteinander wohlfühlten. Das Einzige, das ihr Leben überschattete, war der Umstand, dass es Selene nach Divias Geburt nicht mehr beschieden zu sein schien, erneut Mutter zu werden. Die beiden Söhne, denen sie danach das Leben schenkte, starben kurze Zeit später an hohem Fieber. Er erinnerte sich noch genau daran, wie sehr sie um den Verlust dieser Kinder getrauert hatte und fast ein Jahr brauchte, ehe sie wieder dazu bereit war, mit ihm das Bett zu teilen. Zu diesem Zeitpunkt begann sie, ihn zu bedrängen, denn sie wollte unbedingt einen Sohn. Doch Selene erlitt immer wieder Fehl- oder Totgeburten. Dennoch gab sie keine Ruhe, schien beinah besessen von dem Gedanken an einen männlichen Erben – sogar schlimmer noch als er. Manchmal wurde es ihm zu viel und er begann, sich zurückzuziehen. Inzwischen hatte er keine Lust mehr, mit ihr zu schlafen, obwohl sie ihn auch nach ihrer letzten Fehlgeburt gebeten hatte, das Bett mit ihr zu teilen. Er konnte einfach nicht mehr. Seine Frau sah so abgekämpft und verbittert aus, dass er fürchtete, sie würde an weiteren Schwangerschaften zugrunde gehen. Immerhin war sie mittlerweile 40 Jahre alt und sollte sich seiner Meinung nach lieber an ihrem einzigen Kind freuen, anstatt weitere fruchtlose Versuche zu unternehmen, gemeinsam mit ihm einen Sohn hervorzubringen. Schließlich gab es noch andere Wege, zu einem männlichen Erben zu gelangen, zum Beispiel durch eine Adoption. Der Gedanke daran war ihm zum ersten Mal gekommen, als er erfuhr, dass Aigikoreus seinen jüngsten Sohn ablehnte, weil seine Frau an der Geburt dieses Knäbleins verstarb. Doch die Entscheidung des Imperators hatte Lucius einen Strich durch die Rechnung gemacht. Dabei hatte er es sich so schön vorgestellt: Melina als fürsorgliche Schwester, die die Erziehung ihres kleinen Bruders übernahm, sich um ihn kümmerte...

Aber hatte er die hübsche Griechin wirklich nur deswegen mit sich nach Rom genommen? War es nicht vielmehr umgekehrt? Wollte er ihren jüngeren Bruder nicht nur deshalb bei sich aufnehmen, um die Zuneigung des jungen Mädchens zu gewinnen?

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte eigentlich keine Veranlassung dazu bestanden, Melina als Geisel mitzunehmen. Ihr ältester Bruder hätte völlig genügt. Doch allein die Vorstellung, dass Aigikoreus seine Tochter mit einem anderen Mann verheiratete, war ihm unerträglich.

Lucius schüttelte sich unwillkürlich. Ihm fiel wieder jener Vorfall in dem großen Saal des alten Rebellenführers ein, als man diesem die Leiche seines Schwagers und zukünftigen Schwiegersohnes vor die Füße legte. Er erinnerte sich noch deutlich daran, dass Melina ihm erzählte, wie zuwider ihr Verlobter ihr war. Ein Umstand, der ihren Vater herzlich wenig interessierte; und es war dem Alten durchaus zuzutrauen, seine liebliche Tochter mit einem groben Widerling zu verheiraten. Einem Mann, dem die süße Melina gleichgültig war, der ihr vielleicht sogar weh tun würde, der sie unglücklich machte...

Bei Jupiter, diese Dinge gingen ihn eigentlich nichts an! Und doch ließen ihn die Tränen der kleinen Griechin nicht kalt, schnitten ihm vielmehr ins Herz... wie sehr wünschte er, sie wieder zum Lachen zu bringen, sie glücklich zu machen.

Lucius schluckte, als ihm dies bewusst wurde. Er empfand starke Zuneigung für Melina und hasste die Vorstellung, dass sie einem anderen gehören könnte als ihm. Selene schien dies zu ahnen, denn ihre Andeutungen heute Morgen waren klar genug gewesen. Aber sie entbehrten jeder Grundlage, denn es war ja bisher nichts geschehen und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass eine junge Frau wie Melina etwas anderes in ihm sah als eine Vaterfigur... dennoch bereitete ihm die Vorstellung Vergnügen, seine Frau ein wenig eifersüchtig zu machen. Es wäre schön, wenn sie wieder zueinander fänden...

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Während Lucius in der Therme weilte, hatte sich Melina nach dem Spiel im Garten mit Divia in ihr Zimmer zurückgezogen und sich hingelegt, weil sie leichte Kopfschmerzen verspürte. Sie brauchte ein wenig Ruhe, zumal sie immer noch etwas schockiert über die Tatsache war, dass Lucius Frau und Kind besaß.

Als sie heute Morgen beim Frühstück mit seiner Gemahlin konfrontiert wurde, durchfuhr sie ein heftiger Schmerz im Innersten, doch es gelang ihr, sich zusammenzureißen und nicht in Tränen auszubrechen. Würde das nun immer so weitergehen, wenn sie ihn zusammen mit seiner Familie sah?

Selene gefiel ihr überhaupt nicht und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Sie hatte die missbilligenden Blicke bemerkt, die diese ihr zugeworfen hatte, als Lucius und Divia mit ihr sprachen. Dennoch: Selene war die Hausherrin und sie musste einen Weg finden, um mit ihr auszukommen.

Melina kam es fast so vor, als würde sie wieder mit Megara unter einem Dach leben. Aber die Situation war nun eine andere: Sie war jetzt nicht mehr die Tochter des Hausherrn, sondern eine Fremde, die sich zu fügen hatte.

Lucius als verheirateter Mann hingegen war tabu für sie. Allerdings fragte sie sich, warum er sie damals geküsst hatte und sie oft auf so merkwürdige Weise ansah – mit Blicken, die sie zu streicheln schienen und die ihr auch angenehm gewesen waren. Sicher, er hatte ihr gesagt, dass er sie mochte, dass sie ihm gefiel und dass er sie besser kennenlernen wolle... aber wozu? Er war doch längst verheiratet! Seine Verhaltensweise ergab für Melina überhaupt keinen Sinn, zumal er ihr diesen freundlich-warmen Blick auch in Gegenwart seiner Ehefrau schenkte. Womöglich dachte er sich gar nichts dabei und bemerkte vielleicht noch nicht einmal, wie er sie anschaute. Selene hingegen war es nicht entgangen und die Giftigkeit, mit der sie sie ansah, war nur allzu verständlich. Aber was konnte sie dafür, wenn Lucius sich so verhielt?

Ach, es war irgendwie eine unangenehme Situation und sie wünschte sich, sie könnte wieder nach Hause zurück. Wie es wohl Vater ging? Ob er sich wirklich wieder von Megara um den Finger wickeln ließ?

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Erschöpft lag Megara auf den Kissen ihres Bettes und weinte lautlos. Ihr Kind war tot zur Welt gekommen und sie selbst wäre bei der Geburt fast gestorben. Zum Glück war ihre Tante dabei gewesen, um ihr beizustehen.

Nach ihrem letzten Gespräch mit Theodoros war sie voller Unruhe gewesen und begann, sich im Haus ihres Mannes zu fürchtet. Darum schickte sie sofort einen Boten aus, um die Schwester ihrer Mutter zu sich zu bitten. Diese kam auch sofort und Megara klagte ihr ihr Leid. Daraufhin suchte die Alte Theodoros auf und bat ihn um Nachsicht für ihre Nichte. Schließlich könne diese wirklich nichts für die Taten ihres Bruders. Aigikoreus beruhigte sich und war bereit, das gemeinsame Kind aufzuziehen . Dennoch bestand er auf der Scheidung, was bedeutete, dass Megara sein Haus verlassen solle, sobald sie sich von der Geburt erholt habe. Nun, die Geburt war vorüber, aber das Kind lebte nicht… Theorodors würde sicherlich froh darüber sein…

„Ich denke, du bist morgen so weit erholt, dass wir abreisen können“, murmelte ihre Tante sanft und wischte Megara behutsam mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab. „Bitte, mach dir keine Sorgen. Du kannst solange bei mir bleiben, wie du willst. Und ich bin sicher, dass du auch wieder heiraten wirst. Schließlich bist du noch jung.“

„Niemand wird mich mehr zur Frau wollen“, jammerte Megara leise. „Für alle hier bin ich doch nur die Schwester eines Verräters – und zudem bin ich nicht mal fähig, ein lebendes Kind auf die Welt zu bringen...“

„Das ist doch Unsinn!“ widersprach ihre Tante. „All die Aufregung, die die Römer verursacht haben, ist an dieser Totgeburt schuld – nicht du.“

„Es ist sehr freundlich, dass du mich zu trösten versuchst – aber mein Gemahl ist ganz anderer Meinung als du; und er wird dafür sorgen, dass man seine Version glaubt“, schluchzte Megara. „Für ihn bin ich diejenige, die seine kostbare Melina den Römern ausgeliefert hat... und mein armer Bruder, der sich nicht mehr wehren kann, wird einfach als Verräter hingestellt...“

„Wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, können wir in eine andere Gegend ziehen - weit weg von hier, mein Kind, damit du die Vergangenheit hinter dir lassen kannst. Du bist noch jung und könntest  ein neues Leben anfangen, im Gegensatz zu Theodoros. Deshalb solltest du nicht so hart über ihn urteilen. Schließlich ist er ein alter Mann und hat seine gesamte Familie verloren... er ist nicht mehr in der Lage, klar zu denken, sondern verzweifelt...“

„Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, so mit Alexandros und mir umzuspringen! Wir sind nicht schuld daran, dass seine Kinder jetzt römische Geiseln sind. Vielmehr hatten wir ihn damals gewarnt und ihm sogar Vorschläge gemacht, wie wir die Römer überlisten können. Doch er wollte nicht auf uns hören – und jetzt macht er uns für seine eigenen Fehler verantwortlich...“

Erneut schluchzte Megara laut auf und fuhr dann fort: „An all dem ist nur Melina Schuld. Wenn sie sich nicht vehement geweigert hätte, Alexandros zu heiraten, wäre er jetzt noch am Leben... Dieses verwöhnte, kleine Biest... und ihr Vater ließ ihr immer alles durchgehen... immer... egal, wie eigenwillig sie war...“

Hysterisch lachte die Wöchnerin auf und murmelte: „Ich hoffe, dass es ihr in Rom schlecht geht und dass sie dort für all das bezahlt, was sie mir und Alexandros angetan hat. Sie hat meinen Bruder auf dem Gewissen... sie und ihr Vater... ich hasse sie beide!“

„Megara! So etwas sollte man nicht einmal denken!“ entfuhr es der Tante entsetzt.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich die Angesprochene schnell. „Es war nicht so gemeint...“

Ihre Tante beruhigte sich daraufhin und fuhr fort, das Gesicht ihrer Nichte abzuwischen. Diese hingegen überließ sich ihren Gedanken, die weiterhin voller Hass gegen Theodoros und Melina waren. Oh, sie würde schon einen Weg finden, um sich an den beiden zu rächen...

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Melina schreckte aus ihrem leichten Schlummer auf, als Quella schluchzend in ihrem Gemach erschien und rief: „Herrin! Herrin! Bitte, sagt doch, dass man uns nicht trennen darf!“

„Was?“ fragte die junge Frau und setzte sich auf. „Was ist denn los, Quella?“

Die alte Sklavin warf sich neben ihrem Bett nieder und vergrub ihr Gesicht im Unterkleid Melinas. Diese blickte erstaunt zu Philine auf, die nun ebenfalls das Zimmer betrat.

„Könnt Ihr mir erklären, was eigentlich los ist, Philine?““

„Nun, der Herr wünscht, dass Eure Dienerin ab sofort seine Tochter betreut“, antwortete die griechische Sklavin in sachlichem Ton.

„Was habe ich mit dem römischen Balg zu schaffen?!“ schluchzte Quella auf. „Ich diene ausschließlich Melina Aigikoreusa, denn das wurde mir von ihren Eltern aufgetragen!“

„Bitte, Quella, führ nicht solche Reden!“ ermahnte die junge Frau sie streng. Dann wandte sie sich wieder Philine zu und fragte: „Weshalb soll meine Bedienstete sich um Divia kümmern? Es sind doch genügend andere Sklavinnen im Haus, die diese Aufgabe übernehmen können.“

„Aber die Matrona besteht darauf, dass Eure Sklavin sich um das Mädchen kümmert! Ihr Mann hat es ihr nahegelegt und sie hält dies für eine ausgezeichnete Idee, da Eure Dienerin schließlich viel Erfahrung auf dem Gebiet der Kindererziehung zu besitzen scheint.“

„Man kann Quella doch nicht dazu zwingen!“ protestierte Melina, die genau wusste, wie sehr ihre alte Hebamme und mütterliche Freundin die Römer verabscheute. „Bitte, bestellt der Matrona, dass ich ihrem Wunsch leider nicht entsprechen kann, da ich die Dienste meiner Sklavin selbst benötige!“

„Das wird der Hausherrin gewiss nicht gefallen“, meinte Philine, die Melina erschrocken ansah. „Es wäre besser, wenn...“

„Überbringt der Matrona meine Botschaft!“ befahl die junge Frau nun in festem Ton.

„Gut, wenn Ihr es wünscht!“

Mit diesen Worten entfernte sich Philine. Kaum war sie fort, stand Melina auf und meinte: „Komm, Quella, hilf mir beim Auspacken!“

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Als Lucius heimkam, empfing ihn Philine am Eingang mit den Worten: „Herr, die Matrona möchte Euch unter vier Augen sprechen!“

Erstaunt folgte er der griechischen Sklavin, die ihn in das Gemach seiner Frau führte und dann sofort verschwand.

„Na, was gibt es denn?“ fragte Lucius.

„Dieses Mädchen, das du ins Haus gebracht hast!“ erwiderte Selene in heftigem Ton.

„Ja, was ist mit ihr?“

„Sie widersetzt sich deinen und meinen Anweisungen!“

„Was? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“

„Oh doch! Sie weigert sich, uns ihre alte Sklavin zu überlassen, damit diese sich um Divia kümmert!“

„Ist das etwa alles?“ fragte Lucius.

„Reicht das denn nicht?!“ schimpfte Selene.

Ihr Mann brach in lautes Lachen aus.

„Du setzt mich in Erstaunen, Lucius. Deine kleine Gefangene widersetzt sich deinem Befehl und du findest das komisch?“

Der Angesprochene schüttelte nur den Kopf.

„Aber, Selene, die ganze Sache lohnt nicht die Aufregung.“

„Seit wann ist es dir gleichgültig, wenn man sich einem deiner Befehle widersetzt?“

„Befehl? Ich habe keinen Befehl gegeben!“

„War es nicht dein Wunsch, dass sich die alte Sklavin deiner Geisel um unsere Tochter kümmert?“

„Das war nur ein Vorschlag, Selene. Ich hätte nie gedacht, dass sich aufgrund dessen hier eine kleine Tragödie anbahnt.“

„Aber ich dachte, du wolltest, dass die alte Frau auf sinnvolle Weise beschäftigt ist?“

„Ja, das will ich auch immer noch. Doch wir sollten unseren jungen Gast nicht gleich am ersten Tag vor den Kopf stoßen!“ meinte Lucius. „Wenn sie ihre Dienerin nicht hergeben will, müssen wir das akzeptieren.“

Selene kochte innerlich vor Zorn, doch es gelang ihr, sich zu beherrschen.

„Na schön“, sagte sie nüchternem Ton. „Wenn du so großzügig bist und so viel Verständnis für deine Geisel aufbringst, wirst du dich wohl auch damit abfinden müssen, dass ihre alte Sklavin weiterhin im Zimmer ihrer Herrin schläft.“

Augenblicklich verfinsterte sich das Gesicht Lucius’ und er erwiderte in ärgerlichem Ton: „Das werde ich ganz und gar nicht dulden!“

„Nun, du bist der Herr im Haus“, meinte seine Frau gelassen. „Ich überlasse dir, dieses Problem zu lösen. Denn mir widersetzt sich die junge Griechin.“

„Verlass dich darauf, dass ich das Problem löse!“ zischte er, drehte sich um und verließ den Raum.

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Melina war sehr erstaunt, als sie sich schnell herannahende, schwere Schritte hörte und kurz darauf Lucius’ Stimme vernahm: „Melina Aigikoreusa, ich habe mit dir zu reden!“

Die junge Frau wandte sich um und sagte: „Selbstverständlich! Worum geht es?“

„Wie ich hörte, lehnst du es ab, deine Dienerin als Kindermädchen für meine Tochter zur Verfügung zu stellen?“ kam Lucius auch gleich zur Sache und trat in den kleinen Raum, in dem Quella gerade dabei war, ein Kleid aus der Truhe ihrer Herrin auf dem Bett auszubreiten. Als sie den Hausherrn sah, verzog sie sich in eine der Ecken und starrte den Römer feindselig an. Dieser jedoch würdigte sie keines Blickes, sondern erwartete gespannt die Antwort Melinas.

„Das ist richtig!“ erwiderte nun das Mädchen. „Quella möchte diese Aufgabe nicht übernehmen.“

„So? Quella möchte also nicht...“, kam es gedehnt von Lucius. „Und was sagt Melina Aigikoreusa dazu?“

„Quella ist meine Dienerin!“ stellte die junge Frau klar. Schließlich konnte sie ihrem Gastgeber nicht sagen, dass ihre Sklavin eine unüberwindliche Abneigung gegen die Römer hegte. „Sie ist schon lange bei mir und ich habe nicht vor, mich von ihr zu trennen.“

„Wenn ich mich recht erinnere, ist die Hauptaufgabe deiner Sklavin deine Erziehung gewesen, nicht wahr?“ fragte Lucius lauernd.

„Ja, das ist richtig!“

„Nun, wenn das so ist, gestattest du mir wohl die Frage, weshalb eine junge Frau noch eines Kindermädchens bedarf?!“

„Ich bin daran gewöhnt, dass Quella immer in meiner Nähe ist“, erwiderte Melina.

„Wenn deine Bedienstete sich um meine Tochter kümmert, bleibt sie in deiner Nähe. Wir leben hier alle unter einem Dach und ihr seht euch jeden Tag“, argumentierte Lucius. „Es besteht also kein Grund, weshalb sie nicht weiterhin ihrer Aufgabe als Kindermädchen nachkommen sollte – diesmal für meine Tochter.“

„Und wer soll mich dann bedienen?  Wer soll mir helfen?“

„Philine wird dies tun. Sie ist eine ausgezeichnete Dienerin, kommt ebenfalls aus Griechenland und ist bestens mit unseren beiden Kulturen bekannt. Sie wird dich mit unseren Sitten vertraut machen und dir in jeder Hinsicht helfen, dich in deiner neuen Heimat einzugewöhnen.“

„Ich möchte nicht auf Quella verzichten! Soll Philine sich doch um Divia kümmern!“

Lucius entglitt unwillkürlich ein Lächeln, obwohl er eigentlich wütend sein sollte, weil Melina sich nicht einfach seinen Wünschen fügte. Es war ein Zeichen dafür, dass die junge Frau endlich wieder zu sich kam und ihr bewusst wurde, dass sie die Tochter eines angesehenen, griechischen Adligen war, die sich nicht alles gefallen lassen wollte. Ihr Verhalten imponierte ihm und so sagte er in plötzlich überaus sanftem Ton: „Das ist wirklich schade! Dabei hatte ich darauf gehofft, dass du mir deine Dienerin überlässt, denn meine Tochter braucht eine wirklich gute Kinderfrau; und die alte Sklavin hat dich ja gut erzogen. Genau dasselbe wünsche ich mir für Divia. Deshalb bitte ich dich nochmals: Überlass mir dein Kindermädchen. Du selbst bedarfst keiner Erziehung mehr, Melina, da du unübersehbar eine junge Dame bist!“

„Danke“, meinte die Angesprochene erstaunt, denn sie hatte eigentlich erwartet, dass er auf seinem Willen bestehen würde. Dieses Lob für Quella kam überraschend. Melina warf der Alten einen fragenden Blick zu und erkannte, dass diese ebenso verwirrt war wie sie. Einen Moment starrte sie nachdenklich auf ihre Amme, dann wandte sie sich wieder Lucius zu: „Also schön, wenn du meinst, dass Quella die Richtige für Divia ist, soll sie sich in Zukunft um sie kümmern.“

„Sehr freundlich von dir“, gab Lucius zurück. „Ich bin überzeugt, dass deine Dienerin die Aufgabe, meinen kleinen Wildfang zu bändigen, sehr gut meistern wird. Dann werde ich meiner Frau jetzt diese gute Neuigkeit mitteilen und erwarte dein ehemaliges Kindermädchen unten. Ich hoffe, du machst uns die Freude, ebenfalls hinunterzukommen und eine Kleinigkeit mit uns zu essen, Melina?“

„Gern, vielen Dank“, erwiderte die junge Frau und lächelte. Sie fühlte sich sichtlich erleichtert, dass diese Angelegenheit ohne große Streitereien gelöst worden war. „Ich brauche aber noch eine Weile, um mich zurechtzumachen.“

„Es hat keine Eile“, beruhigte Lucius sie und ging dann. Melina sah ihm lächelnd nach.

Quella wartete, bis der Hausherr außer Sichtweite war, dann meinte sie in vorwurfsvollem Ton: „Wie konntet Ihr ihm nur zusagen, dass ich seine Tochter erziehe, Herrin?“

„Du hast doch gehört, welch große Stücke er auf dich hält, Quella“, antwortete Melina, die sich sofort nach ihr umgedreht hatte. „Und Divia ist ein reizendes Mädchen, mit der du sicherlich kaum Arbeit haben wirst.“

„Sie ist ein verwöhntes, ungezogenes Kind“, widersprach die Alte.

„Nein, das finde ich nicht“, meinte Melina. „Ein bisschen lebhaft vielleicht, aber schließlich ist sie ja noch ein Kind. Gerade deshalb sollst du dich ihrer annehmen.“

„Ich will das nicht tun, Herrin!“ bat Quella. „Bitte, geht zu Lucius Marcellus und sagt, dass Ihr es Euch anders überlegt habt. Ich möchte nicht von Euch getrennt sein!“

„Aber, Quella“, erwiderte die junge Frau in sanftem Ton. „Wir sind doch trotzdem zusammen, auch wenn du dich um die kleine Divia kümmerst. Bitte, nimm dich dieses Kindes an. Ich wünsche es!“

„Bitte, Herrin, ich tue alles für Euch, aber nicht das...“, jammerte die Alte und fiel vor Melina auf die Knie.

„Doch, Quella, du wirst es tun! Ich verlange es von dir!“ sagte die junge Griechin streng. „Meinst du, es wäre klug, sich den Wünschen von Lucius Marcellus zu widersetzen? Bisher war er sehr freundlich zu uns und ich gedenke nicht, ihn gegen uns aufzubringen, nur weil du stur und eigenwillig an deiner schlechten Meinung über die Römer festhalten willst.“

„Sie sind unsere Feinde, Herrin!“

„Nein, Quella, das hat dir mein Vater eingeredet! Wenn er nicht so uneinsichtig darauf beharrt hätte, die römische Besatzungsmacht aus Attika zu vertreiben, sondern bereit gewesen wäre, mit Fabius Graeccus über bessere Lebensbedingungen für uns zu verhandeln, könnten wir jetzt alle immer noch in Athen leben...“, erklärte Melina in strengem Ton, unterbrach sich jedoch an dieser Stelle und schluckte. Ihr fiel wieder ein, dass sie dann wahrscheinlich die Frau von dem widerlichen Alexandros wäre, und sie hätte dann auch nie Lucius kennengelernt, den sie trotz allem immer noch mochte. Wie leicht er sich doch beruhigen ließ. Alexandros hätte sie sicherlich geschlagen, wenn sie ihm auch nur den kleinsten Hauch von Widerstand entgegengesetzt hätte. Wie anders dagegen verhielt Lucius sich. Er war ein kultivierter, vornehmer Mann – egal, wie Quella es sah. Und eigentlich sprach wirklich nichts dagegen, dass ihre Amme Divia unter ihre Fittiche nahm. Vielleicht würde Quella im Umgang mit diesem Kind im Lauf der Zeit doch einsehen, wie einseitig und ungerecht ihre Sicht auf die Römer war.

„Sie sind unsere Feinde... unsere Feinde...“, jammerte die Alte zu ihren Füssen. „Ach, Herrin, Eurer Vater ahnte schon, dass ihr auf das freundliche Getue der Römer hereinfallen würdet...“

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?!“ fuhr Melina auf.

„Ach, Herrin, alles was ich will ist, Euch vor Unglück zu bewahren“, wehrte sich Quella und sah zu ihr auf. In ihren Augen standen Tränen.

„Gut! Dann wirst du dich also Divias annehmen!“ stellte Melina in kühlem Ton fest. Es fiel ihr schwer, streng zu ihrer Amme zu sein und ihr weh tun zu müssen, aber es schien nötig zu sein. „Und nun hilf mir, mich umzuziehen, bevor wir hinuntergehen.“

„Ja, Herrin“, murmelte die Alte, erhob sich langsam vom Boden und tat, was die junge Frau von ihr verlangte.

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Als Melina in Begleitung ihrer alten Amme in dem Esszimmer erschien, in dem heute Morgen das Frühstück eingenommen worden war, erwarteten sie bereits Lucius, seine Frau und seine Tochter.

„Oh, wie hübsch du aussiehst!“ rief Divia und sprang auf, lief zu der jungen Griechin, ergriff sie bei der Hand und zog sie mit sich. Melina ließ sich lachend neben dem Kind nieder, doch dann begegnete sie dem Blick Selenes und verstummte sofort. Schnell wandte sie sich ihrer Sklavin zu und winkte sie heran. Gehorsam folgte die Alte diesem Wink und setzte sich zu Melinas Füßen.

„Schau, Divia, das ist Quella, mein ehemaliges Kindermädchen“, erklärte die junge Frau dann der Zehnjährigen, die daraufhin neugierig auf die Alte sah. „Sie wird sich von nun an um dich kümmern.“

„Kannst du das nicht tun?“ fragte Divia. „Ich wäre viel lieber immer mit dir zusammen.“

„Aber, Divia“, mischte sich nun Lucius in das Gespräch. „Melina ist kein Kindermädchen, sondern muss hin und wieder auch andere Dinge erledigen. Sie kann nicht ständig mit dir zusammen sein.“

„Warum denn nicht?!“ wollte das Kind wissen und sah enttäuscht zu seinem Vater.

„Ja, das würde mich auch interessieren“, meinte Selene. „Welche anderen Dinge hat dein Gast  denn zu erledigen?“

Ärgerlich warf Lucius seiner Frau einen Blick zu und erwiderte: „Melina ist eine junge Dame und wird uns sicherlich auf die eine oder andere Einladung begleiten!“

„Ach, tatsächlich?“ wunderte sich Selene. „Das ist mir völlig neu!“

Ohne weiter auf die Worte seiner Frau einzugehen, wandte sich Lucius nun wieder seiner Tochter zu: „Ich bin sicher, dass Melina gerne mit dir zusammen ist, wenn sie Zeit dafür hat.“

„Aber natürlich!“ bestätigte die junge Griechin und lächelte ihn an. Dann strich sie unwillkürlich der Zehnjährigen über das Haar und meinte: „Quella ist sehr nett. Ihr werdet euch sicher gut verstehen!“

„Mal sehen“, sagte Divia und schaute erneut zu der alten Amme, die sie mit strengem Blick betrachtete. Allein das rief in dem Kind die Überzeugung hervor, dass sie Quella wohl nicht so einfach um den Finger wickeln konnte, wie sonst alle anderen Leute ihrer Umgebung außer ihrer Mutter, die ihr nicht immer alles durchgehen ließ. Aber da Selene sich die meiste Zeit kaum um sie kümmerte, hatte das nichts zu bedeuten. Doch mit der alten Sklavin sah es anders aus und die Tatsache, sie ab heute ständig in ihrer Nähe zu haben, behagte Divia überhaupt nicht.

„Du brauchst wirklich keine Angst vor Quella zu haben“, ließ sich Melina, die den Blick der Zehnjährigen auf ihre  Amme bemerkt hatte, nun leise vernehmen. „Mir war sie immer eine gute Freundin und das könnte sie für dich auch werden.“

Divia schaute nun wieder zu der jungen Griechin auf, dann schlang sie spontan die Arme um sie und murmelte, für die anderen kaum hörbar: „Nein, du sollst meine Freundin sein.“

Quella jedoch hatte diese Worte verstanden und blickte das Kind überrascht an. Dann endlich glitt ein leichtes Lächeln über die Züge der Alten. Das römische Mädchen schien Melina echte Zuneigung entgegenzubringen. Vielleicht war es doch keine so schreckliche Aufgabe, dieses Kind zu betreuen. Immerhin war es nicht nur die Tochter von Lucius Marcellus, sondern auch diejenige seiner Gemahlin.

Quella schaute nun zu Selene , die wie gebannt zunächst auf Divia und Melina sah, dann einen Blick auf ihren Mann warf, der die beiden Mädchen mit offensichtlichem Wohlwollen betrachtete, und ihr Antlitz missbilligend verzog. Ja, die Matrona war eine tugendhafte Frau, die ebenso wenig mit dem Verhalten Lucius’ einverstanden war wie sie selbst. Gern würde sie ihr dabei behilflich sein, aus ihrer kleinen Tochter eine wohlerzogene junge Dame zu machen. Und da die Kleine anscheinend Melina bewunderte, könnte man ihr diese als Vorbild hinstellen. Wenn man es recht überlegte, würde dies einen guten Schutz vor Lucius bilden, sollte er unanständige Absichten hegen. In Gegenwart von Frau und Tochter würde der Hausherr es kaum wagen, Melina zu nahe zu treten.

Selene, die das Gefühl hatte, beobachtet zu werden, ließ ihre Augen nun zu Quella schweifen und begegnete deren Blick. Sekundenlang schauten die beiden Frauen sich an, dann nickte Selene der alten Amme lächelnd zu und diese erwiderte das Nicken. Offensichtlich zufrieden wandte sich die Hausherrin dann an Melina.

„Wie kommt es, dass du dich nun doch dazu entschlossen hast, dem Wunsche  meines Mannes  zu entsprechen und deiner Dienerin jetzt erlaubst, Divia zu betreuen?“

Mit innerer Befriedigung registrierte Selene, dass die Betonung darauf, dass Lucius ihr Ehemann war, die junge Griechin ein wenig zusammenzucken ließ. Es konnte nicht schaden, wenn das fremde Mädchen deutlich daran erinnert wurde, wie die Verhältnisse hier im Hause waren.

„Lucius hat mich davon überzeugt, dass Quella die richtige Kinderfrau für Divia ist“, erwiderte Melina daraufhin. Sie ahnte nicht, dass diese Antwort erneut einen Sturm der Empörung in Selene auslöste. Zum einen, weil die kleine Gefangene den Hausherrn einfach beim Vornamen nannte, zum anderen, weil er gegenüber der jungen Griechin offenbar seinen Status vergessen hatte. Wie konnte er, der Pater familias, sich so weit herablassen, mit einem Mädchen, das nichts weiter als seine Sklavin war, zu diskutieren, inwieweit deren ehemalige Kinderfrau zur Betreuung seiner eigenen Tochter geeignet war? Das war völlig unnötig, denn die Sklavin seiner neuen Sklavin gehörte automatisch auch zu seinem Eigentum, mit dem er tun konnte, was immer ihm beliebte.

Doch sein Verhalten machte ihr nur allzu klar, wie richtig ihre Annahme war, dass Lucius diese junge Melina begehrte und im Moment alles tat, um ihr Wohlwollen zu gewinnen. Wie hatte dieses kleine Ding es nur geschafft, dass ihr Gatte, der sich sonst von niemandem etwas gefallen ließ, sich ihrem Willen fügte?

„Ich freue mich, dass du sie uns überlässt“, sagte Lucius gerade und verneigte sich leicht in Richtung Melinas, was diese tief erröten und ihre Lider niederschlagen ließ.

Ja, natürlich – es war dieses Unschuldige, das ihren Mann zutiefst faszinierte. Denn auch wenn die kleine Griechin unbestreitbar hübsch war, eine Schönheit konnte man sie wahrlich nicht nennen. Dazu war ihre Nase viel zu groß, wenigstens für dieses feingeschnittene Gesicht, und dennoch... auch Divia schien von dem fremden Mädchen angetan... dieses Sanfte, dieses Freundliche, das Melina ausstrahlte... und wie sie einen ansah, mit diesen großen Augen...

Unwillig schüttelte Selene diese Gedanken von sich, merkte sie doch, wie sehr sie selbst gerade dabei gewesen war, diese kleine Griechin sympathisch zu finden. Nein, sie würde sich nicht von diesem unschuldigen Gehabe einfangen lassen, selbst, wenn es echt war.

Doch was spielte es letztendlich für eine Rolle, ob dieses junge Ding wirklich so arglos war, wie es tat? Allein Melinas Anwesenheit wirkte sich störend auf ihre eheliche Gemeinschaft mit Lucius aus, könnte womöglich gar zu der Scheidung führen, die sie so fürchtete – Grund genug, einen Weg zu suchen, um das Mädchen loszuwerden! Aber wie?

Wieder fiel Selenes Blick auf die alte Hebamme ihrer vermeintlichen Konkurrentin.

Ja, diese Frau wäre sicherlich eine gute Verbündete. Wünschte sie sich doch nichts sehnlicher, als ihr  >Lämmchen<  vor Lucius geschützt zu wissen. Ob es einen Weg gäbe, ihr und ihrer Herrin zur Flucht aus Rom zu verhelfen?

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Nach dem leichten Mittagsmahl zog Lucius sich zu einem Schläfchen zurück und auch Divia wurde deswegen von Quella und Philine auf ihr Zimmer begleitet. Selene hingegen lud Melina zu einem Spaziergang in den Garten ein. Verwundert und mit ungutem Gefühl begleitete die junge Griechin die Hausherrin dorthin.

„Du hattest ja bereits heute Vormittag die Gelegenheit, unseren Garten zu bewundern“, begann Selene, während sie nebeneinander hergingen. „Findet er dein Wohlgefallen?“

„Ja, er ist sehr schön“, gab Melina zu, die jedoch ahnte, dass es Lucius’ Frau nicht darum ging.

Mein Mann“, fuhr die Matrona, wieder mit Betonung auf diese beiden Worte, fort. „Mein Mann erzählte mir, dass du aus einer vornehmen Familie stammst.“

„Das ist richtig. Unsere Familie gehört zu einem der ältesten Adelsgeschlechter in Attika.“

„Aha – nun, das ist ja interessant. Und ich nehme an, in Griechenland ist es ebenso wie in Rom üblich, dass jedes Haus einen Haushaltsvorstand hat?“

„Ja, das ist es!“

„In Rom müssen die Mitglieder eines Hauses diesem Hausherrn gehorchen!“

„Das ist auch in meiner Heimat so, Matrona.“

„Sieh an, unsere beiden Kulturen scheinen gar nicht so verschieden zu sein“, meinte Selene in lauerndem Unterton, blieb plötzlich stehen und sah mit blitzenden Augen zu der jungen Griechin. „Mein Mann ist der Herr dieses Hauses, der Pater familias! Und jeder, der hier lebt, schuldet ihm Gehorsam! Das gilt auch für dich! Wenn du also keinen Ärger bekommen willst, rate ich dir, zukünftig meinem Mann zu gehorchen! Lucius ist nicht immer so großzügig wie heute!“

„Natürlich werde ich mich den Wünschen von Lucius fügen“, erwiderte Melina. „Aber über meine Dienerin bestimme immer noch ich allein!“

„Hör mir mal gut zu, kleine Griechin“, zischte Selene sie nun an. „Dein Stolz ist völlig unangebracht! Mit deiner Geiselnahme hast du deine gehobene Stellung verloren und es interessiert niemanden mehr, aus welch edlem Geschlecht du stammst! Mein Mann mag dich ja als Gast betrachten, aber für mich bist du nichts weiter als eine Sklavin! Und eine Sklavin hat überhaupt nichts zu wollen, sondern nur zu gehorchen! Und genau das wirst du ab jetzt tun! Du gehorchst meinem Mann, verstanden?!“

Nachdem sie die junge Frau dermaßen angefahren hatte, drehte sich Selene herum und kehrte ins Haus zurück. Melina hingegen starrte ihr einen Augenblick schweigend hinterher, dann eilte sie ebenfalls ins Haus zurück und suchte ihr Zimmer auf. Dort ließ sie sich auf ihr Bett fallen und weinte...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lucius stand am Fenster seines Zimmers und atmete die Nachtluft ein. Er konnte nicht einschlafen, denn er sorgte sich um Melina. Heute Nachmittag glaubte er noch, dass es ihr gut ging, aber während des Abendessens hatte sie kaum etwas zu sich genommen und wirkte überhaupt wieder sehr traurig. Doch als er nachfragte, was los sei, meinte sie, es wäre alles in Ordnung. Sie habe nur Heimweh und müsse sich erst eingewöhnen. Diese Antwort klang zwar plausibel, dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass sie nicht ganz der Wahrheit entsprach. Vielleicht hätte er doch nicht darauf bestehen sollen, dass sie sich von ihrer alten Dienerin trennte, mit der sie seit Jahren eng vertraut war. Wieder eine Bezugsperson, die man ihr nahm. Damit hätte er ruhig ein wenig warten können...

Aber was war das?

Der Garten wurde vom Licht des Vollmondes erhellt und Lucius meinte, dort jemanden gesehen zu haben. Konzentriert starrte er hinunter und sah gleich darauf, dass sich tatsächlich eine Person Richtung Teich bewegte, sich dann am Rande desselben niederließ und einen Moment später ihre nackten Füße in das Wasser tauchte. Unwillkürlich erinnerte er sich an den kleinen Fluss im Wald, an dem er das erste Mal seine jetzige Schutzbefohlene traf, die es damals genauso getan hatte. Es musste sich bei der Person im Garten also um Melina handeln, die wohl auch nicht schlafen konnte. Ihr Verhalten sprach dafür, dass sie tatsächlich unter großem Heimweh litt.

Wie zur Bestätigung drang nun leises Schluchzen an sein Ohr und er beschloss, ebenfalls in den Garten zu gehen, um sie zu trösten. Er konnte einfach nicht ertragen, dass sie weinte.

 

Wenig später erschien Lucius mit einer Decke am Teich und sah, wie der zarte Körper der jungen Frau von Tränen geschüttelt wurde.

„Melina“, sprach er leise, worauf die Angesprochene erschrocken hochfuhr. Das Licht des Mondes ließ ihre großen, in Tränen schwimmenden Augen fast gespenstisch erscheinen. „Melina, was tust du nachts hier draußen? Es ist doch viel zu kühl hier.“

Mit diesen Worten ging er neben ihr in die Hocke und legte ihr behutsam die Decke um die Schultern, die sie sofort fest um ihren Körper zog. Voller Mitleid registrierte Lucius, dass sie zitterte und ihn unsicher anschaute.

„Nun, willst du mir nicht antworten, Melina?“ fragte er.

„Sicher... sicher missfällt es dir, dass ich...“, begann sie, wurde jedoch von einem erneuten Schluchzen unterbrochen.

„Was missfällt mir?“

„Es... es tut mir leid... ich wollte nicht... deinen Schlaf... stören...“

„Ich habe noch gar nicht geschlafen“, erklärte er mild. „Bitte, Melina, willst du mir nicht endlich sagen, was mit dir los ist?“

Sie sah ihn erstaunt an, wischte sich dann die Tränen aus dem Gesicht und versuchte, sich zusammenzureißen. Er wartete geduldig, bis sie sich beruhigt zu haben schien, und fragte erneut: „Also, Melina, was ist eigentlich los?“

„Es lag gewiss nicht in meiner Absicht, mich dir gegenüber respektlos zu verhalten. Tut mir leid, wenn es dir so erschienen ist“, antwortete sie in entschuldigendem Ton und senkte dann den Blick, um ins Wasser zu starren.

„Wie bitte? Ich verstehe nicht...?“ meinte er mit gerunzelter Stirn.

„Natürlich hätte mir sofort klar sein müssen, dass ich dir zu gehorchen habe, als du von mir verlangtest, dir Quella zu überlassen.“

„Was redest du denn da nur, Melina?“

„Deine Frau hat mir unmissverständlich klargemacht, dass du der Herr im Hause bist und wir dir alle gehorchen müssen! Tut mir leid, dass ich es vergaß. Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Meine Frau... so, so...“,  meinte Lucius und ihm wurde schlagartig klar, dass Selene die junge Griechin eingeschüchtert haben musste. In fast zärtlichem Ton wandte er sich daher an Melina: „Mach dir keine Sorgen, ich kann durchaus verstehen, dass es dir schwerfiel, dich von deiner alten Dienerin zu trennen. Wenn du so darunter leidest, wird sie natürlich zu dir zurückkehren. Ich möchte doch nicht, dass mein Honigmädchen traurig ist.“

Voller Verwunderung über seine Worte starrte die junge Frau ihn an. Dann murmelte sie zweifelnd: „Ist... ist das dein Ernst?“

„Ja, das ist mein Ernst“, bestätigte Lucius mit ruhiger Stimme diese Frage und strich ihr behutsam über die verweinte Wange. „In solch schönen Augen sollten keine Tränen stehen...“

Er lächelte ein wenig und unsicher erwiderte die junge Griechin dies.

„Nun komm, kleine Melina, lass uns wieder ins Haus hineingehen. Du solltest versuchen, noch ein bisschen zu schlafen.“

Sie nickte und zusammen gingen sie langsam Richtung Haus zurück.

„Lucius“, begann das Mädchen einen Augenblick später zaghaft.

„Ja?“

„Lucius, warum hast du mir nie erzählt, dass du verheiratet bist?“

Der Hausherr blieb stehen und starrte sie verwundert an.

„Weshalb hätte ich es dir erzählen sollen?“ fragte er schließlich. „Es ist unwichtig!“

Sie blickte zu ihm auf und murmelte: „Für mich nicht...“

Ihre Blicke begegneten sich und einen langen Moment verharrten sie ineinander. Dann löste sich Lucius plötzlich davon und meinte: „Wir sollten jetzt wirklich zu Bett gehen!“

Stumm wandte Melina sich von ihm ab und eilte zurück ins Haus. Er verweilte noch einen Moment im Freien und starrte ihr ungläubig nach. Er konnte kaum fassen, was sie eben gewispert hatte... empfand sie wirklich das für ihn, was er sich erhoffte...? Wenn seine Annahme richtig war, musste sie tatsächlich sehr bestürzt darüber gewesen sein, mit Selenes Existenz konfrontiert zu werden. Doch sie hatte sich nichts anmerken lassen, saß stattdessen nachts am Teich und weinte heimlich... und was, bei Jupiter, hatte seine Frau ihr nur an den Kopf geworfen?

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Selene konnte in dieser Nacht ebenfalls nicht einschlafen, drehte sich von einer Seite auf die andere, aber das Bild, wie ihr Mann den ganzen Abend besorgt die kleine Griechin betrachtete, wollte ihr nicht aus dem Kopf. Mehrmals hatte sie versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber es war aussichtslos gewesen. Seit diese Melina im Haus war, widmete Lucius seine Aufmerksamkeit fast ausschließlich ihr...

Es klopfte laut an die Tür, so dass Selene erschrocken hochfuhr.

„Wer ist da?!“ rief sie aufgebracht.

„Ich bin es!“ hörte sie die Stimme ihres Mannes. „Darf ich reinkommen?“

„Lucius!“ entfuhr es ihr überrascht. Sofort sprang sie aus dem Bett. Ihr Herz klopfte laut. Sollte er doch wieder Sehnsucht nach ihr haben? „Bitte, komm herein!“

Kaum waren ihr diese Worte über die Lippen gekommen, öffnete er die Tür und trat ein, eine kleine Öllampe in der Hand. Mit freudiger Erwartung sah sie ihn an.

„Endlich bist du da“, hauchte sie.

Ihr schien, der leise Anflug eines Lächelns wäre über das Antlitz ihres Gemahls gehuscht, bevor er die Tür hinter sich schloss und sich dann neben sie auf das Bett setzte. Selene nahm ihm die Lampe ab und stellte sie auf einen kleinen Beistelltisch. Dann wandte sie sich wieder zu ihm um.

„Ach, Lucius, ich bin so froh, dass du hier bist.“

„Hast du mich vermisst?“ fragte er leise.

„Natürlich, Lucius!“

Selene schlang ihre Arme um den Hals ihres Gatten und küsste ihn behutsam auf den Mund. Er erwiderte den Kuss seiner Frau, merkte, wie sehr es ihn nach körperlicher Zärtlichkeit verlangte und zog sie an sich. Der weiche Leib Selenes drängte sich ihm entgegen, er atmete genüsslich ihr Parfüm ein, küsste sie leidenschaftlicher und drückte sie schließlich ins Bett zurück, so dass er sich über ihr befand.

„Ach, Lucius... wie sehr habe ich das vermisst...“

„Und ich erst...“, murmelte er, während er ihren Körper vom Nachtgewand befreite, ihn dann an den verschiedensten Stellen mit Küssen bedeckte und Selenes Brüste knetete.

Sie atmete heftiger, stöhnte wohlig und gab sich den Liebkosungen ihres Mannes hin, die sie so lange entbehren musste. Endlich spürte sie sein Gewicht auf sich, spürte sein Glied an ihrer Scham...

„Nimm mich!“ forderte sie ihn mit rauchiger Stimme auf. „Komm, zeuge deinen Sohn!“

Kaum hatte sie das gesagt, verharrte Lucius kurz in seiner Bewegung, rollte sich dann von ihr herunter und blieb neben ihr auf dem Bett liegen.

„Was ist los?“ fragte Selene verwundert.

„Ich kann nicht...“, gab er zurück.

„Weshalb nicht?“

„Es geht einfach nicht... es geht nicht...“

Nach dieser Antwort drehte er seinen Kopf auf die andere Seite und seine Frau sah nur sein Hinterhaupt.

„Es fing doch so gut an“, versuchte sie ihn aufzumuntern. „Komm, Lucius, umarme mich! Du brauchst einen Erben.“

„Ich hab es so satt!“ schrie er plötzlich auf, erhob sich und wandte sich nun wieder Selene zu. „Kannst du denn an nichts anderes mehr denken als an das?!“

„Aber wir wollen doch beide einen Sohn“, verteidigte sie sich verständnislos und sah ihn irritiert an. „Was ist daran falsch?“

„Siehst du es denn immer noch nicht ein, dass du nicht in der Lage bist, weitere Kinder zu bekommen?!“

„Ich kann Kinder empfangen!“ rief sie in weinerlichem Ton aus. „Und ich bin bereit, sie zu empfangen, wenn du mir nur beiwohnst.“

Lucius schüttelte den Kopf.

„Mit deinen Schwangerschaften hast du dir zu viel zugemutet“, meinte er sachlich. „Es ist besser, wenn wir nichts mehr riskieren.“

„Aber ich will dir einen Sohn schenken!“

„Es hat keinen Sinn, Selene – die Götter sind uns in dieser Hinsicht nicht gewogen.“

„Lass es uns doch noch einmal versuchen!“

„Nein, Selene! Ich will schließlich nicht, dass du an einer weiteren Schwangerschaft und an einer möglichen Totgeburt zugrunde gehst!“ erklärte Lucius in eindringlichem Ton. „Schau, ich könnte jemanden adoptieren. Oder ich verheirate Divia mit einem angesehenen Mann, sobald sie alt genug ist...“

„Ich möchte kein fremdes Kind, sondern deinen Sohn, Lucius!“ warf Selene heftig ein.

„Schlag dir das aus dem Kopf!“ erwiderte er in strengem Ton, worauf sie in Tränen ausbrach. „Es scheint nun einmal nicht der Wille der Götter zu sein, dass du mir einen Sohn schenkst. Das müssen wir akzeptieren, wenn es auch noch so schmerzhaft ist. – Mir scheint, die beste Lösung für mich, einen männlichen Erben zu haben, der meine Linie fortführt, ist die Adoption.“

„Du hörst dich an, als ob dir dafür bereits eine bestimmte Person vor Augen schwebt“, schluchzte Selene.

„Ja“, gab er zu. „Melina hat einen jüngeren Bruder, der von seinem Vater abgelehnt wird.“

„Was?!“ fuhr Selene in zornigem Ton, aber noch mit verweintem Gesicht auf. „Du ziehst es ernsthaft in Erwägung, einen kleinen Sklaven als deinen Erben zu adoptieren?!“

„Der Knabe ist von edler Abstammung!“ stellte Lucius in unerbittlichem Ton fest. „Und er ist so jung, dass man ihn leicht zu einem loyalen, römischen Bürger erziehen kann. Leider hat der Imperator vorgesehen, dass einer der Senatoren ihn adoptiert, aber vielleicht kann ich den Kaiser doch noch überzeugen, mir den Jungen zu überlassen.“

„Warum, Lucius, willst du unbedingt diesen kleinen Sklaven? Es ist doch nur, weil er der Bruder dieser Melina ist!“

„Ach ja... richtig...“, begann er daraufhin in gedehntem Ton. „Eigentlich bin ich nur zu dir gekommen, um zu erfahren, womit du die junge Dame gekränkt hast, aber ich glaube, ich weiß es... du hast sie als Sklavin beschimpft, nicht wahr?!“

„Na und?! Nachdem sie sich anmaßte, sich deinem Willen zu widersetzen, hielt ich es für meine Pflicht, ihr klar aufzuzeigen, wo ihr Platz ist und dass sie widerspruchslos zu gehorchen habe!“

„Das ist ja unfassbar! Womöglich glaubte Melina, dass ich dich dazu beauftragt hätte, ihr so etwas zu sagen!“ fuhr Lucius seine Frau zornig an. „Wie stehe ich denn jetzt vor ihr da?“

„Seit wann ist es wichtig, was für einen Eindruck eine Sklavin von ihrem Herrn hat?“ erwiderte Selene ebenso wütend.

„Melina ist keine Sklavin!“ schrie er sie an. „Wann geht das endlich in deinen sturen Schädel, Matrona?!“

Betroffen starrte Selene ihren Mann an. Er hatte sie noch niemals mit ihrem offiziellen Titel angesprochen. Das war kein gutes Zeichen!

„Hör mir gut zu, Selene: Melina ist ein vornehmes, junges Mädchen und unser Gast. Daher verlange ich von dir, dass du dich ihr gegenüber gemäß ihrem Stande benimmst. Sie wird uns Gesellschaft bei unseren Mahlzeiten leisten und uns auf Einladungen begleiten. Schließlich soll sie unsere Freunde und Bekannten kennenlernen. Ich möchte, dass sich die junge Dame hier wohlfühlt und Rom ihr eine zweite Heimat wird“, erklärte Lucius jetzt in äußerst strengem Ton. „Und merk dir noch eines: Ich dulde es nicht, dass man Melina beleidigt! Wenn mir noch einmal zu Ohren kommt, dass du sie als Sklavin bezeichnest, hat das harte Konsequenzen für dich!“

Nachdem er seine Ausführungen beendet hatte, nahm er wieder die kleine Öllampe an sich und verließ das Zimmer seiner Frau. Sie starrte ihm mit offenem Mund hinterher...

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Melina hatte zwar nur wenige Stunden Schlaf gefunden, dennoch fühlte sie sich an diesem Morgen außerordentlich wohl. Gestern nach dem Gespräch mit Selene war sie am Boden zerstört gewesen, da sie gemeint hatte, Lucius ließe ihr über seine Ehefrau ausrichten, wie unverschämt er ihr Verhalten fände und dass er in ihr nichts weiter als eine Sklavin sähe. Doch als er sie nachts am Teich so fürsorglich behandelte und überaus freundlich mit ihr gesprochen hatte, wusste sie, dass dies ein Irrtum war. Und als er ihr auf ihre Frage antwortete, es sei unwichtig, dass er verheiratet wäre, und ihr dabei einen Moment später einen überaus liebevollen Blick schenkte, spürte sie, wie viel sie ihm bedeutete.

Allerdings wusste sie mit dem Wirrwarr der verschiedensten Gefühle in ihr, die von Scham und Hoffnungslosigkeit bis hin zu tiefstem Glück reichten, nicht recht umzugehen. Wie sollte sie sich in Zukunft gegenüber Lucius verhalten? Selbst wenn es für ihn keine Rolle spielte, dass es Selene gab – sie selbst konnte die Tatsache nicht ignorieren, dass er ein verheirateter Mann war. Sie durften also nichts weiter als gute Freunde sein. Gewiss wusste Lucius das auch und hatte sich deshalb gestern Nacht so abrupt von ihr abgewandt. Immerhin würde er sie wohl vor Selene in Schutz nehmen. Dies allein reichte schon aus, um ihre Stimmung zu heben. Wahrscheinlich müsste sie auch keine Angst mehr davor haben, der Willkür der Matrona ausgesetzt zu sein. Dennoch würde sie sich vor dieser Frau in Acht nehmen.

 

An diesem Morgen allerdings ließ sich die Herrin des Hauses entschuldigen, da sie bereits in aller Frühe zu ihrer Mutter aufgebrochen sei. Lucius nahm diese Nachricht, die ihm während des gemeinsamen Frühstücks von Selenes Sklavin überbracht wurde, gelassen zur Kenntnis, wie Melina beobachten konnte. Sie selbst fühlte sich durch die Abwesenheit seiner Gemahlin überaus erleichtert und schenkte ihrem Gastgeber ein strahlendes Lächeln, nachdem die Sklavin das Esszimmer wieder verlassen hatte.

„Dir scheint es heute besser zu gehen“, stellte Lucius fest, während er Melinas Lächeln erwiderte. Da er im Augenblick allein mit ihr war, fragte er: „Weshalb ist es für dich wichtig, ob ich verheiratet bin oder nicht?“

Unwillkürlich verfärbten sich die Wangen der jungen Griechin rot, was ihn überaus amüsierte.

„Nun, Melina, willst du es mir nicht verraten?“

„Ich... hm... ich...“, stotterte sie. Dann schluckte sie, senkte ihre Augen und antwortete dann: „Es interessiert mich eben!“

„Aha, so, so...?“ murmelte er. Er setzte eben dazu an, noch etwas zu sagen, als seine Tochter ins Esszimmer gestürmt kam und fröhlich rief: „Guten Morgen!“

Sie umarmte ihren Vater und ließ sich dann neben ihm nieder.

„Hast du gut geschlafen, Melina?“ wollte Divia wissen, während sie sich ein Stück Brot und etwas Käse nahm.

„Ja, danke – und du?“

„Sehr gut. Deine Amme hat mir eine wundervolle Geschichte erzählt, bei der ich leider eingeschlafen bin“, berichtete Divia.

„Ja, Quella weiß viele Geschichten“, bestätigte Melina erfreut. „Wo ist sie überhaupt?“

„In der Küche bei den anderen Sklaven“, antwortete das Mädchen. „Wir treffen uns nach dem Frühstück im Garten.“

„Ich fürchte, Divia, du musst deine neue Kinderfrau wieder an Melina zurückgeben“, mischte sich ihr Vater nun in das Gespräch ein. „Melina vermisst sie nämlich und ist traurig.“

Erschrocken wandte sich die Zehnjährige an die junge Griechin.

„Das tut mir leid, Melina! Natürlich möchte ich nicht, dass du traurig bist – aber ich würde Quella gern bei mir behalten. Du kannst sie doch jeden Tag sehen, wenn wir zusammen sind. Bitte, Melina, lass mir Quella!“

„Also schön“, gab die junge Frau lächelnd nach und strich Divia unwillkürlich über das Haar. „Wer kann dir schon eine Bitte abschlagen?“

Ihr Blick begegnete dem von Lucius und sie schauten sich wieder lange an, bevor er sich erhob, ihnen einen schönen Tag wünschte und das Zimmer verließ.

 

Ein paar Minuten später saßen die beiden Mädchen im Garten am Teich und warteten auf Quella und Philine, die ihnen eigentlich Gesellschaft leisten sollten. Melina starrte in den wolkenlosen, hellblauen Himmel und stellte für sich fest, dass der Himmel in Attika auch nicht anders aussah als hier.

„Melina, bitte erzähl mir etwas über dich“, bat Divia sie.

Die junge Griechin wandte sich ihr lächelnd zu und fragte: „Was möchtest du denn wissen?“

„Wie ist deine Familie so? Hast du noch Geschwister? Und warum bist du ganz allein hier?“

Melina senkte traurig den Blick und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Die kleine Divia konnte ja nicht ahnen, wie schmerzhaft die Erinnerungen an ihre Eltern, ihre Brüder und ihre Heimat waren. Außerdem musste sie sich genau überlegen, was sie dem Kind erzählte.

„Mein Vater ist einer der Vorsitzenden des Volksrates in Athen. Sein Name ist Theodoros Aigikoreus...“, begann die junge Griechin zu erzählen, stockte dann jedoch und schluckte. Wie sehr sie doch ihren Vater vermisste. Sie hoffte, dass es ihm gut ging, soweit das eben für einen Mann möglich war, dessen ältester Sohn und Nachfolger als Geisel nach Rom gebracht wurde.

„Und was ist mit deiner Mutter?“

„Sie... sie ist... gestorben... vor zwei Jahren...“; antwortete Melina, der es nun deutlich schwerer fiel, weiterzusprechen. Sie hatte das Gefühl, von der Trauer um ihre tote Mutter überwältigt zu werden.

Divia ergriff die Hand der jungen Griechin und schaute sie mitfühlend an, während sie murmelte: „Du musst jetzt nichts mehr sagen... es tut mir leid...“

„Schon gut, du konntest es ja nicht wissen“, sagte Melina und wischte sich die aufsteigenden Tränen aus den Augen. „Leider ist es mir immer noch nicht möglich, mich zu beherrschen, wenn ich mich an meine Mutter erinnere. Ich habe sie so geliebt...“

Divia starrte ihre neue Freundin schweigend an, als könne sie nicht ganz begreifen, was sie gesagt hatte. Aber sie respektierte die junge Frau, da diese einige der wenigen Personen ihres Umkreises war, die sie ernstnahm und sie wirklich zu mögen schien. Sie spürte zu Melina fast so eine starke Zuneigung wie zu ihrem Vater Lucius, obwohl sie sie erst so kurze Zeit kannte. Und genau so, wie sie ihren Vater liebte, musste Melina ihre verstorbene Mutter geliebt haben. Es war sicher schrecklich, jemanden zu verlieren, für den man so viel empfand. Sie selbst könnte den Verlust ihres Vaters jedenfalls kaum ertragen.

Unwillkürlich strich Divia der jungen Griechin über die Wange.

„Kann ich dir mit irgendetwas eine Freude machen?“ fragte sie.

Melina lächelte ein wenig über den Versuch der Kleinen, sie aufzumuntern. Aber die ehrliche Absicht Divias tat ihr gut. So erhob sie sich und meinte: „Lass uns ein wenig Ball spielen.“

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„Bitte, gib mir einen Rat, was ich tun soll!“

Selene ging am Arm ihrer Mutter im Garten spazieren. Sie hatte sie an diesem Morgen in deren Haus aufgesucht und ihr alles berichtet, was sie bedrückte. Aemilia Antonia tätschelte die Hand ihrer Tochter und meinte: „Nur die Ruhe, mein Kind. Wenn ich es richtig verstanden habe, verlangt dein Mann doch nur von dir, dass du das griechische Mädchen, das er als Geisel aus Athen nach Rom mitgebracht hat, wie einen hohen Gast behandelst.“

„Ja, Mutter, genau so verhält es sich“, bestätigte Selene.

„Ehrlich gesagt, kann ich daran nichts auszusetzen finden.“

„Aber, Mutter! Sie ist nichts weiter als eine Gefangene, die es wagt, Befehle zu verweigern!“

„Man kann dies einer jungen Dame aus vornehmer Familie durchaus nachsehen“, sagte Aemilia. „Dir würde es im umgekehrten Fall sicherlich auch sehr schwerfallen, dich umzustellen.“

„Ich weiß nur, dass jeder andere, der sich Lucius gegenüber so aufführen würde, eine Strafe zu erwarten hätte!“ gab Selene wütend zurück. „Aber er scheint an dieser Griechin einen Narren gefressen zu haben – und das ist es, was mich beunruhigt. Du müsstest nur mal sehen, wie er diese Fremde ansieht...“

„Lass ihm doch die kleine Freude“, meinte Aemilia mit sanftem Lächeln. „Wenn es weiter nichts ist...“

„Ich könnte schwören, dass er sie begehrt“, murmelte Selene. „Dieses Mädchen bedroht meine Ehe!“

„Ach, was für ein Unsinn“, widersprach Aemilia. „Bis jetzt hat Lucius doch mit keiner Silbe von einer möglichen Scheidung gesprochen, oder?“

Ihre Tochter schüttelte den Kopf.

„Na, siehst du, mein Kind. Du machst dir unnötige Sorgen.“

„Oh, Mutter, ich wünschte, ich könnte dir glauben“, seufzte Selene. „Aber Lucius ist so kühl zu mir, schaut mich kaum an und spricht auch wenig mit mir. Seine Aufmerksamkeit ist gefesselt von dieser griechischen Geisel... allein ihre Anwesenheit und dieses unschuldige Getue der Fremden sind mir äußerst zuwider. Aber Lucius scheint völlig fasziniert davon. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er seinem Begehren nach der jungen Griechin nachgibt.“

„Das kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber selbst wenn, wäre es äußerst unklug von dir, dich als zänkische Ehefrau zu geben, Selene. Wenn du tatsächlich befürchtest, das Interesse deines Gemahls verloren zu haben, aber dennoch an dieser Ehe festhalten willst, würde ich an deiner Stelle darüber hinwegsehen und diese kleine Liebschaft dulden, ohne ein Wort darüber zu verlieren.“

„Das ist viel verlangt, Mutter, und ich glaube, es übersteigt meine Kräfte. Am liebsten hätte ich das griechische Mädchen aus dem Haus. Weißt du denn keinen Rat, wie das zu machen wäre?“

„Nein, Selene – und ich glaube kaum, dass es dir gelingen wird, solange Lucius sich an ihrer Gesellschaft erfreut“, erwiderte Aemilia. „Am Besten, mein Kind, du findest dich damit ab und tust, was dein Mann von dir verlangt. Was ist schon dabei, ein vornehmes, junges Mädchen freundlich zu behandeln?“

 

Enttäuscht verließ Selene zehn Minuten später das Haus ihrer Mutter. Sie hatte gehofft, diese dazu überreden zu können, Lucius ins Gewissen zu reden, doch Aemilia Antonia hielt das für unnötig. Nun ja, immerhin würde ihre Mutter wenigstens zum Abendessen kommen und konnte sich dann selbst ein Bild vom Verhalten ihres Schwiegersohnes machen. Vielleicht hätte sie dann mehr Verständnis für die Sorgen ihrer Tochter...

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Nach dem Mittagessen, an dem Selene wieder teilnahm, wollte Melina sich mit Philine in ihr Zimmer zurückziehen. Lucius hatte ihr nämlich gesagt, dass sie sich für das Abendessen hübsch machen solle, denn man erwartete Gäste. Unsicher warf die junge Griechin einen Blick auf Selene, die ihr jedoch mit einem gekünstelten Lächeln zunickte.

Kaum hatte Melina sich von ihrem Sitz erhoben, um das Esszimmer zu verlassen, sprang Divia ebenfalls auf und meinte: „Ich komme mit!“

„Aber, Kind!“ ermahnte Selene daraufhin ihre Tochter streng. „Das ist völlig unnötig!“

„Irgendjemand muss Melina doch bei der Auswahl ihres Kleides helfen“, gab die Zehnjährige kess zurück und gesellte sich an die Seite der jungen Griechin, die sich offensichtlich über die selbstbewusste Art des Kindes amüsierte. Divia schaute zu ihr auf, schob dann ihre Hand in diejenige Melinas und drückte sie kurz. „Du hast doch nichts dagegen, oder?“

„Natürlich nicht!“ erwiderte die junge Frau und verließ gemeinsam mit der Kleinen den Raum, wobei ihnen ein belustigter Lucius und eine verärgerte Selene nachblickten.

 

Philine und Quella warteten bereits vor dem Esszimmer und folgten den beiden Mädchen dann in das Gästezimmer, in dem Melina untergebracht war.

„Befinden sich Eure Kleider und Euer Geschmeide in der großen Kiste, junge Dame?“ fragte Philine, worauf Melina nickte.

„Höchst umständlich“, murmelte die griechische Sklavin. „Ich werde den Herrn bitten, Euch einen Schrank zur Verfügung zu stellen. Es ist einfach praktischer, denn Ihr werdet bestimmt häufiger auf Abendgesellschaften gehen und sicherlich nicht immer dasselbe anziehen wollen.“

„Tut, was Ihr für richtig haltet“, gab Melina zurück.

Divia hatte mittlerweile die Hand ihrer neuen Freundin losgelassen und war neugierig zur der großen Truhe gegangen, die mit Schnitzereien versehen war, welche im Wasser schwimmende Delphine zeigten. Fast ehrfürchtig berührte das Kind sie und meinte: „Das ist aber schön!“

„Ja, ich mag Delphine“, erklärte die junge Griechin lächelnd.

„Darf ich die Truhe öffnen?“ wandte Divia sich mit fragendem Blick an Melina. Als diese es ihr mit einem leichten Kopfnicken gewährte, setzte die Kleine ihr Vorhaben in die Tat um. Staunend schaute sie auf den Inhalt der Truhe. Zuoberst lagen zwei Puppen aus Holz, mit schönen Kleidern angetan und aufgemalten, lächelnden Gesichtern. Neben ihnen befanden sich mehrere Delphinfiguren. Einige davon waren groß, andere klein, manche bunt angemalt, manche nur aus Holz.

„Das sind wirklich schöne Dinge“, meinte Divia.

„Ja“, bestätigte Philine, die nun ebenfalls einen Blick in die Truhe warf. „Aber seid Ihr nicht schon etwas zu alt, um mit Puppen zu spielen, Melina Aigikoreusa?“

„Diese beiden Puppen sind Geschenke meiner Mutter“, erklärte die junge Griechin. „Sie sind das Einzige, was mir von ihr noch geblieben ist, und ich werde mich nicht von ihnen trennen.“

„Das ist natürlich verständlich, junge Herrin“, erwiderte Philine. „Erlaubt Ihr mir dennoch, die Truhe auszuräumen, damit wir für Euch ein Kleid für den heutigen Abend aussuchen können?“

„Ich werde das tun!“ mischte sich nun Quella in hochmütigem Ton ein. „Es war bislang immer meine Aufgabe, die Sachen meiner Herrin ein- und wieder auszuräumen.“

„Dann lasst Euch nicht davon abhalten“, gab die griechische Sklavin spöttisch zurück. Sie war immer noch über diese Alte erstaunt. Anders als Melina Aigikoreusa wollte sie sich nicht damit abfinden, dass sich ihre Lebensumstände geändert hatten und sie sich den Wünschen des Herrn dieses Hauses fügen musste. Philine hieß es auch nicht gut, dass die junge Dame ihrer Sklavin fast alles durchgehen ließ, wenngleich sie verstand, dass es Melina schwerfiel, die Alte streng zurechtzuweisen. Immerhin hatte Quella ihre junge Herrin genährt und großgezogen, so etwas verband zwei Menschen miteinander. Doch allmählich wurde es Zeit, diese Verbindung aufzulösen, und es war eine gute Idee von Lucius Marcellus gewesen, Divia unter die Obhut der alten Amme zu stellen. Auf diese Weise war sie beschäftigt und würde nicht mehr so darunter leiden, dass Melina inzwischen eine erwachsene Frau war, die man über kurz oder lang verheiraten würde. Denn Philine glaubte nicht, dass das Mädchen lange in diesem Haushalt blieb. Längst hatte sie die giftigen Blicke bemerkt, mit denen Selene die junge Griechin verfolgte, da Lucius Marcellus seinen Gast oft mit unverhohlenem Wohlgefallen betrachtete. Zwar gönnte Philine der arroganten Matrona diese Nichtbeachtung ihres Ehemannes, dennoch fürchtete sie, dass Melina – obwohl sie an sich nichts dafür konnte  – darunter würde leiden müssen. Selene gab sicherlich keine Ruhe, bis Lucius die junge Griechin wieder aus dem Haus geschafft hatte. Gewiss machte er sich schon Gedanken darum, wie er eine vornehme Nichtrömerin auf anständige Weise verheiraten konnte. Philine kannte Lucius, für den sie lange Jahre diente, sehr gut und wusste, dass das Wohlergehen Melinas, die er sehr sympathisch fand, ihm am Herzen lag. Er würde sie nicht einfach einem Nichtswürdigen überlassen...

Das Jauchzen Divias holte Philine aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. Soeben hatte Quella ein hellblaues Gewand aus der Truhe zutage gefördert, das an Saum, Halsausschnitt und den kurzen Ärmeln mit einer dunkelblauen Borte in Form von kleinen Wellen versehen war.

„Oh, Melina, du wirst so hübsch darin aussehen!“ rief Divia aus.

„Ach, ich weiß nicht so recht“, meinte die Angesprochene zweifelnd. „Eigentlich will ich nicht auffallen...“

„Zieht es an!“ mischte sich nun auch Philine ein. „Es ist ein einfaches und dennoch geschmackvolles Kleid. Niemand wird daran Anstoß nehmen, wenn Ihr es tragt.“

Natürlich ahnte die griechische Sklavin, dass Melina alles verhindern wollte, was Selene möglicherweise verärgern könnte – dabei war ihre bloße Anwesenheit für die Hausherrin Ärger genug. Deshalb war es auch gleichgültig, was sie trug. Sie würde ohnehin im Interesse der Aufmerksamkeit stehen, weil sie neu in Rom und zudem die Tochter eines Mannes war, der es gewagt hatte, einen Aufstand gegen das Imperium anzuzetteln und nur dadurch besiegt wurde, dass man seine Kinder und diejenigen seiner Bundesgenossen als Geiseln genommen hatte.

Oh ja, einige Sklavinnen aus anderen Haushalten, die sie beim Einkaufen auf dem Markt traf, hatten ihr gesagt, dass diese Geschichte im Augenblick das Gesprächsthema ihrer Herrschaften war.

Philine lächelte. Dieser Theodoros Aigikoreus mochte zwar offiziell der Feind Roms sein, aber insgeheim bewunderten viele doch den Wagemut dieses alten Adligen. Solch ein Mann konnte nur prächtige Kinder hervorgebracht haben. Und sie war sich sicher, dass die hübsche, kleine Melina ebenfalls die Bewunderung der Gäste von Lucius fand, ob sie wollte oder nicht...

 

 

 

An diesem Abend hatte Lucius seinen jüngeren Bruder Appius, einen Rechtsgelehrten, sowie zwei ältere, befreundete Offiziere und den jungen Offizier Flavius, dessen Mentor er war, mitsamt ihren Ehefrauen bzw. Flavius’ Verlobter eingeladen. Ihm war es auch recht, dass seine Schwiegermutter Aemilia an der Cena [1] teilnahm. Melina würde es sicherlich gut tun, einige andere Römerinnen der vornehmen Gesellschaft kennenzulernen als Selene, die keinerlei Anstalten machte, der jungen Griechin in irgendeiner Form hilfreich zur Seite zu stehen.

Lucius seufzte. Nun ja, es war vielleicht auch zu viel von seiner Ehefrau verlangt, ein hübsches Mädchen, in dem sie eine Konkurrentin vermutete, wie eine Art Tochter zu behandeln. Deshalb würde er Selene in Zukunft mit solcherlei Bitten in Ruhe lassen. Das Gespräch heute Nacht hatte ihn klar erkennen lassen, wie eifersüchtig sie auf Melina war!

Diese Eigenschaft Selenes stieß ihn mehr ab, als er jemals gedacht hatte. Amüsant fand er es nicht mehr, denn die junge Griechin hatte darunter zu leiden – und das wollte er nicht!

Mittlerweile ertappte er sich immer öfter bei dem Gedanken, sich von Selene scheiden zu lassen. Aber er fühlte sich unbehaglich dabei, denn sie war ihm jahrelang eine gute Ehefrau gewesen, die den Haushalt vorbildlich führte und mehrmals die Strapazen einer Schwangerschaft auf sich nahm, um ihm den ersehnten Sohn zu schenken.

Dabei hatte es gestern Nacht, als er sie in ihrem Gemach besuchte, so gut angefangen. Als Selene ihm gestand, wie sehr sie ihn vermisste, war in ihm für eine Weile wieder jene liebevolle Zuneigung zu ihr erwacht, die er am Anfang ihrer Ehe verspürt hatte, und entfachte das Verlangen in ihm, sich zärtlich mit ihr zu vereinen. Doch in dem Augenblick, als er dies vollziehen wollte, zerstörte ihre Aufforderung, seinen Sohn zu zeugen, mit unbarmherziger Plötzlichkeit das Feuer der Leidenschaft in ihm und er hatte auf einmal das Gefühl, nur von ihr benutzt zu werden... sie empfand gar nichts für ihn, sie wollte nur einen Sohn von ihm, sonst nichts...

Die Erinnerung daran rief erneut einen leisen Zorn in Lucius hervor, auch wenn er einräumte, dass er natürlich gern einen eigenen Sohn gehabt hätte. Doch inzwischen hatte er sich damit abgefunden, dass er wohl niemals einen haben würde; und er machte Selene auch keinen Vorwurf deswegen. Was konnte sie dafür? Und gerade, weil er ihr verständnisvoll und trostreich zur Seite gestanden hatte, konnte er es nicht nachvollziehen, weshalb sie derart besessen davon war, unbedingt einen Sohn von ihm empfangen zu müssen...

Unwillig scheuchte er diese unerfreulichen Gedanken fort und erhob sich. Die Gäste müssten jeden Moment eintreffen und er wollte sie persönlich begrüßen. Hoffentlich war Selene schon im Esszimmer, damit wenigstens nach Außen hin der Schein einer vorbildlichen Ehe gewahrt blieb. Schließlich gingen ihre internen Differenzen niemanden außerhalb dieses Hauses etwas an...

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Tatsächlich erwartete ihn Selene bereits im Esszimmer, in das zu den drei Speisesofas und den beiden Stühlen sechs weitere Liegen sowie ein Stuhl um den Tisch in der Mitte gestellt worden waren, damit die Gäste und der Hausherr bequem speisen konnten, während Selene, Melina und Divia sitzend an dem Abendessen teilnehmen würden.

Die Eheleute hatten bislang kein Wort über ihre nächtliche Zusammenkunft verloren, begegneten sich lediglich äußerst kühl und höflich. Sie nickten sich stumm zu und warteten auf die Ankunft ihrer Gäste. Diese ließ nicht lange auf sich warten.

Der Erste, der eintraf, war Appius. Ebenso wie Lucius war er von großer, stattlicher Statur und besaß helles Kopfhaar. Er begrüßte seine Schwägerin respektvoll und umarmte dann seinen Bruder.

„Lucius, schön, dich wieder wohlbehalten hier in Rom zu wissen!“ meinte er dann. „Wie ich hörte, war deine Mission überaus erfolgreich. Ich bin schon sehr gespannt auf die junge Dame, die als Gast in deinem Hause weilt. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, soll sie ein sehr anmutiges Geschöpf sein.“

„Gerüchte?“ entfuhr es Selene überrascht.

„Nun ja, die junge Geisel bildet eines der Hauptgesprächsthemen in Rom“, gab Appius zu, wandte sich dann jedoch wieder an seinen Bruder. „Hat sich das Mädchen inzwischen ein wenig eingelebt, Lucius?“

„Das kannst du sie gleich selbst fragen, mein Lieber“, erwiderte der Legatus ausweichend, da inzwischen die anderen Gäste eintrafen, und forderte seinen Bruder auf: „Bitte, nimm doch Platz!“

Appius folgte dieser Aufforderung und machte es sich auf einem der Speisesofas bequem, während Lucius seine beiden Freunde und deren Ehefrauen herzlich willkommen hieß und sie ebenfalls einlud, auf den bereitstehenden Liegen Platz zu nehmen. Doch da gleich nach ihnen Aemilia Antonia eintraf und ebenfalls von den Gastgebern freundlich begrüßt wurde, ließ man der älteren Frau den Vortritt. Endlich auch kam Flavius in Begleitung seiner Verlobten Silvia herein, die ebenso wie die anderen als liebe Gäste willkommen geheißen wurden. Selene hatte die junge Römerin auf Bitten ihres Gemahls eingeladen, damit die Brautleute sich endlich wieder einmal sehen und miteinander plaudern konnten. Es würde noch mindestens zwei Jahre dauern, bis Flavius und sie heiraten durften. So lange war es ihnen nur gestattet, sich unter Aufsicht von angesehenen Bürgern zu treffen.

Silvia Valeriana, deren ovales Gesicht mit den weichen Zügen völlig von ihren großen, tiefblauen Augen dominiert wurde und ein sanftmütiges Wesen erkennen ließen, trug ihr blondes Haar zu einer überaus kunstvollen Frisur aufgesteckt und mit kleinen Perlen verziert, was allen anwesenden Damen einen Ausruf der Bewunderung entlockte. Ebenso geschmackvoll war ihr rosafarbenes Kleid, das ihre Sanftheit noch unterstrich.

Lucius jedenfalls ließ es sich nicht nehmen, der jungen Römerin ein Kompliment zu machen und seinem Schützling Flavius zu seiner Braut zu gratulieren. Mit Verbitterung nahm Selene zur Kenntnis, dass ihr Gemahl der Braut seines Unteroffiziers ebensolche bewundernden Blicke schenkte wie seiner griechischen Geisel – und das kränkte sie sehr. Doch sie nahm sich zusammen und lächelte Silvia zu, die dieses Lächeln erwiderte.

Nachdem das Brautpaar sich auf seine Liegen begeben und Selene sich auf einen der Stühle gesetzt hatte, ließ sich Lucius endlich auch nieder und betätigte ein Glöckchen, das vor ihm auf dem Tisch lag. Gleich darauf erschien ein Sklave und der Hausherr fragte: „Warum sind Melina Aigikoreusa und meine Tochter noch nicht hier?“

„Ich weiß nicht, Herr, aber ich werde sie sofort holen“, versprach der Bedienstete und eilte aus dem Raum.

„Sicherlich machen sie sich noch schön für uns“, witzelte Appius, grinste seinen Bruder an und warf einen Blick in die Runde. Die männlichen Gäste sowie der Hausherr erwiderten das Grinsen. Dann wandte der Rechtsgelehrte sich an seine Schwägerin: „Sag mir, Selene, wie geht es Divia? Ist sie gewachsen, seit ich das letzte Mal hier weilte?“

„Ich denke schon“, gab die Matrona kühl zurück.

„Du weißt es nicht?“ wunderte sich Appius.

„Wenn man sich jeden Tag sieht, fällt einem so etwas kaum auf“, erklärte Selene. Sie hatte immer noch im Ohr, dass ihr Schwager ihr bei seinem letzten Besuch vor etwa zwei Monaten vorwarf, sich nicht genügend um ihre Tochter zu kümmern. Seiner Meinung nach wäre sie zwar klug und lebhaft, gleichzeitig aber auch ungezogen.

„Ich nehme an, dass sich immer noch vorwiegend Sklavinnen um Divia kümmern?“ fragte Appius jetzt in spöttischem Ton. Bislang hatte er davon abgesehen, seine Missbilligung an Selenes Verhalten seinem Bruder mitzuteilen, da er gehofft hatte, die Schwägerin würde sich seine Kritik zu Herzen nehmen und ihrer Tochter endlich mehr Aufmerksamkeit widmen. Aber das schien nicht der Fall zu sein.

„Divia ist in guten Händen“, verteidigte sich Selene. „Sie gedeiht prächtig!“

Ehe Appius etwas darauf erwidern konnte, erschien Melina mit Divia im Esszimmer, und zog sofort alle Augen auf sich.

„Guten Abend“, ließ sie sich schüchtern vernehmen. „Tut mir leid, dass Ihr auf uns warten musstet, doch es ist nicht eher gelungen, Divias Frisur fertigzumachen.“

Unwillkürlich glitt der Blick der Anwesenden auf die Erscheinung der Zehnjährigen, welche offensichtlich die Aufmerksamkeit genoss, die die Erwachsenen ihr nun schenkten. Mit stolzem Lächeln drehte sie sich langsam um die eigene Achse, so dass der kunstvolle, griechische Knoten, zu dem ihr Haar geformt war, gut sichtbar zur Geltung kam. Passend dazu trug sie ein blaues, einfaches Gewand, das demjenigen Melinas ähnlich war. Es war augenfällig, dass die Kleine sich die junge Griechin zum Vorbild genommen hatte.

Kaum hatte Divia sich einmal um sich selbst gedreht, sprang sie auf die Liege ihres Vaters, was diesen einen Moment irritierte, und fragte ihn in schmeichlerischem Ton: „Gefalle ich dir?“

„Wie ich sehe, ist die Frisur hervorragend gelungen“, kommentierte Lucius trocken, wobei er erneut zu Melina aufblickte, bevor er schließlich reihum seine Gäste mit gewinnendem Lächeln anschaute und erklärte: „Meine Tochter ist euch ja bereits bekannt – und die junge Dame an ihrer Seite ist Melina Aigikoreusa.“

Wieder schaute man auf die junge Griechin, die nun stark errötete und schüchtern lächelte. Um ihr aus ihrer Verlegenheit zu helfen, meinte Lucius: „Komm, Melina, setz dich zu uns!“

Die Angesprochene folgte dieser Aufforderung und ließ sich auf den Stuhl neben Selene nieder, die sie kaum eines Blickes würdigte. Dafür ruhten nun die Augen aller anderen neugierig auf ihr. Appius war der Erste der Gäste, der das Wort an sie richtete.

„Wie habt Ihr Euch eingelebt, junge Dame?“

„Hier ist für mich alles noch sehr fremd“, antwortete Melina zaghaft.

„Wie es scheint, habt Ihr jedoch bereits Divia als Freundin gewonnen“, meinte der Rechtsgelehrte lächelnd. „Ich bin übrigens Appius Marcellus, der jüngere Bruder von Lucius.“

Diese Information zauberte endlich ein entspanntes Lächeln auf das Gesicht der Griechin, was den Anwalt entzückte.

Lucius nahm diesen Wortwechsel zum Anlass, Melina die übrigen Gäste vorzustellen. Die junge Frau fand in deren Gesichtern so viel Wohlwollen, dass ihre anfängliche Befangenheit allmählich schwand und sie kurze Zeit später, nachdem man auf Befehl des Hausherrn endlich das Essen auftrug, sich in angenehmem Geplauder mit den Römern befand. Lediglich Selene hielt sich zurück. Ein Umstand, der kaum jemandem auffiel außer Appius, der seine Schwägerin noch nie besonders gemocht hatte. Immer wieder beobachtete er die Matrona, welche die junge Griechin mit argwöhnischen Blicken bedachte. Melina unterhielt sich hauptsächlich mit Silvia, zu der sie sich bald auf die Liege gesellte. Die beiden Mädchen schienen sich sympathisch zu finden. Wenig später kam auch Divia für einen Moment zu ihnen, fand dort freundliche Worte von Silvia und Melina sowie eine Liebkosung der jungen Griechin, die ihr sanft über den Kopf strich. Mit glücklichem Lächeln suchte das Kind dann die Gesellschaft seiner Großmutter, die es herzlich begrüßte und an sich drückte, um dann nachsichtig lächelnd und mit gütigen Augen aufmerksam seinem Geplauder zu lauschen.

Wieder sah Appius zu Selene, die jedoch immer noch wie gebannt Melina beobachtete, wobei sich ihre Mundwinkel allmählich nach unten verzogen. Um den Grund ihres Missmutes zu erfahren, folgte er dem Blick seiner Schwägerin, der zunächst an der kleinen Griechin haftete, doch dann in Richtung ihres Mannes wanderte. Jetzt verstand Appius den Unmut Selenes: Sein Bruder Lucius, eigentlich ins Gespräch mit einem seiner alten Freunde vertieft, ließ immer wieder seine Augen in Richtung Melinas wandern und sie dort einen Moment verweilen.

Unwillkürlich glitt ein Grinsen über Appius’ Lippen. An den Gerüchten, die er gehört hatte, schien also doch etwas dran zu sein. Demnach munkelte man, Lucius sei verliebt in die junge Griechin. Er hatte dem zunächst keinen Glauben schenken wollen, sondern gemeint, die Leute bauschten die Tatsache übermäßig auf, dass sein Bruder das Mädchen unter seinen persönlichen Schutz gestellt hatte. Wusste er doch, dass Lucius seine Gattin schätzte und seine Tochter liebte. Sollte sich tatsächlich etwas in der Beziehung zwischen seinem Bruder und Selene geändert haben? Sollte einer der Götter wirklich seine Gebete erhört haben? Es wäre zu schön, um wahr zu sein.

Appius war schon immer der Meinung gewesen, dass Selene die falsche Frau für Lucius war. Er hatte sie als hochmütige und äußerst kühle Frau kennengelernt, von der er sich nicht vorstellen konnte, dass sie je das Herz eines Mannes erwärmen würde. Als sein Bruder dieses dünkelhafte Geschöpf auf Wunsch seiner Eltern zur Frau nahm, hatte er dieser Ehe keine zwei Jahre gegeben. Doch Lucius schien Selene irgendwie zu mögen, lobte sie als vorbildliche Matrona und war überglücklich, als sie ihr erstes Kind erwartete.

Die kleine Divia kam gesund zur Welt und es störte Lucius keineswegs, dass es sich dabei lediglich um ein Mädchen handelte. Er liebte Divia vom ersten Augenblick an, in dem er sie im Arm hielt.

Danach jedoch erlitt Selene immer wieder Fehl- oder Totgeburten. Nur einmal brachte sie ein lebendiges Zwillingspaar zur Welt, worüber Lucius sehr glücklich war. Doch diese beiden Söhne starben einige Tage später.

Durch diese Umstände sah Appius seine schlechten Gefühle bezüglich der Ehe seines Bruders mit Selene Antonia mehr als bestätigt. Es war mehr als offensichtlich, dass auf dieser Verbindung kein Segen lag. Dennoch hielt Lucius treu zu seiner Gattin.

Dies alles wäre halb so schlimm, wenn Selene eine gute Mutter für ihr einziges Kind wäre. Denn es müsste ihr doch eigentlich ein großes Anliegen sein, den einzigen Spross ihrer Ehe zu einer jungen Dame zu erziehen, welche durch ihren guten Charakter das Herz ihrer Eltern erfreute.

Leider musste Appius feststellen, dass es seiner Schwägerin völlig gleichgültig zu sein schien, wie ihre Tochter sich entwickelte. Sobald Selene wieder guter Hoffnung war, vernachlässigte sie Divia und überließ sie der Obhut von Sklavinnen. Natürlich verwöhnten diese seine Nichte und ließen ihr alle Unarten durchgehen, denn keine wagte es, der Tochter der Herrschaft Einhalt zu gebieten. Selbst Selene, wenn sie denn manchmal mit Divias ungezogener Art konfrontiert wurde, nahm dies nicht allzu ernst, sondern ermahnte das Mädchen lediglich, sich zu bessern. Aber natürlich hatte dies keinerlei Auswirkungen auf das Verhalten Divias, die mittlerweile längst durchschaut hatte, wie sie die Leute manipulieren konnte. Mit Bedauern hatte er bereits die Hoffnung aufgegeben, dass aus seiner Nichte einmal eine wohlerzogene junge Dame wurde, aber möglicherweise war das ein verfrühter Trugschluss.

Die Anwesenheit der kleinen Griechin, die die Bewunderung Divias genoss, schien bereits jetzt einen wohltuenden Einfluss auf das Kind zu haben. Nach all dem Lobenswerten, das man über Melina hörte, gab es wohl kaum ein besseres Vorbild.

Zwar war seine Nichte auch heute Abend sehr lebhaft, aber dennoch verhielt sie sich wohlerzogen, gab keine frechen Antworten wie sonst so oft, sondern schien sich darum zu bemühen, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er konnte sich kaum erinnern, wann dieses Kind sich längere Zeit bei jemandem aufgehalten und diesem zugehört hatte, wie es dies jetzt bei seiner Großmutter tat.

Die junge Griechin war Appius überaus sympathisch, denn sie schien von gutem, sanftmütigem Wesen zu sein. Es gefiel ihm sehr, wie liebevoll sie mit Divia umging, die immer wieder einen Blick auf Melina warf. Es schien das Kind regelrecht zu beruhigen, sie in ihrer Nähe zu wissen. Offensichtlich hatte das griechische Mädchen diese Wirkung auch auf Lucius, dessen Augen regelrecht strahlten, sobald er sie ansah.

Appius konnte sich nicht erinnern, diese Art von Blick jemals bei seinem Bruder gesehen zu haben. Ob die Bekanntschaft mit der liebenswürdigen Melina tatsächlich bewirkte, dass der pragmatische Lucius zum ersten Mal spürte, wie es sein könnte, mit einer Frau zusammen zu sein, die einem das Herz wirklich erwärmte?

Oh, wenn es doch nur so wäre!

Gleich morgen früh würde er den Tempel der Venus aufsuchen, um ihr ein großes Opfer darzubringen.

Es wäre zu schön, wenn sich Lucius bald von der hochmütigen Selene trennte, die weder ihm noch Divia gut tat…

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Während sich Appius seine Gedanken machte, unterhielt sich Melina mit Silvia Valeriana, zu der sie sich bald hingezogen fühlte. Die junge Römerin schien nicht minder an der Griechin interessiert zu sein und fragte sie einiges über ihre Heimat, was Melina ihr freimütig erzählte, ohne jedoch zu verhehlen, wie sehr sie sich danach sehnte, wieder in Athen zu leben.

Nach einer Weile gesellte sich Flavius, den Melina ja bereits kannte, zu ihnen und sagte in freundlichem Ton zu der jungen Griechin: „Ich soll Euch übrigens liebe Grüße von Eurem Bruder Leandros ausrichten.“

Überrascht blickte Melina zu ihm auf.

„Habt Ihr ihn etwa gesehen?“

„Natürlich! Ich bin ab und zu in dem Militärlager, in dem er ausgebildet wird“, erwiderte Flavius. „Vielleicht beruhigt es Euch zu erfahren, dass es Leandros bei uns gut gefällt.“

„Nun ja, das ist wenigstens eine erfreuliche Nachricht“, seufzte Melina und schaute traurig zu Boden.

„Ihr vermisst Eure Brüder wohl sehr?“ fragte Silvia in mitfühlendem Ton, worauf die Griechin nickte. Dann schaute sie ihre Gesprächspartnerin wieder an und erklärte: „Wisst Ihr, über meinen älteren Bruder mache ich mir keine allzu großen Sorgen. Er ist ein Mann und kommt gewiss gut allein zurecht. Aber ich habe noch einen jüngeren Bruder, den der Kaiser mir genommen hat.“

„Ja, das ist mir bekannt“, erwiderte Silvia. „Euer kleiner Bruder heißt doch Kimon, nicht wahr?“

„Woher wisst Ihr...?“

„Nun, es verhält sich so, dass Euer Bruder sich im Hause meines Onkels befindet“, erklärte die junge Römerin. „Kimon wird gut behandelt und fühlt sich wohl.“

„Habt Ihr selbst ihn denn gesehen?“ fragte Melina aufgeregt.

„Da mein Onkel gleichzeitig mein Vormund ist, lebe ich bis zu meiner Heirat in seinem Haus. Das bedeutet also, dass ich Kimon jeden Tag sehe. Er ist wirklich ein lieber, kleiner Kerl.“

„Hat er denn keine Angst in dieser fremden Umgebung?“

„Er hat nur am Anfang ein bisschen geweint, aber meine Tante nahm sich so liebevoll seiner an, dass er sich bald beruhigte. Ihr müsst wissen, dass mein Onkel und seine Frau sich seit Jahren vergeblich ein Kind wünschen. Euer kleiner Bruder wird von ihnen adoptiert werden, Melina. Ihr könnt Euch gewiss vorstellen, wie glücklich Onkel und Tante darüber sind. Sie haben Kimon sofort in ihr Herz geschlossen...“, Silvia unterbrach ihre Erzählung erschrocken, denn die Angesprochene hatte ihr Gesicht in beide Händen vergraben und schluchzte.

Divias Ohren vernahmen dieses Geräusch sofort und sie war einen Augenblick später an der Seite ihrer Freundin.

„Was ist denn los, Melina?“ fragte sie voller Mitgefühl.

Lucius, der auch mitbekam, dass etwas nicht in Ordnung war, richtete sich halb auf und wartete gespannt auf die Antwort der jungen Griechin.

„Ich fürchte, es ist meine Schuld“, sagte Silvia in entschuldigendem Ton. „In meinem Bemühen, Euch zu beruhigen, wollte ich Euch lediglich wissen lassen, wie gut es Kimon geht und habe dabei nicht bedacht, dass es Euch vielleicht Schmerz bereiten könnte. Bitte, verzeiht mir!“

Divia warf Silvia einen bösen Blick zu, dann wandte sie sich in sanftem Ton an Melina und murmelte: „Komm, lass uns gehen!“

Die junge Griechin ließ ihre Hände nun ein wenig ihr Gesicht hinunterwandern, so dass ihre verweinten Augen zu sehen waren und schaute bittend zu Lucius. Dieser nickte nur stumm, worauf sie sich erhob und mit Divia das Esszimmer verließ.

Da nicht alle Gäste wussten, worum es eigentlich gegangen war, sah der Gastgeber sich zu einer Erklärung veranlasst.

„Man hat Melina vor kurzer Zeit von ihrem kleinen Bruder getrennt – und jede Erinnerung daran ruft den Schmerz darüber erneut hervor.“

„Es tut mir wirklich sehr leid“, meinte Silvia in bedauerndem Ton zu Lucius. „Wenn ich nur wüsste, wie ich es wieder gut machen kann.“

„Es wird das Beste sein, Melina eine Weile Zeit zu geben, um sich hier einzugewöhnen“, mischte sich Appius ein. „Ich glaube nicht, dass die junge Dame Euch böse ist.“

Silvia schien nicht besonders glücklich über diese Worte. Fragend warf sie Lucius einen Blick zu, doch dieser sah sie ebenso ratlos an und meinte schließlich: „Lasst Ihr ein paar Tage Zeit, Silvia. Ich bin sicher, Melina wird sich dann über einen weiteren Besuch Eurerseits freuen. Ihr seid mir jederzeit willkommen!“

„Danke, das Angebot nehme ich gerne an“, erwiderte die junge Römerin. Dann erhob sie sich, bedankte sich für das Abendessen und erklärte, nach Hause zu wollen. Natürlich war Flavius sofort an ihrer Seite, um sich ebenfalls zu bedanken und zu verabschieden, denn er wollte seiner Verlobten, die in einer Sänfte gekommen war, und ihren Bediensteten selbstverständlich Geleitschutz geben.

Lucius wünschte den beiden jungen Leuten einen guten Heimweg und einen angenehmen Schlaf. Traurig blickte er ihnen nach. Das Abendessen war nicht ganz so verlaufen, wie er es sich gewünscht hatte. Wenn er nur wüsste, wie er Melina trösten konnte...

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Nachdem Divia mit Melina das Esszimmer verlassen hatte, riss sie draußen einer Sklavin rigoros eine Öllampe aus der Hand, ohne sich weiter darum zu kümmern, wie erschrocken die Bedienstete ihnen nachblickte, und begleitete die junge Griechin in ihr Gemach hinauf. Dort angekommen, schloss das Mädchen hinter sich die Tür und wandte sich besorgt Melina zu, die sich auf den Rand ihres Bettes niedergelassen hatte und sich nun mit einem ihrer Tücher das tränennasse Gesicht abtrocknete.

Divia stellte die Lampe auf einen kleinen Tisch neben dem Bett Melinas ab und setzte sich zu ihr. Zaghaft begann sie: „Was hat Silvia denn zu dir gesagt, dass dich so traurig macht? Und wer ist dieser Kimon?“

Gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfend, antwortete Melina mit belegter Stimme: „Kimon... Kimon ist mein Bruder...“

„Dein Bruder?“ fragte Divia erstaunt und starrte sie fassungslos an. „Was hat diese Silvia mit deinem Bruder zu tun?“

„Nun... nun ja... mein Bruder ist im Hause ihres Onkels“, erwiderte die junge Frau.

„Weshalb?“

„Silvias Onkel möchte Kimon adoptieren...“

Melina fühlte, wie der Schmerz über diese Nachricht sie zu überwältigen drohte, und meinte deshalb: „Du solltest lieber wieder zu der Abendgesellschaft zurückkehren, Divia.“

„Pah! Ich habe keine Lust, dort zu sein, wenn du nicht dabei bist!“

„Sehr freundlich von dir, das zu sagen, aber sicherlich vermisst man dich dort. Meine Trauer sollte dich nicht davon abhalten, an der Abendgesellschaft teilzunehmen.“

„Die Abendgesellschaft ist mir egal! Nur du bist mir wichtig!“

„Aber, Divia! Bist du denn nicht gern bei deinen Eltern und deiner Großmutter?“

„Mein Vater unterhält sich mit seinen Freunden, meiner Großmutter scheint es auch recht gut zu gehen und meine Mutter ist wie immer mit sich selbst zufrieden. Keiner von ihnen braucht Trost – du schon“, erklärte die Zehnjährige in ernstem Ton und sie wirkte plötzlich sehr viel älter als sie war. Ein Umstand, der Melina etwas beunruhigte, denn es passte ihrer Meinung nach nicht zu einem Kind, wie Divia es war.

„Ich versichere dir, dass es mir schon ein wenig besser geht“, sagte sie daher in einem so ruhigen Ton, wie es ihr möglich war. „Ich danke dir für deine Anteilnahme. Du bist sehr lieb, aber jetzt bitte ich dich, mich allein zu lassen. Ich bin doch recht müde und möchte gerne schlafen.“

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Nachdem Melina mit Divia verschwunden war und sich Silvia mit ihrem Verlobten verabschiedet hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis sich auch die übrigen Gäste allmählich anschickten, nach Hause zu gehen. Lucius begleitete seine Freunde und deren Gemahlinnen bis zur Haustür, wo man sich dann herzlich voneinander verabschiedete und versprach, sich recht bald wieder zu treffen. Danach umarmte Appius seinen Bruder und lud ihn ein, sich morgen mit ihm in der Therme zu treffen. Lucius kam das gerade recht, wollte er doch einiges mit Appius besprechen.

Als sein Bruder schließlich fort war, beschloss der Hausherr, nach Melina zu sehen. Rasch schritt er hoch in ihr Gemach. Auf dem Weg dahin kam ihm seine Tochter entgegen.

„Nun, Divia, wie geht es ihr?“ wollte er besorgt wissen.

„Sie hat behauptet, dass es ihr besser geht, und mich weggeschickt. Aber wenn du mich fragst, dann ist sie immer noch traurig“, erwiderte die Zehnjährige. Sie blickte eindringlich zu Lucius hoch. „Bitte, sag mir doch, Vater, warum Melinas Bruder nicht auch bei uns ist?!“

„Der Kaiser hat beschlossen, den Jungen in eine andere Familie zu geben“, erklärte Lucius.

„Wie konnte er Melina nur so weh tun?!“ schimpfte das Mädchen. „Sie ist schrecklich verzweifelt darüber, Vater!“

„Ich weiß und sie tut mir auch leid“, gab er in ruhigem Ton zurück. „Aber wir müssen die Entscheidung des Kaisers akzeptieren. Vielleicht gelingt es mir ja, Melina ein bisschen aufzumuntern. Doch du, mein Schatz, gehst jetzt besser ins Bett. Es ist bereits sehr spät!“

„Ja, Vater“, sagte Divia, obwohl sie keinerlei Lust dazu hatte. Während Lucius ihr eine Gute Nacht wünschte und sich dann in Melinas Zimmer begab, eilte das Kind, nachdem es den Abendgruß seines Vaters brav erwidert hatte, wieder hinunter Richtung Esszimmer…

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Indessen befanden sich Selene und Aemilia Antonia alleine im Esszimmer. Da die Hausherrin glaubte, ungestört sprechen zu können, wandte sie sich unverblümt an ihre Mutter: „Jetzt, nachdem du dir selbst ein Bild von Lucius’ Verhalten machen konntest, verrate mir doch, wie du es findest!“

„Ich konnte nichts Tadelnswertes daran feststellen, mein Kind“, gab Aemilia freundlich zurück.

„Aber, Mutter, dir kann doch nicht entgangen sein, dass Lucius dieses griechische Mädchen förmlich mit den Augen verschlingt!“

„Du übertreibst, meine Liebe. Soweit ich mitbekam, hat er sie lediglich hin und wieder betrachtet. Daraus kannst du ihm kaum einen Vorwurf machen, denn wer würde so ein hübsches Mädchen wie diese Melina nicht gerne anschauen? Sie scheint von überaus angenehmem Wesen und sehr wohlerzogen zu sein. Selbst das Herz eurer kleinen Divia hat sie bereits gewonnen.“

„Und deins auch, wie mir scheint“, murrte Selene missmutig.

„Warum auch nicht?“ erwiderte ihre Mutter. „Melina ist reizend. Deshalb ist mir deine heftige Abneigung gegen sie vollkommen unverständlich.“

„Du weißt, weshalb ich sie nicht mag!“

Aemilia lachte und meinte: „Diese kleine Griechin ist wirklich keine Gefahr für dich, Selene! Wie kannst du in diesem unerfahrenen Mädchen nur eine Rivalin sehen?!“

„Lucius ist verliebt in sie!“

„Ach, was für ein Unsinn!“

„Doch! Alles lässt er ihr durchgehen!“ erklärte Selene in heftigem Ton. „Er lacht darüber, wenn sie sich seinem Willen widersetzt, und gestern Nacht hat er mich nochmals recht harsch darauf hingewiesen, dass sie keine Sklavin sei. – Du selbst warst doch gerade eben Zeugin, wie nachsichtig er Melina gegenüber ist, die außerstande zu sein scheint, sich beherrschen zu können. Wenn ich mich so aufführen würde, hätte mein Herr Gemahl nicht das geringste Verständnis für mich!“

„Wie kannst du nur so herzlos sein, Selene?!“ wies Aemilia sie streng zurecht. „Das junge Mädchen trägt ein schweres Schicksal und jeder anständige Mensch würde sich ihr gegenüber so fürsorglich verhalten wie Lucius.“

„Hah! Dabei verdankt sie doch die Situation, in der sie sich befindet, nur ihm!“ rief die Matrona aus. „Es lag in seiner Macht, sie in ihrer Heimat zu lassen – aber er entschloss sich dazu, sie als Geisel nach Rom mitzubringen… für sich, um sie zu seiner Geliebten zu machen!“

Aemilia schüttelte verständnislos den Kopf und stand langsam auf. Dann wandte sie sich in ernstem Ton an ihre Tochter und meinte: „Du hast dich da in eine fixe Idee verrannt, mein Kind. Wenn du so weitermachst, kann es dir tatsächlich passieren, dass sich dein Gemahl von dir abwendet!“

„Könntest du es denn ertragen, wenn dein Ehemann vor deinen Augen einer anderen unverhohlen seine Bewunderung zeigt, Mutter?!“

„Ach, ich glaube, Lucius sieht in Melina eine Art Tochter, die er beschützen möchte – und genauso solltest du es auch betrachten.“

„Du irrst dich, Mutter! Ich kenne meinen Mann sehr gut! Er fühlt sich zu dem Mädchen hingezogen...!“

„Selbst, wenn es so ist – ich habe dir bereits meine Meinung dazu kundgetan“, erwiderte Aemilia verärgert. „Aber lass dir gesagt sein, mein Kind: Je unfreundlicher du dich gegenüber Melina verhältst, desto mehr wird Lucius glauben, sie beschützen zu müssen. Auf diese Weise kann man seinen Mann natürlich auch vertreiben.“

„Du rätst mir also ernsthaft, es zu dulden, sollte Lucius ein Liebesverhältnis mit dieser kleinen Griechin beginnen?“

„Wenn du tatsächlich glaubst, dass es unvermeidlich ist, und wenn du trotz allem an dieser Ehe festhalten willst, wird dir nichts anderes übrig bleiben“, erklärte Aemilia sachlich. „Darum, meine Liebe, bedenke die Worte Ovids an die Frauen: ‚Mögen sie euch auch betrügen, was geht euch verloren? Alles bleibt euch; nehmen sie tausend sich auch – daraus entsteht kein Verlust.’ [2]  Denn ich gewann heute Abend keineswegs den Eindruck, dass Lucius sich mit Gedanken an eine Scheidung trägt. Wenn er wirklich etwas mit der reizenden Melina anfängt, so bringt das keinerlei Gefahr mit sich. Das Mädchen ist lieb und hegt sicherlich keine bösen Absichten, Selene. Also, sei freundlich zu ihr!“

„Aber, Mutter, wie kannst du mir nur solch einen Ratschlag geben, der gegen jeglichen Anstand verstößt?!“ fragte die Matrona fassungslos.

„Wäre es dir lieber, dein Lucius geriete in die Fänge einer raffinierten Kurtisane, die es verstünde, ihn sich hörig zu machen?“

„Wie kommst du denn auf einen derartigen Gedanken, Mutter?“

„Das hätte all die Jahre leicht passieren können“, erklärte Aemilia. „Schließlich ist dein Mann als Offizier dauernd unterwegs gewesen und war sicherlich schon des Öfteren Gast in dem einen oder anderen Bordell.“

„Aber, Mutter!“

„Ach, Selene, vor mir brauchst du nicht die Ahnungslose spielen. Schließlich sind wir beide erwachsene Frauen mit einer gewissen Lebenserfahrung, nicht wahr?“

Die Matrona nickte stumm. Tatsächlich hatte sie den Gedanken daran nie zulassen wollen, dass Lucius seine etwaigen sexuellen Gelüste in Freudenhäusern ausleben könnte. Diese Vorstellung fand sie einfach abstoßend.

„Trotz allem war Lucius dir ein guter Ehemann, nicht wahr?“ fragte Aemilia in die Gedanken ihrer Tochter hinein und fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten: „Er achtet dich als seine Gemahlin. Außerdem hatte er immer sehr viel Verständnis für dich, Selene. Bedenke bitte, dass viele Männer ihre Frau verstoßen würden, wenn sie ihnen keine Kinder schenken könnte. Aber dein Lucius gehört glücklicherweise nicht zu dieser Sorte. Deshalb glaube ich auch, dass deine Befürchtungen über das Zerbrechen dieser Ehe völlig unbegründet sind. Mach dir einfach keine Gedanken mehr darüber und hab ein bisschen mehr Verständnis für die Situation der jungen Melina. Sie könnte dir eine gute Freundin sein, Selene.“

„Nie im Leben!“ erwiderte Selene. „Dennoch werde ich über das, was du mir gesagt hast, nachdenken, Mutter.“

„Tu das, mein Kind. Ich wünsche dir eine angenehme Nachtruhe.“

Mit diesen Worten und einem Kuss auf die Wange ihrer Tochter verließ Aemilia Antonia das Esszimmer und ließ eine verwirrte Selene zurück. Beide ahnten nicht, dass ihr Gespräch von Divia unfreiwillig belauscht worden war…

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Lucius öffnete vorsichtig die Tür zu Melinas Zimmer, trat leise ein und näherte sich ihrem Bett. Im Schein der Öllampe, die er in seiner Hand hielt, bot sich ihm ein rührender Anblick: Die junge Frau schlief bereits, hielt dabei jedoch eine Puppe im Arm.

„Wie kindlich sie noch ist“, dachte er und musste unwillkürlich lächeln. Er erinnerte sich plötzlich wieder daran, was Selene von Melinas alter Amme erfahren hatte. Ob es wirklich stimmte, dass der rote Mond sie bisher verschonte und sie darum noch nicht heiratsfähig war?

Gerührt über den unschuldigen Anblick des Mädchens beugte er sich behutsam über sie und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Schlaf gut, meine kleine Melina“, flüsterte er. „Mögen die Götter dich wenigstens in deinen Träumen mit deiner Familie vereinen und dich glücklich machen.“

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[1] Cena (lat.) = Abendessen

[2] Zitiert nach Ovid: Liebeskunst. Ungekürzte Fassung, München 1996, Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 87.

 

 

 

 

Lucius kehrte gerade wieder nach unten zurück, als seine Schwiegermutter ihren Heimweg antreten wollte. Sofort erbot er sich, sie persönlich nach Hause zu begleiten, was Aemilia dankbar annahm.

„Du brauchst nicht auf mich zu warten, Selene“, wandte er sich in kühlem Ton an seine Frau, bevor er das Haus verließ.

Selene sah ihm und ihrer Mutter traurig nach und fragte sich, womit sie die Götter erzürnt haben mochte, da diese beiden Menschen, die ihr nahe standen, sich gegen sie gewandt hatten. Mit dem Gefühl, von ihnen im Stich gelassen worden zu sein, ging sie betrübt zu Bett.

Doch auch in dieser Nacht fand sie lange keinen Schlaf, wälzte sich von einer Seite auf die andere und weinte hin und wieder. Sie fühlte genau, dass sie Lucius verloren hatte, auch wenn er noch kein Liebesverhältnis mit Melina unterhielt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es dazu kam. Am Vernünftigsten wäre es sicherlich, Lucius einfach zu verlassen und ihm einen Scheidungsbrief zu übermitteln. Warum tat sie es nicht einfach? Warum wollte sie unbedingt an dieser Ehe festhalten?

Sie seufzte laut. Natürlich konnte sie sich selbst die Antwort geben: Es war die Bequemlichkeit, die ihr das Leben an der Seite ihres Mannes bot. Lucius war ihr stets ein angenehmer Partner gewesen, der sie achtete und ihr sogar Zuneigung entgegengebracht hatte. Etwas, dass sie ihm leider nicht in der gleichen Weise zurückgeben konnte. Natürlich mochte sie Lucius und respektierte ihn, aber sie war niemals in ihn verliebt gewesen; und auch im Laufe ihrer Ehe entwickelte sie nicht jenes tiefe Gefühl für ihn, das man Liebe nannte. Weshalb also war sie außerstande, einfach das Haus ihres Gatten zu verlassen und einen Schluss-Strich unter diese Ehe zu ziehen?

Es war ja nicht etwa so, dass sie an Lucius hing, wie sie sich selbst voller Scham eingestand. Vielmehr war es allgemein bekannt, dass sie dazu verdammt zu sein schien, keinem weiteren Kind außer Divia das Leben schenken zu können. Die Leute würden tuscheln; man würde sagen, Lucius hätte sich deswegen von ihr getrennt und die junge Griechin als neue Gefährtin gewählt. Wenn Melina zudem noch das Glück hätte, ihm dann tatsächlich einen Sohn zu schenken… diese Schmach wäre unerträglich für sie…

Nein, nein! Sie würde nicht einfach so das Feld für dieses kleine Miststück räumen, das mit seinen großen, unschuldigen Kuhaugen die Sympathien vieler Menschen gewann. Sogar ihre eigene Mutter, Aemilia, schien dieses fremde Mädchen zu lieben…

Es kamen eigentlich nur zwei Möglichkeiten in Betracht, wenn sie die Ehefrau von Lucius bleiben wollte: Entweder fand sie einen Weg, wie sie Melina und ihrer Amme die Flucht aus Rom ermöglichte, oder sie befolgte den Ratschlag ihrer Mutter…

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Lucius war froh, an diesem Morgen der bedrückten Stimmung, die in seinem Hause während des Frühstücks deutlich fühlbar war, entfliehen zu können. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ein derart deutliches Schweigen während einer Mahlzeit erlebt zu haben. Selene und Melina hatten beide anscheinend schlecht geschlafen, wobei das Gesicht der jungen Griechin deutliche Spuren der Trauer trug, und selbst Divia schien sich über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen.

Bevor er das Haus verließ, rief er Philine zu sich, schilderte ihr kurz, was sich gestern während der Cena zugetragen hatte, und bat sie, Melina auf andere Gedanken zu bringen.

„Das wird schwierig sein, Herr“, gab die Sklavin zu bedenken. „Sicherlich möchte die junge Dame sich darüber mit ihrer alten Amme austauschen.“

„Wenn das der Fall sein sollte, wirst du es verhindern!“ befahl Lucius in strengem Ton. Allein der Gedanke an Quella verursachte bei ihm die übelste Laune. „Die Alte mit ihrem ewigen Lamentieren regt Melina nur auf. Sieh zu, dass die beiden nicht zusammenkommen.“

„Wie soll ich das machen, Herr? Ihr selbst wünschtet Melinas Sklavin als Kindermädchen für Divia; und Eure Tochter will immer in der Nähe der jungen Dame sein.“

„Na schön, dann sieh zu, dass das Gespräch nicht auf Melinas kleinen Bruder kommt!“ brummte der Legatus missmutig, wandte sich um und verließ das Haus.

 

Sein Weg führte ihn direkt in die Therme, wo er sich mit seinem Bruder verabredet hatte. Dieser erwartete ihn bereits vor dem Eingang und gemeinsam gingen sie dann hinein. Während ihr jeweiliger Sklave dabei war, ihren Körper einzuölen und diesen dann mit einem Strigilis [1] abzuschaben, unterhielten sich die beiden Männer.

„Die junge Griechin ist wirklich nett“, begann Appius in freundlichem Ton. „Und wie mir scheint, liegt sie dir besonders am Herzen, nicht wahr?“

„Ja, ich habe sie sehr gern“, gab Lucius zu. „Ihre Verzweiflung darüber, dass man sie von dem kleinen Bruder getrennt hat, macht mir zu schaffen. Weißt du denn keinen Weg, wie man den Kaiser davon überzeugen könnte, mir den Knaben zu geben?“

„Schlag dir das aus dem Kopf, Lucius! Titus Vespasianus wird seine Entscheidung nicht rückgängig machen. Außerdem halte ich sie für richtig! Es ist besser, die Geiseln voneinander getrennt zu halten. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass Melina nicht flieht!“

„Ach, du glaubst doch selbst nicht, dass das junge Mädchen mit einem Kleinkind allein, schutzlos und ohne Geld aus Rom entfliehen könnte!“

„Woher willst du wissen, dass sie nicht von irgendwoher Hilfe bekommt?“

„Wer sollte ihr helfen? Sie kennt doch niemanden!“

„Du selbst sorgst gerade dafür, dass sie Bekanntschaften schließt. Außerdem könnte bereits in deinem näheren Umfeld jemand ein großes Interesse daran haben, dass Melina so schnell wie möglich verschwindet“, gab Appius in spöttischem Unterton zu bedenken. Seine Augen blitzen belustigt auf, als sein Bruder ihn überrascht anstarrte.

„Wer?!“

„Ach komm, Lucius! So ahnungslos kannst du nicht sein!“

Der Legatus schüttelte verständnislos den Kopf und murmelte: „Ich weiß wirklich nicht, von wem du sprichst, Appius!“

„Ich denke dabei natürlich an deine Gattin, Bruderherz!“

„Selene? Wie kommst du auf die Idee?“ fragte Lucius, doch ein leicht spöttisches Grinsen verbreitete sich über sein Gesicht, das von Appius erwidert wurde.

„Ich bin nicht blind und auch nicht taub, mein Lieber! Weißt du denn gar nicht, dass man dir ein Liebesverhältnis mit der kleinen Griechin unterstellt?“

„Schon möglich! Es entspricht nur leider nicht der Wahrheit!“

„Oh, du sagst leider…“, kam es gedehnt von Appius. „Also scheine ich mich nicht geirrt zu haben, als ich dich gestern Abend beobachtete. Deine Gefühle für Melina gehen über reine Sympathie hinaus, nicht wahr?“

„Vielleicht…“, erwiderte Lucius zögernd. Ihm fiel wieder ein, dass die junge Frau ihm sagte, dass es für sie keineswegs unwichtig wäre, dass er verheiratet sei. Diese Worte hatten ihn sehr tief berührt und glücklich gemacht. „Sie ist ein liebes Mädchen und ich mag sie sehr…“

„Ich glaube, das hat Selene auch gemerkt“, antwortete Appius lächelnd. „Du warst gestern Abend nämlich nicht der Einzige, der Melina dauernd angeschaut hat. Auch meine Schwägerin bedachte die süße Kleine mit Blicken – allerdings waren ihre nicht so freundlich wie deine, sondern das genaue Gegenteil…“

„Ja, das kann ich mir vorstellen!“ entfuhr es Lucius ärgerlich. „Sie hat Melina aus purer Eifersucht sogar schon gedemütigt… bei Jupiter, ich hätte niemals gedacht, dass Selene zu solcher Art von Gefühlen fähig wäre, die sie ihre Selbstbeherrschung vergessen lassen.“

„Und da fragst du noch, wer ein Interesse daran haben könnte, dass die kleine Griechin verschwindet?!“ entfuhr es Appius lachend. Doch einen Moment später meinte er in ernsthafterem Ton: „Selene scheint nicht so kalt zu sein, wie ich immer dachte. – Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie es nun weitergehen soll, Lucius? Auf die Dauer werden deine Gemahlin und Melina nicht zusammenleben können, ohne dass es böses Blut gibt – und ich fürchte, die kleine Griechin kann sich gegen Selene kaum zur Wehr setzen.“

„Ich hoffe immer noch, dass meine Frau wieder zur Vernunft kommt“, erwiderte Lucius. „Schließlich habe ich ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie Melina mit höflichem Respekt begegnen muss, wenn sie keinen Ärger mit mir bekommen will.“

„Ach, kaum angekommen ist es bereits so weit?“ wunderte sich Appius und runzelte dann die Stirn. „Ich fürchte, du musst dich schnell für eine der Damen entscheiden, Lucius.“

„In solch eine Situation wollte ich gar nicht kommen“, meinte der Legatus unwillig. „Aber wie es scheint, lässt Selenes Verhalten mir gar keine andere Wahl…“

„Selenes Verhalten… wirklich? Du hättest es leicht vermeiden können, wenn du Melina in Griechenland gelassen hättest, Lucius“, spottete Appius. „Warum gibst du nicht einfach zu, dass du dich in die kleine Griechin verliebt hast?“

„Melina ist die wertvollste Geisel, die ich habe!“ wies Lucius seinen Bruder in strengem Ton zurecht, wobei sich seine Augenbrauen bedrohlich zusammenzogen. „Sie ist das Liebste, das der alte Aigikoreus besitzt. Meinst du, ich hätte den Aufstand in Attika sonst so rasch niederschlagen können?“

„Was? Normalerweise reicht es doch völlig aus, den ältesten Sohn als Geisel zu nehmen.“

„Nicht in diesem Fall! Aigikoreus glaubte offensichtlich, dass sein Ältester sich gut selbst verteidigen könne – und für seinen jüngsten Sohn hat er überhaupt nichts übrig. Sein ganzes Herz gehört seiner Tochter… du hättest sehen sollen, wie blass er wurde, als ich sie mit mir nahm. Es war ein Genuss, seinen ohnmächtigen Zorn zu spüren. Sein Hochmut war schnell dahin!“

„Nun gut, das mag ja alles sein“, räumte Appius ein. „Dennoch wirst du wohl nicht abstreiten wollen, dass du in Melina verliebt bist. Was ist mit dem Mädchen, Lucius? Erwidert sie deine Gefühle?“

„Schwer zu sagen“, murmelte der Armeeführer. „Sie ist noch sehr jung, gerade erst zur Frau erwacht… vermutlich ist sie sich selbst nicht über ihre Gefühle im Klaren. Außerdem gelten ihre Gedanken wohl hauptsächlich ihrem kleinen Bruder. – Doch Melina ist meine geringste Sorge. Hauptsächlich zerbreche ich mir den Kopf über Selenes Eifersucht und das damit einhergehende Verhalten. Ich will nicht, dass sie Melina weh tut.“

„Dieses Problem ist leicht zu lösen. Trenn dich von Selene! Stell ihr einen Scheidungsbrief aus und bitte sie, dein Haus zu verlassen!“ schlug der Rechtsanwalt ihm vor.

„Das könnte ich natürlich tun“, erwiderte Lucius. „Aber es widerstrebt mir! Selene war mir all die Jahre eine gute Ehefrau und hat sich bemüht, es mir in jeder Hinsicht rechtzumachen. Ich kann einfach nicht vergessen, wie viel sie auf sich genommen hat, nur um meinen Wunsch zu erfüllen, einen Sohn zu haben…“

„Ja, und darüber hat sie dann die Erziehung eurer Tochter vernachlässigt“, sagte Appius aufgebracht.

„Wie kannst du so etwas sagen? Divia ist ein gesundes, prächtiges Mädchen!“ widersprach Lucius.

„Gesund und lebhaft ist sie ohne Zweifel, aber ihr Benehmen lässt manchmal doch sehr zu wünschen übrig“, fuhr Appius mit seiner Kritik fort. „Du bist oft weg gewesen, Lucius, und ich weiß, dass du als Soldat vieles nicht so streng nimmst. Aber Divia ist kein kleines Kind mehr und eigentlich wäre sie inzwischen alt genug, um allmählich als junge Dame in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Doch Selene hat das bisher wohlweislich unterlassen, denn sie wollte sich nicht mit eurer Tochter blamieren.“

„Ist es denn wirklich so schlimm um Divias Benehmen bestellt?“

„Und ob! Vor zwei Monaten, als du gerade nach Attika aufgebrochen warst, kam ich zu Besuch, um nach dem Rechten zu sehen und meine Hilfe anzubieten, falls Selene sie brauchen sollte. Deine Frau Gemahlin jedoch ließ sich entschuldigen, da sie unpässlich sei. Nun, das nahm ich zur Kenntnis. Dann suchte ich Divia auf, die sich mit zwei Sklavinnen im Garten befand und mit ihnen fangen spielte. Als ich meine Nichte aufforderte, das Spiel zu unterbrechen, weigerte sie sich. Du kannst dir sicherlich vorstellen, Lucius, wie wütend mich ein derartiges Verhalten machte. Ich ermahnte sie nochmals, zu mir zu kommen, da ich mit ihr reden wolle. Doch sie entgegnete in frechem Ton, dass sie kein Interesse an einem Gespräch mit mir hätte. Wenn ich dies jedoch unbedingt wolle, müsse ich sie vorher fangen.“

„Nun ja, das ist doch nicht so schlimm“, meinte Lucius. „Divia ist schließlich noch ein Kind.“

„Wie lange willst du deinen Wildfang noch mit dieser Begründung entschuldigen, Bruderherz?“ fragte Appius verärgert. „Sie ist bald elf Jahre alt und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie anfängt, zur Frau zu erblühen.“

„Ach, Appius, die Erziehung eines Mädchens ist Sache der Mutter“, seufzte Lucius.

„Das meine ich auch!“ bekräftigte der Anwalt lebhaft. „Aber Selene hat in dieser Hinsicht völlig versagt. Sie überließ eure Tochter Sklavinnen, die sie maßlos verwöhnten und nicht wagten, sie zur Ordnung zu rufen, wenn sie ungezogen war. Natürlich habe ich deine Gattin mehrfach ermahnt, sich mehr um Divia zu kümmern… leider ohne Erfolg…“

„Und was soll ich jetzt machen, Appius?“

„Ich habe dir all das nur erzählt, damit du endlich begreifst, dass Selene nicht frei von Fehlern ist und du kein schlechtes Gewissen haben musst, wenn du dich von ihr trennst. Glaub mir, Lucius, das ist das Beste, was du machen kannst!“ sagte sein Bruder eindringlich.

„Und was hat Divia davon?“ brummte der Legatus.

„Anders gefragt: Hat Divia bisher denn etwas von ihrer Mutter gehabt?“ gab Ajppius zu bedenken und fuhr fort: „Nein! Dennoch hat Divia Glück. Ihr Vater brachte nämlich eine freundliche, junge Dame aus Griechenland mit, die sich endlich um sie kümmert und ihr beibringt, wie man sich als wohlerzogenes Mädchen in Gesellschaft zu benehmen hat. Melina Aigikoreusa ist das leuchtende Vorbild, an dem Divia sich orientiert. Du hast es sicherlich bemerkt, nicht wahr, Lucius?“

Der Armeeführer lächelte, schwieg jedoch.

 

Mittlerweile hatten die beiden Sklaven ihre jeweiligen Herren mit dem Strigilis  bearbeitet, so dass sie sich zum Becken begaben und ins Wasser eintauchten. Dabei ließ sich Lucius die Worte seines Bruders durch den Kopf gehen. Einerseits war Selene, zumindest nach außen hin, stets eine vorbildliche Matrona gewesen und hatte das Haus zu seiner Zufriedenheit bewirtschaftet. Darüber hinaus nahm sie mehrfach die Strapazen einer Schwangerschaft auf sich. Andererseits war sie Divia eine schlechte Mutter, die sich kaum um ihr Kind kümmerte. Womöglich straften die Götter sie dafür mit Fehl- und Totgeburten…?

Ja, das ergab einen Sinn!

Weshalb sollte eine Frau, die bereits ein Kind vernachlässigte, weitere Kinder bekommen? Weshalb sollte eine solche Frau mit gesunden Söhnen gesegnet sein?

Und weshalb sollte er an einer Ehe mit einer solchen Frau festhalten? Er hatte Selene nie geliebt und sie ihn wohl auch nicht. Darüber hinaus war ihr Verhältnis zueinander inzwischen stark abgekühlt.

Als er bei seiner Heimkehr Melina mit ins Haus brachte, hatte ihn der vorwurfsvolle Ton, mit dem ihn seine Gattin empfing, auch sehr verärgert. Und wenn er so darüber nachdachte, kränkte ihn Selenes Unterstellung, er hätte mit dem jungen Mädchen ein Verhältnis, ebenfalls. Voller Ekel erinnerte er sich auch an jene Nacht, als er beinahe wieder mit ihr geschlafen hätte… er wollte sie einfach nur zärtlich lieben, doch sie forderte von ihm, einen Sohn zu zeugen… bei Jupiter, er war ein Mann und kein Deckhengst! Aber das schien seine Frau Gemahlin nicht zu interessieren… sie verletzte und beleidigte Menschen, ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen. Wie konnte sie nur ein so scheues Geschöpfchen wie Melina, das gewiss voller Angst in einem fremden Land und in einem unbekannten Haushalt weilte, dessen Regeln ihm noch nicht vertraut waren, als Sklavin beschimpfen und zum Weinen bringen?

Lucius musste sich selbst innerlich eingestehen, dass er bisher nicht wahrgenommen hatte, wie hochmütig und herzlos Selene sein konnte. War sie früher auch schon so gewesen, ohne dass er es gemerkt hatte? Doch was spielte das für eine Rolle? Jetzt jedenfalls besaß sie diese Charakterzüge, die er überaus verabscheuungswürdig fand.

Es war eigentlich erstaunlich, dass Selene sich in dieser Weise entwickelt hatte, denn ihre Mutter war eine sehr warmherzige Frau, die jedermann stets freundlich begegnete – sei es freier Bürger, Freigelassener oder Sklave.

Nein, am Anfang ihrer Ehe war Selene gewiss nicht die herzlose Person gewesen, als die sie sich jetzt entpuppte. Er erinnerte sich noch genau daran, wie glücklich sie über Divias Geburt gewesen war und darüber, dass er die Neugeborene nicht verstoßen hatte. Selene liebte ihre Tochter sicher immer noch, aber geschwächt durch die vielen Schwangerschaften war es ihr wohl nicht möglich, mit diesem lebhaften Mädchen fertigzuwerden… sie vernachlässigte sie… sie bekam keine weiteren Kinder… die Strafe der Götter… der Kreis schloss sich… dieses Elend musste endlich ein Ende habe.

Appius hatte recht. Die Scheidung war eine saubere Lösung und brachte Klarheit zwischen ihnen. Warum sollten sie sich länger miteinander herumquälen?

Selene könnte ein neues Leben beginnen, fand vielleicht einen Mann, der besser zu ihr passte. Von ganzem Herzen wünschte Lucius, dass sie glücklich werden möge.

Auch er selbst könnte neu anfangen, vielleicht sogar mit Melina?

Wenn die kleine Griechin ihre Worte ernst gemeint hatte… wenn sie wirklich das für ihn empfand, was er glaubte… was er erhoffte… Er würde sie so gerne glücklich machen, sie verwöhnen, ihr die Sterne vom Himmel holen…

Doch halt! Er durfte nicht zu schnell vorgehen! Melina war ein unerfahrenes, junges Mädchen und sehr schüchtern. Er musste sie behutsam erobern…

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Sobald Lucius das Haus verlassen hatte, stand auch Divia auf und meinte zu Melina: „Lass uns in den Garten hinausgehen. Draußen ist herrliches Wetter!“

Die junge Griechin nickte stumm, erhob sich langsam und folgte der Zehnjährigen, die ihr vorausging. Draußen warteten bereits Philine und Quella auf die beiden Mädchen. Sofort stürzte die alte Amme auf Melina zu und murmelte in besorgtem Ton: „Wie geht es Euch, Herrin? Ich habe gehört, dass…“

„Wir werden uns heute mit Fabeln von Aesop befassen“, schnitt Philine der Alten das Wort ab, stellte sich zwischen sie und Melina und meinte: „Habt Ihr vielleicht schon von diesem Dichter gehört?“

„Ja, aber leider kenne ich noch keine seiner Fabeln“, erwiderte die junge Frau.

„Dann freut Euch darauf, ihn kennenzulernen“, meinte Philine, schwenkte eine Rolle in der Hand und wandte sich dann an Divia: „Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr Melina ein paar der Fabeln vorlesen. Wir haben uns ja schon des Öfteren damit befasst, nicht wahr?“

Die Zehnjährige strahlte die griechische Sklavin an, fasste Melina bei der Hand und zog sie rasch in den Garten hinaus. Lächelnd sah Philine ihnen nach, drehte sich dann zu Quella um und sagte leise: „Der Herr hat verboten, dass Ihr ein Wort über den Bruder Eurer jungen Herrin verliert. Sein Befehl lautet, Melina aufzumuntern – und daran werdet Ihr Euch halten!“

Nach dieser strengen Botschaft wandte Philine sich von Quella ab und folgte den beiden Mädchen in den Garten, wo diese es sich schon unter einem großen, schattenspendenden Baum bequem gemacht hatten. Divia saß auf einer großen Schaukel und Melina, die sich einen kleinen Hocker von der Terrasse mitgenommen hatte, setzte sich gerade neben sie.

Auch die griechische Sklavin nahm sich einen Hocker und tat es der jungen Dame gleich. Dann reichte sie Divia die Rolle, die diese begierig ergriff und auseinander rollte. Rasch überflog das Kind den Inhalt derselben und hub dann an zu lesen:

 

„Die Hasen und die Frösche

Die Hasen klagten einst über ihre missliche Lage; ,wir leben‘, sprach ein Redner, ,in steter Furcht vor Menschen und Tieren, eine Beute der Hunde, der Adler, ja fast aller Raubtiere! Unsere stete Angst ist ärger als der Tod selbst. Auf, lasst uns ein für allemal sterben.‘
In einem nahen Teich wollten sie sich nun ersäufen; sie eilten ihm zu; allein das außerordentliche Getöse und ihre wunderbare Gestalt erschreckte eine Menge Frösche, die am Ufer saßen, so sehr, dass sie aufs Schnellste untertauchten.
,Halt‘, rief nun eben dieser Sprecher, ‚wir wollen das Ersäufen noch ein wenig aufschieben, denn auch uns fürchten, wie ihr seht, einige Tiere, welche also wohl noch unglücklicher sein müssen als wir.‘
Las dich nie durchs Unglück niederschlagen; es gibt immer noch Unglücklichere, mit deren Lage du nicht tauschen würdest.“

 

Nachdem sie dies vorgelesen hatte, schaute Divia neugierig zu Melina, um zu sehen, wie diese Fabel auf ihre Freundin wirkte. Tatsächlich starrte die junge Griechin das Kind an und meinte nach einer Weile: „Gewiss gibt es Menschen, die viel ärger dran sind als ich und meine Brüder.“

Philine zuckte bei diesen Worten in sich zusammen, denn ihre Absicht, die junge Geisel, an der ihrem Herrn so viel lag, von ihrem Kummer abzulenken, schien von der Tochter Lucius‘ gerade unterlaufen zu werden. Himmel, warum hatte denn keiner daran gedacht, dass Divia gestern Abend ebenfalls Zeugin von Melinas Kummer geworden war und daraufhin natürlich versuchen würde, ihrer Freundin Gelegenheit zu einer Aussprache zu geben?

Melina nahm diese auch sogleich wahr und begann: „Man war bisher so freundlich zu mir…“

Sie unterbrach sich einen kurzen Moment, schluckte einen aufsteigenden Kloß in ihrem Hals hinunter, und fuhr fort: „Jedenfalls meistens… und der Imperator versicherte mir ja auch, wie gut es Kimon bei seinen neuen Eltern ergehen würde. Ich glaube, Silvia wollte mir dies gestern Abend nur noch einmal bestätigen, damit ich mir keine Sorgen um meinen kleinen Bruder mache…“

Divia zog ihre Augenbrauen zusammen und meinte in ärgerlichem Ton: „Die dumme Gans hätte auch einfach ihren Mund halten können!“

„Aber, Divia!“ ermahnte Philine das Mädchen in strengem Ton. „So etwas zu sagen ist ungehörig. Silvia Valeriana hat es sicherlich nur gut gemeint!“

„Wenn sie nur etwas Verstand besitzen würde, hätte sie Melinas Bruder mit keinem Wort erwähnt“, widersprach das Kind heftig, schlug sich dann selbst erschrocken auf den Mund und wandte sich in entschuldigendem Ton an die junge Griechin: „Es tut mir leid, ich wollte nicht…“

„Schon gut, Divia, ich weiß, wie du es gemeint hast“, erwiderte Melina in ruhigem Ton und schenkte ihr den Hauch eines Lächelns. Dann strich sie ihr zart über die Wange. „Bitte, erzähl mir noch eine der Fabeln…“

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Während die beiden Mädchen mit Philine im Garten weilten, stand Quella immer noch auf derselben Stelle wie zuvor und blickte fassungslos in die Richtung, in die die drei verschwunden waren. Dort fand sie auch die Herrin des Hauses vor, als sie ebenfalls auf dem Weg in den Garten war.

„Nanu, was ist denn los?“ sprach Selene die alte Sklavin an und musterte sie interessiert. „Warum stehst du hier herum? Und wo ist meine Tochter?“

„Verzeiht, Matrona!“ erwiderte Quella und wandte sich mit traurigem Antlitz der Hausherrin zu. „Eure Tochter befindet sich draußen im Garten bei meiner Herrin und der griechischen Sklavin, die sich jetzt um Melina kümmert… Ach, Matrona, nun verbietet es Euer Gemahl sogar, dass meine Herrin mir ihr Herz ausschüttet, obwohl ich spüre, dass sie es wollte. Doch diese Philine ging dazwischen… auf Befehl Eures Gemahls…“

„Nun, ich kann mir vorstellen, dass es dich schmerzt, und ich finde sein Vorgehen auch nicht richtig“, behauptete Selene. „Doch was soll ich dagegen tun? Mein Mann ist der Pater familias und wir alle im Haus sind seinem Willen und seiner Potestas [2] unterworfen…“

„Ihr seid die Einzige, die möglicherweise etwas daran ändern könnte“, meinte Quella und blickte die Römerin flehentlich an. „Bitte, helft uns doch!“

„Nun ja… ich weiß nicht recht…“

„Ach bitte, Matrona!“ murmelte Quella aufgeregt und warf sich vor ihr auf die Knie. „Euch ist sicherlich nicht entgangen, mit welch aufmerksamen Blicken Euer Gemahl meine junge Herrin betrachtet, die in ihrer Arglosigkeit nicht ahnt, in welcher Gefahr sie möglicherweise schwebt. Aber Ihr, Matrona, wisst es! Ich habe Euch beobachtet und weiß, dass Ihr das Verhalten Eures Gemahls missbilligt. Bitte, helft mir und meiner Herrin, Matrona… bitte!“

„Das würde ich wirklich gerne tun“, wisperte Selene. „Am Besten wäre es, wenn ihr beide von hier entflieht und euch zurück nach Athen begebt. Doch ich weiß im Moment noch nicht, wie das zu bewerkstelligen wäre. Ich muss darüber nachdenken. Das wird eine Weile brauchen.“

„Ich danke Euch!“ rief Quella aus, wurde aber durch einen Blick der Matrona zum Schweigen gebracht. Doch in ihrer überschwänglichen Dankbarkeit ergriff die Alte die Hände Selenes und bedeckte sie mit Küssen. Diesmal entzog sich die Hausherrin nicht dieser unterwürfigen Geste, sondern blickte mit zufriedenem Lächeln auf Quella. Es lief besser, als sie dachte. Sie und diese Alte hatten fast dasselbe Ziel: Melina aus Lucius‘ Nähe zu schaffen. Sicherlich fanden sich auch Mittel und Wege dazu…

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Nach ihrem kurzen Gespräch ging Selene in Begleitung Quellas ebenfalls in den Garten und näherte sich langsam der kleinen Gruppe um ihre Tochter, die eben laut vernehmlich vorlas:

 

„Das Lamm und der Wolf

Ein Lämmchen löschte an einem Bache seinen Durst. Fern von ihm, aber näher der Quelle, tat ein Wolf das gleiche. Kaum erblickte er das Lämmchen, so schrie er: ‚Warum trübst du mir das Wasser, das ich trinken will?‘
‚Wie wäre das möglich?‘ erwiderte schüchtern das Lämmchen. ‚Ich stehe hier unten und du so weit oben; das Wasser fließt ja von dir zu mir; glaube mir, es kam mir nie in den Sinn, dir etwas Böses zu tun!‘
‚Ei, sieh doch! Du machst es gerade, wie dein Vater vor sechs Monaten; ich erinnere mich noch sehr wohl, dass auch du dabei warst, aber glücklich entkamst, als ich ihm für sein Schmähen das Fell abzog!‘
‚Ach, Herr!‘ flehte das zitternde Lämmchen. ‚Ich bin ja erst vier Wochen alt und kannte meinen Vater gar nicht, so lange ist er schon tot; wie soll ich denn für ihn büßen?‘
‚Du Unverschämter!‘ so endigt der Wolf mit erheuchelter Wut, indem er die Zähne fletschte. ‚Tot oder nicht tot, weiß ich doch, dass euer ganzes Geschlecht mich hasset, und dafür muss ich mich rächen.‘
Ohne weitere Umstände zu machen, zerriss er das Lämmchen und verschlang es.

Das Gewissen regt sich selbst bei dem größten Bösewichte; er sucht doch nach Vorwand, um dasselbe damit bei Begebung seiner Schlechtigkeiten zu beschwichtigen.‘

 

Die Zehnjährige rollte das Papier zusammen und blickte aufmerksam von Melina zu Philine. Die griechische Sklavin lächelte milde und fragte: „Nun, Divia, sicherlich habt Ihr verstanden, was der Dichter uns damit sagen wollte?“

„Ja, obwohl ich nicht begreife, warum der Wolf sich so große Mühe macht, einen Streit mit dem Lämmchen zu beginnen“, erwiderte das Mädchen. „Er hätte es doch einfach verschlingen können.“

„Das hätte er“, mischte sich nun Melina ein. „Aber der Dichter weist uns ja am Ende darauf hin, dass auch der Wolf ein Gewissen besitzt. Deshalb versucht er, sein Tun zu rechtfertigen.“

Mit spöttischem Lächeln, das Selene unwillkürlich an Lucius erinnerte, wandte sich nun ihre Tochter der jungen Griechin zu und meinte ironisch: „Glaubst du wirklich, dass jemand, der Böses im Sinn hat, ein Gewissen besitzt?“

„Warum denn nicht?“

„Jemand mit einem Gewissen würde es lassen, einem anderen etwas Böses zuzufügen!“ erklärte Divia ohne Umschweife und schien völlig überzeugt von ihren Worten. „Aber derjenige, der einem anderen schaden will, schert sich keinen Augenblick darum, dies vor irgendwem zu rechtfertigen.“

„Nun, der Wolf in dieser Geschichte…“, begann Philine, wurde jedoch von Divia unterbrochen: „Der Wolf ist eine ausgedachte Figur und mir erscheint er wie jemand, der mit seiner Beute spielt, bevor er sie verschlingt. Wenn Aesop die Behauptung unter seiner Fabel wirklich ernst meint, sieht er die Menschen besser als sie sind. Glaubt mir, wer anderen Schaden zufügen will, besitzt kein Gewissen, denn es ist ihm gleich, was aus dem anderen wird. Hauptsache, er hat ihm geschadet!“

„Aber warum sollte ein Mensch einem anderen Schaden zufügen wollen?“ fragte Melina.

„Wer weiß?“ spöttelte Divia und streifte ihre Mutter für einen Moment intensiv mit einem Blick. „Es gibt Leute, die Angst haben, dass sie etwas verlieren könnten, dass jemand ihnen etwas wegnehmen könnte – und bevor das passiert, greifen sie vorher lieber den anderen an.“

„Wie kommt Ihr nur auf einen derartigen Gedanken?“ fragte Philine fassungslos.

„Durch die Fabel von dem Wolf und dem Lamm“, antwortete die Zehnjährige. „Schließlich hat dieser ja behauptet, das Lämmchen nähme ihm etwas weg, und das war eine Lüge. Der Wolf ist einfach nur böse und hat einen fadenscheinigen Grund gesucht, das Lämmchen zu töten. Er hat sicher kein Gewissen; und es gibt Menschen, die dem Wolf in der Fabel ähneln. Sie sind einfach nur böse!“

„Glaubt Ihr das denn wirklich, Divia?“ fragte Philine erneut, diesmal in ruhigem Ton. „Glaubt Ihr wirklich, dass es das sogenannte Böse in Reinform gibt?“

„Ja, davon bin ich überzeugt!“ erwiderte das Kind mit einer solchen Heftigkeit, die Melina erschreckte. Wie kam es, dass ein kleines Mädchen solch eine zynische Weltauffassung besaß, hinter der womöglich eine tiefe Verbitterung steckte? Welche schlimmen Dinge hatte Divia nur erlebt?

Die Zehnjährige blickte nun zu Selene und fragte laut: „Du glaubst das doch auch, nicht wahr, Mutter?“

„Wie kommst du denn darauf?“ wollte die Matrona wissen.

„Nun ja, der Wolf in der Fabel behauptete ja, das Lamm schade ihm, dabei ist es offensichtlich eine Lüge, gegen die das Lämmchen sich nicht wehren kann“, erklärte Divia. „Der Angreifer verdreht also die Wahrheit, womit er eine Lüge ausspricht – nicht wahr, Mutter?“

„Ja“, gab Selene verwundert sie. Worauf wollte ihre Tochter hinaus?

„Der Wolf lügt in der Absicht, das Lamm zu töten – das ist doch böse, oder nicht?“

„Das ist allen klar, Divia“, erwiderte Selene ungeduldig.

„Gut“, meinte das Mädchen zufrieden und reckte seinen Kopf so in die Höhe, dass sein Kinn gegen die Mutter gerichtet war. „Der Wolf lügt also, wenn er behauptet, das Lamm trübe ihm das Wasser. Wie er meint auch mancher Mensch, jemand anderer mache ihm das Leben schwer oder nehme ihm etwas weg. Deshalb versucht er, den vermeintlichen Feind zu bekämpfen, bevor dieser ihm schaden kann. Auf diese Weise kommen Unschuldige um. Zum Glück gibt es aber hin und wieder Menschen, die diese Unschuldigen beschützen, so dass viel Unheil verhindert wird, welches sonst die menschlichen Wölfe den menschlichen Lämmern antun würden.“

„Hat dir jemand etwas Böses getan, Divia?“ fragte Melina besorgt und musterte das Kind aufmerksam. Dieses drehte sich mit einem milden Lächeln zu ihr um und schüttelte den Kopf. Es legte eine Hand auf diejenige der jungen Griechin und murmelte: „Nein, keine Sorge! Es geht mir gut – und ich habe ja auch einen Vater, der mich beschützt oder wenigstens dafür sorgt, dass ich geschützt bin.“

„Ja, das ist wahr“, gab Melina zu. „Dein Vater ist ein überaus verantwortungsvoller Mann, der dich sehr liebhat, Divia.“

Die Zehnjährige lächelte, beugte sich zu dem Ohr ihrer Freundin vor und flüsterte: „Dich hat er auch sehr lieb, Melina. Deshalb beschützt er dich ebenso wie mich.“

Dann wandte sie sich wieder ihrer Mutter zu und erklärte: „Ich bin kein Lamm und werde es nicht zulassen, dass irgendein menschlicher Wolf mir oder meinen Freunden Schaden zufügt. Vielmehr erkläre ich, dass ich diejenigen meiner Freunde, die sich nicht wehren können, zu schützen versuche…“

Sie schenkte Melina einen intensiven Blick und lächelte sie freundlich an. Dann ließ sie ihre Augen zu den anderen wandern, sah sie alle der Reihe nach an und fuhr dann mit fester Stimme fort: „Hoffentlich ist das den Wölfen jetzt klar?“

„Du redest heute wirklich Unsinn, Divia“, meinte Selene in missbilligendem Ton. Dann wandte sie sich an Philine: „Wenn du nicht aufhörst, meine Tochter mit derartigen Geschichten zu verwirren, wird die Peitsche bald auf deinem Rücken tanzen!“

„Aber, Matrona, die Fabeln von Aesop sind…“

„Schweig, Sklavin! Wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen?!“

„Aber, Mutter!“ rief Divia aus. „Du willst Philine doch nicht wirklich auspeitschen lassen?“

„Ich dulde es nicht, wenn mir eine Sklavin Widerworte gibt!“ sagte Selene in heftigem Ton.

„Verzeiht, Matrona“, ließ sich die sanfte Stimme Melinas vernehmen. „Aber Philine hat dies nicht getan. Sie wollte nur…!“

Der hasserfüllte Blick, den Selene daraufhin dem griechischen Mädchen zuwarf, ließ dieses sofort erschrocken verstummen. Unwillkürlich schob sie sich ein wenig vor Philine, was der Hausherrin ein verächtliches Lächeln entlockte. Dann wandte sich diese an Quella, die neben ihr stand und daher den Blick der Matrona auf Melina nicht gesehen hatte, und befahl: „Geh mit Divia ins Haus! Ich habe mit deiner Herrin zu reden!“

Quella streckte ihre Hand aus, um das Kind am Arm zu nehmen und mit ihm ins Haus zu gehen, doch das Mädchen stellte sich nun schützend vor Melina und erklärte mit fester Stimme: „Ich lasse meine Freunde nicht allein!“

„Geh sofort ins Haus, Divia! Was ich mit Melina zu besprechen habe, ist nicht für deine Ohren bestimmt!“ herrschte Selene ihre Tochter an.

„Nein!“ widersprach das Mädchen und starrte seine Mutter böse an.

„Ach bitte, Divia, sei lieb und gehorche deiner Mutter“, bat Melina das Kind in sanften Worten.

„Nein! Sie darf weder dir noch Philine etwas Schlimmes antun!“ erklärte das Mädchen in festem Ton, ohne seine Augen von Selene zu lösen, die ihr nun einen ebenso feindseligen Blick schenkte wie vorher Melina.

„Ich habe nicht vor, den beiden etwas anzutun!“ erwiderte die Matrona verärgert. „Wie kommst du nur auf einen derartigen Gedanken, Divia?“

„Du bist überhaupt nicht nett zu Philine gewesen“, gab die Zehnjährige sofort zurück. „Und da Melina sie zu schützen versucht, wirst du zu ihr auch nicht besonders freundlich sein.“

„So ein Unsinn!“ Selene schüttelte unwillig den Kopf. „Ich möchte etwas mit Melina besprechen, das nur uns beide angeht. Deshalb wirst du jetzt mit Quella und Philine ins Haus zurückkehren, Divia!“

Trotzig schob die Zehnjährige ihre Unterlippe vor und schaute ihre Mutter missmutig an.

„Bitte, Divia, tue, was deine Mutter von dir verlangt“, sagte Melina in einem leisen, flehenden Ton, denn sie fürchtete einen Wutanfall der Matrona, der bereits deutlich spürbar war und sicherlich bald ausbrechen würde, wenn sich das Kind weiterhin weigerte, dem Befehl seiner Mutter nachzukommen.

Doch die Zehnjährige schüttelte den Kopf und rührte sich nicht von der Stelle, den Blick weiterhin auf Selene gerichtet, die fassungslos ihre Tochter anstarrte.

„Geh ins Haus, Divia!“ befahl sie dann erneut mit eisiger Stimme.

Die Matrona und ihre Tochter waren so in ihrem Machtkampf befangen und die übrigen Anwesenden derart von dem Schauspiel, das sich ihnen bot, gefesselt, dass keine der Damen bemerkt hatte, wie der Herr des Hauses vor einigen Augenblicken in den Garten gekommen und ebenfalls Zeuge dieses Machtkampfes geworden war.

„WIRST DU WOHL DEINER MUTTER GEHORCHEN, DIVIA !“ ließ er sich plötzlich laut vernehmen. Daraufhin schauten alle erschrocken zu ihm. Grimmig starrte Lucius sie an, dann wandte er sich erneut in strengem Ton an seine Tochter: „Nun, Divia, worauf wartest du?! Hinein ins Haus mit dir!“

Ohne ein Wort des Widerspruchs eilte das Kind sofort in die Villa. Philine tat es ihm gleich, während sich Quella hinter ihrer jungen Herrin versteckte und Lucius misstrauisch beäugte. Dieser wandte sich nun in ruhigem Ton an Melina: „Tut mir leid, dass du Zeugin dieses unschönen Zwischenfalls werden musstest. Bitte, lass mich nun mit der Matrona allein. Ich habe etwas mit ihr zu bereden.“

Melina nickte und machte sich ebenfalls auf den Weg zurück ins Haus, dicht gefolgt von ihrer alten Amme. Kaum hatten sie die Schwelle überschritten, ergriff Quella ihre Herrin am Unterarm und flüsterte: „Die Fabel mit dem Wolf und dem Lamm sollte Euch als Warnung dienen, Melina, mein Lämmchen.“

„Inwiefern?“ wunderte sich die junge Griechin.

„Erinnert Euch, dass der Wolf das Lamm mit der Begründung zerriss, dass das Geschlecht der Schafe ihn hasst“, erklärte die Alte leise. „Lucius Marcellus ist genau wie jener Wolf: Er plant sicherlich, Euch etwas Böses anzutun, um sich auf diese Weise an Eurem Vater und dem Geschlecht der Griechen zu rächen – weiß er doch, dass unser Volk das seine überaus hasst…“

„Was für ein Unsinn!“ entfuhr es Melina, die ihre Amme ärgerlich ansah. „Lucius ist nicht so! Er ist freundlich und gütig…“

„Er ist ein böser Mann“, warnte Quella erneut eindringlich und blickte die junge Frau besorgt an. „Bitte, Herrin, nehmt Euch vor ihm in Acht.“

„Du wirst deine Vorurteile gegen die Römer wohl nie ablegen“, seufzte Melina traurig und schüttelte den Kopf. „Dabei sind sie uns bisher überaus wohlwollend begegnet…“

„Wie könnt Ihr das nur sagen, Herrin?“ widersprach Quella aufgebracht. „Habt Ihr denn vergessen, dass Sie Euch, Leandros und Kimon auseinandergerissen haben?“

„Mit Kriegsgefangenen pflegt man auf diese Art umzugehen“, antwortete das Mädchen. „Doch obwohl wir Geiseln sind, behandelt man uns gut.“

„Dieser Lucius hat etwas vor“, murmelte Quella. „Melina, mein Lämmchen, hütet Euch vor ihm und bleibt am Besten immer in der Nähe von der Matrona oder Divia, dann wird Euch gewiss nichts geschehen.“

„Also gut, ich werde es versuchen“, versprach die junge Griechin, um ihre alte Amme, die ehrlich besorgt schien, zu beruhigen. Dann schaute sie sich suchend um und fragte: „Kannst du mir vielleicht verraten, wohin Divia verschwunden ist, Quella?“

„Dieses ungezogene Balg wird in seinem Zimmer sein“, brummte die Alte missmutig.

„Sprich nicht so von ihr!“ wies Melina ihre Sklavin streng zurecht. „Divia ist nicht ungezogen. Irgendetwas bedrückt sie und regt sie auf. Ich muss sofort zu ihr!“

„Was geht Euch dieses fremde Kind an, Herrin?“

„Ich mache mir Sorgen um die Kleine. Bitte, Quella, führ mich auf ihr Zimmer!“

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[1] Strigilis = Instrument zur Körperpflege. Es wurde dazu verwendet, das Öl, mit dem sich die Römer einölten, vom Körper abzuschaben, bevor man dann ins Bad stieg.

[2] Potestas = Väterliche Gewalt. Der Pater familias hatte die Gewalt über seine Sklaven und seine Kinder, die er verkaufen und sogar töten konnte. Seine Ehefrau war ebenfalls dieser Gewalt unterworfen, doch töten durfte er sie nicht! Aber diejenigen, die unter seiner Gewalt standen, mussten ihm gehorchen.

 

 

Kaum waren Melina und Quella im Haus verschwunden, wandte sich Lucius an seine Frau.

„Divias Verhalten setzt mich sehr in Erstaunen“, sagte er in ernstem Ton und musterte Selene eindringlich. „Ist dieser Ungehorsam schon des Öfteren vorgekommen?“

„Nein, nicht sehr oft“, behauptete die Matrona, die sich äußerst unwohl in ihrer Haut fühlte.

„Aha… so, so“, murmelte der Hausherr und es war offensichtlich, dass er ihren Worten nicht glaubte. „Mein Bruder vertritt da eine andere Ansicht. Er findet, dass du dich zu wenig um Divia kümmerst. Nun, was sagst du dazu, Selene?“

„Appius konnte mich noch nie leiden und nutzt jede Gelegenheit, um mich herabzusetzen. Mir scheint, seine Bemühungen tragen endlich Früchte!“

„Unsinn! Er wies mich lediglich auf die Tatsache hin, dass Divia äußerst ungezogen ist, wovon ich mich ja gerade selbst überzeugen konnte.“

Lucius schwieg einen Moment und starrte seine Ehefrau eindringlich an, dann schüttelte er den Kopf und fuhr fort: „Divias Verhalten ist äußerst beunruhigend. Appius meinte, das liege allein daran, dass unsere Tochter bislang vorwiegend von Sklavinnen erzogen worden ist, anstatt von ihrer Mutter!“

„Was weiß dein Bruder schon davon?!“ erwiderte Selene in heftigem Ton. „Er kommt selten hierher. Wie kann er sich also ein Urteil darüber anmaßen? – Es ist wahr, dass Divia äußerst lebhaft und eigenwillig ist. Eine Kostprobe davon hast du ja eben selbst mitbekommen. Manchmal verweigert sie mir einfach den Gehorsam…“

„Traurig genug“, murmelte Lucius. „Was war eigentlich der Anlass für diesen Trotz?“

„Ich ermahnte deine Lieblingssklavin Philine, den Kopf unserer Tochter nicht mit Geschichten zu verwirren, die für das Kind unwichtig sind und es nur auf dumme Gedanken bringen. Daraufhin wagte Philine es doch tatsächlich, mir zu widersprechen.“

„Das kann ich nicht glauben“, meinte der Hausherr und schüttelte den Kopf. „Um was für eine Art von Geschichten handelte es sich dabei?“

„Fabeln, die Divia zu unsinnigen Reden veranlasst haben.“

„Aber Fabeln tragen dazu bei, den Geist zu schulen!“

„Bei unserer Tochter führen sie jedoch dazu, dass sie überall menschliche Wölfe zu erblicken vermeint, gegen die sie kämpfen zu müssen glaubt“, erklärte Selene verärgert. „Daraufhin hielt ich es für richtig, Philine zu verbieten, Divia weiterhin solche Fabeln zu erzählen.“

„Und das soll der Grund für den Streit sein, der offensichtlich zwischen dir und unserer Tochter herrscht?“

„Nein! Divia meinte, sie müsse Philine und Melina vor mir beschützen!“

„Melina? Was hatte unser Gast damit zu tun?“

„Deine kleine Gefangene mischte sich ungebeten ein, um ihre Landsmännin zu verteidigen!“

„Dann musst du etwas gesagt oder getan haben, das die junge Dame dazu genötigt hat“, stellte Lucius in sachlichem Ton fest. „Nun, Selene, willst du es mir nicht verraten?“

„Es gibt nichts, was ich dir verraten könnte!“ behauptete seine Frau heftig. „Es war alles so, wie ich es dir erzählt habe.“

„So? Mir scheint, dass ein einfaches Verbot Divia oder Melina kaum dazu veranlasst hätten, eine Sklavin gegen dich in Schutz zu nehmen. Da muss noch etwas vorgefallen sein!“

„Es ist nichts weiter vorgefallen, Lucius!“

„Also schön“, brummte er missmutig. Ihm war klar, dass seine Frau nicht erzählen wollte, was genau sich hier abgespielt hatte. Nun, er würde es sicher später durch Philine selbst erfahren. Doch jetzt musste er endlich die heikle Sache ansprechen, die ihm schwer auf der Seele lag.

„Komm, Selene“, sagte er darum in ruhigem Ton und deutete auf eine Bank, die unweit von ihnen unter einem großen Baum stand. „Setzen wir uns dort drüben hin. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“

Erstaunt folgte die Matrona der Aufforderung ihres Mannes. Kaum hatte dieser sich neben ihr niedergelassen, begann er in ernstem Ton: „Auf unserer Verbindung liegt kein Segen, Selene. Darum halte ich es für das Beste, wenn wir uns trennen.“

Seine Frau starrte ihn erschrocken an.

„Aber… aber, Lucius…“, stotterte sie. „Nach all den Jahren…?“

„Es tut mir leid, Selene“, erwiderte er und sah sie traurig an. „Ich wünschte, es wäre nicht so gekommen, doch ich glaube, es ist das Beste für uns beide.“

„Nein… nein…“, murmelte die Hausherrin und schüttelte den Kopf. Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen steigen wollten, konnte sich aber beherrschen und sagte mit belegter Stimme: „Ich will keine Scheidung, Lucius… wir führen doch eine gute Ehe…“

„So? Tun wir das?“ fragte er und schaute zu Boden. „Als ich dir das letzte Mal beiwohnte, war ich nicht in der Lage, die Ehe mit dir zu vollziehen, Selene.“

„Du warst gewiss müde, mein Lieber“, meinte die Hausherrin eindringlich und berührte ihn leicht an der Schulter, was ihn überrascht aufblicken ließ. Ihre Augen begegneten sich, doch er wandte sie sofort wieder ab und starrte auf einen weit entfernten Punkt vor sich.

„Machen wir uns nichts vor, Selene“, fuhr er nach einer Weile tonlos fort. „Zwischen uns herrscht schon lange nicht mehr die liebevolle Vertrautheit wie zu Anfang unserer Ehe. Es wäre eine Strafe für uns beide, weiterhin zusammenzubleiben.“

„Nicht für mich, Lucius…“, schluchzte die Matrona und konnte nun nicht mehr verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Warum… warum jetzt, Lucius?“

„Wir haben uns auseinandergelebt, sind nicht mehr dieselben wie früher…“

„Es ist nur, weil ich dir bis heute keinen Sohn schenken konnte, nicht wahr?“

„Nein, das ist nicht der Grund, Selene! Ich glaube einfach, dass wir uns gegenseitig unglücklich machen, wenn wir weiterhin zusammenbleiben“, erklärte Lucius und sah sie nun wieder mit offenem Blick an. „Trennen wir uns in Freundschaft, Selene. Ich bin sicher, du findest einen anderen Mann, der besser zu dir passt.“

„Einen anderen Mann?“ fragte sie erstaunt und wischte sich einige Tränen mit dem Handrücken aus den Augen. „Ich will keinen anderen Mann, Lucius! Du bist mein Mann!“

„Jetzt nicht mehr, Selene! Ich will die Scheidung!“

„Dein Vorschlag… dein Vorschlag, mir einen anderen Mann zu suchen… ich ahne schon, woher das rührt“, sagte sie mit erstickter Stimme, während ihr weiterhin Tränen aus den Augen traten. „Du willst mich nur loswerden, um deine kleine Griechin zu verführen…“

Lucius schwieg.

„Ich habe recht, nicht wahr?“ fuhr sie nach einer Weile fort.

Der Hausherr schwieg beharrlich weiter, ohne sie anzusehen.

Selene schluckte, versuchte sich zu beruhigen und fing nach einer Weile an, laut zu lachen. Nun erst blickte Lucius wieder zu ihr, sichtlich verwundert.

„Du bist so ein Narr!“ erklärte sie lachend, während ihr erneut Tränen in die Augen traten. „Hast du ganz vergessen, dass du deine kleine Geisel nicht heiraten kannst, Lucius?! Sie ist keine römische Staatsbürgerin… sie kann niemals deine Frau werden!“

„Aber ich kann sie zu meiner offiziellen Konkubine machen – das ist fast so gut wie eine Ehe“, erklärte Lucius trocken und erhob sich.

„Aha! Du gibst es also endlich zu, dass die kleine Griechin der wahre Grund dafür ist, dass du die Scheidung willst!“ fuhr Selene ihn an. „Aber du weißt sicherlich auch, dass die Kinder aus einem Konkubinat als illegitim gelten!“

„Es gibt Mittel und Wege, sie zu legitimieren“, meinte Lucius.

„Du vergisst dabei nur einige Dinge, mein Lieber“, erwiderte Selene und erhob sich nun ebenfalls. „Erstens: Woher nimmst du die Gewissheit, dass auf der Verbindung zwischen dir und der kleinen Geisel der Segen der Götter liegt? – Zweitens: Melina ist noch nicht heiratsfähig! Und es kann durchaus eine ganze Weile dauern, bis der rote Mond sie heimsucht. Meinst du, du kannst so lange deine Begierde nach der Kleinen zügeln?“

„Ich weiß gar nicht, ob Melina mich überhaupt will“, bemerkte Lucius ärgerlich. „Deine Vorwürfe gegen mich und die junge Dame entbehren also jeglicher Grundlage, wenngleich ich deine Idee einer Verbindung zwischen uns grundsätzlich gutheiße, Selene.“

„Oh, du verdrehst alles!“ empörte sich die Matrona. „Jetzt willst du also noch behaupten, erst meine Vorwürfe hätten dich auf den Gedanken gebracht, eine Verbindung mit der kleinen Griechin einzugehen?!“

„Nun beruhige dich erstmal, Selene“, sagte der Hausherr sachlich. „Bleib noch ein wenig an der frischen Luft, bevor du dich in deine Gemächer zurückziehst, deine Sklaven herbeirufst und mit ihnen deine Sachen zusammenpackst. Bis du eine neue Bleibe gefunden hast, kannst du selbstverständlich noch einige Tage in meinem Hause verweilen, Selene.“

„Dir ist es also wirklich ernst, Lucius?“ fragte sie.

„Ja, Selene“, erwiderte er. „Glaub mir, es ist auch für dich besser!“

„Erlaubst du mir wenigstens, Divia hin und wieder zu sehen?“

„Darüber werde ich nachdenken, Selene, denn ich gewann vorhin nicht den Eindruck, dass du dich allzu gut mit unserer Tochter verstehst. – Wir sehen uns später.“

Mit diesen Worten ließ Lucius seine Frau, von der er sich gerade getrennt hatte, stehen und kehrte ins Haus zurück.

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Als Melina in Begleitung ihrer alten Amme vor Divias Zimmer erschien, fanden sie Philine vor deren verschlossener Tür.

„Was ist los?“ fragte Melina beunruhigt. „Wie geht es Divia?“

„Ach, ich weiß nicht!“ erwiderte Philine ängstlich. „Sie ist hochgerannt, hat sich sofort in ihrem Zimmer eingeschlossen und öffnet nicht.“

„Lasst mich mit ihr sprechen“, bat die junge Griechin und Philine trat sofort beiseite. Behutsam fragte Melina: „Divia?“

Sie wartete einen Augenblick und fragte erneut: „Divia? Kann ich dir helfen, Divia?“

Es vergingen einige Sekunden, dann hörte man, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Vorsichtig öffnete Melina sie daraufhin und trat langsam in das Zimmer.

„Divia? Was ist denn nur los? Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte die junge Griechin. Das Kind, das eben noch am Fenster gestanden und hinausgeschaut hatte, drehte sich jetzt zu ihr um, eilte auf sie zu und vergrub gleich darauf ihr Gesicht an der Brust Melinas. Diese schloss die Kleine in die Arme und drückte sie an sich.

„Komm, Divia, setzen wir uns!“ meinte die junge Frau dann sanft, während sie die Tür hinter sich schloss und damit unmissverständlich klarmachte, dass Philine und Quella draußen bleiben sollten.

Als sie nebeneinander auf dem Bett der Zehnjährigen saßen, legte Melina behutsam einen Arm um die Schulter der Kleinen und fragte leise: „Was war vorhin los mit dir, Divia? Du bist doch eigentlich ein liebes Mädchen. Warum wolltest du deiner Mutter nicht gehorchen?“

Das Kind schluchzte auf und antwortete mit tränenerstickter Stimme: „Ich… ich wollte nicht, dass sie… dass sie dir und Philine etwas antut… Meine Mutter… sie ist böse… sie ist ein menschlicher Wolf…“

„Aber, Divia“, meinte Melina erschrocken. „Wie kommst du denn darauf?“

„Sie hat schon einmal…“, begann das Mädchen und brach dann in Weinen aus. Die junge Frau ließ das Kind gewähren, nahm es in die Arme und drückte es an sich, während sie ihm mit einer Hand tröstend über den Rücken fuhr.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Divia sich wieder soweit beruhigt hatte, dass sie weitersprechen konnte. Sie blickte nun traurig zu der jungen Griechin auf und erzählte: „Weißt du, Melina, ich hatte als ganz kleines Mädchen schon einmal eine so nette Freundin wie dich. Sie war nur etwa ein oder zwei Jahre älter als ich und hieß Liuba. Vater hatte sie von einem Sklavenmarkt gekauft und mir zum Geburtstag geschenkt. Wir mochten uns gern… sie war wie eine Schwester für mich…“

Divia, offensichtlich überwältig von der Erinnerung an ihre kleine Sklavin, begann wieder zu schluchzen, was in Melina den Eindruck verstärkte, dass irgendetwas Schlimmes in Zusammenhang mit dieser Freundin aus Kindertagen passiert sein musste.

„Was ist mit Liuba geschehen?“ fragte Melina nach einer Weile, als Divia sich wieder beruhigt zu haben schien.

„Solange Vater zu Hause weilte, war alles in Ordnung“, fuhr das Mädchen fort zu erzählen. „Doch nach einigen Wochen musste er wieder weg. Wie üblich hatte Mutter dann die Aufsicht über das Haus. Zu dieser Zeit erwartete sie wieder mal ein Kind und litt aufgrund dessen häufig an wechselnden Launen. So verhielt es sich auch an jenem schönen Herbstmorgen, nachdem Vater gerade einen Tag fort war. Wir erschienen gemeinsam im Esszimmer, um zu frühstücken, als Mutter meine Freundin in strengem Ton dazu aufforderte, ab sofort in der Küche zu essen, wie es für alle Haussklaven üblich sei. Natürlich gehorchte Liuba diesem Befehl, obwohl es mir nicht passte und ich mich bei Mutter über die Behandlung meiner Freundin beschwerte. Daraufhin verbot sie mir, weiterhin mit Liuba zu spielen und zu lernen. Stattdessen wies sie wenig später in meinem Beisein ihren Obersklaven an, meine Freundin als nützliche Arbeitskraft im Haus einzusetzen. Als ich dagegen protestierte und sagte, Liuba wäre mein Eigentum, meinte Mutter in kaltem Ton, dass ich mich als Tochter dem Willen meiner Eltern zu beugen hätte – und da Vater nicht da wäre, müsste ich nun ihr gehorchen.“

„Dir blieb also nichts anderes übrig, als dich zu fügen“, stellte Melina bekümmert fest und strich Divia, die immer noch traurig aussah, zärtlich über den Kopf. „Was ist dann weiter passiert?“

„Nachdem Liuba in der Küche geholfen hatte, Gemüse zu schneiden und aufzuräumen, sollte sie am Abend auf Wunsch meiner Mutter die Gäste während der Cena bedienen, obwohl sie noch viel zu klein dafür war. Weißt du, Melina, zu dieser Zeit hatte Philine gerade damit angefangen, uns beiden Lesen und Schreiben beizubringen…“

„So jung...?“ murmelte Melina, sichtlich erschüttert darüber, dass Selene ein solch kleines Mädchen wie diese Liuba, die damals kaum älter als fünf oder sechs Jahre gewesen sein konnte und für die die gefüllten Schüsseln oder Krüge mit Sicherheit zu schwer waren, quälte.

„Ja“, erwiderte Divia mit belegter Stimme. „Jedenfalls lag Liuba am nächsten Morgen mit Fieber im Bett…“

„Was ist geschehen?“

„Meine Freundin ließ eine der Schüsseln fallen…“

„Natürlich… sicherlich war sie zu schwer für sie…“, murmelte Melina.

Divia nickte lebhaft und fuhr mit Tränen in den Augen fort: „Jeder andere sah es genauso – nur meine Mutter nicht! Für sie hat Liuba die Schüssel mit Absicht fallen lassen – und deshalb ließ sie sie noch am gleichen Abend mit Stockschlägen bestrafen…“

„Nein!“ entfuhr es Melina entsetzt.

„Doch… und einer ihrer blöden Sklaven hat es tatsächlich über sich gebracht, diesen Befehl auszuführen…“, wisperte Divia fast unhörbar. Wieder begann sie zu schluchzen. „Das Schlimmste daran ist, dass weder ich noch Philine, die damals bei mir im Zimmer schlief, davon etwas mitbekamen. Damals war ich ja noch viel zu klein, um an einer Cena teilzunehmen…“

„Ist Liuba…?“ fragte Melina zaghaft, wagte jedoch nicht, den Satz zu beenden.

„Einige der älteren Sklavinnen kümmerten sich nach der Bestrafung um sie, aber sie hat es nicht überlebt“, schluchzte Divia und vergrub ihr Gesicht erneut an Melinas Brust. Diese starrte fassungslos auf das kleine Mädchen in ihren Armen und wusste nicht, wie sie es trösten sollte, da sie von dieser Geschichte um Liuba selbst sehr erschüttert war.

Einen Augenblick später blickte Divia wieder hoch und starrte auf das Fenster, während sie in heftigem Ton erklärte: „Wie sehr ich meine Mutter dafür hasse! Sie hat Liuba auf dem Gewissen! – Weißt du, was sie sagte, als ich sie wegen der Bestrafung meiner Freundin zur Rede stellte? Sie antwortete mir, dass es doch nur eine Sklavin sei und ich deswegen nicht so ein Aufhebens machen solle…“

„Das ist ja unglaublich! Wie kann man nur so herzlos sein?!“

„Ja, nicht wahr?! Verstehst du jetzt, warum ich dich nicht mit meiner Mutter, dieser grässliche Wölfin, allein lassen wollte? Nie wieder will ich zulassen, dass sie jemandem, den ich gernhabe, ein Leid antut!“

„Das tut mir alles so leid, Divia“, sagte Melina und drückte das weinende Mädchen noch einmal an sich, um es in ihren Armen zu wiegen.

„Ich schäme mich so dafür, die Tochter einer Wölfin zu sein!“

„Du kannst doch nichts dafür, Divia. Bitte, schäme dich nicht mehr. Denk daran, dass du vor allem die Tochter deines Vaters bist - ihr beide habt ein gutes Herz!“

„Findest du das wirklich, Melina?“ fragte das Mädchen daraufhin erstaunt und blickte sie mit großen Augen an.

„Aber ja! Du bist so liebenswert, Divia.“

Auf dem verweinten Gesicht der Zehnjährigen erschien ein kleines Lächeln.

„Findest du meinen Vater auch liebenswert, Melina?“

„Ich mag deinen Vater sehr gern“, gab die Angesprochene zu, errötete dabei aber. Dann strich sie der Kleinen sanft über die Wangen und meinte: „Du solltest dich ein wenig hinlegen und ausruhen, Divia. Das alles scheint dich doch sehr aufgeregt zu haben.“

„Bleibst du bei mir, Melina?“

„Ja, ich verspreche es!“

Ein wenig beruhigt ließ Divia es nun zu, dass Melina Philine und Quella ins Zimmer rief und sie bat, eine Schüssel frisches Wasser sowie Lappen und ein Tuch zum Abtrocken herbeizubringen. Sobald es da war, machten sich die beiden Sklavinnen daran, Divia zu waschen und sie für das Bett fertig zu machen, während Melina am Fenster stand und hinaus sah.

Die Erzählung der Kleinen hatte die junge Griechin sichtlich erschüttert und sie brauchte nun selbst ein wenig Zeit, um sich von dem, was sie erfahren hatte, zu erholen.

Zwar war ihr Selene von Anfang an nicht besonders sympathisch gewesen, was sie zunächst auf den Umstand geschoben hatte, dass diese Frau die Gattin von Lucius war, der ihr selbst doch so gut gefiel. Aber nie im Leben hätte sie gedacht, dass Selene dazu fähig wäre, ein kleines Mädchen zu quälen, nur um ihre Macht zu demonstrieren.

Was gab es nur für Menschen?!

Kein Wunder, dass Divia aufgrund eines solch schrecklichen Erlebnisses zu einer so zynischen Grundeinstellung kam – und traurig genug, dass dadurch Hass auf die eigene Mutter in ihr entstanden war…

 

„Melina?“ hörte sie Divias zaghafte Stimme. Sofort wandte sie sich nach dem Mädchen um und lächelte es an. Die Zehnjährige lag nun in ihrem Bett und streckte eine Hand nach der jungen Griechin aus. Diese ließ sich daraufhin auf dem Rand der Schlafstatt nieder und deckte die Kleine zu.

„Versuch ein bisschen zu schlafen“, murmelte sie leise.

Divia drückte ihre Hand, flüsterte „Danke!“ und schloss dann die Augen. Innerhalb weniger Minuten schlummerte das Kind ein. Besorgt schaute Melina es an und wandte sich dann an Quella: „Bitte, sorge doch dafür, dass man in der Küche eine kräftige Gemüsebrühe für Divia zubereitet. Sie braucht nachher etwas, das sie stärkt.“

Als die Alte aus dem Zimmer gegangen war, fragte Philine: „Gibt es etwas, dass ich tun kann?“

„Besorgt mir eine neue Schüssel mit kaltem Wasser und einen frischen Lappen, damit ich Divias Stirn kühlen kann, um zu verhindern, dass sie Fieber bekommt“, bat Melina.

„Kommt sofort!“ versprach die Sklavin und eilte ebenfalls hinaus.

Nun war Melina mit der schlafenden Divia allein, blickte sie überaus bekümmert an und begann dann, leise zu weinen. In diesem Zustand fand sie Lucius, der nach seinem Gespräch mit Selene sofort das Haus aufgesucht hatte, um mit Melina zu sprechen. Als er hörte, dass die junge Frau sich im Zimmer seiner Tochter befand, begab er sich so rasch wie möglich dorthin, zumal er erfuhr, dass es Divia nicht gut gehen sollte.

Als er nun die weinende Melina erblickte, rührte es ihn sehr. Dieses fremde Mädchen, das er vom ersten Augenblick ihres Kennenlernens an ins Herz geschlossen hatte, schien seine Tochter wirklich gern zu haben. Wie kam es, dass sie sich mehr um Divia sorgte als deren eigene Mutter?

Vorsichtig näherte Lucius sich der jungen Griechin, die nicht gehört hatte, dass jemand in das Zimmer eingetreten war, und tippte sie vorsichtig mit einem Finger an der Schulter an. Erschrocken fuhr Melina herum, beruhigte sich aber sofort, als sie ihn erkannte.

„Tut mir leid, ich wollte dir keineswegs Furcht einjagen“, entschuldigte er sich leise und deutete dann mit dem Kinn auf seine schlafende Tochter. „Was ist mit Divia?“

„Sie hat sich sehr aufgeregt“, antwortete die junge Frau in ebenso leisem Ton und erhob sich langsam.

„Es ist doch wohl nichts Ernstes?“

„Nein, ich glaube nicht, Lucius.“

„Warum weinst du dann, kleine Melina?“

„Ich habe eine sehr traurige Geschichte gehört…“, gab sie zögernd zu.

„Erzählst du sie mir?“ bat Lucius.

Die junge Griechin schüttelte den Kopf und murmelte: „Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Es ist so schrecklich…“

Wieder rannen ein paar Tränen aus ihren Augen. Lucius nahm ihr Gesicht in beide Hände und schaute sie eindringlich an. Dann küsste er ihr zärtlich die Tränen fort und zog sie an seine Brust. Melina wehrte sich nicht, da sie hier, umschlossen von seinen starken Armen, genau den Halt fand, den sie sich gerade ersehnte. Dabei dachte sie weder daran, dass es sich eigentlich nicht für ein vornehmes, junges Mädchen gehörte, noch verschwendete sie einen Gedanken an Selene. Sie war einfach nur froh, dass Lucius bei ihr war.

 

Anders erging es Quella, die wenige Augenblicke später in Divias Zimmer zurückkehrte und beinahe einen kleinen Schock erlitt, als sie ihre junge Herrin in inniger Umarmung mit dem Hausherrn erblickte.

„Melina Aigikoreusa!“ entfuhr es der alten Sklavin. „Wie könnt Ihr Euch nur dermaßen vergessen?!“

Durch die laute Stimme der Alten in die Gegenwart zurückgeholt, lösten sich Melina und Lucius nur langsam voneinander, wobei sie sich gegenseitig bedauernde Blicke zuwarfen.

Während sich die junge Griechin danach wieder zu Divia auf den Bettrand setzte, wandte sich der Hausherr in leisem, aber dennoch unmissverständlich strengem Ton und mit böse zusammengezogenen Augenbrauen an Quella: „Was fällt dir ein, hier herumzuschreien?! Verschwinde sofort!“

Unwillig schüttelte die Alte den Kopf und beeilte sich, in die Nähe Melinas zu kommen, zu deren Füßen sie sich niederließ. Lucius starrte ungläubig und unverkennbar wütend auf die Alte, die sich doch tatsächlich seinem Befehl widersetzt hatte. Nun jedoch wagte sie es nicht, ihn anzusehen, während sie murmelte: „Die Suppe für Divia wird gerade zubereitet, Herrin.“

„Gut, Quella, dann darfst du dich jetzt zurückziehen. Ich rufe dich, wenn ich deiner Dienste bedarf“, erwiderte Melina in freundlichem Ton.

„Wenn Ihr es erlaubt, würde ich lieber in Eurer Nähe bleiben, Herrin.“

„Nun gut, ich habe nichts dagegen. Aber sei still! Divia muss schlafen.“

Quella nickte und schwieg.

Lucius, dem es nicht passte, dass die Alte sich bei ihnen aufhielt, ging nun auf Melina zu und flüsterte: „Soll sich deine Amme an Divias Bett setzen und ihren Schlaf bewachen. Ich möchte ein wenig mit dir hinausgehen, Melina. Du siehst aus, als bräuchtest du dringend frische Luft.“

Die junge Frau lächelte etwas, schüttelte jedoch den Kopf und murmelte: „Danke für das Angebot, Lucius, aber ich möchte lieber hier bei Divia bleiben! Sie braucht mich jetzt. Vielleicht können wir uns ja später auf einen Spaziergang treffen.“

„Gut“, meinte der Hausherr und lächelte nun ebenfalls. Ihm gefiel, wie fürsorglich sich Melina um seine Tochter kümmerte. Die kleine Griechin wäre sicherlich eine liebevolle Mutter.

Unwillkürlich hob Lucius seine Hand und strich der jungen Frau zart über die Wange, dann verließ er den Raum. Lächelnd sah Melina ihm nach, während Quella sie missbilligend betrachtete. Kaum glaubte die Alte, der Hausherr sei außer Hörweite, murmelte sie in strengem Ton: „Melina Aigikoreusa, bedenkt bitte, wer Ihr seid! Was würde nur Euer Vater dazu sagen, wenn er sähe, wie Ihr Euch hier aufführt?!“

„Mein Vater ist weit weg…“, wisperte die Angesprochene, schenkte ihrer alten Amme einen kühlen Blick und fuhr leise fort: „Wenn du nur hiergeblieben bist, um mir Vorwürfe zu machen, dann verschwinde besser. Denn es geht Divia nicht gut und man muss jegliche Aufregung von ihr fernhalten!“

„Ach, mein armes Lämmchen“, flüsterte Quella und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe doch nur Angst um Euch…“

In diesem Moment kam Philine mit der gewünschten Schüssel voll kalten Wassers in das Zimmer zurück und stellte das Gefäß auf dem kleinen Tisch neben Divias Bett ab.

„Kann ich sonst noch etwas tun?“ fragte die griechische Sklavin freundlich und warf dabei einen besorgten Blick auf die Zehnjährige.

„Für Divia nicht, aber vielleicht könntet Ihr Euch ein wenig um Quella kümmern“, meinte Melina und schenkte ihrer alten Amme ein freundliches Lächeln. „Ich glaube, all die Ereignisse des heutigen Tages haben ihr doch mehr zugesetzt, als sie wahrhaben möchte.“

Philine nickte und reichte Quella dann einen Arm.

„Komm, unsere Dienste werden anderweitig im Haus benötigt.“

Der alten Amme blieb nichts anderes übrig, als sich von Philine beim Aufstehen helfen zu lassen und dann mit ihr das Zimmer Divias, in dem ihre junge Herrin am Bett des römischen Kindes verweilte, zu verlassen. An der Schwelle drehte sich Quella jedoch noch einmal um und rief leise: „Melina, mein Lämmchen, bitte nehmt Euch in Acht…“

Die derart Angesprochene wandte sich daraufhin lächelnd um und erwiderte in leisem Ton: „Liebe Quella, es ist alles in Ordnung – bitte, versuche doch, dich zu beruhigen.“

„Keine Sorge, Melina Aigikoreusa, das wird sie schon“, mischte sich nun Philine ein, zog die Alte von der Schwelle fort und schloss dann die Tür. „Die Köchin hat mich gebeten, ihr etwas zur Hand zu gehen. Dabei können wir dich gut gebrauchen.“

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Philine ging mit Quella in die Küche, wo die alte Sklavin mit Erstaunen feststellte, dass sich darin außer der runden Köchin niemand mehr befand.

„Gut, dass ihr endlich kommt“, stöhnte die Köchin auf. „Ich brauche jemanden, der das Gemüse putzt. Wärst du dann so freundlich, einige Sachen auf dem Markt einzukaufen, Philine? Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht…“

Nachdem sie der griechischen Sklavin mitgeteilt hatte, was sie brauchte, verließ diese die Küche und Quella blieb allein mit der Herrin des Kochtopfes in dem Raum zurück.

„Was ist denn nur passiert?“ wagte die Alte endlich zu fragen.

„Ach, die Matrona hat alle ihre Sklaven zu sich gerufen, damit sie ihr helfen, ihre Sachen zu packen“, berichtete die Köchin aufgeregt. „Unser Herr hat seine Frau dazu aufgefordert.“

„Was?!“ entfuhr es Quella, die Schlimmes zu ahnen begann. „Das ist ja schrecklich!“

„Niemand hätte mit so etwas gerechnet“, fuhr die Köchin in jammerndem Ton fort. „Schließlich sind die beiden so lange miteinander verheiratet. – Aber natürlich, der Umstand, dass unsere Matrona dem Herrn bis jetzt noch keinen männlichen Erben geschenkt hat… Trotzdem, wer hätte gedacht, dass er sich nun doch scheiden lässt…“

„Lucius Marcellus lässt sich scheiden?“ kam es tonlos von Quella, die es kaum glauben mochte. Dann begann sich Angst in ihr auszubreiten. Die Matrona war ihre einzige Verbündete gewesen – die Einzige, die Melina vor Lucius Marcellus schützen konnte… doch nun war auch das verloren…

Quella gab sich keinen Illusionen hin: Dieser furchtbare Legatus ließ sich doch nur von seiner Frau scheiden, um ihre junge Herrin zu verführen. Sie sollte ihm am Ende vermutlich auch noch Kinder schenken…? Wie konnte sie, eine einfache Sklavin, nur verhindern, dass Lucius ihrem Lämmchen zu nahe trat, da Melina selbst allem Anschein nach Gefallen an dem römischen Offizier fand und immer noch verliebt in ihn zu sein schien…?

„He, was ist los mit dir?“ fragte die Köchin nun, da Quella begonnen hatte zu weinen. „Dir kann das doch egal sein, ob sich unsere Herrschaften scheiden lassen. Du bist sowieso fremd hier!“

„Die Matrona war so gut zu mir“, antworte die Alte mit belegter Stimme.

„Hm… ja, meistens ließ sie einen in Ruhe arbeiten“, brummte die Köchin gutmütig. „Na komm, setz dich erstmal an den Tisch. Ich gebe dir gleich etwas zu tun. – Wie geht’s eigentlich Divia? Ich habe von Philine erfahren, dass sich deine junge Herrin rührend um die Kleine kümmert.“

„Dem Kind geht es gut, glaube ich“, gab Quella widerwillig zu. „Es schläft jetzt und meine Herrin sitzt bei ihm.“

„Deine Herrin ist wirklich sehr nett“, meinte die Köchin daraufhin. „Ein Glück, dass unser Herr sie aus Griechenland mitgebracht hat. So kümmert sich wenigstens jemand um Divia, da doch ihre Mutter uns bald verlassen wird.“

„Melina Aigikoreusa ist kein Kindermädchen, sondern eine vornehme, junge Dame“, sagte Quella, die glaubte, den Status ihrer Herrin klarstellen zu müssen.

„Aber natürlich!“ meinte die Köchin lachend. „Und morgen regnet es Tomaten vom Himmel! – Aber im Ernst, Alte: Deine junge Herrin mag ja aus vornehmem Hause sein, doch sie ist eine Gefangene Roms und damit eigentlich eine Sklavin. Außerdem weiß jedermann, dass der Kaiser sie unserem Herrn geschenkt hat. Doch der Patron mag deine Herrin so gern, dass er sie weiterhin als junge Dame behandelt sehen will. Und wie du weißt, müssen alle in diesem Haus dem Pater familias gehorchen. Deine junge Herrin hat großes Glück, dass der Kaiser sie Lucius Marcellus überließ.“

Quella schwieg. Wieder einmal musste sie sich das Lob über den verhassten Legatus anhören. Aber natürlich konnte man von den Sklaven dieses Mannes nichts anderes erwarten. Andererseits deuteten die Worte der Köchin unverkennbar auf die Absichten des Hausherrn hin. Was anderes konnte es schon bedeuten, dass er Melina gern hatte… dass der Kaiser sie ihm   g e s c h e n k t   hatte… Nur solche Barbaren wie die Römer konnten aus der Tochter des edlen Theodoros Aigikoreus ein GESCHENK machen! Weshalb vertraute ihr Lämmchen ihnen? Wie hatte es bloß geschehen können, dass Melina sich in Lucius Marcellus verliebte… diesen bösen Mann…! Und wie konnten die Götter es nur zulassen, dass ihr Lämmchen in eine solche Situation geriet, aus der es keinen Ausweg zu geben schien…?

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Mit rotverweinten Augen beobachtete Selene einige ihrer Sklavinnen, die gerade dabei waren, ihre persönlichen Sachen aus ihrem Zimmer in Kisten einzupacken, während sie selbst eine Nachricht erwartete. Sofort nach dem Gespräch mit Lucius hatte Selene ihrer Mutter geschrieben und sie darum gebeten, sie bei sich im Haus aufzunehmen. Denn keinen Tag länger als nötig wollte die Matrona unter dem Dach ihres Mannes verweilen.

Dieser übrigens verlor keine Zeit, das Objekt seiner Begierde im Zimmer Divias aufzusuchen. Als man ihr das berichtete, fühlte sich Selene noch verletzter als zuvor.

Lucius hätte ruhig damit warten können, bis sie sein Haus verlassen hatte. Zudem kränkte es sie auch, dass sich die junge Griechin gerade so benahm, als sei Divia ihre Tochter. Aber hatte sie es denn anders verdient? Sie wusste selbst, dass der Vorwurf ihres Schwagers mehr als berechtigt gewesen war, aber sie hatte einfach keine Lust gehabt, sich mit dem lebhaften Kind auseinanderzusetzen. Nun musste sie dafür bezahlen und konnte nur hoffen, dass Divia ihr eines Tages ihre Gleichgültigkeit verzieh… denn da diese nun einmal kein Knabe war, verlor sie nach einiger Zeit das Interesse an ihrer Tochter, die sie doch einmal so geliebt hatte… Ja, sie hätte es verdient, wenn Divia sich von ihr abwandte und sie nie wieder sehen wollte…

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Nachdem Aemilia Antonia die Nachricht ihrer Tochter erhalten hatte, schickte sie kurz darauf sofort eine Botschaft an ihren Sohn Pavo. Wenig später traf dieser bei ihr ein.

„Was ist passiert, Mutter?“ fragte er, völlig außer Atem. „Du wolltest dringend mit mir sprechen?“

„So ist es“, erwiderte Aemilia. „Du musst heute noch deinen Schwager aufsuchen. Er will sich scheiden lassen und ich muss gestehen, dass das ziemlich unerwartet für mich kommt. Gestern Abend haben wir alle beisammen gesessen und es schien alles in Ordnung zu sein.“

„Gut, Mutter, ich werde gleich zu Lucius aufbrechen, um herauszufinden, was los ist“, versprach Pavo. „Aber vorher bitte ich dich, mir etwas zu trinken zu geben.“

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Lucius war überrascht, als an der Seite seines Bruders, den er zu sich gebeten hatte, Pavo Antonius sein Arbeitszimmer betrat. Außerdem erwartete er noch sechs seiner Freunde, die er zu sich gebeten hatte, nachdem Selene ihm über eine ihrer Sklavinnen bestellt hatte, noch heute sein Haus zu verlassen.

„Willkommen, Schwager“, begrüßte er ihn erstaunt. „Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?“

„Man erzählte mir, dass du dich von Selene trennen willst“, erwiderte Pavo in ernstem Ton. „Darf ich den Grund hierfür erfahren? Schließlich bin ich ihr Bruder.“

„Aber natürlich“, gab Lucius zurück und forderte die beiden anderen dazu auf, sich auf einen der Stühle, die sich vor seinem Schreibtisch befanden, zu setzen. Dann fuhr er fort: „Dir ist sicherlich bekannt, dass ich einen männlichen Erben möchte. Leider waren die Götter deiner Schwester und mir in dieser Hinsicht nicht gewogen.“

„Nun ja… das verstehe ich schon“, murmelte Pavo betroffen. „Das also ist dein Scheidungsgrund, Lucius?“

„Ja, Schwager – es tut mir leid“, erklärte der Hausherr und schüttelte kaum merklich den Kopf, als er den erstaunten Blick Appius‘ auffing. Er hielt es für unangebracht, Selenes Ruf zu ruinieren, indem er ihrem Bruder etwas von ihrer Pflichtverletzung ihrer Tochter gegenüber erzählte. Sie würde es auch so schwer genug haben mit dem Makel, keine gesunden Kinder bekommen zu können. In mitleidigem Ton meinte Lucius deshalb: „Ich möchte mich in Freundschaft von ihr trennen – natürlich kann sie auch ihre gesamte Mitgift mitnehmen.“

„Gut“, sagte Pavo und nickte zufrieden. „Diese Sache wäre geregelt. Dann nehme ich meine Schwester also wieder unter meine Obhut. Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich warte, bis sie mit dem Zusammenpacken ihrer Habseligkeiten fertig ist?“

„Natürlich nicht, mein Lieber“, antwortete Lucius, erhob sich und lud Schwager und Bruder ein, mit ihm eine kleine Mahlzeit im Esszimmer einzunehmen. Dann klatschte er laut in die Hände und einer seiner Haussklaven erschien sofort.

„Bereitet ein leichtes Essen für etwa 10 Personen“, befahl er. „Ich erwarte noch sechs weitere Gäste.“

„Ja, Herr“, beeilte sich der Sklave zu sagen und eilte davon, um der Köchin diesen Auftrag zu erteilen. Währenddessen begleitete der Hausherr Appius und Pavo in das Esszimmer, befahl einem anderen Sklaven, die beiden Gäste zu bedienen, und entschuldigte sich dann, um Selene zu holen.

Wie er richtig vermutet hatte, fand er sie in ihrem Zimmer vor, dessen Tür weit offen stand. Sie kehrte dieser jedoch den Rücken zu und Lucius erkannte sogleich, dass sie still weinte. Um sich diesen unangenehmen Anblick zu ersparen, blieb er an der Schwelle stehen und winkte einen ihrer Sklaven, der ihn gerade sah, herbei. Sogleich kam jener heran und Lucius teilte ihm im Flüsterton mit: „Sage deiner Herrin, dass sie ihr Bruder im Esszimmer erwartet und sie nachher zum Hause ihrer Mutter zurückbegleiten wird.“

Der Sklave nickte, worauf Lucius sich rasch davonmachte. Sein Weg führte ihn erneut ins Gemach seiner Tochter. Diese war inzwischen wieder erwacht und strahlte, als sie ihn erblickte.

„Vater!“ rief Divia aus, worauf Melina sich erschrocken umdrehte, denn sie hatte ihn nicht reinkommen gehört.

„Würdest du uns allein lassen?“ wandte Lucius sich in freundlichem Ton an die junge Griechin. „Ich muss ein ernstes Wort mit meiner Tochter reden.“

„Natürlich“, hauchte Melina und erhob sich. Er streifte kurz ihren Arm und lächelte sie an.

„Ruh dich ein bisschen aus“, murmelte er ihr zu. Sie nickte und lächelte zurück, ehe sie das Zimmer Divias verließ. Diese blickte ihr mit leichtem Bedauern nach, doch die strenge Stimme ihres Vaters holte sie sogleich in die Gegenwart zurück.

„Jetzt, nachdem du dich allem Anschein nach gut erholt hast, kannst du mir sicher erklären, weshalb du dich deiner Mutter widersetzt hast, Divia!“

„Dafür hatte ich meine Gründe“, wich das Mädchen aus und sah ihrem Vater furchtlos in die Augen.

„Es ist sehr ungehörig, seiner Mutter nicht zu gehorchen!“ wies Lucius sie zurecht. „Wenn du mir keinen einsichtigen Grund für deinen Ungehorsam nennen kannst, werde ich dich streng bestrafen!“

Divia verzog ihren Mund nach unten und ihre Miene verriet deutlich, wie sehr ihr die Drohung ihres Vaters missfiel.

„Also gut…“, gab sie schließlich in murrendem Tonfall nach. „Ich habe Mutter nicht gehorcht, weil ich nicht wollte, dass sie Philine und Melina etwas antut.“

„Was?!“ entfuhr es Lucius überrascht und er runzelte verständnislos die Stirn. „Wie kommst du denn auf die Idee, dass deine Mutter den beiden etwas antun würde?“

„Sie hat es gesagt!“ erklärte Divia. „Sie hat damit gedroht, Philine auspeitschen zu lassen – und als Melina sich schützend vor sie stellte, hat Mutter sie so böse angesehen, dass ich befürchtete, sie würde ihr die gleiche Strafe angedeihen lassen.“

„Deine Mutter hat wirklich damit gedroht, Philine auspeitschen zu lassen?“

„Ja, Vater!“

„Und aus welchem Grund?“

„Mutter passte es nicht, dass Philine mir Fabeln von Aesop zu lesen gegeben hat.“

„Das ist wirklich unglaublich…“, murmelte Lucius, mehr zu sich selbst. Er schien erschüttert.

Divia beobachtete ihren Vater einen Augenblick und bemerkte zufrieden, dass sie wohl keine Strafe von ihm zu befürchten hatte. Stattdessen würde er nun wohl ihre Mutter wegen ihres Verhaltens gegenüber Philine, seiner Lieblingssklavin, zur Rede stellen. Sein nachdenklicher Blick verriet, dass sich seine Gedanken gerade nicht hier befanden. Divia erschien dies ein günstiger Zeitpunkt, um etwas zur Sprache zu bringen, das sie zwar nicht verstanden hatte, als sie das Gespräch zwischen ihrer Mutter und Großmutter belauschte, das ihr jedoch wie etwas erschien, von dem der Vater nicht besonders erfreut sein würde.

Die Zehnjährige setzte eine Unschuldsmiene auf und fragte zaghaft: „Vater?“

Zunächst schien Lucius es nicht gehört zu haben, deshalb wiederholte sie in einem etwas lauterem Ton: „Vater?“

„Ja, mein Kind?“ erwiderte der Hausherr und schien aus den Gedanken, die ihn eben noch gefangen hielten, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Er blickte seine Tochter aufmerksam an.

„Vater, ich habe etwas gehört, dass ich nicht verstehe…“

„So? Dann erzähl einmal. Vielleicht kann ich es dir erklären.“

„Vater, bitte sag mir: Was ist ein Bordell und was ist eine Kurtisane?“

Mit innerer Befriedigung nahm das Mädchen wahr, dass sein Vater bei dieser Frage unmerklich zusammenzuckte.

„Wo hast du denn solche Wörter gehört, Divia?“ fragte er mit nur schlecht unterdrückter Wut.

„Mutter hat davon gesprochen“, erwiderte die Kleine.

„Wie? Deine Mutter hat dir von solchen Dingen erzählt?!“ fragte er ungläubig.

„Nein, nicht mir. Aber ich saß nicht weit und spielte, als sie sich mit jemandem darüber unterhielt…“, behauptete das Mädchen, um seine Großmutter zu schützen.

„Sie unterhielt sich mit jemandem über so etwas?“

„Ja – und sie meinte, dass so etwas für dich gefährlich sein könnte“, sagte Divia. Sie erhielt keine Antwort, denn ihr Vater schien einen Augenblick sprachlos zu sein. Er wirkte tatsächlich sehr betroffen. Eigentlich tat er Divia ein klein bisschen leid, aber sie durfte jetzt nicht einfach aufhören, wo es so gut lief und sie ihre Mutter in einem schlechten Licht erscheinen lassen konnte.

„Ist es denn wirklich so gefährlich, in ein Bordell zu gehen?“ fragte sie deshalb.

„Ja… ja, es kann gefährlich sein…“, murmelte er.

„Warum ist ein Bordell gefährlich? Was ist das denn?“

„Du brauchst nicht zu wissen, was es ist, Divia!“ sagte er in strengem Ton.

„Und was ist eine Kurtisane?“

„Auch das ist nichts, was du wissen solltest!“

„Aber, Vater…“, protestierte sie schwach, wurde jedoch von ihm in äußerst strengem Ton unterbrochen: „Schluss jetzt! Ich will aus deinem Munde nie wieder etwas darüber hören! Hast du verstanden?!“

„Ja, Vater, entschuldige bitte!“ erwiderte das Mädchen und senkte ihren Blick. „Ich wollte dich nicht verärgern…“

„Schon gut“, brummte er.

Als einen Moment später die Tür aufging und Quella eintrat, war er beinah dankbar für ihre Anwesenheit.

„Ich bringe die Suppe für das Kind“, erklärte die Alte, worauf Lucius nickte und beiseite trat, damit sie sich auf den Rand des Bettes setzen und Divia die Suppe einflößen konnte.

„Gute Nacht, Divia“, verabschiedete er sich von seiner Tochter und ging hinaus.

Immer noch ein wenig fassungslos, dass seine Frau mit einer anderen Person über Bordellbesuche gesprochen hatte, ging Lucius langsam den Flur entlang. Mit wem sprach Selene über so etwas? Es passte ihm überhaupt nicht – und vor allem erfüllte es ihn mit Zorn, dass sie mit jemandem über ihn  sprach. Gewiss vermutete sie, dass er Bordelle besuchte, wenn er fern von zu Hause weilte… Nun ja, ihre Vermutungen waren eine Sache – doch es war etwas ganz anderes, wenn sie darüber mit einem anderen Menschen sprach!

Bei Jupiter! Selene war seine Ehefrau! Sie hatte den ehrenvollen Stand einer Matrona!

Und es gehörte sich einfach nicht für eine römische Matrona, über solche Themen zu sprechen, schon gar nicht im Zusammenhang mit ihrem Gemahl, der ihr Herr war und dem sie Respekt und Achtung schuldete. Eigentlich sollte es auch in ihrem Interesse liegen, seinen Ruf zu schützen – und ihn nicht dadurch zu beschmutzen, dass sie gegenüber einer anderen Person erwähnte, ihr Mann könne Bordelle besuchen und Umgang mit Kurtisanen pflegen…

Hatte Selene denn völlig den Verstand verloren?

Noch schlimmer empfand er es allerdings, dass ihre minderjährige, unschuldige Tochter etwas von einem derartigen Gespräch mitbekommen hatte. Darauf hätte Selene doch zumindest achten können, wenn sie sich schon gegenüber jemand anderem derart gehen ließ.

Aber es passte mal wieder in das Bild, das sein Bruder ihm von Selene gemalt hatte: Sie kümmerte sich nicht um ihre Tochter, da sie ihr gleichgültig zu sein schien.

Diese Geschichte bestätigte ihm nur die Richtigkeit seiner Entscheidung, sich von seiner Frau zu trennen. Er brauchte wahrhaftig kein schlechtes Gewissen deswegen zu haben…

 

Nachdem sie Divias Zimmer verlassen hatte, begab Melina sich in den Garten und setzte sich nachdenklich auf die Schaukel. Sie war immer noch tief erschüttert von dem, was sie über Selene erfahren hatte. Kaum zu glauben, dass eine Mutter zu so etwas fähig sein konnte… wie traurig das alles doch für Divia war. Kein Wunder, dass sie manchmal so ernst war und so wenig kindlich…

 

Ein wenig später betrat Selene ebenfalls den Garten, um sich etwas zu beruhigen, bevor sie mit ihrem Bruder zusammentraf. Weder er noch Lucius oder die anderen Anwesenden, die ohne Zweifel bereits eingetroffen waren, sollten sie in einem bemitleidenswerten Zustand sehen. Diesen Triumpf gönnte sie ihrem Ehemann nicht. Wenn er sie schon des Hauses verwies, dann wollte sie ihm mit stolz erhobenem Haupt entgegentreten und würdevoll diese Mauern verlassen, die doch jahrelang ihr Zuhause gewesen waren.

Zum Glück senkte sich langsam der Abend, so dass es dunkel sein würde, wenn sie ging. Auf diese Weise blieben ihr die peinlichen Blicke der Nachbarn erspart.

Erneut schluchzte Selene auf und wischte sich dann mit einem Tuch die Tränen aus dem Gesicht. Es war schwerer als sie dachte… und alles nur wegen dieser Melina mit ihren großen, dunklen Kuhaugen… sogar Divia liebte dieses fremde Mädchen mehr als sie… ach, ob sie ihre Tochter nach der Scheidung je wieder sehen würde…?

Selene ließ ihren Blick zu der Schaukel gleiten, die ihr Mann extra für Divia an der großen Eiche hatte anbringen lassen, und stutzte. Die Gestalt, die dort saß und ihren Kopf hängen ließ, konnte nicht ihre Tochter sein, dafür war sie zu groß.

Neugierig näherte sich Selene der Schaukel und erstarrte, als sie erkannte, dass es ihre verhasste Konkurrentin war. Diese schaute nun auf und schien ebenfalls erschrocken, als sie sah, wer vor ihr stand.

„Gratuliere, kleine Griechin, jetzt hast du es endlich geschafft!“ zischte Selene die junge Frau an.

„Was? Was habe ich geschafft?“ fragte Melina erstaunt. „Wovon sprecht Ihr?“

„Mein Mann jagt mich aus dem Haus! Er hat die Scheidung ausgesprochen!“ erklärte Selene wütend und funkelte das Mädchen böse an. „Das ist es doch, was du wolltest. Endlich kannst du Lucius für dich haben.“

„Es… es tut mir leid, dass Euer Mann sich von Euch trennt“, erwiderte Melina und schien ehrlich bestürzt zu sein. „Aber ich verstehe nicht, was ich damit zu tun haben soll.“

Selene lachte gehässig auf.

„Ach, komm! Tue bloß nicht so unschuldig!“ fuhr sie sie dann an. „Ich weiß nicht, was du mit meinem Mann getan hast. Als er nach Attika aufbrach, um den Aufstand niederzuschlagen, war zwischen uns noch alles in Ordnung! Doch in Athen muss etwas passiert sein! Sag mir, Griechin, hast du dich meinem Mann hingegeben? Über welche Künste verfügst du, dass du ihm dermaßen den Kopf verdreht hast? Dein kuhäugiger Unschuldsblick allein kann es ja nicht gewesen sein!“

„Ihr tut mir wirklich Unrecht, Matrona!“ verteidigte sich Melina. „Lucius hat mich und einige andere junge Griechen als Geiseln genommen. Mehr ist da nicht gewesen!“

„Du lügst! Du lügst!“ schrie Selene sie an. „Kaum bist du in Rom und in unserem Haus, verlangt Lucius die Scheidung! Zwischen euch muss etwas passiert sein!“

„Zwischen Lucius und mir ist nichts passiert, außer dass ich ihn auf der Reise hierher besser kennengelernt habe“, erklärte Melina in ruhigem Ton.

„Du kleine Lügnerin!“ zischte Selene sie erneut an. „Natürlich ist etwas zwischen euch passiert! Warum sonst sollte mein Mann plötzlich die Scheidung verlangen?!“

„Woher soll ich das wissen?!“ gab Melina kühl zurück und erhob sich. „Warum fragt Ihr ihn das nicht selbst?“

Ehe Selene darauf erneut etwas in wütendem Ton erwidern konnte, unterbrach ein lautes Klatschen das Gespräch zwischen ihr und Melina. Beide Frauen schauten erschrocken in die Richtung, aus der es kam und erblickten Lucius, der nun noch näher an sie herankam.

„Eine gute Antwort, Melina“, sagte er dann an die junge Frau gewandt und schenkte ihr den Hauch eines Lächelns. „Dieser wohl nicht ernst gemeinten Frage überaus angemessen. Wenn du nun bitte so freundlich wärst, mich mit Selene allein zu lassen? Dann könnten wir noch einige andere Dinge klären, die ihr auf der Seele zu liegen scheinen.“

Melina erhob sich von der Schaukel und eilte so rasch sie konnte ins Haus zurück. Lucius sah ihr hinterher und wandte sich, nachdem sie seinem Blick entschwunden war, wieder seiner Frau zu.

„So, Selene, du unterstellst mir also, eine Affäre mit Melina gehabt zu haben?“ fragte er lauernd.

„Ja…, ja, das tue ich!“ erwiderte sie heftig und starrte ihn unerschrocken an. „Sie allein ist der Grund dafür, dass du mir deine Zuneigung entzogen hast.“

„Unsinn, Selene! Schon lange, bevor ich nach Attika aufgebrochen bin, stimmte es zwischen uns nicht mehr – doch ich wollte es nicht wahrhaben.“

„Ach, du drehst es dir jetzt so zurecht, wie es dir am Besten passt!“

„Schluss jetzt mit diesen Unterstellungen!“ schrie er sie an. „Auf unserer Ehe ruht kein Segen! Wenn wir länger zusammenbleiben, werden wir noch unglücklicher und verbitterter.“

Selene schwieg und schaute ihn nur mit tränenverhangenem, anklagendem Blick an. Er erwiderte diesen sekundenlang, als sinniere er vor sich hin, dann begann er langsam wieder zu sprechen: „Divia erzählte mir, dass du Philine auspeitschen lassen wolltest. Ist das wirklich wahr?“

„Ja, denn sie gab mir Widerworte!“

„Wie kannst du es wagen, Weib?! Philine ist  meine  Sklavin, mein  Eigentum! Du hattest kein Recht dazu, ihr Strafe anzudrohen!“

„Das heißt es also gut, wenn eine deiner Sklavinnen mir widerspricht, Lucius?!“

„Ich bin wieder zu Hause, Selene, und du hättest mir sagen können, dass Philine dich deiner Meinung nach respektlos behandelt hat“, erklärte er streng. „Es obliegt allein mir zu entscheiden, ob und wie ich  meine  Sklavin bestrafe.“

„Schön, ich gebe zu, ich habe die Beherrschung verloren und einen Fehler gemacht“, erwiderte sie und wischte sich die letzten Tränen aus den Augen.

„Mir scheint, du konntest dich auch in anderer Hinsicht nicht beherrschen“, brummte er und schenkte ihr einen bösen Blick. „Denn sonst hättest du doch darauf geachtet, dass Divia nicht alle deine Gespräche mit anhört!“

„Was soll das heißen?“ fragte Selene verwundert und runzelte ihre Augenbrauen.

„Erklär mir doch einmal, woher meine Tochter die Begriffe  >Bordell<  und  >Kurtisane<  kennt!“ blaffte Lucius sie an.

Erschrocken wich Selene vor ihm zurück.

„Wie bitte?!“ entfuhr es ihr gleich darauf.

„Du hast schon richtig gehört, Weib! Divia wollte von mir wissen, was diese Begriffe bedeuten. Natürlich habe ich ihr verboten, diese Worte noch einmal in den Mund zu nehmen. Aber mich interessierte schon sehr, wo sie sie aufgeschnappt hatte… weißt du es, Selene?“

„Woher sollte ich das wissen? Vielleicht von irgendwelchen unserer Sklavinnen?“

„Nein! Aus deinem Munde!“

Entgeistert starrte Selene ihren Mann nun an.

„Sei nicht albern, Lucius! Ich habe so etwas nie in Gegenwart Divias erwähnt!“

„Meine Tochter behauptet das aber – und ich glaube ihr!“

„Es ist eine Lüge!“ schrie die Matrona auf. „Ich schwöre dir, Lucius, dass ich diese Worte niemals in Divias Gegenwart erwähnt habe! So glaub mir doch!“

Der Hausherr bedachte sie mit einem langen Blick und meinte dann in gedehntem Ton: „Warum sollte Divia Lügen über dich, ihre eigene Mutter, verbreiten?“

„Warum glaubst du Divia mehr als mir, Lucius? Wenn sie sagt, dass sie die besagten Worte aus meinem Mund gehört hat, dann lügt sie!“

„All dieses Gerede ist fruchtlos!“ meinte er ärgerlich und schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf. „Du wirst es ja doch nie zugeben! – Mach dich jetzt zur Abreise fertig! Ich schicke dir einen Sklaven in dein Gemach, sobald meine Gäste und ich gespeist haben. Danach wirst du mein Haus verlassen!“

„Gut, Lucius“, seufzte sie ergeben und senkte den Kopf. Sie wartete einige Minuten, bis ihr Mann gegangen war. Dann begab sie sich auch langsam wieder ins Haus…

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Sobald Melina sich wieder im Haus befand, machte sie sich auf in Richtung Küche, um zu fragen, ob die Suppe für Divia schon fertig sei. Dabei kam ihr Philine mit zwei vollgepackten Körben entgegen.

„Melina Aigikoreusa, Ihr seht aus, als sei Euch ein Gespenst begegnet“, meinte die Sklavin erschrocken und stellte die beiden Körbe auf die Erde. „Was ist passiert?“

„Die Matrona ist mir soeben im Garten begegnet und hat mir unterstellt, dass ich Schuld daran sei, dass Lucius sich von ihr trenne“, antwortete das Mädchen ohne Umschweife. „Dabei wusste ich gar nichts davon, bevor sie es mir erzählte.“

„Das müsst Ihr nicht so ernst nehmen, junge Herrin“, erwiderte Philine. Sie nahm die Körbe wieder auf. „Wartet bitte einen Augenblick hier auf mich. Ich will nur rasch diese Sachen hinunter in die Küche bringen. Die Köchin wartet darauf. Dann begleite ich Euch in Euer Gemach. Es wäre besser, wenn Ihr Euch dorthin zurückzieht, solange die Matrona das Haus noch nicht verlassen hat.“

Melina nickte, worauf die griechische Sklavin sofort in die Küche verschwand, aber nach einigen Minuten wiederkam und gemeinsam mit der jungen Frau in deren Zimmer ging. Dort angekommen, bat Melina sie: „Bitte, kommt herein und schließt die Tür hinter Euch. Ich muss etwas mit Euch besprechen, was mir schwer auf der Seele liegt.“

Philine kam dieser Bitte sofort nach und betrachtete die junge Dame mit besorgtem Ausdruck. Diese ging ein paarmal hin und her, was Philine schweigend mit ansah. Endlich blieb Melina in der Mitte des Raumes stehen, blickte die Sklavin ernst an und erklärte: „Divia hat mir vorhin eine Geschichte erzählt, die mich sehr erschüttert hat. Bitte, verzeiht, aber ich muss mit jemandem darüber sprechen, denn ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

„Aber natürlich!“ erwiderte die Griechin und nickte. „Was hat Divia denn gesagt?“

„Ihre Mutter…“, Melina stockte kurz, atmete tief ein und aus und sprach dann erst weiter: „Ihre Mutter soll… sie soll schuld sein am Tode ihrer kleinen Sklavin Liuba…“

„Ach, diese alte Geschichte also!“ entfuhr es Philine, dann wandte sie sich jedoch wieder besorgt an Melina: „Bitte, junge Herrin, das dürft Ihr nicht glauben, denn es stimmt nicht!“

„Was?!“ rief die junge Frau auf und starrte ihre Landsmännin entsetzt an. „Aber… aber ich kann nicht glauben, dass Divia sich so eine schlimme Geschichte ausgedacht hat.“

„Bitte, setzt Euch!“ forderte Philine sie in ruhigem Ton auf und wartete, bis Melina dieser Bitte nachgekommen war. Dann sagte sie: „Divia hat sich das auch nicht ausgedacht. Sie ist nur von dieser fixen Idee wie besessen. Sie hat eine sehr lebhafte Phantasie, müsst Ihr wissen, und regt sich schnell auf.“

„Das ist alles so seltsam“, murmelte die junge Griechin und schüttelte betrübt den Kopf. Dann wandte sie sich an die Sklavin. „Bitte, erzählt mir, wie sich die Geschichte von Liuba wirklich zugetragen hat. Was für ein Mensch war dieses kleine Mädchen?“

Philine lächelte und setzte sich nun auf den Stuhl neben Melina, ergriff deren Hand und drückte sie kurz, während sie begann zu erzählen: „Liuba war ungefähr in Divias Alter und ebenso lebhaft. Das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass der Patron sie als Spielgefährtin für seine Tochter mit ins Haus brachte. Die beiden verstanden sich auf Anhieb und stellten allerhand Unsinn an, versteckten zum Beispiel Kochtöpfe oder Lebensmittel… Na ja, es waren an sich harmlose Dinge. Aber es störte den reibungslosen Ablauf des Haushalts, was unsere Matrona nicht sehr erfreute. Sie ermahnte die beiden ein paarmal, keinen Unfug mehr zu treiben. Doch es nützte nichts, denn unser Herr lachte über die Streiche der Mädchen. Darum war es nur allzu verständlich, als die Matrona Divia und Liuba voneinander trennte, sobald ihr Gemahl wieder für längere Zeit zu einem Feldzug aufbrach. Aber Ihr dürft nicht glauben, dass die Matrona dies in böser Absicht tat, Melina Aigikoreusa. Vielmehr glaubte sie, die beiden kleinen Mädchen damit zur Ruhe bringen zu können. Natürlich rechnete sie damit, dass Divia heftig dagegen protestierte, von ihrer Freundin getrennt zu werden. Doch es überraschte sie sehr, dass auch Liuba sich dagegen wehrte, da sie nicht begriff, warum sie jetzt plötzlich nicht mehr mit Divia zusammen sein durfte, sondern in der Küche leichte Arbeiten verrichten sollte. Verärgert über einen derartigen Trotz erklärte die Matrona der Kleinen, dass sie nichts weiter sei als eine Sklavin und sich zu fügen hätte. Dennoch weigerte sich das Kind, in der Küche mitzuhelfen. Zur Strafe ließ die Herrin sie mit nackten Füßen draußen in der kleinen Hütte, in der sich die Gerätschaften zur Pflege des Gartens befanden, einen halben Tag einsperren. Der Boden ist nicht gepflastert, so dass Liuba mit der Zeit kalte Füße bekam.“

„Das ist unmenschlich!“ rief Melina aus und sprang vom Stuhl, um erneut im Zimmer auf und ab zu laufen. „Wie konnte Selene es nur über sich bringen, so etwas zu tun?! Diese Liuba war doch noch sehr klein, nicht wahr? Vermutlich verstand sie nicht einmal, was es bedeutete, eine Sklavin zu sein.“

„Ja, sie war noch sehr jung“, gab Philine zu. „Aber nach dem halben Tag in der Gartenhütte schien sie begriffen zu haben, dass sie nicht denselben Status hatte wie die Tochter des Hauses und fügte sich nun den Befehlen der Herrin ohne Widerrede.“

„Das arme, kleine Mädchen. Wie gedemütigt sie sich wohl gefühlt haben mag und wie schutzlos…“, murmelte Melina kaum hörbar. „Selene besitzt wohl keinen Funken Mitgefühl?“

„Junge Herrin, Ihr dürft nicht glauben, dass unsere Matrona böse ist, denn das ist sie nicht“, erklärte Philine in ernsthaftem Ton. Überrascht schaute die junge Griechin sie an.

„Das sagt Ihr, der Selene heute Peitschenschläge angedroht hat?“

„Die Herrin ist eine sehr stolze Frau und mag es überhaupt nicht, wenn man ihr widerspricht. Glaubt mir, sie hätte ihre Drohung niemals wahrgemacht“, behauptete die Sklavin. „Ich kenne die Matrona sehr gut und weiß, dass sie im Moment sehr, sehr unglücklich ist. Außerdem konnte sie noch nie besonders gut mit Divia umgehen, obwohl sie ihre Tochter liebt. Wenn man dies beides zusammennimmt, ist es durchaus verständlich, dass ihr Ärger über die Frechheit Divias sie ihre Selbstbeherrschung einen Moment vergessen ließ, denn sonst hätte sie niemals eine derartige Drohung gegen mich ausgestoßen!“

„Mir scheint, um die Selbstbeherrschung Selenes scheint es schlecht bestellt zu sein“, meinte Melina. „Wenn man bedenkt, dass sie sich schon über den Trotz eines kleinen Mädchens aufregt und dass sie dieses hilflose Kind dann noch quält, bis es stirbt…“

„Ich sagte Euch bereits, dass Divia in dieser Hinsicht übertrieben hat“, widersprach Philine. „Bitte, setzt Euch und hört Euch die Geschichte zu Ende an.“

Die junge Griechin ließ sich wieder auf ihren Stuhl nieder und blickte die Sklavin gespannt an. Diese erzählte nun weiter: „Liuba wurde am späten Nachmittag wieder aus der Gartenhütte herausgelassen und half nun ohne weiteres in der Küche mit. Darüber hinaus bat die Köchin das Mädchen, eine leichte Platte, auf der sich nur Gemüsebeilagen befanden, ins Esszimmer zu bringen. Danach solle sie zurückkommen, denn dann erhielte sie auch eine Abendmahlzeit und dürfe sich zur Ruhe begeben. Eifrig darum bemüht, ihren Trotz vom Vormittag wieder gutzumachen und in der Hoffnung, danach wieder zu Divia zu dürfen, trug Liuba die Gemüseplatte ins Esszimmer so schnell sie konnte. Als sie sie jedoch auf dem Tisch abstellte, stieß sie in ihrem Übereifer eine große Schüssel um. Das Unglück wollte es, dass sich die darin befindliche heiße Suppe über das Kleid eine der hochgestellten Freundinnen der Matrona ergoss. Natürlich war die Matrona darüber aufs Äußerste erbost und schenkte den Beteuerungen Liubas, dass dies nicht mit Absicht geschehen sei, keinen Glauben. Sie befahl einem ihrer Sklaven, das Mädchen mit zehn Stockschlägen auf die Fußsohlen zu bestrafen…“

„Das arme, kleine Mädchen musste also wegen solch eines Ungeschicks sterben?“ fragte Melina, deren Augen feucht schimmerten.

„Das ist Divias Version, nicht wahr?“ fragte Philine sanft und strich der jungen Frau sanft über den Arm. Diese nickte, worauf die Sklavin fortfuhr: „Nun, Divias Sichtweise entspricht nicht der Wahrheit. Zwar hatte Liuba einen kleinen Schnupfen und konnte wegen ihrer schmerzenden Füße am nächsten Tag nicht aufstehen, doch gestorben ist sie nicht.“

„Was?“ entfuhr es Melina. „Aber warum erzählt Divia etwas so Furchtbares?“

„Weil sie wirklich überzeugt davon ist. In ihrer lebhaften Phantasie hat sie sich ausgemalt, dass ihre kleine Sklavin an den Folgen der Stockschläge gestorben sei. Ich konnte ihr dies nicht ausreden.“

„Aber wie kommt sie denn nur darauf, Philine?“

„Hört Euch die Geschichte weiter an, junge Herrin“, antwortete die Sklavin und fuhr fort: „Am nächsten Tag wollte Divia natürlich wissen, was mit Liuba ist und suchte diese, entgegen dem Verbot ihrer Mutter, heimlich in der Kammer auf, in der die Haussklavinnen zu schlafen pflegen. Dort erzählte ihr ihre Freundin, was sich zugetragen hatte, worauf Divia sehr erbost war. Sie tröstete Liuba, so gut sie es vermochte, und ging danach sofort zu ihrer Mutter. Sie machte dieser die heftigsten Vorwürfe und bestand darauf, dass Liuba wieder mit ihr zusammen sein sollte, da sie schließlich ihre Sklavin sei, die ihr ihr Vater geschenkt hatte. Die Matrona wollte davon nichts wissen, rief ihren Lieblingssklaven und überließ es diesem, Divia aus dem Gemach herauszutragen. Er brachte sie in ihr Zimmer, wo er sie auf Befehl ihrer Mutter einschloss. Ihr könnt Euch vorstellen, wie wütend und verzweifelt Divia war, wie sie herumtobte und die übelsten Verwünschungen gegen ihre Mutter ausstieß und zwar so laut, dass man es im ganzen Haus hörte. Als sie auch nach einer Stunde von diesem Verhalten nicht abließ, hielt die Matrona es für richtig, den Medicus zu rufen und Divia von diesem durch ein starkes Schlafpulver ruhig stellen zu lassen. Allerdings war es ein schweres Stück Arbeit, da man zwei kräftige Sklaven benötigte, um das tobende und um sich tretende Kind festzuhalten, damit der Arzt ihm das Schlafmittel einflößen konnte. Doch danach schlief Divia zwei Tage hintereinander durch, ohne aufzuwachen. Diese Zeit nutzte ihre Mutter, um Liuba aus dem Haus zu schaffen und einem Sklavenhändler zum Verkauf anzubieten. So meinte sie, dass wieder Frieden im Haus einkehren würden, und glaubte, Divia würde sich auch wieder beruhigen. Aber als diese erwachte und erfuhr, dass ihre kleine Spielgefährtin wieder verkauft worden sei, wurde es noch schlimmer – aber das will die Matrona ja nicht wahrhaben. Denn Divia glaubt bis heute, dass ihre Mutter sie belogen habe und Liuba in Wirklichkeit gestorben sei.“

„Ja, und seitdem hasst sie ihre Mutter“, seufzte Melina. „Das ist alles so schrecklich! Wisst Ihr vielleicht, was aus Liuba geworden ist, Philine?“

Die griechische Sklavin schüttelte den Kopf.

„Und was hat Lucius dazu gesagt, als er heimkam und erfuhr, dass die kleine Sklavin, die er seiner Tochter schenkte, wieder verkauft worden war?“ wollte Melina wissen.

„Selene konnte ihn davon überzeugen, dass Liuba einen sehr schlechten Einfluss auf Divia hatte und sie sich deshalb gezwungen sah, dieses Mädchen wieder zu verkaufen“, erklärte Philine. „Da Divia zu dieser Zeit immer noch herumschrie und auf ihre Mutter schimpfte, sobald Liubas Name fiel, fand der Patron darin die Worte seiner Frau bestätigt. – Natürlich sagte er dies seiner Tochter nicht, sondern behauptete ihr gegenüber, dass er Liuba nicht wiederfinden könne…“

„Den beiden kleinen Mädchen ist furchtbares Unrecht angetan worden“, meinte Melina und wirkte überaus bedrückt. „Das sollte man nicht einfach so hinnehmen, zumal Divia ihre Mutter hasst und das nicht so bleiben darf. Daraus kann großes Unglück entstehen.“

„Ihr habt sicher recht, Herrin, aber was können wir dagegen tun?“

„Wir müssen Liuba finden und wieder mit Divia zusammenbringen. Wenn sie sieht, dass ihre Freundin lebt, könnten wir sie wahrscheinlich wieder mit der Mutter versöhnen, Philine.“

„Doch wie sollen wir Liuba finden? Sie könnte überall sein.“

„Man muss den Sklavenhändler fragen, an den Selene sie verkauft hat“, schlug Melina vor.

Philine schaute die junge Frau zweifelnd an und fragte: „Haltet Ihr es wirklich für eine gute Idee, nach Liuba zu suchen und sie hierher zurückzubringen?“

„Wir müssen sie finden!“ erklärte die junge Dame eindringlich. „Wir können Divia doch nicht in dem Irrglauben belassen, dass ihre Mutter den Tod dieses kleinen Mädchens verursacht hat. Vielmehr sollten wir alles dafür tun, um Divia mit ihrer Mutter zu versöhnen, damit kein Unheil entsteht. Ihr sagtet doch selbst, dass Selene ihre Tochter liebt.“

„Ja, das ist richtig! Und ich bin überzeugt, dass die Matrona es auch tut!“

„Dann helft mir dabei, Liuba wiederzufinden!“

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Selene saß wie auf glühenden Kohlen auf dem Bett, dass ihr lange Jahre als Schlafstatt gedient und in der sie manche glückliche Nacht mit Lucius verbracht hatte. Doch das würde wohl nie wieder so sein. Die Ehe zwischen ihnen war endgültig vorbei, wie der Scheidungsbrief deutlich bewies, den Lucius ihr vor etwa einer Stunde durch eine Sklavin überbringen ließ. Dennoch erschien es ihr immer noch unwirklich und sie wusste nicht, wie es mit ihr weitergehen würde. Insgeheim war sie Lucius dankbar, dass er sie so lange warten ließ.

Draußen war es mittlerweile dunkel geworden, so dass sie im Schutz der Nacht in das Haus ihrer Mutter zurückkehren würde.

Langsam sich nähernde Schritte ließen sie ahnen, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, in dem sich in der Empfangshalle wohl nun Lucius, seine Freunde und ihr Bruder versammelt hatten und sie erwarteten. Sie fühlte den Bund mit allen Hausschlüsseln, den sie fest in ihrer Faust umschlossen hielt, seufzte und erhob sich, noch bevor der Sklave die Schwelle der offenstehenden Tür erreichte.

„Herrin, Ihr werdet in der großen Halle erwartet“, sagte der Bedienstete leise und verneigte sich leicht.

„Ich bin gleich unten“, erwiderte sie, warf noch einmal einen Blick durch ihr Gemach und seufzte erneut. Sie kam sich vor, als würde man sie aus ihrem Zuhause vertreiben und letztendlich war es auch so. Sie wollte nicht weg… sie wollte nicht…

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Auch Lucius, der eigentlich von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt war, fühlte sich äußerst unwohl, als Selene endlich in die Empfangshalle trat. Sie hielt sich tapfer, das musste er anerkennen, aber er sah gleichzeitig, wie unglücklich sie war. Nun ja, eine Trennung nach so vielen Jahren war äußerst unangenehm und sicherlich fiel es ihr sehr schwer, das Haus zu verlassen, dem sie jahrelang als Herrin vorgestanden hatte.

Selene trat nun in die Mitte des Saales und Lucius stellte sich ihr gegenüber, während Appius, Pavo und seine Freunde einen Kreis um das Paar bildeten. Der Legatus zögerte einen kurzen Moment, schenkte seiner Frau nochmals einen intensiven Blick, den sie erwiderte, und er erkannte darin eine unendliche Trauer, die ihm selbst weh tat. Doch nun war nicht die Zeit für Sentimentalitäten, sondern für unerbittliches Handeln, um den Schmerz nicht unnötig zu verlängern.

„Nimm deine Sachen und geh!“ sagte Lucius laut zu Selene, streckte dabei gleichzeitig seinen rechten Arm aus und sprach weiter: „Gib zurück, was mein ist!“

Wie automatisch übergab die Matrona ihm den Bund mit den Hausschlüsseln, nickte ihm danach zu und begann langsam, auf die Haustür zuzuschreiten. Lucius starrte zu Boden und zwang sich, seiner langjährigen Gefährtin nicht nachzuschauen.

„Machs gut!“ hörte er seinen Schwager noch sagen, bevor dieser verschwand.

Eine Weile später meldete ihm sein Bruder: „Sie haben beide das Haus verlassen, Lucius.“

Nun endlich wagte der Legatus wieder aufzublicken, warf einen betrübten Blick auf Appius und seine Freunde und meinte dann: „Danke, dass Ihr Euch so schnell dazu bereit gefunden habt, als Zeugen für diesen traurigen Anlass zu fungieren. Lasst uns jetzt noch einen Becher zusammen leeren.“

„Das ist ein Wort, Lucius!“ meinte sein Freund Flavius Senior in jovialem Ton. „Ein gutes Tröpfchen wird auch dich auf andere Gedanken bringen!“

„Genau!“ bestätigte ein anderer der Offiziere die Worte des alten Flavius.

Mit schmerzlichem Lächeln nickte der Hausherr und lud sie alle erneut ins Esszimmer ein. Dieser Aufforderung folgten die Freunde, während er und Appius mit langsamen Schritten hinterhergingen.

„Du siehst aus, als hättest du in eine saure Zitrone gebissen, Bruderherz“, murmelte der Rechtsgelehrte.

„Es ist nicht gerade leicht, jemanden aus dem Haus zu weisen, der einem nahe steht“, brummte Lucius. „Selbst, wenn ich davon überzeugt bin, das Richtige getan zu haben.“

„Das hast du, mein Lieber“, meinte Appius leise. „Manche Entscheidungen sind halt nicht leicht, aber sie müssen getroffen und dann in die Tat umgesetzt werden. Glaub mir, es war richtig von dir, die Scheidung ausgesprochen zu haben.“

„Ja, ja, das war es gewiss!“ erwiderte Lucius in ungeduldigem Ton, obwohl ihn ein unangenehmes Gefühl beschlich. Wie seltsam, dass Selene fort war und nie wieder herkommen würde… ihm kam sein Haus mit einem Mal verwaist vor, als ob ein wichtiges Teil verloren gegangen sei…

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Vom Fenster des oberen Stockwerks im Flur aus beobachteten Melina und Philine, wie sich die kleine Sänfte Selenes, angeführt von einem gut gekleideten Römer auf einem Rappen und von zwei kräftigen Männern getragen, in Bewegung setzte. Ihnen folgte ein Tross von Sklaven, die einen größeren Wagen hinter sich her zogen, in dem sich die Dinge Selenes befanden.

„Was für ein trauriger Abend“, seufzte die junge Griechin leise.

„Ja“, murmelte Philine. „Ich hätte niemals gedacht, dass sich die beiden trennen.“

Sie schwieg und bedachte Melina mit einem intensiven Blick, ohne dass die junge Frau es bemerkte.

„Ihr habt noch nichts gegessen, Herrin“, meinte die Sklavin dann. „Soll ich Euch etwas aus der Küche holen?“

„Nein, danke, ich möchte nichts“, antwortete Melina. Sie starrte weiterhin Selene und ihren Begleitern hinterher. Dann fiel ihr ein, dass Divia von all diesen Ereignissen ja noch nichts wusste. Es war wohl auch besser, sie mit dieser Neuigkeit für heute zu verschonen. Wenn sie es morgen erfuhr, würde es bestimmt schmerzlich genug sein…

„Ihr müsst etwas essen, Herrin“, sagte Philine in diese Gedanken hinein. „Ich verstehe, dass Ihr heute Abend nicht im Esszimmer erscheinen wollt. Deshalb werde ich Euch eine Kleinigkeit aus der Küche besorgen, das Ihr in Eurem Gemach einnehmen könnt. Wartet dort einen Augenblick auf mich.“

Die griechische Sklavin verschwand sofort nach unten, ohne dass Melina sie daran hindern konnte. Sie blickte ihr einen Moment nach, dann lief sie, einer Eingebung folgend, in ihr Zimmer, nahm eine ihrer beiden Puppen, die sie auf einem Schemel platziert hatte, und machte sich damit eiligen Schrittes auf zu Divias Zimmer.

Sie fand das Kind im Bett sitzend vor, wie es aufmerksam den Worten Quellas lauschte, die ihm gerade eine ihrer Geschichten erzählte. Doch kaum erblickte die Zehnjährige sie, rief sie erfreut aus: „Melina! Komm her zu mir! Ich habe dich schon vermisst!“

Quella, die sich bei den Worten Divias sofort umgedreht hatte, schien erleichtert.

„Ach, mein Lämmchen! Wo seid Ihr denn nur so lange gewesen?“ fragte sie, doch es klang keineswegs vorwurfsvoll, sondern eher besorgt. „Geht es Euch auch gut, Herrin?“

„Ja, Quella, mach dir keine Sorgen. Ich war nur ein wenig draußen im Garten, um frische Luft zu schnappen“, erklärte die junge Frau, wandte sich dann dem Kind zu, dem sie sich näherte, um sich gleich darauf auf dessen Bettrand niederzulassen und ihm die Puppe in die Arme zu drücken. „Das war ein Geschenk meiner Mutter, Divia, und nun schenke ich sie dir. Bitte, behandle sie gut. Versprichst du mir das?“

Die Zehnjährige schaute sie erst erstaunt an, dann glitt langsam ein Lächeln über ihre Züge. Sie drückte die Puppe fest an ihre Brust, während sie Melina anstrahlte.

„Vielen Dank!“ hauchte Divia, immer noch überwältigt von dieser Geste. Sie ahnte, dass es ihrer Freundin nicht leichtgefallen sein musste, ihr diese Puppe zum Geschenk zu machen, da dieses Spielzeug einen überaus großen Wert für Melina besaß. Wenn sie es ihr jetzt gab, um ihr eine Freude zu machen, musste sie sie sehr gernhaben.

„Danke!“ sagte Divia noch einmal. „Ich weiß, was die Puppe dir bedeutet und werde sie deshalb immer in Ehren halten; das verspreche ich.“

Die junge Griechin lächelte und strich dem Mädchen dann unwillkürlich über die Wange, während sie fragte: „Hast du auch brav deine Suppe gegessen?“

„Natürlich!“

„Dann ist es ja gut“, meinte Melina und streichelte gedankenverloren eine Hand des Kindes. „Schlaf jetzt, Divia. Ich wünsche dir eine Gute Nacht und angenehme Träume.“

„Ich bin noch nicht müde“, sagte das Mädchen und sah sie bettelnd an. „Quella hat gerade mit einer Geschichte angefangen. Bitte, bleib doch noch ein bisschen, damit wir sie zusammen hören können.“

„Also gut“, gab Melina nach und schaute zu ihrer alten Amme, die neben dem Bett auf einem Schemel saß und auch recht zufrieden wirkte. „Wärst du so freundlich, mit deiner Erzählung fortzufahren, Quella?“

„Gern, Herrin, aber wenn Ihr erlaubt, fange ich noch einmal an“, erwiderte die Alte. Als Melina nickte, begann sie: „In einer großen Stadt lebte einst eine ehrbare Dame zusammen mit ihrem Mann, einem reichen Händler. Das Ehepaar besaß eine kleine Tochter, die es liebte und deshalb maßlos verwöhnte. Das Kind hatte ein eigenes Zimmer und darüber hinaus das Glück, von einer Sklavin im Lesen, Schreiben, Rechnen und noch einigen anderen Dingen unterrichtet zu werden. Niemand verlangte, dass dieses Mädchen der Mutter im Haushalt zur Hand ging. Doch es wusste sein Glück nicht zu schätzen und verweigerte der Mutter, wenn der Vater nicht zu Hause war, oftmals den Gehorsam.“

„Quella!“ unterbrach Melina sie, da sie ahnte, von wem ihre Amme sprach.

„Ja, Herrin?“ fragte die Alte arglos.

„Du kannst doch nicht diese Geschichte erzählen!“ ermahnte die junge Frau sie.

„Warum denn nicht?“ wollte Divia daraufhin neugierig wissen. „Ist es eine schlimme Geschichte?“

„Was heißt schon schlimm?“ meinte Quella mit Unschuldsmiene. „Es ist eine Geschichte, die lehrreich ist… so ähnlich wie die Fabeln, die du uns heute vorgelesen hast.“

„Oh, dann will ich sie hören!“ rief das Mädchen begierig aus. „Erzähl weiter!“

„Gern!“ erwiderte die Alte und wollte gerade dazu ansetzen, als sich Melina in strengem Ton an sie wandte: „Nein, Quella! Ich möchte nicht, dass du sie erzählst!“

„Aber warum denn nicht, Herrin? Es ist sicherlich sehr interessant für Divia und ich hoffe, dass sie darüber nachdenkt.“

„Ich verbiete dir, Divia solch eine Geschichte zu erzählen!“

„Es ist wirklich ganz harmlos“, versicherte Quella.

Die Tür ging auf und Philine erschien an der Schwelle.

„Hier haltet Ihr Euch also auf, Melina Aigikoreusa“, stellte sie freundlich fest. „Ich habe Euch eine kleine Mahlzeit auf Euer Zimmer gebracht.“

„Danke!“ sagte die junge Frau und wandte sich dann wieder in strengem Ton an ihre Amme. „Begleite mich in mein Gemach, Quella!“

„Aber ich will die Geschichte hören, Melina!“ protestierte daraufhin Divia lautstark.

Die junge Griechin fühlte plötzlich einen schmerzhaften Krampf im Bauch und schlang unwillkürlich die Arme darum.

„Was ist Euch, Herrin?!“ rief Quella sofort erschrocken aus und sprang von ihrem Schemel hoch. Auch Divia schien besorgt zu sein und ließ ihre Freundin nicht aus den Augen.

„Nichts… nichts…“, murmelte Melina. „Mir ist nur nicht gut…“

„Das wundert mich nicht, denn Ihr habt seit heute Morgen nichts mehr zu Euch genommen“, meinte Philine.

„Ich habe keinen Hunger“, erwiderte die junge Frau, während erneut ein sehr schmerzhafter Krampf sie heimsuchte und ihr nun Tränen in die Augen traten. „Bitte, Quella, bring mich in mein Zimmer. Wenn ich mich erst hingelegt habe, wird es mir sicher besser gehen.“

„Natürlich, Herrin!“ sagte die Alte und wartete darauf, dass Melina sich erhob. Diese tat es sehr langsam, denn während sie aufstand, fühlte sie ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Bauch, das gar nicht verschwinden wollte. Philine eilte an die Seite der jungen Frau und half ihr dabei, bis sie endlich wieder auf den Beinen stand. Nun fand sich auch Quella an der anderen Seite ihrer Herrin, um diese nötigenfalls zu stützen. Die drei setzten sich gerade in Bewegung, um das Zimmer zu verlassen, als ein lauter Schrei Divias sie zurückhielt und dazu brachte, sich nach dem Kind umzudrehen. Dieses deutete auf die Stelle, auf der Melina gerade noch gesessen hatte und murmelte ängstlich: „Blut… Blut…“

„Oh, Himmel! Ich muss sterben!“ entfuhr es der jungen Frau, während sie auf den großen, roten Fleck starrte, der auf jener Stelle prangte, auf die Divia immer noch zeigte. Dann fuhr erneut ein krampfhafter Schmerz durch ihren Bauch und sie hatte das Gefühl, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren, aber Quella und Philine hielten sie aufrecht. Sie sagten auch irgendetwas zu ihr, aber der Sinn der Worte erreichte sie nicht…

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Lucius‘ Freunde hatten sich bereits alle verabschiedet, so dass der Hausherr sich nun allein mit seinem Bruder im Esszimmer befand. Ihre Unterhaltung wurde durch das plötzlich einsetzende Geschrei, das aus dem ersten Stock zu hören kam, gestört.

„Was ist denn nun schon wieder los?“ brummte Lucius und erhob sich unwillig, um nach dem Rechten zu sehen. Als er aus dem Esszimmer trat, sah er Philine aufgeregt die Treppe hinuntereilen.

„Sag mir, was passiert ist!“ forderte er sie in einem so lauten Ton auf, dass die Sklavin es nicht überhören konnte. Sie blieb sofort stehen und sah ihn erschrocken an. Dann erklärte sie atemlos: „Bitte, entschuldigt, Herr, aber ich muss mich dringend um Melina Aigikoreusa kümmern. Sie ist ohnmächtig geworden.“

Lucius‘ ärgerliche Miene verwandelte sich sofort in eine besorgte und er fragte: „Aus welchem Grund? Hat sie sich vielleicht verletzt?“

„Nein, Herr, es ist halb so schlimm“, beruhigte ihn Philine. „Ich glaube, sie hat sich nur erschrocken… Ich erkläre es Euch später, Herr!“

Mit diesen Worten ließ sie Lucius stehen und eilte in die Küche. Wenig später kam sie mit mehreren Handtüchern und in Begleitung einer zweiten Sklavin, die eine große Waschschüssel trug, von dort wieder und ging raschen Schrittes die Treppe hinauf.

Voller Unruhe im Herzen folgte er ihnen bis in Melinas Zimmer. Die junge Griechin lag in ihrem Bett, scheinbar immer noch bewusstlos, während ihre alte Sklavin neben dem Bett kniete und weinte. Divia stand daneben und weinte ebenfalls. Den Grund hierfür konnte Lucius schlecht übersehen, denn Melinas Kleid sowie das Bettlaken waren blutbefleckt.

„Der rote Mond?“ fragte er sofort, worauf Philine sich erschrocken umwandte, denn sie hatte nicht bemerkt, dass er ihnen gefolgt war. Doch sie gewann gleich ihre Fassung zurück und nickte. Seine Augen weiteten sich. „Aber was ist mit Melina? Sollten wir nicht den Medicus holen?“

„Aber nein, Herr“, versicherte die Sklavin. „Es besteht kein Grund zur Sorge.“

„Warum ist sie dann ohnmächtig?“

„Es ist das erste Mal für die junge Dame – und es kam überraschend für sie“, erklärte Philine. „Bitte, glaubt mir, Melina Aigikoreusa schwebt nicht in Lebensgefahr.“

„Und da bist du dir auch wirklich ganz sicher?“ fragte Lucius.

„Ja, Herr, seid unbesorgt. Wir kümmern uns um die junge Dame und danach wird es ihr gewiss besser gehen“, erwiderte die griechische Sklavin. „Bitte, würdet Ihr uns nun allein lassen, Herr?“

„Ja, natürlich“, murmelte er, warf dabei einen Blick auf seine Tochter und Quella und befahl: „Bring Divia auf ihr Zimmer, Alte!“

Schluchzend klammerte sich Quella daraufhin an Melina fest. Philine, die Mitleid mit ihr empfand, wandte sich an die Sklavin neben ihr und sagte leise: „Bring Divia weg und beruhige sie.“

Lucius, der es gehört hatte, nickte und verließ dann den Raum. Er ging zurück ins Esszimmer, in dem sein Bruder bereits auf ihn wartete.

„Was ist passiert?“ fragte Appius und blickte ihn gespannt an.

Der Legatus ließ sich wieder auf seine Liege nieder und antwortete dann: „Melina ist jetzt heiratsfähig.“

„War sie das denn vorher nicht auch schon?“ wunderte sich der Rechtsgelehrte.

„Laut Aussage ihrer alten Sklavin und Philines wohl nicht“, meinte Lucius.

Über Appius‘ Züge glitt ein Lächeln.

„Darauf sollten wir trinken, Bruderherz“, sagte er dann und hob seinen Becher. „Ein eindeutigeres Zeichen, dass die Verbindung zwischen dir und Melina von den Göttern gutgeheißen wird, kann es nicht geben.“

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Melina erwachte erst allmählich wieder aus ihrer Ohnmacht, als Philine und Quella sie gerade gereinigt und ihren Unterleib mit einigen Tüchern umwickelt hatten.

„Was ist nur los mit mir?“ fragte sie ängstlich und blickte von einer zur anderen. „Warum fließt Blut aus meinem Körper? Werde ich sterben?“

„Aber nein, Herrin“, antwortete Philine und lächelte sie an. „Ihr seid jetzt eine Frau.“

„Eine Frau?“ echote Melina erstaunt.

„Ihr seid nun heiratsfähig, mein Lämmchen“, erklärte daraufhin Quella und begann zu schluchzen. „Sobald ein Mädchen zu bluten beginnt, ist es erwachsen… Ihr seid nun erwachsen, mein armes Kind.“

„Hör auf, deiner jungen Herrin Angst zu machen“, wies Philine sie streng zurecht. Dann wandte sie sich wieder mit ruhiger Stimme an Melina: „Anscheinend hat Euch niemand davon erzählt, dass eine erwachsene Frau von Zeit zu Zeit Blut ausscheidet. Das ist völlig normal und braucht Euch nicht zu beunruhigen. Es ist ein Zeichen dafür, dass Ihr nun Mutter werden könnt. Ihr seid jetzt heiratsfähig.“

Die junge Griechin schien erleichtert, als sie das hörte.

„Ruht Euch ein paar Tage aus, dann geht’s Euch wieder besser“, sagte Philine und drückte die Hand Melinas, die sie dankbar anlächelte.

„Wie geht es Divia? Ich fürchte, sie ist genauso erschrocken wie ich“, meinte die junge Frau dann.

„Ostra kümmert sich bereits um sie, aber wenn Ihr erlaubt, würde ich auch gern nach ihr sehen“, antwortete die griechische Sklavin. „Darf ich Euch mit Eurer Dienerin allein lassen?“

„Natürlich, sie bedarf gewiss mehr Eurer Hilfe als ich“, erwiderte Melina.

Philine verneigte sich leicht, nahm dann die Schüssel und verließ das Zimmer. Quella wartete, bis sie die Schritte der griechischen Sklavin nicht mehr hörte und wandte sich dann wieder an Melina, deren beide Hände sie ergriff.

„Ach, Herrin, was für einen üblen Scherz treiben die Götter nur mit uns“, seufzte die Alte. „Ausgerechnet an dem Tag, an dem die Matrona aus dem Haus gewiesen wurde, ereilt Euch der rote Mond.“

„Das also hast du gemeint, wenn du mir von dem roten Mond erzählt hast, der mich eines Tages heimsuchen würde“, murmelte Melina. „Warum hast du mir nie gesagt, dass es sich dergestalt zeigt, dass mein Unterleib plötzlich von heftigen Krämpfen heimgesucht wird und dann blutet? Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich hatte solche Angst zu sterben.“

„Ach, mein Lämmchen, ich habe nicht damit gerechnet, dass es schon geschieht. Bitte, verzeiht mir“, flehte Quella. „Aber es besteht kein Grund, sich deswegen zu ängstigen. Diese Unpässlichkeit sucht Euch nur einmal im Monat heim entsprechend dem Zyklus des Mondes. Ihr solltet Euch vielmehr vor dem Legatus fürchten.“

„Aus welchem Grund?“ fragte Melina erstaunt.

„Er hat seine Frau weggeschickt und er weiß, dass Ihr nun erwachsen seid.“

„Na und?“

„Ach, mein Lämmchen, seht Ihr denn nicht die Gefahr, in der Ihr schwebt? Die Zeit der Kindheit ist nun vorbei und ich fürchte, er wird bald sein wahres Gesicht zeigen.“

„Sein wahres Gesicht? Wie sieht dies deiner Meinung nach aus, Quella?“

„Er plant, Eure Ehre zu beschmutzen und damit die Eurer Familie, Herrin!“

„Hör endlich auf, solch einen Unsinn über Lucius zu sagen! Er ist überaus freundlich und wird mir nie etwas Böses antun“, behauptete Melina mit fester Stimme.

„Oh, mein armes Kind, Ihr wisst nicht, wozu Menschen imstande sind“, jammerte Quella. „Es wäre viel besser, von hier zu fliehen.“

„So? Und wohin sollen wir fliehen?“ fragte die junge Frau ungeduldig. „Etwa nach Athen, zu meinem Vater?“

„Ja, das wäre das Beste“, beeilte Quella sich, diesen Faden aufzunehmen. „Er wird uns sicherlich gut vor den Römern zu verstecken wissen.“

„Einmal abgesehen davon, dass es äußerst schwierig für uns wäre, unerkannt und unbehelligt aus Rom herauszukommen... Weißt du, welche Folgen unsere Flucht haben würde?“

„Ihr wärt in Sicherheit, Melina.“

„Das nimmst du an, Quella, obwohl nicht sehr viel für diese Annahme spricht“, erwiderte die junge Griechin und schüttelte den Kopf. „Nein, ein Fluchtversuch meinerseits hätte höchst wahrscheinlich zur Folge, dass man einen meiner Brüder oder sogar alle beide töten wird.“

Quella schwieg betroffen. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht.

„Dann erwägt Ihr vermutlich nicht einmal einen Fluchtversuch?“ fragte die Alte leise.

„Nein, ich werde auf gar keinen Fall etwas tun, das das Leben meiner Geschwister gefährdet“, bestätigte Melina. „Und nun hör endlich auf damit, schlecht über Lucius zu sprechen. Du hast nur Vorurteile gegen ihn, weil mein Vater dir das eingeredet hat. Ich kann keine großen Unterschiede sehen zwischen ihm und einem griechischen Edelmann.“

„Nun gut, wenn Ihr es wünscht, werde ich schweigen“, seufzte die Amme. „Aber seht Euch dennoch vor, Herrin! Lucius Marcellus ist ein Mann.“

„Gute Nacht, Quella!“

 

 

 

 

 

Es vergingen ein paar Tage, ehe Melina wieder aus ihrem Gemach treten konnte. Philine hatte ihr nämlich erklärt, dass sie sich während ihrer  >Mond-Tage<  dort aufzuhalten habe und es auch besser sei, wenn sie sich ausruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Denn durch den Blutverlust sei sie bestimmt geschwächt.

Seit der rote Mond sie überrascht hatte, ließ Lucius ihr jeden Morgen frische Aprikosen servieren, die er extra für sie hatte besorgen lassen. Besonders die letztere Geste zeigte Melina überdeutlich, wie gern der Legatus sie haben musste, wusste sie doch, wie teuer diese Früchte waren. Allerdings wunderte sie sich darüber, dass weder er noch Divia sie in ihrem Zimmer besuchten.

„Philine, warum lässt Lucius sich nicht bei mir sehen?“ hatte sie am zweiten Tag gefragt, worauf die Angesprochene mit bedauerndem Lächeln erklärte: „Das Blut, welches Ihr jetzt vergießt, ist eigentlich dazu bestimmt, dass neues Leben sich daraus entwickelt. So lange das jedoch nicht der Fall ist, wird dieses Blut jeden Monat Euren Körper verlassen. Aber es ist dann giftig, besonders für Männer. [1] Deshalb hält sich der Patron derzeit von Euch fern und möchte auch nicht, dass Divia zu Euch kommt, denn sie ist noch ein Kind. Für erwachsene Frauen hingegen ist es ungefährlich.“

„Was ist mit Quella? Ich habe sie seit gestern nicht mehr gesehen.“

„Eure Dienerin kümmert sich auf Befehl des Herrn um Divia, und da sie dabei engen Kontakt mit dem Kind pflegt, möchte er nicht, dass sie derzeit mit Euch in Berührung kommt.“

„Ich verstehe“, wisperte Melina traurig. „Wie lange muss ich denn so isoliert bleiben?“

„Nur einige Tage“, erwiderte Philine. „Glaubt mir, Herrin, es ist alles halb so schlimm und die Ruhe, die Ihr nun habt, wird Euch gut tun.“

 

Dank Philine hatte sich auch Divia, die sehr besorgt um Melina gewesen war, rasch wieder beruhigt. Die Sklavin erklärte dem Kind, dass die Blutung ein Zeichen dafür wäre, dass Melina nun erwachsen sei und heiraten könne. Eine Gefahr hätte für die junge Dame niemals bestanden.

„Sie kann heiraten?“ fragte Divia erschrocken. „Bedeutet das etwa, dass sie uns jetzt verlässt?“

„Nein, jetzt sicher noch nicht“, meinte Philine. „Außerdem hat Euer Vater in dieser Hinsicht ein Wörtchen mitzureden. Macht Euch also keine Sorgen, liebes Kind. Ich denke, Melina bleibt gewiss noch ein ganze Weile bei uns im Haus.“

Die Zehnjährige war mit dieser Erklärung äußerst zufrieden. Noch mehr aber erfreute sie die Nachricht, dass ihr Vater sich von ihrer Mutter getrennt hatte.

Divia empfand das im Nachhinein als die gerechte Strafe dafür, was ihre Mutter Liuba angetan hatte. Im Endeffekt hatte es dieser also nichts genützt, dass sie ihr die Freundin genommen und Vater über diese belogen hatte. Nun war der Wölfin also die Macht entzogen worden, bevor sie ihr noch mehr Schmerz zufügen und ihr ihre neue Freundin Melina fortnehmen konnte.

Seit Divia sich erinnern konnte, war ihre Mutter nicht besonders freundlich zu ihr gewesen. Meistens hatte sie sich nicht dafür interessiert, was sie machte und wie es ihr ging. Wenn sie des Nachts schlimme Träume hatte, kam nicht etwa Mutter zu ihr, um sie zu trösten, sondern Philine.

Besonders die Erinnerung, als sie als kleines Mädchen beim Herumlaufen im Garten hingefallen und sich das Knie aufgeschürft hatte, so dass es ein wenig blutete, war Divia im Gedächtnis geblieben. Damals war sie noch sehr klein und über das Blut so erschrocken, dass sie darüber zu weinen begann und nach der Mutter gerufen hatte.

Schmerzlich erinnerte sie sich daran, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, von der Mutter in den Arm genommen und getröstet zu werden.

Ihre Mutter kam damals auch gleich angerannt, um nachzuschauen, was passiert war. Aber kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen und gesehen, dass es sich lediglich um eine kleine Wunde handelte, meinte sie nur kühl: „Es ist ja nichts, Divia. Stell dich nicht so an!“

Mutter half ihr nicht einmal beim Aufstehen, sondern rief eine Sklavin, die sich dann ihrer annahm. Ja, so hatte Mutter es immer gemacht: Statt sie selbst zu trösten, überließ sie es lieber verschiedenen Sklavinnen, sich um sie zu kümmern. Mit der Zeit zog sie daher die Gesellschaft dieser Bediensteten der ihrer eigenen Mutter vor, da sie bei diesen Frauen die Geborgenheit fand, nach der sie sich so sehnte.

Divia erklärte sich das Verhalten ihrer Mutter damit, dass sie nicht der Sohn war, den diese sich ersehnte. Darum begegnete Mutter ihr oft auch mit Gleichgültigkeit bis Lieblosigkeit, wobei Divia oftmals das Gefühl hatte, als wolle sie sie dafür bestrafen, dass sie kein Knabe war. Und da Mutters Wunsch nach einem Sohn nicht in Erfüllung ging, durfte auch die eigene Tochter nicht glücklich sein – nur deshalb missgönnte sie ihr eine liebe Freundin, nur deshalb hatte sie ihr Liuba genommen und nur deshalb konnte sie Melina nicht leiden.

Oh, wie sehr sie diese Wölfin hasste! Und wie froh sie war, dass Vater diese endlich aus dem Haus getrieben hatte. Hoffentlich begegnete sie ihrer Mutter nie wieder.

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Wie an so vielen Morgen zuvor war Theodoros Aigikoreus auch an diesem voll resignierter Trauer erwacht. Doch heute fühlte er sich noch verzweifelter als sonst, denn er hatte von seiner geliebten Tochter geträumt. Zunächst war es ein schönes Bild gewesen: Melina lief in einem weißen Kleid barfuß und mit offenen Haaren lachend über eine grünblühende Wiese. Als er ihr zuwinkte, winkte sie zurück und rief: „Vater, es geht mir gut!“

Er breitete seine Arme aus und eilte auf sie zu, wollte sie umarmen und wieder nach Hause bringen. Seine Melina, sein kleines Mädchen, sein süßer Augenstern…

Doch plötzlich verdunkelte sich der Himmel; ein Blitz fuhr auf die Erde genau zwischen ihn und seine Tochter, die sich erschrocken abwandte und zu Boden sank, wo sie sitzen blieb. Dann fiel Regen herab, ein purpurfarbener Regen… und er sah voller Angst, wie sich Melinas Kleid blutrot färbte.

„Komm, Töchterchen, komm schnell nach Hause!“ rief er ihr zu und reichte ihr seine Hand.

Melina blickte nun zu ihm auf und schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht, Vater“, sagte sie leise und schien beinahe zu weinen.

„Warum nicht, mein Augenstern?“ wollte er wissen.

„Hast du es schon vergessen, alter Mann?!“ hörte er plötzlich jene verhasste Stimme, die er immer wieder erkennen würde. Als er aufblickte, stand  er  vor ihm – er, Legatus Lucius Marcellus, der Kinderräuber  -  er stand mit stolz erhobenem Haupt vor ihm und grinste, während er sein Schwert vor die Brust hielt

„Falls du es vergessen haben solltest, alter Mann“, ließ Lucius sich wieder vernehmen. „Deine Tochter gehört jetzt mir… sie gehört mir allein…“

„Was hast du ihr angetan, du Hund?!“ schrie Theodoros ihn an.

„Noch nichts, alter Mann!“ erwiderte der Römer.

Der griechische Edelmann sah daraufhin wieder mit besorgtem Blick auf seine Tochter herab und fragte leise: „Was hat er dir getan, Melina?“

„Ach, Vater, er ist freundlich zu mir“, entgegnete sie ihm mit leichtem Lächeln. „Er hat mir nichts angetan, er ist überaus gütig.“

„Bitte, mein Augenstern, sag mir die Wahrheit“, meinte er in sanftem Ton zu ihr. „Was hat er dir angetan?“

„Er hat mir nur Gutes getan, Vater“, behauptete Melina erneut. „Das ist die Wahrheit.“

„Und warum ist dein Gewand dann rot von Blut, meine Tochter?“

„Es ist der rote Mond, Vater, weiter nichts…“

„Der rote Mond…?“ wiederholte Theodoros und versuchte, den Sinn dieser Worte zu erfassen.

„Ja, alter Mann“, meldete sich nun wieder Lucius Marcellus zu Wort. Er schenkte dem Griechen ein spöttisches Lächeln und fuhr dann fort: „Deine Tochter ist jetzt heiratsfähig… sie ist erwachsen… und sie ist wunderschön…“

Theodoros sah, wie die blauen Augen des römischen Offiziers dabei aufleuchteten… und dann erwachte er…

Was für ein grässlicher Alptraum! Und er ahnte, dass dies nichts Gutes verhieß.

Konnte es womöglich bedeuten, dass sich seine kleine Melina immer noch in der Gewalt von Lucius Marcellus befand?

Er misstraute diesem Römer, obwohl ihm seine Kundschafter seinerzeit berichteten, dass der Legatus sie unter seinen persönlichen Schutz gestellt hatte und sich ihr gegenüber anständig benahm. Doch das war zu der Zeit gewesen, als Marcellus‘ Heer vor der Stadt lagerte. Mittlerweile mussten die Römer mitsamt ihren Geiseln längst in Rom eingetroffen sein und wer wusste schon, was dann mit den jungen Griechen geschehen war?

Wie ging es jetzt seinen beiden jüngsten Kindern? Ob man Melina wenigstens mit Kimon zusammen gelassen hatte? Aber in seinem Traum fehlten sowohl ihre beiden Brüder als auch Quella. Melina war allein in Begleitung des römischen Offiziers…

Theodoros schluckte, als ihm klar wurde, was das bedeuten konnte.

Nein, das durfte nicht sein!

Mochten die Götter verhüten, dass Marcellus seine Tochter zu seiner Geliebten machte und dadurch entehrte. Sie war arglos und rein. Kein barbarischer Römer durfte dieses Täubchen beschmutzen. Er würde sich gleich zu einem der Hohepriester aufmachen, damit dieser einen Segen über seine Tochter sprach, auf dass sie geschützt war. Doch zuvor galt es, den Unrat aus dem Haus zu weisen, der den Namen Megara trug…

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Megara stand bereits zusammen mit ihrer Tante im Eingangsbereich des Hauses und erwartete Theodoros. Dieser erschien endlich in Begleitung eines Kreises von Freunden und warf seiner jungen Frau, vor der er sich nun aufbaute, einen grimmigen Blick zu.

„Nun ist es an der Zeit, aus meinem Haus zu verschwinden!“ sagte er in lautem Ton. „Komm mir nie mehr unter die Augen, Weib!“

„Ich teile deinen Wunsch, Theodoros“, erwiderte Megara mit fester Stimme und starrte den alten Griechen unerschrocken an. „Wärest du nun so freundlich, mir die Mitgift auszuzahlen, die du von meinem Bruder für mich erhalten hast?“

„Du besitzt tatsächlich die Frechheit, deine Mitgift zurückzufordern?!“ donnerte Aigikoreus der jungen Frau entgegen.

„Ja, allerdings! Wovon soll ich in Zukunft denn sonst leben?!“ entgegnete Megara selbstsicher. „Schließlich bist du derjenige, der die Ehe zwischen uns beendet und nicht ich. Deshalb ist es das Mindeste, dass du mir meine Mitgift auszahlst.“

„Wie kannst du es wagen, Forderungen an mich zu stellen?“ fragte der alte Grieche lauernd. „Reicht es nicht, dass du und dein Bruder mich verraten habt? Reicht es dir nicht, dafür gesorgt zu haben, dass meine Kinder weit von der Heimat im Feindesland leben müssen? Du hast meine Familie zerstört und erwartest tatsächlich, dass ich dir deine Mitgift zurückzahle? Diese Summe kann die Schuld, die du auf dich geladen hast, nicht tilgen, Weibsstück! Nichts kann diese Schuld tilgen! Darum sei froh, dass ich dich mit dem Leben davonkommen lasse! Und nun geh mir schleunigst aus den Augen! Dein Anblick macht mich krank!“

„Und was soll aus mir werden, Theodoros?!“ ließ Megara, anscheinend kaum beeindruckt von seinem Redeschwall, nicht locker. „Wie soll ich ohne Geld zurechtkommen?!“

„Es ist mir egal, was aus dir wird!“ schleuderte der alte Edelmann ihr entgegen. „Meine Kinder besaßen auch nichts, als die Römer sie mit sich nahmen. Hast du dir da auch nur einen Augenblick darüber Gedanken gemacht, was aus ihnen wird, Weibsstück?!“

„Die Römer werden schon gut für sie sorgen“, meinte Megara leichthin.

„So, das ist also deine Ansicht?! Wahrhaftig! Du besitzt keinen Funken Mitleid für unsere jungen Leute, die als Geiseln ihr weiteres Dasein wahrscheinlich für eine lange Zeit in Rom fristen müssen oder vielleicht nie wieder hierher zurückkehren“, stellte Theodoros wütend fest. Dann wandte er sich an seine Freunde und sagte: „Da, seht sie euch an, diese herzlose Verräterin!“

Die übrigen griechischen Edelleute bildeten einen Halbkreis um Megara und spuckten dann vor ihr auf die Erde.

„Lass uns gehen!“ flehte die Tante, die sich während des Streitgesprächs zwischen dem Hausherrn und ihrer Nichte allmählich der Schwelle genähert hatte, um so schnell wie möglich zu verschwinden. Sie begriff nicht, weshalb Megara so vehement auf dem Geld bestand, auf das sie doch gar keinen Anspruch hatte. Warum nur handelte sich das törichte Ding solch einen Ärger ein?

„Du willst mir also nicht die Mitgift auszahlen?“ fragte die junge Frau noch einmal.

„Nein! – Und nun verlass auf der Stelle mein Haus!“ schrie Aigikoreus sie an.

„Gut, dann werde ich das erst einmal hinnehmen müssen“, zischte Megara, drehte sich auf dem Absatz um und näherte sich ihrer Tante, mit der sie dann gemeinsam das Gebäude verließ. Vor dem Haus stand bereits ein Ochsenkarren, der von einem älteren Mann gelenkt wurde. Er grüßte die beiden Frauen.

„Wer ist das?“ fragte Megara erstaunt.

„Mein Schwager Aristeus, der Bruder meines verstorbenen Mannes“, erklärte ihre Tante daraufhin. „Er hat sich bereit erklärt, uns abzuholen und vorerst bei sich aufzunehmen. Du musst wissen, dass Aristeus einen großen Hof besitzt und ebenfalls Witwer ist. Er möchte dich näher kennenlernen, denn er sucht eine Frau, die sich um den Haushalt und seine beiden kleinen Söhne kümmert. Er legt übrigens auch keinen Wert auf eine Mitgift.“

„Was?!“ stieß die junge Frau empört hervor. „Du hast dich bereits nach einem Ehemann für mich umgesehen?!“

„Nun ja“, meinte die Tante. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und wollte dich gut versorgt wissen. Aristeus kann von den Erträgen, die ihm Honig, Wolle, Milch, Käse und Fleisch einbringen, gut leben.“

Megara schnaubte und sagte dann: „Es tut mir leid, doch das geht mir alles zu schnell, Tante!“

„Aber, Kind, lerne ihn doch erstmal kennen. Aristeus ist ein ruhiger Mann und du hast sicher ein angenehmes Leben an seiner Seite.“

Die junge Frau ging langsam auf den Ochsenkarren zu, blieb kurz davor stehen und betrachtete sich den älteren Bauern, der sie schüchtern anlächelte. Sie sah sein von der Sonne zerfurchtes Gesicht, blickte auf seine abgearbeiteten Hände und schüttelte dann den Kopf.

„Tut mir leid, mein Lieber, aber ich fürchte, ich kann nicht Eure Gattin werden“, erklärte sie dann leise. „Zur Bauersfrau tauge ich nicht. Dennoch danke ich für Euer Angebot. Es ist wenigstens eine freundliche Geste in dieser ungerechten Welt.“

Auch bei ihrer Tante, die gerade eben an ihrer Seite erschein, bedankte sie sich.

„Aber, Kind, was willst du denn jetzt machen?“ fragte diese besorgt.

„Mir ist da gerade ein Gedanke gekommen“, erwiderte Megara und wandte sich mit einem Lächeln an Aristeus. „Wärt Ihr trotz meiner Abweisung so gut, mich bis zur Residenz des römischen Statthalters mitzunehmen und dort abzusetzen?“

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Fabius Maiorus Graeccus saß in seinem Esszimmer und unterhielt sich mit seinem alten Freund Sorex Nigellus, der gerade zu Besuch bei ihm weilte, als ihm einer seiner Sklaven meldete, dass eine Dame ihn dringend sprechen wolle.

„Wer ist es?“ fragte Fabius, sichtlich verärgert über diese Störung.

„Sie sagte, ihr Name sei Megara Aigikoreusa“, antwortete der Sklave.

„Die Frau von Aigikoreus?!“ entfuhr es dem Statthalter überrascht. Er warf seinem Freund einen fragenden Blick zu, worauf dieser nickte.

„Also schön, sie soll eintreten“, meinte Fabius dann. „Ich will hören, was sie mir zu sagen hat.“

Sofort entfernte sich der Sklave, was dem Hausherrn die Gelegenheit bot, seinem Freund rasch zu erklären: „Es ist die Gattin des Rebellenanführers. Recht ungewöhnlich, dass die Griechen ihre Frauen vorschicken, um etwas ausrichten zu lassen.“

Einen Moment später trat Megara in das Zimmer und verneigte sich tief vor dem Statthalter.

„Danke, dass Ihr mich empfangt“, sagte sie in demütigem Ton und hielt ihre Augen gesenkt.

„Nun, was möchte Euer Gemahl?“ fragte Fabius herablassend. „Denn ich nehme an, er hat Euch mit einem bestimmten Auftrag hergeschickt.“

„Nein, keinesfalls!“ beeilte sich Megara zu sagen und schaute nun zu dem Statthalter auf. Dieser runzelte verständnislos die Stirn, worauf sie rasch erklärte: „Ich bin hier, um Eure Hilfe zu erflehen.“

„Was ist passiert?“

„Mein Gemahl hat die Scheidung ausgesprochen und mich aus dem Haus gejagt, da ich seiner Meinung nach dafür verantwortlich sei, dass Eure Landsleute seine Kinder mit nach Rom genommen haben.“

„Das ist höchst bedauerlich für Euch“, meinte Fabius in mildem Ton. „Aber was wollt Ihr von mir, meine Dame?“

„Theodoros Aigikoreus verweigert mir meine Mitgift. Könnt Ihr ihn nicht dazu bewegen, sie mir auszuzahlen?“ fragte Megara. „Bitte, Herr, Ihr seid meine einzige Hoffnung. Ich weiß sonst nicht, was ich machen soll. Ohne Eure Hilfe bin ich mittellos.“

„Es tut mir sehr leid“, erwiderte der römische Statthalter. „Wäret Ihr römische Bürgerin, könnte ich diese Auszahlung erzwingen, aber die griechischen Ehegesetze sind anders. Hier verhält es sich doch so, dass Ihr keine freie Frau, sondern das Eigentum Eures Gemahls gewesen seid. Demnach liegt es also in seinem Ermessen, ob er Euch die Mitgift wieder zurückgibt oder nicht. Ich kann Theodoros Aigikoreus also nicht dazu zwingen.“

„Was soll ich denn jetzt nur machen?“ stieß Megara verzweifelt hervor. „Bitte, helft mir, Herr! Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Mein Bruder ist tot und meine Tante kann mich nicht bei sich aufnehmen. Bitte, gebt mir Obdach!“

Sorex Nigellus hatte sich bis jetzt das Ganze schweigend angehört und dabei eingehend die junge Frau betrachtet, die seinen Freund um Hilfe ersuchte. Nun hielt er es für an der Zeit, sich in das Gespräch einzumischen.

„Ich hätte Euch einen Vorschlag zu machen, meine Dame“, wandte er sich plötzlich an Megara. Diese hatte ihn bisher kaum beachtet und blickte ihn daher überrascht an, ebenso wie sein Freund. Sorex fuhr fort: „Als Veteran habe ich nun endlich Muße, nach Ägypten zu reisen. Hättet Ihr nicht Lust, mich auf dieser Reise zu begleiten? Ich wäre entzückt über eine so nette Gesellschaft wie die Eure.“

Megara starrte ihn einen Moment lang an, als schien sie über diesen Vorschlag nachzudenken. Dann fragte sie: „Und Ihr würdet mich für meine Dienste bezahlen?“

„Aber natürlich!“ erwiderte Sorex lächelnd.

„Schön und gut“, meinte Megara dann. „Doch was geschieht mit mir nach der Reise?“

„Macht Euch darüber keine Gedanken“, antwortete der altgediente Offizier. „Ich besitze ein Anwesen in Pompeji und wenn Ihr wollt, könnt Ihr meinen Haushalt führen.“

Über das Gesicht der spitznasigen Griechin glitt unwillkürlich ein Lächeln und sie musterte Sorex unverhohlen, bevor sie sagte: „Gut, ich bin damit einverstanden!“

Der alte Offizier hob daraufhin seinen Becher.

„Dann also willkommen, meine Dame, ich freue mich auf unser Zusammensein.“

Megara grinste und neigte leicht den Kopf in die Richtung ihres neuen Herrn.

Fabius ließ seinen Blick ungläubig zwischen den beiden hin und her gleiten. Dann meinte er: „Wartet draußen, ich muss noch etwas mit meinem Gast besprechen.“

Die Griechin verneigte sich erneut vor dem römischen Statthalter, warf dann dessen Besucher einen koketten Blick zu und verschwand endlich aus dem Zimmer. Kaum war sie außer Hörweite, beugte Fabius sich zu seinem Freund vor und murmelte: „Was, in Jupiters Namen, willst du nur von dieser Frau? Du brauchst doch gar keine Haushälterin!“

„Na und?“ meinte Sorex leichthin und nahm einen Schluck aus seinem Becher. „Sie gefällt mir!“

„Aber sie ist nicht besonders schön“, wandte Fabius ein. „Außerdem gewann ich den Eindruck, dass sie Haare auf den Zähnen hat. Es wird nicht einfach mit ihr.“

„Gerade das gefällt mir, mein Freund“, erklärte Sorex und erhob sich. „Und über Schönheit lässt sich streiten. So hässlich finde ich diese Frau gar nicht. Ich bin überzeugt, dass sie mir die Reise nach Ägypten sehr versüßen wird.“

„Wie du meinst“, seufzte Fabius. „Aber sag nachher nicht, ich hätte dich nicht vorgewarnt.“

„Ach was!“ tat Sorex die Bedenken seines Freundes ab. „Diese Megara war in einer Notlage, aus der ich sie befreite. Du hast keine Vorstellung davon, wie sehr einem eine dankbare Frau aus der Hand frisst, mein Lieber. Ich bin davon überzeugt, dass sie alles tun wird, was ich von ihr verlange.“

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Melina erhob sich an diesem Morgen sehr ausgeruht und war froh, dass ihr Leib endlich kein Blut mehr von sich gab. Philine kam mit einer größeren Schüssel ins Zimmer und half ihr dabei, ihren ganzen Körper zu reinigen.

„Ach, Philine“, seufzte Melina. „Ich gäbe etwas darum, mich anständig baden zu können.“

„Das ist nicht unmöglich, Herrin“, erwiderte die Sklavin, worauf die junge Frau sie überrascht anblickte. „Unser Herr geht fast jeden Tag in die Therme. Wenn Ihr ihn bittet, erlaubt er Euch gewiss, ebenfalls diese Einrichtung aufzusuchen. Ich begleite Euch gern dorthin.“

„Oh, das wäre wunderbar!“ meinte Melina lächelnd.

„Und außerdem könnten wir nach dem Besuch des Bades auch noch den Tempel der Venus aufsuchen“, schlug die griechische Sklavin vor.

„Warum sollten wir ausgerechnet diesen Tempel aufsuchen, Philine?“

„Es ist in Rom Sitte, dass jedes Mädchen, das zur Frau erblüht ist, seine Puppen der Venus opfert. Auch Ihr solltet das tun, Melina, denn jetzt seid ihr wirklich zu alt, um noch mit Puppen zu spielen.“

„Aber sie sind Erinnerungsstücke meiner Mutter!“ protestierte die junge Frau.

„Jeder Übergang verlangt Opfer“, erklärte die Sklavin lächelnd. „Wozu braucht Ihr Puppen? Ihr habt doch Divia, um die Ihr Euch so rührend kümmert; und wer weiß, vielleicht dauert es gar nicht lange und Ihr haltet Euer eigenes Kindlein im Arm?“

„Wie kommt Ihr denn auf diese Idee, Philine?“

„Nun, eine hübsche, junge Frau wie Ihr erregt jetzt schon die Aufmerksamkeit des einen oder anderen Mannes. Oder habt Ihr etwa nicht die Blicke bemerkt, die man Euch schenkte, Melina?“

„Ich verstehe von diesen Dingen nichts!“ wehrte die junge Frau ab und errötete. Der einzige Mann, an dessen Aufmerksamkeit ihr etwas lag, war Lucius. Sie hatte ihn in den paar Tagen ihrer Isolation schmerzlich vermisst und freute sich schon darauf, ihn gleich wiederzusehen.

„Aber sicherlich wünscht Ihr Euch doch, eines Tages die Gefährtin eines edlen Mannes zu sein, der Euch liebt, Melina Aigikoreusa?“

„Meine Wünsche spielen keine Rolle, da ich eine römische Geisel bin und mich Lucius Marcellus zu fügen habe, dem der Kaiser mich unterstellte.“

„Nun gut, ich verstehe, dass Ihr darüber nicht sprechen wollt“, sagte Philine. „Aber ich gebe Euch den Rat: Opfert Eure Puppen, damit Venus Euch gnädig ist und Euch die Liebe eines Mannes schenkt, dem Euer Herz zugetan ist. Oder wollt Ihr riskieren, eine unglückliche Verbindung eingehen zu müssen, weil Ihr Euch von Euren Spielsachen nicht trennen und damit die Kindheit nicht hinter Euch lassen wollt? Das könnte die Götter verärgern, Melina.“

Die junge Griechin gab daraufhin keine Antwort, so dass Philine kurz darauf mit der Waschschüssel deren Gemach verließ. Melina sah ihr nach und fragte sich, weshalb die Sklavin solch seltsame Reden führte. Sie selbst hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, zu heiraten und Mutter zu werden. Sie sehnte sich nur nach den starken Armen Lucius‘… und dieser war jetzt wohl ein freier Mann.

Ach, sie durfte solche Gedanken nicht hegen!

Lucius hatte sich gerade von seiner Gemahlin getrennt und die arme Selene litt sicherlich schrecklich darunter. Melina empfand Mitleid mit ihr, obwohl die Matrona alles andere als freundlich zu ihr gewesen war. Aber diese Verhaltensweise verriet, wie stark Selenes Gefühle für ihren Mann sein mussten. Außerdem war sie Divias Mutter und liebte laut Aussage Philines ihr Kind, wenngleich sie es nicht so zu zeigen vermochte, wie es vielleicht vonnöten wäre.

Wie konnte man also eine Frau, die ihren Mann und ihr Kind liebte, dafür verurteilen, dass sie versuchte, ihre Familie gegen den Einfluss einer Fremden zu schützen?

Melina seufzte. Selene hatte sicherlich gespürt, welche Gefühle sie selbst für Lucius hegte, auch wenn sie versuchte, sich dagegen zu wehren. Es war umsonst. Sobald dieser blonde Mann in ihrer Nähe war, schlug ihr Herz heftig. Und jetzt war er wieder frei…

Melina stellte sich einen kurzen Augenblick vor, die Ehefrau von Lucius zu sein. Dann erschrak sie jedoch über diesen Gedanken und fragte sich, ob sie sich so etwas wirklich wünschen dürfte… Ach, es war gewiss nicht recht…

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Als Melina Lucius während des Frühstücks bat, zusammen mit Philine die Therme aufsuchen zu dürfen, erlaubte er es. Eine kleine Sänfte für sie und die Bedienstete stünde zur Verfügung sowie vier kräftige Sklaven, die sie dorthin tragen würden.

„Hast du sonst noch einen Wunsch, Melina?“ fragte er freundlich.

„Nach dem Bad möchte ich den Venustempel besuchen“, antwortete sie verlegen.

„Gut, ich habe nichts dagegen“, erwiderte er lächelnd. „Philine ist ja bei dir, und die Männer passen auf euch auf.“

„Ich möchte mit!“ rief Divia aufgeregt.

„Nein! Du hast zu lernen!“ sagte Lucius streng. „Deine Kinderfrau wird dir heute zeigen, wie man webt. Es ist wirklich unglaublich, dass du das in deinem Alter noch nicht weißt.“

„Aber sie kann doch mitkommen“, meinte Melina.

„Nein! Sie muss lernen, dass es Pflichten gibt und nicht immer alles nach ihrem Kopf geht“, erklärte der Hausherr. „Eines Tages wird sie einen Haushalt eigenständig führen müssen!“

„Ach bitte, Vater, lass mich Melina begleiten. Danach werde ich mich auch an den Webstuhl setzen, das verspreche ich dir!“

„Nein, du wirst dich sofort nach dem Frühstück daran setzen!“ sagte Lucius.

„Aber, Vater…!“

„Keine Widerrede!“

Divia verzog ihre Mundwinkel nach unten, starrte den Vater wütend an, erhob sich und verließ raschen Schrittes das Esszimmer.

Melina sah ihr mitfühlend hinterher. Dann wandte sie sich an Lucius: „Bitte, lass sie doch mitgehen. Ich habe Divia gern um mich. Sie ist bestimmt traurig darüber, dass ihre Mutter nicht mehr hier weilt. Etwas Ablenkung täte ihr gut.“

Der Hausherr schaute die junge Frau mit einem warmen Blick an, legte eine Hand auf ihre und erklärte in sanftem Ton: „Nein, meine Liebe, so leid es mir tut! Ich darf meiner Tochter nicht immer ihren Willen durchgehen lassen. Sie ist völlig verzogen und hat nicht gelernt, was es heißt, seine Pflicht zu erfüllen. Ich muss streng zu ihr sein, damit sie eine ehrbare und von allen geachtete Frau wird. Das verstehst du doch, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte Melina. „Du hast vermutlich recht, aber Divia tut mir trotzdem ein bisschen leid.“

„Wenn sie brav ist und fleißig lernt, darf sie ein andermal mit dir ausgehen“, sagte Lucius und erhob sich. „Einen schönen Tag, Melina, und viel Vergnügen. Wir sehen uns später.“

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Nachdem Lucius an diesem Vormittag die Anliegen seiner Untergebenen angehört und hier und da eine Lösung vorgeschlagen bzw. eine Entscheidung gefällt hatte, legte er mit Hilfe eines Sklaven seine Uniform an und verließ das Haus, um die Kaserne aufzusuchen, in dem sein Unteroffizier Flavius neue Rekruten schulte. Dort befanden sich auch die jungen Männer, die er aus Griechenland mitgebracht hatte. Es interessierte ihn, wie die Geiseln sich machten. Insbesondere wollte er nach Leandros sehen und sich, wenn es möglich war, ein wenig mit ihm unterhalten.

Der junge Grieche, den er während der Reise nach Rom besser kennengelernt hatte, stand dem römischen Reich nicht so ablehnend gegenüber wie sein aufrührerischer Vater und besaß vernünftige Ansichten. Nichtsdestotrotz hatte er aus Loyalität zusammen mit den anderen Rebellen gegen die Besatzer gekämpft. Er war ein tapferer, junger Mann, der treu zu den seinen hielt. Ein bewundernswerter Zug, der jedem unwillkürlich Respekt abverlangte.

Auch Lucius schätzte Leandros und war sicher, dass man einen für alle annehmbaren Kompromiss des gemeinsamen Zusammenlebens von Griechen und Römern in Attika gefunden hätte, ohne Geiseln zu nehmen, wenn Aigikoreus‘ ältester Sohn an Stelle seines Vaters gewesen wäre.

Lucius gestand sich ein, dass er selbst sich einen solch klugen und tapferen Sohn wünschte.

 

Endlich war er in der Kaserne angekommen und ging ohne Umschweife zu dem Platz, an dem Flavius seine Rekruten zu drillen pflegte. Schon von weitem war der Kommandoton seines Unteroffiziers zu hören und als der Legatus sich näherte, sah er mit sichtlicher Befriedigung, wie eifrig die Rekruten darum bemüht waren, den Befehlen ihres Ausbilders nachzukommen.

Kaum hatte Flavius seinen Mentor erblickt, befahl er eine Pause und ging dann auf Lucius zu.

„Ich grüße Euch, Legatus!“

„Sei ebenfalls gegrüßt, Flavius. Wie machen sich denn die jungen Griechen?“

„Ausgezeichnet!“

„Und wie geht es deiner hübschen Verlobten?“

„Nun ja, sie ist immer noch recht betrübt darüber, dass sie Melina Aigikoreusa solchen Kummer bereitet hat“, sagte Flavius. „Wie geht es der jungen Dame?“

„Besser, mein Lieber“, erwiderte Lucius. „Sie würde sich sicherlich freuen, wieder von Silvia zu hören.“

„Und wie geht es Euch, Legatus? Mein Vater erzählte mir, dass Ihr Euch von Eurer Gemahlin getrennt habt.“

„Ich trage es mit Fassung, mein Junge, und ich denke, Selene tut dies auch.“

„Und wie geht es Eurer kleinen Tochter?“

„Sie wird durch Lernen von ihrem Kummer abgelenkt“, behauptete Lucius. „Ich würde gern mit Leandros Aigikoreus sprechen, wenn das möglich ist.“

„Selbstverständlich, Legatus!“ sagte Fabius und rief laut: „Rekrut Aigikoreus – antreten!“

Einen Augenblick später stand der junge Grieche, gekleidet in römischer Uniform, kerzengerade vor den beiden Offizieren und sah ihnen furchtlos ins Gesicht.

„Steht doch bequem, Leandros“, meinte Lucius in väterlichem Ton und lächelte ihn an. Dann wandte er sich an seinen Unteroffizier: „Lass uns allein! Ich schicke den jungen Mann nach unserem Gespräch sofort zu dir zurück.“

Flavius nickte, stellte sich wieder an seinen Kommandoplatz und rief die Rekruten zusammen.

Währenddessen folgte Leandros dem Legatus in eines der Gebäude, wo ihn der Offizier in einen abgeschlossenen Raum führte und ihm dann einen Platz anbot. Der junge Grieche setzte sich auf einen der Stühle und Lucius setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber.

„Nun, Leandros, wie gefällt es Euch hier?“

„Es ist auszuhalten, Legatus.“

„Gewiss vermisst Ihr Eure Heimat?“

„Nicht so sehr wie meinen Vater und meine beiden Geschwister“, antwortete Leandros.

„Demnach könntet Ihr Euch vorstellen, in Rom zu leben?“

„Ich könnte überall leben, wenn ich wüsste, dass es meiner Familie gut geht, Legatus.“

„Eure Schwester ist wohlauf“, erklärte Lucius dann. „Und ich bin ziemlich sicher, dass es Eurem kleinen Bruder ebenfalls gut geht. Wie ich hörte, hat Senator Valerianus ihn bereits als Sohn anerkannt. Damit ist er von dem Geiselstatus befreit und wird als römischer Staatsbürger heranwachsen.“

„Nun ja, damit befindet er sich zweifellos nicht mehr in Lebensgefahr“, spottete Leandros. „Anders verhält es sich jedoch mit meiner Schwester. Sie lebt immer noch als Geisel in Eurem Hause, nicht wahr?“

„Ich versichere Euch, dass ich sie gut behandele“, sagte Lucius. „Außerdem will niemand Eurer Schwester ein Haar krümmen. Der Kaiser hat sie mir überlassen, was bedeutet, dass ihr Geiselstatus damit aufgehoben ist.“

„Demnach ist Melina also Eure Sklavin, Legatus?“

„Völlig richtig! Aber ich sehe Eure Schwester natürlich nicht so, und sie wird von mir und meinen Sklaven wie die vornehme, junge Dame behandelt, die sie tatsächlich ist. Ihr wisst doch, wie sehr ich ihr zugetan bin.“

„Man müsste schon sehr blind sein, wenn man das nicht sehen wollte“, pflichtete Leandros ihm bei. Dann kniff er seine Augen zusammen und musterte den römischen Offizier eingehend. „Welche Absichten habt Ihr in Bezug auf meine Schwester, Legatus?“

„Nur ehrenwerte, mein Lieber“, antwortete Lucius. „Ich würde niemals etwas tun, das Melina schadet…“

Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Dann meinte Leandros: „Ich glaube Euch. -  Ihr liebt sie, nicht wahr?“

„Ja, das tue ich!“ gab der Offizier zu. „Ich möchte sie zur Frau nehmen.“

„Aber das ist unmöglich, denn Melina ist keine römische Staatsbürgerin“, wandte der Grieche ein.

„Ich habe mich Eurer Schwester noch nicht erklärt“, sagte Lucius. „Doch wenn sie meine Frau werden will, lasse ich sie frei und erkläre offiziell, dass ich mit ihr im Konkubinat lebe. Das ist fast so gut wie eine römische Ehe. Seid versichert, dass ich Melina darüber hinaus gut versorgen werde.“

„Nun, meiner Schwester bleibt kaum eine andere Wahl als Euren Antrag anzunehmen“, stellte Leandros trocken fest.

„Das ist nicht wahr!“ widersprach Lucius.

„So? Was passiert denn mit ihr, wenn sie nicht Eure Konkubine werden will?“

„Ich werde ihr dennoch einen Freibrief ausstellen.“

Der junge Grieche starrte den Römer nun fassungslos an.

„Das würdet Ihr wirklich tun?“ fragte er ungläubig.

„Ja, das würde ich!“

„Ihr müsst meine Schwester überaus lieben… Wahrhaftig, Ihr seid ein Ehrenmann, Lucius, und ich hoffe, dass Ihr bald mein Schwager sein werdet.“

„Ja, das hoffe ich auch und ich bin froh, dass Ihr die Verbindung zwischen Melina und mir billigt.“

„Wie könnte ich das nicht, Lucius? Ihr seid auf jeden Fall eine bessere Wahl als diejenige meines Vaters.“

„Nun ja, Euer Vater wäre wohl nicht mit mir als Schwiegersohn einverstanden“, spottete der Offizier.

„Vater ist ein uneinsichtiger, alter Mann, der einfach nicht wahrhaben will, dass sich die Welt verändert“, erklärte Leandros und seufzte. „Er ist weit weg und meine Schwester wird ihn wohl niemals wiedersehen.“

„Wer weiß? Vielleicht möchte sie zurück nach Athen, wenn ich sie freilasse und sie sich gegen meinen Antrag entscheidet.“

„Ihr dürft nicht zulassen, dass sie zurückkehrt, Lucius!“ sagte Leandros daraufhin in eindringlichem Ton und starrte ihn an. „Mein Vater mag Melina zwar lieben, aber er würde sie dennoch aus politischen Gründen mit irgendeinem griechischen Edelmann verheiraten, der für meine Schwester nicht das Geringste empfindet und sie wie den letzten Dreck behandelt. – Nein, Lucius, versprecht mir, sie nicht nach Athen zurückkehren zu lassen!“

„Gut, ich verspreche es!“

Die beiden Männer reichten sich daraufhin freundschaftlich die Hand und erhoben sich.

„In Stellvertretung unseres Vaters gebe ich Euch meinen Segen, Lucius. Bitte, grüßt Melina recht herzlich von mir. Ich würde sie ja selbst gerne einmal besuchen, aber im Moment ist das unmöglich, wie Ihr wisst.“

„Die Zeiten ändern sich, Leandros“, murmelte der Legatus und drückte kurz den Arm des jungen Mannes. „Für Euren Segen danke ich jedoch. Ihr seid in meinem Hause jederzeit willkommen.“

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Auf dem Rückweg machte Lucius einen Umweg zum Sklavenmarkt. Unterwegs traf er seinen Freund Flavius Senior, den Vater seines Unteroffiziers, der ihn jovial begrüßte und ihn spontan einlud, mit ihm nach Haus zu kommen und einen Becher Wein zu leeren. Dankend lehnte Lucius dieses Angebot ab.

„Hast wohl etwas anderes vor, was?“ fragte Flavius Senior und grinste. „Einen Abstecher ins Bordell… jetzt, wo du wieder ein einsamer Mann bist…?“

„Nein, alter Junge, ich benötige einige neue Sklaven, da Selene ihre eigenen mitgenommen hat“, erklärte Lucius. „Wenn du willst, begleite mich dorthin. Vier Augen sehen mehr als zwei.“

Damit war der alte Flavius einverstanden.

„Weißt du, was ich nicht begreife, Lucius?“ sagte sein Freund auf dem Weg. „Du hast mit Selene seit vielen Jahren zusammengelebt, ohne dass du dich je über sie beklagtest. Weshalb hast du dich von ihr scheiden lassen? Sie war doch eine ganz ordentliche Frau.“

„Ich hatte meine Gründe“, wich der Legatus aus. „Bitte, quäle mich nicht mit Fragen.“

„Tut mir leid, mein Freund. Aber Selene sah so traurig aus, als sie ging.“

„Es ist ihr sicherlich schwergefallen, das Haus zu verlassen…“

„Weißt du, Lucius, ich mochte Selene.“

„Sie ist eine freie Frau, und wenn du willst, dann umwirb sie. Ich habe nichts dagegen.“

„Nein, das könnte ich nicht“, wehrte der alte Flavius ab. „Immerhin war sie deine Gattin, und du bist einer meiner besten Freunde.“

„Es steht dir frei zu tun, was dir beliebt“, meinte Lucius gleichgültig. Seine Aufmerksamkeit richtete sich bereits auf den Stand von Decimus, bei dem er immer seine Sklaven zu kaufen pflegte. Dieser kam – sobald er den Legatus sah – diensteifrig auf ihn zu und sagte: „Guten Tag, Lucius Marcellus! Was kann ich für Euch tun?“

„Ich brauche drei Sklavinnen!“ antwortete der Angesprochene. „Zeigt mir, was Ihr habt!“

„Selbstverständlich! Wenn Ihr mir bitte folgen würdet!“

Der Sklavenhändler führte sie zu einer Gruppe von jungen Frauen, die ihnen neugierig entgegensah. Lucius und Flavius betrachteten sie sich eingehend.

„Eine hübscher als die andere“, murmelte Flavius vergnügt. „Da fällt einem die Entscheidung schwer.“

„Ich lege keinen Wert auf Äußerlichkeiten“, erwiderte Lucius. „Ich brauche Bedienstete, die fleißig und zuverlässig sind. Auf welche dieser Frauen trifft das am ehesten zu, Decimus?“

„Das kann man natürlich nicht immer sagen“, gab der Händler zu. „Am Besten ist es, junge Mädchen zu nehmen und sie dementsprechend heranzuziehen.“

„Nein, nein! Für die Küche will ich kein junges Mädchen“, wehrte Lucius ab. Dann winkte er einer üppigen Brünetten zu, die sofort nach vorne trat, und fragte: „Hast du schon einmal in der Küche gearbeitet?“

„Natürlich, Herr!“

„Wie heißt du?“

„Odalind, Herr.“

„Und woher stammst du?“

„Aus Germanien.“

„Gut, du gefällst mir.“

Er nickte Decimus zu und schob die Germanin neben Flavius, der sie wohlgefällig musterte.

„Welche dieser Frauen hat Erfahrung darin, einer vornehmen Dame zu Diensten zu sein?“ wandte Lucius sich dann an den Händler. Dieser holte daraufhin sofort fünf Sklavinnen nach vorne, die den Legatus erwartungsvoll anblickten. Diesem fiel sofort ein junges, dunkelhäutiges Mädchen auf, das überaus gepflegt wirkte. Er ging zu ihr und fragte: „Woher kommst du, mein Kind?“

„Aus Ägypten, Herr“, erwiderte sie freundlich und lächelte. „Mein Name ist Laila, und es würde mich freuen, Eurer Frau zu Diensten zu stehen.“

„Sehr wohlerzogen“, stellte Lucius erfreut fest. „Ich nehme dich gerne in mein Haus auf, obwohl die Dame, um die du dich kümmern sollst, noch nicht meine Frau ist.“

Flavius, der bisher seine Augen kaum von Odalind abwenden konnte, horchte auf, bezähmte jedoch den Drang, Lucius nach seinen Heiratsabsichten zu fragen.

Der Legatus indessen ließ seine Augen über die vier übrigen Frauen schweifen. Endlich fragte er: „Ist eine von euch aus Griechenland?“

Aber alle schüttelten den Kopf. Er seufzte. Dann zog er willkürlich ein Mädchen mit dicken, schwarzen Zöpfen heraus und fragte sie nach ihrem Namen und ihrer Herkunft.

„Pola aus Daco Romania“, erwiderte sie mit unüberhörbarem, fremdländischem Akzent.

Daraufhin schob er sie wieder zurück in die Reihe der anderen Sklavinnen.

„Wenn Ihr wollt, kann ich Euch eine Griechin besorgen“, beeilte Decimus sich zu sagen.

„Nein, ich möchte für die junge Dame heute zwei Bedienstete mitnehmen“, erklärte Lucius und schaute sich die drei übriggebliebenen noch an. „Welche von euch soll ich nehmen?“

Ein rotblondes, grünäugiges Wesen wagte zu sagen: „Nehmt mich, Herr!“

„Du bist ein bisschen vorlaut, wie mir scheint“, stellte der Offizier in kühlem Ton fest und winkte ab. Dann sah er Decimus an und fragte: „Habt Ihr nicht eine Sklavin, die so ähnlich ist wie Philine?“

„Wie gesagt, ich kann Euch eine Griechin besorgen, wenn Ihr es wünscht, Herr“, erwiderte der Sklavenhändler. „Aber schaut Euch nur die beiden übrigen an, bevor Ihr unverrichteter Dinge wieder geht.“

Seufzend betrachtete er die beiden jungen Mädchen, die ihn mit großen Augen anblickten. Eine der beiden sah noch sehr naiv aus. Mit ihrem glatten, dunklen Haar und den großen, schwarzen Augen erinnerte sie ihn ein wenig an Melina.

„Wie heißt du?“ richtete er das Wort an sie.

„Sidori“, antwortete das Mädchen ängstlich. „Ich stamme aus Iberia.“

„Aha, das ist ja interessant“, meinte Lucius freundlich zu ihr. „Wie alt bist du denn, Kleine?“

„Ich bin zwölf Jahre alt, Herr“, sagte das Mädchen leise und senkte den Blick.

„So jung noch – und trotzdem hast du schon bei einer vornehmen Dame gedient?“ wunderte sich der Legatus.

„Ja, Herr.“

„Schön, mein Kind, dann versuche ich es einmal mit dir“, meinte Lucius. Insgeheim beschloss er jedoch, dass die kleine Sidori die neue Spielgefährtin und spätere Bedienstete für Divia werden sollte. Quella könnte ihr alles beibringen, was die Sklavin einer vornehmen Frau wissen musste, und seine Tochter wäre sicherlich entzückt, Gesellschaft zu haben, während sie all die verschiedenen Sachen lernte, die eine erwachsene Frau beherrschen sollte. Das würde ihm und Melina mehr Zeit verschaffen, miteinander allein zu sein…

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[1] Diese Ansicht war im 1. Jahrhundert n. Chr. in der antiken Welt verbreitet.

 

Melina kehrte zwar überaus erfrisch von dem Bad, aber dennoch ein wenig traurig nach Hause zurück. Sie hatte Philines Rat befolgt und ihre Puppe im Tempel der Venus als Opfer dargebracht. Der einzige Trost war für sie vorerst, dass Divia noch ihre andere Puppe besaß, da sie sie ihr geschenkt hatte.

„Junge Herrin, ein Bote hat Euch einen großen Obstkorb und eine Nachricht überbracht“, meldete ihr einer der Sklaven, sobald sie über die Schwelle trat. „Ich habe mir erlaubt, ihn ins Esszimmer stellen zu lassen.“

„Danke“, erwiderte Melina und begab sich äußerst verwundert dorthin. Auf dem Tisch thronte unübersehbar ein riesiger Korb voller Früchte, aus dessen Mitte eine kleine Papierrolle herausragte. Neugierig ergriff die junge Frau das Schriftstück und ließ sich auf eine der Liegen nieder, während sie die Nachricht entrollte. Es war ein Brief von Silvia Valeriana, in dem sie sie nochmals um Verzeihung bat und sie im Namen ihres Onkels einlud, am heutigen Abend zusammen mit Lucius an der Cena teilzunehmen.

„Das ist wirklich freundlich von ihr“, dachte die junge Griechin gerührt. Dann fiel ihr auf, dass es bereits früher Nachmittag war und eigentlich an der Zeit, eine kleine Mahlzeit einzunehmen. Merkwürdig, dass noch niemand sich hier im Esszimmer befand. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass Lucius nicht zu Hause war.

Melina erhob sich mit der Absicht, einen der Sklaven nach dem Pater familias zu fragen, als sie hörte, dass sich die Eingangstür öffnete und zwei Männerstimmen vernehmen ließen. Eine davon gehörte Lucius.

„Serviert im Speisesaal!“ rief dieser dann laut. „Komm, Flavius, setz dich schon einmal hin!“

Schritte näherten sich dem Esszimmer und Melina erwartete gespannt, den Verlobten Silvias begrüßen zu können. Doch auf den älteren, rundlichen Mann mit dem lichten Haar und den lustigen, kleinen, braunen Augen war sie nicht gefasst. Dieser schien gleichsam überrascht, sie hier zu sehen, aber er fing sich sofort wieder und lächelte sie an.

„Wen haben wir denn hier?“ fragte er freundlich. „Ihr müsst die junge Griechin sein, die Lucius aus Athen mitgebracht habt.“

„Ja, das ist richtig“, antwortete sie. „Ich bin Melina Aigikoreusa, und mit wem habe ich die Ehre?“

„Oh, wie unhöflich von mir“, entschuldigte er sich. „Ich bin Flavius Tingellinus Senior, ein alter Freund und Kriegskamerad von Lucius.“

„Sehr erfreut“, sagte Melina freundlich. „Entschuldigt bitte, aber ich muss einen Sklaven holen, damit er den Obstkorb in mein Zimmer bringt.“

„Warum wollt Ihr Euch diese Mühe machen? Das ist völlig unnötig“, meinte Flavius und klatschte sofort laut in die Hände, worauf einer der Bediensteten zusammen mit dem Hausherrn erschien. Letzterer starrte überrascht auf den riesigen Korb und fragte: „Was ist das?“

„Ein Geschenk von Silvia Valeriana für mich“, erklärte Melina. „Sie hat uns übrigens im Namen ihres Onkels für heute Abend zur Cena eingeladen.“

„Aha, meine zukünftige Schwiegertochter kennt Ihr also bereits?“ stellte Flavius vergnügt fest und ließ sich endlich auf eine der Liegen nieder.

„Bring den Korb auf mein Zimmer“, wandte sich Melina an den Sklaven, der ihren Auftrag sogleich ausführte. Dann wollte auch sie den Raum verlassen, aber Lucius hielt sie zurück.

„Bitte, leiste mir und meinem Freund ein wenig Gesellschaft“, bat er sie.

Da man gerade eine kleine Mahlzeit auftrug, gab sie nach und setzte sich wieder.

„Wollt ihr nicht lieber unter euch sein, Lucius?“ fragte sie dann zaghaft.

„Ach was!“ ließ Flavius sich nun vernehmen. „Gegen die Gesellschaft einer so reizenden, jungen Dame wie Euch kann niemand etwas einzuwenden haben. – Es ist wirklich unverzeihlich von dir, mir Melina nicht früher vorgestellt zu haben, Lucius!“

„Als ich dich vor einigen Tagen einlud, hast du mir wegen Magengrimmens abgesagt“, meinte der Hausherr daraufhin mitleidlos. „Es lag also nicht an mir, mein Lieber.“

„Schon gut… schon gut… du hast ja recht“, wehrte Flavius ab. Dann wandte er sich wieder an die junge Frau: „Jedenfalls freue ich mich, Euch endlich kennenzulernen. Gewiss seid Ihr die geheimnisvolle Dame, der mein Freund eine Überraschung zugedacht hat.“

„Eine Überraschung?“ fragte Melina erstaunt und schaute Lucius neugierig an.

„Ja, meine Liebe“, sagte dieser und nickte ihr lächelnd zu. „Doch davon später. Erst einmal wollen wir etwas essen.“

„Sollten wir nicht Divia dazu holen?“ meinte Melina.

„Auf die Gesellschaft dieser frechen, kleinen Göre kann ich gut verzichten“, antwortete Flavius, was ihm einen ärgerlichen Blick der jungen Griechin einbrachte.

„Divia ist nicht frech!“ erklärte Melina dann streng.

„Dann muss sie sich seit dem letzten Mal, da ich sie sah, sehr verändert haben“, brummte Flavius amüsiert.

„Du würdest dich wundern, alter Junge“, sagte Lucius sofort, wandte sich dann an die junge Frau und bat sie: „Hol sie zu uns!“

Das ließ sich Melina nicht zweimal sagen und schritt rasch aus dem Zimmer.

„Lucius, du alter Schwerenöter“, murmelte Flavius. „Diese Melina ist wirklich ein hübsches, kleines Ding und du bist zu beneiden, dass der Kaiser sie dir schenkte. Aber du hättest deiner Lust auf sie jederzeit nachgeben können, ohne die arme Selene aus dem Haus weisen zu müssen.“

„Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst!“ erwiderte Lucius kalt. „Selene und ich hatten uns nichts mehr zu sagen; und dass Divia so ungezogen ist, lag nicht zuletzt daran, dass Selene sich kaum um sie kümmerte. Seit Melina im Haus ist, zeigt meine Tochter jedoch Tendenzen, sich zu einem wohlerzogenen jungen Mädchen zu entwickeln.“

„Tatsächlich? Wie hat die kleine Griechin denn das geschafft?“ spottete Flavius und trank einen Schluck Wein. Dann sagte er: „Was meinst du, wie lange Divia die Rolle der wohlerzogenen Tochter durchhält?“

„Ich lasse ihr jetzt eine strenge Erziehung angedeihen“, erklärte der Hausherr. „Immerhin werde ich eine Zeitlang zu Hause sein und darauf achten, dass sie fleißig ihre von mir aufgetragenen Pflichten erfüllt.“

„So, so? Und Melina soll dir wohl dabei helfen, was?!“

„Immerhin hört Divia auf die junge Dame. Es ist ein Glück für uns, dass sie zu uns kam.“

„Und um sie zu halten, spielst du mit dem Gedanken, die Kleine an dich zu binden, nicht wahr?“ fragte Flavius. „Deshalb also die beiden Sklavinnen für die junge Dame… hm, das wird ihr sicher gefallen. Außerdem sehr praktisch, denn auf diese Weise wird dein kleines Juwel ständig bewacht.“

„Mir scheint, du hast heute schon zu viel getrunken“, brummte Lucius missmutig.

„Ich rate dir, deiner kleinen Griechin nicht dauernd etwas zu schenken. Das wird mit der Zeit zu kostspielig!“

„Bei deiner Einstellung wundert es mich nicht, dass deine Gattin dich verlassen hat, Flavius!“

„Was solls?! Ich habe zwei Söhne und brauche keine Ehefrau mehr! Wozu gibt es schließlich Sklavinnen?! – Übrigens, diese Odalind ist wirklich ein Prachtweib!“

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Sorex Nigellus nahm Megara mit in sein Zimmer und bot ihr einen Platz an, auf den sie sich dankend niederließ und ihn dann aufmerksam betrachtete.

„Was starrt Ihr mich so an?“ fragte der Veteran.

„Ich warte darauf, dass Ihr mir Eure Wünsche verratet“, erwiderte Megara.

„Mir scheint, du würdest alles tun, was ich verlange“, mutmaßte Sorex grinsend und ließ nun die höfliche Anrede außer Acht. „Hast du deswegen denn keine Skrupel? Immerhin warst du vor kurzem noch eine verheiratete Frau.“

„Warum sollte ich Skrupel haben?“ tat die spitznasige Griechin es ab und verzog angewidert ihre Mundwinkel nach unten. „Mein Gemahl hat mich grundlos und ohne Geld aus dem Haus gejagt und mich quasi erst in diese Situation gebracht. Doch glaub nicht, es sei mir unangenehm. Ich habe etwas übrig für Männer, die mich retten.“

„Freut mich, das zu hören, meine Liebe“, meinte Sorex und betrachtete sich nochmals eingehend die schlanke Gestalt Megaras. Diese erhob sich nun, ging auf ihn zu und berührte ihn mit den Fingern sachte am Brustkorb. Dabei hatte sie ihre Augen zu ihm erhoben und flüsterte: „Wie kann ich dir danken? Ich erfülle dir gern jeden deiner Wünsche.“

„Du bist lieb, Schätzchen“, murmelte er und verschloss ihre Lippen mit den seinen. Dann schob er sie jedoch von sich und erklärte: „Meine Wünsche sind nicht fleischlicher Art, doch der Tag wird kommen, da du dich mir erkenntlich zeigen kannst. Bis dahin leiste mir einfach nur Gesellschaft.“

„Was bist du nur für ein merkwürdiger Mann, Sorex?“ fragte sie lächelnd. „Richtet sich dein Begehren etwa auf Deinesgleichen?“

„Nein, das ist es nicht“, antwortete er. „Mich verlangt nach etwas anderem…“

„Verrätst du es mir? Vielleicht kann ich dir helfen?“ schmeichelte Megara.

„Ich bin überzeugt davon, dass du mir eine große Hilfe sein wirst“, sagte er. „Dennoch ist es nicht an der Zeit, dich in mein Geheimnis einzuweihen. Schließlich kenne ich dich erst seit kurzem.“

„Deine Worte machen mich neugierig, Sorex, aber ich muss mich wohl vorerst damit begnügen.“

„So ist es, Megara!“

Er deutete auf ein Tablett, auf dem sich eine Karaffe Wein, ein Becher sowie Brot, Käse, Weintrauben und etwas Fleisch befanden. Es stand auf einem Tischchen neben dem Stuhl, von dem sie sich gerade erhoben hatte.

„Du bist sicher hungrig, meine Liebe. Greif doch zu!“

„Oh, Sorex, du hast wahrlich ein Gespür für meine Bedürfnisse. Ich danke dir!“

Während sich die spitznasige Griechin niederließ und mit großem Appetit aß, betrachtete sie der römische Veteran erneut eingehend und beglückwünschte sich innerlich selbst dazu, dass sich die Umstände so gut fügten. Nach dem alten, geheimen Text brauchte der Dämon, den er in Ägypten zu finden hoffte, Blut, um seine verlorene Kraft wiederzugewinnen. Erst dann wäre er in der Lage, ihm ewige Jugend und ewiges Leben zu verleihen.

Megara war das perfekte Opfer für sein Vorhaben. Niemand würde sie vermissen, wenn sie verschwand. Doch bis dahin sollte sie ihr Leben ruhig genießen. Wer weiß, wie lange es noch dauerte…?

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Als Melina mit Divia in das Esszimmer zurückkam, sah die Zehnjährige immer noch so grimmig aus wie am Morgen, als sie die Tafel verlassen hatte, und setzte sich wortlos, ohne ihren Vater oder Flavius Senior anzusehen.

„Nun, Divia, willst du nicht unseren Gast begrüßen?“ fragte Lucius streng.

Widerwillig schenkte das Mädchen daraufhin dem Freund ihres Vaters einen Blick.

„Guten Tag, Onkel Flavius!“ brummte sie missmutig und schaute gleich wieder zu Boden.

„Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen, Divia!“ erwiderte dieser ironisch, grinste und warf dabei einen vielsagenden Blick zu Lucius.

„Wie ist es mit dem Weben gegangen?“ fragte ihr Vater, der über ihr Benehmen äußerst ungehalten war.

„Divia hat heute bestimmt einiges gelernt“, warf Melina ein, um die unheilvolle Atmosphäre, die in dem Raum herrschte, etwas abzumildern. Dann wandte sie sich in freundlichem Ton an das Kind: „Nicht wahr, Divia? So ist es doch?“

Die Zehnjährige warf der jungen Frau einen dankbaren Blick zu und schenkte ihr ein kleines Lächeln. Aber dies trug nicht etwa dazu bei, den Ärger des Hausherrn über das Verhalten seiner Tochter zu dämpfen, sondern ihn im Gegenteil zu vergrößern.

„Also, Divia, erzähl uns, wie du mit dem Weben vorangekommen bist!“ forderte er sie erneut in strengem Ton auf.

Trotzig schob das Kind seine Unterlippe vor und schaute den Vater wütend an.

„Ich hasse das Weben!“ stieß es dann hervor.

„Demnach hast du dich also ungeschickt angestellt?“ mutmaßte Lucius.

„Nein, ich hasse das Weben!“ erklärte das Mädchen heftig. „Wozu soll ich es lernen?“

„Es gehört zu den Dingen, die eine Hausfrau beherrschen muss!“ antwortete der Hausherr kühl. „Es wäre also besser, wenn du hierin ein wenig eifriger wärst!“

„Ich habe nie gesehen, dass Mutter gewebt hat“, gab Divia trotzig zurück. „Diese Art von Arbeit können Sklavinnen erledigen. Außerdem kann man viele Stoffe kaufen. Also wozu soll ich weben lernen?“

„Es ist ja nicht gesagt, dass du immer im Wohlstand lebst, Kind“, mischte sich nun Flavius Senior ein. „Die Götter mögen natürlich verhüten, dass du ins Unglück gerätst. Aber wenn das doch der Fall sein sollte, wäre es für dich von großem Vorteil, die Webkunst zu beherrschen. Damit kannst du zur Not nämlich einen Beitrag dazu leisten, deine Familie zu ernähren. – Wusstest du eigentlich, Mädchen, dass man in Griechenland von den Frauen verlangt, dass sie kochen und weben? Melina kann dir das sicher bestätigen.“

Mit großen Augen sah Divia nun zu der jungen Griechin auf und fragte erstaunt: „Stimmt das wirklich? Du kannst kochen und weben?“

Melina nickte.

Über Divias Gesicht verbreitete sich plötzlich ein strahlendes Lächeln.

„Ich will alles können, was du auch kannst“, erklärte sie dann der jungen Frau, ohne sich um die beiden erwachsenen Männer zu kümmern, die fassungslos auf das Kind starrten. „Bitte, Melina, kannst du mir nicht beibringen, wie man richtig webt? Ich will mir auch die größte Mühe geben, es zu erlernen. Ach bitte, zeig es mir!“

„Ich bringe es dir gerne bei, Divia“, versprach Melina daraufhin. „Aber ich denke, für heute lassen wir es genug sein. Iss jetzt etwas. Du musst doch ziemlich hungrig sein.“

Während das Kind es sich nun schmecken ließ und einen fröhlichen Gesichtsausdruck zeigte, starrte Flavius die junge Griechin ungläubig an. Noch nie hatte er erlebt, dass Divia irgendeinen Menschen bewunderte und diesem nachzueifern bemüht war. Doch sie schien offenbar fasziniert von Melina zu sein, wenngleich er sich nicht erklären konnte, warum. Die Griechin hatte nichts Besonderes getan, um das lebhafte Kind für sich zu gewinnen. Anscheinend besaß diese junge Dame eine Macht, die ihm noch verborgen war. Doch vielleicht würde er hinter ihr Geheimnis kommen, wenn er sie erst besser kennenlernte.

Flavius betrachtete Lucius, der Melina förmlich mit seinen Augen verschlang, während sie sich Divia widmete. Ohne Zweifel begehrte sein Freund die kleine Griechin heftig und Melina, als seinem Eigentum, blieb nichts anderes übrig, als ihm zu Willen zu sein. Gerade deshalb verstand er nicht, warum Lucius so ein Gehabe um die Griechin machte, als wäre sie eine vornehme Dame der römischen Gesellschaft. Kaufte ihr gar zwei eigene Sklavinnen, die sie bedienen sollten… nicht zu fassen!

Nun ja, Lucius war nicht der erste ältere Mann, der dem Liebreiz einer hübschen, jungen Frau erlag.

Erneut warf Flavius einen eingehenden Blick auf Melina. Jung und hübsch war das Mädchen unbestreitbar, wenngleich sie seiner Meinung nach nicht gerade mit jener Art von Schönheit gesegnet war, die Männer um den Verstand brachte. Seine Favoritin wäre sie jedenfalls nicht, dazu war sie ihm viel zu zierlich. Bei solch einem Zuckerpüppchen musste man ja ständig befürchten, es zu zerbrechen.

„Melina!“ rief Flavius ihr nun zu. „Bis jetzt habt Ihr noch keinen Bissen zu Euch genommen. Seid Ihr nicht hungrig?“

„Nicht besonders. Aber vielen Dank, dass Ihr mir Eure Aufmerksamkeit schenkt“, erwiderte die Angesprochene und warf dem Gast einen Blick aus ihren großen, dunklen Augen zu. Dabei lächelte sie ihn so freundlich an, dass es Flavius plötzlich warm ums Herz wurde und er mit einem Mal verstand, weshalb sein Freund derart verzaubert von der jungen Griechin war. Ihre Macht bestand aus den großartigen Kräften von Liebe, Güte und Verständnis. Nur ein ungeheurer Narr würde nicht erkennen, welch ein wertvoller Schatz Melina war  –  wahrhaftig ein Juwel, das man schützen musste.

„Ihr müsst etwas essen, mein Kind!“ forderte Flavius sie beinah flehentlich an. Dann wandte er sich an den Hausherrn, der die junge Frau immer noch fasziniert anstarrte und nichts von dem Wortwechsel mitbekommen zu haben schien. „Du bist doch auch der Meinung, dass Melina etwas essen sollte, nicht wahr, Lucius? – Lucius? – LUCIUS!“

Erst bei der dritten Anrede, die Flavius ihm beinahe ins Ohr schrie, kam der Hausherr wieder zu sich.

„Was ist, Flavius?“ fragte er irritiert und blickte ihn an.

In dem Moment schob Melina sich einen Löffel Salat in den Mund und lächelte etwas.

„Hat sich erledigt“, meinte Flavius daraufhin und grinste. Dann flüsterte er seinem Freund ins Ohr: „Ich kann ja verstehen, dass du deine Augen nicht von deinem kleinen Juwel wenden kannst, aber ich rate dir, dies auf die Momente zu beschränken, in denen ihr beiden allein seid. In Gesellschaft ist es eher unangebracht.“

„Mein kleines Juwel…“, murmelte Lucius und lächelte. „Ja, genau so sehe ich sie. - Aber du hast natürlich recht, alter Junge. Ich werde mich künftig zusammenreißen, wenn ich mich in Gesellschaft befinde. Zum Träumen bleibt mir schließlich die ganze Nacht…“

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Nachdem alle eine kleine Mahlzeit zu sich genommen hatten, bedankte sich Flavius bei seinem Freund für die Einladung und verabschiedete sich dann mit den Worten: „Vergiss nicht, dass du eine Überraschung für Melina hast, Lucius! – Bis heute Abend dann!“

Mit diesen Worten verschwand er endlich. Divia und Melina hingegen blickten neugierig zu Lucius auf.

„Was für eine Überraschung hast du mitgebracht, Vater?“ fragte das Kind sogleich.

„Nur Geduld“, erwiderte er milde und erhob sich jetzt auch. „Folgt mir bitte!“

Erstaunt sahen die beiden Mädchen sich an, standen dann ebenfalls auf und liefen hinter Lucius her, der sich auf den Weg in den ersten Stock machte und kurz darauf in das Zimmer der jungen Griechin trat. Dort waren gerade Philine und zwei fremde Mädchen damit beschäftigt, das Bett frisch zu beziehen. Als jedoch der Hausherr eintrat, hörten sie sofort mit ihrer Tätigkeit auf und warteten auf etwaige Anweisungen.

Melina und Divia schauten verwundert auf die beiden unbekannten Mädchen.

„Und wo ist die Überraschung?“ brach die Zehnjährige schließlich das Schweigen.

„Wie ihr zwei euch sicher denken könnt, wird Philine sich vorerst um die Organisation des Haushalts kümmern“, erklärte Lucius. „Da du, meine liebe Melina, aber eine persönliche Bedienstete brauchst, habe ich mir erlaubt, dir Laila mitzubringen.“

Die dunkelhäutige Ägypterin schenkte der jungen Griechin ein scheues Lächeln und verneigte sich leicht.

„Ihr wird Sidori etwas zur Hand gehen“, fuhr Lucius mit seiner Erklärung fort, winkte dann das schüchterne Mädchen zu sich heran und wandte sich an Divia: „Falls Melina die Kleine nicht benötigt, kann sie mit dir zusammen lernen oder spielen.“

Die Zehnjährige starrte ihren Vater erstaunt an, dann murmelte sie: „Danke!“, schob aber ihre Hand in diejenige Melinas und drückte sie. Die junge Frau warf einen liebevollen Blick auf Divia und lächelte sie an. Dann wandte sie sich an Lucius: „Ich danke dir von Herzen und freue mich natürlich über die neuen Bediensteten.“

„Ich tue alles, damit du dich in meinem Hause wohlfühlst“, murmelte der Hausherr. „Wenn du einen Wunsch hast, Melina, so scheue dich nicht, ihn zu äußern.“

„Du bist so gut zu mir, Lucius“, meinte sie, senkte ihre Augen und errötete. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.“

Er beugte sich ein wenig zu ihr herab und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Dann verließ er das Gemach.

Divia, die all dies aufmerksam beobachtete, lächelte zufrieden. Es hatte den Anschein, als ob Vater versuchte, Melina hier im Haus zu behalten. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter bei dem belauschten Gespräch die Befürchtung geäußert hatte, Vater könne in Melina verliebt sein. Sie wusste noch nicht wirklich, was das bedeutete, aber wenn es sich in solch zärtlichen Gesten wie einem Kuss auf die Stirn zeigte, war es sicherlich etwas sehr Schönes.

Vermutlich hatte Vater Melina ebenso gern wie sie selbst und wollte sicherlich auch nicht, dass sie von ihnen fortging, um zu heiraten.

Aber Vater könnte sie ja auch heiraten…

Kaum war Divia dieser Gedanke gekommen, jauchzte sie auf.

„Nanu, was ist denn mit dir los?“ fragte Melina verwundert.

„Ach, mir ist nur gerade etwas sehr Schönes eingefallen“, antwortete Divia und strahlte sie an. „Meinst du, ein Wunsch geht in Erfüllung, wenn man ihn sich nur stark genug herbeisehnt?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Melina. „Vielleicht… aber man könnte auch die Götter darum bitten.“

„Und wie geht das?“ wollte Divia wissen.

„Man geht in den Tempel, opfert ihnen etwas, was einem selbst sehr wertvoll ist, und bittet darum.“

„Ja, aber außerdem sollte man sich vorher überlegen, welchen der Götter man um Beistand bitten will“, mischte sich nun Philine ein. „Doch jetzt ist es allmählich an der Zeit, sich für die Cena zurechtzumachen.“

„Zuvor möchte ich unsere neuen Bediensteten ein wenig besser kennenlernen“, sagte Melina und wandte sich zuerst an das zwölfjährige Mädchen. „Dein Name ist also Sidori? Woher kommst du denn?“

„Aus Iberia, Herrin“, antwortete die Kleine leise und wagte nicht, den Blick zu erheben.

„Hab keine Angst, Sidori“, sprach Melina in sanftem Ton auf sie ein. „Du wirst natürlich zusammen mit der Filia familias [1] deine Zeit verbringen, mit ihr lernen und mit ihr spielen. Divia freut sich bestimmt über deine Gesellschaft.“

„Aber ja“, bestätigte das rothaarige Mädchen sofort und lächelte. Ihr gefiel diese Sidori, die kaum älter als sie selbst zu sein schien. Vielleicht könnte sie ihr ebenso wie Melina eine gute Freundin werden.

Das iberische Kind spürte Divias Blick und schaute nun scheu zu ihr. Als sie sah, dass die Tochter des Hausherrn ihr zulächelte, wagte sie endlich auch, ihre Mundwinkel ein wenig anzuheben.

„Ihr solltet jetzt wirklich in Euer Zimmer gehen und Euch für die Abendgesellschaft umziehen, Divia“, ermahnte Philine die Zehnjährige.

„Was? Ich darf mit?!“ rief diese erstaunt aus.

„Natürlich, du gehörst doch zu deinem Vater“, erklärte Melina, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre. „Geh nun rasch! Ich muss mich auch noch fertigmachen!“

„Komm mit und hilf mir!“ forderte Divia Sidori nach dieser Erklärung sofort auf, ergriff das überraschte Mädchen am Handgelenk und zog es hinter sich her. Kopfschüttelnd folgte ihnen Philine.

Melina sah Lucius‘ Tochter lächelnd nach, bevor sie sich in freundlichem Ton Laila zuwandte: „Und woher kommst du?“

„Meine Heimat war Ägypten – und ebenso wie Ihr bin ich eine Verlorene.“

„Wie meinst du das?“ fragte Melina irritiert.

„Ich habe alles verloren, was mir wichtig war“, erklärte Laila mit traurigem Lächeln und schaute der jungen Griechin nun offen ins Gesicht. „Und ich fühle, dass es Euch auch so geht. Oder sollte ich mich etwa irren, Herrin?“

„Nein, du hast ganz recht“, gab Melina zu, offensichtlich immer noch verwirrt über die Rede der neuen Sklavin. „Man entriss mich der Heimat, trennte mich von meiner Familie… ach, dass mich diese Erinnerungen wieder heimsuchen… Dabei habe ich mich auf den heutigen Abend so gefreut.“

„Entschuldigt, Herrin, es lag nicht in meiner Absicht, Euch Schmerzen zu bereiten“, sagte Laila mit leiser Stimme. „Wie kann ich es nur wieder gutmachen?“

„Du konntest ja nichts dafür“, wehrte Melina ab und zwang sich zu einem Lächeln. Ihr fiel ein, dass die Abendgesellschaft im Hause von Silvias Onkel stattfinden würde. Vielleicht war es ihr vergönnt, Kimon wenigstens nur einmal kurz zu sehen. Allein dieser Gedanke gab ihr einen gewissen Trost.

„Welches Kleid möchtet Ihr anziehen?“ fragte Laila und öffnete die beiden Türen des Schranks, der sich heute Morgen noch nicht an der Wand neben dem Eingang befand. Lucius musste veranlasst haben, dass man ihn während ihrer Abwesenheit hereingebracht und all ihre Gewänder dort hineingehängt hatte. Vor Rührung über diese Fürsorge füllten sich ihre Augen mit Tränen.

„Aber, Herrin, was ist mit Euch?“ fragte Laila erschrocken. „Habe ich Euch in irgendeiner Form gekränkt?“

„Nein, nein… es ist nur… Lucius… er ist so lieb…“

„Ja, die Zuneigung eines solch vornehmen Römers wie des Patrons ist Euch trotz allen Unglücks sicherlich ein großer Trost“, meinte Laila. „Deshalb solltet Ihr Eure Gedanken voller Hoffnung auf die Zukunft richten, Herrin.“

„Du hast recht“, gab Melina zu und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann schaute sie nachdenklich über die aufgehängten Kleider und entschied sich schließlich für ein einfaches, weißes Kleid mit silbernen Borten…

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[1] Filia familias = Tochter des Hauses

 

Als Lucius, Melina und Divia den Speisesaal von Senator Quintus Valerianus betraten, wurden sie von dem Gastgeber und seiner Frau Flora herzlich willkommen geheißen.

„Meine liebe Nichte Silvia hat so viel Lobenswertes über Euch erzählt, dass meine Gattin und ich es kaum erwarten konnten, Euch endlich persönlich kennenzulernen“, sagte der Hausherr zu Melina.

„Danke, sehr freundlich von Euch“, erwiderte die junge Griechin und folgte dann der Geste des Senators, der sie ebenso wie alle anderen dazu einlud, es sich auf einer der Liegen bequem zu machen. Dann flüsterte er einem Sklaven etwas ins Ohr, worauf dieser verschwand.

„Wir scheinen die Ersten zu sein“, murmelte Melina Lucius zu, der auf der benachbarten Liege lag. „Ich vermisse Silvia.“

„Sie kommt bestimmt noch“, antwortete er ihr ebenso leise. Dann schaute er zu Divia, die es vorgezogen hatte, sich auf einen der bereitstehenden Stühle zu setzen. Er hoffte im Stillen, dass sich seine Tochter gut benehmen würde. Ursprünglich hatte er sie nicht mitnehmen wollen, ließ sich dann aber von Melina umstimmen, die meinte, Divia litte heimlich an der Trennung von ihrer Mutter und müsse von ihrem Kummer abgelenkt werden.

Die Herrin des Hauses wandte sich nun direkt an Melina: „Wir hoffen, wir können Euch heute Abend eine große Freude bereiten, mein liebes Kind. Unsere Nichte bringt gleich jemanden mit, den Ihr sicherlich zu sehen wünscht.“

Die junge Griechin erhob sich halb von ihrer Liege und fragte zaghaft: „Kimon?“

Flora nickte und ließ ihren Blick zur Eingangstür des Esszimmers gleiten. Einen Augenblick später trat Silvia ein und ihr folgte, Kimon auf dem Arm, Tia. Als die junge Sklavin die Tochter ihres früheren Herrn erblickte, glitt ein breites Lächeln über ihre Züge.

„Kimon!“ rief Melina glücklich aus, sprang von der Liege und eilte zu Tia, die ihn ihr sogleich übergab und sich dann entfernte. Der Junge quietschte vor Vergnügen auf, als er seine Schwester erkannte, griff in ihr Haar und brabbelte: „Meli… Meli…“

„Oh, Kimon!“ murmelte das Mädchen erleichtert und drückte ihn fest an sich. Dann warf sie einen Blick zurück auf Senator Valerianus und seine Frau. „Ich danke Euch!“

Das Ehepaar blickte sich gegenseitig an, dann wandte sich der Gastgeber wieder an Melina: „Bitte, setzt Euch doch! Euer kleiner Bruder wird heute ausnahmsweise an der Cena teilnehmen. Es ist für ihn gewissermaßen ein Ehrentag.“

„Aber Kimon hatte bereits im März Geburtstag!“ meinte Melina lächelnd, nahm jedoch wieder auf ihrer Liege Platz, während sie ihren Bruder fest an sich gedrückt hielt. Dann küsste sie ihn zärtlich auf beide Wangen und setzte ihn sich auf den Schoß.

Silvia hatte sich mittlerweile auf den Stuhl neben Divia gesellt, die den kleinen Griechen äußerst interessiert musterte.

„Nun ja, meine Liebe“, ergriff der Gastgeber wieder das Wort. „In gewissem Sinne ist Euer Bruder neu geboren worden…“

Melina schaute Valerianus daraufhin irritiert an, während Lucius alarmiert aufhorchte, denn er begann zu ahnen, worauf der Senator anspielte.

„Ihr wollt Melina doch nicht wirklich mit solch einer Formsache langweilen, Quintus?“ warf er in der Hoffnung ein, den Gastgeber von der beabsichtigten Enthüllung einer unumstößlichen Tatsache abzubringen, die die junge Griechin zweifellos erschüttern würde.

„Meiner Ansicht nach sollte sie es unbedingt wissen; schließlich ist sie die Schwester des Knaben“, widersprach Valerianus. „Und es ist besser, wenn sie es erfährt, solange die anderen Gäste noch nicht da sind.“

„Worum geht es hier?“ fragte Melina beunruhigt. „Ich bestehe darauf zu erfahren, was mit meinem Bruder ist!“

„Meine Liebe“, wandte sich nun wieder Flora an sie. „Wie Ihr bestimmt wisst, haben die Götter uns nicht mit einem eigenen Kind gesegnet. Darum wollten wir einen Knaben aus einer wohlgeborenen Familie adoptieren. Dies war der Grund, weshalb der Kaiser entschied, Euren kleinen Bruder in unsere Obhut zu geben. Wir haben den Jungen sofort in unser Herz geschlossen.“

„Um es kurz zu machen, meine Liebe: Euer Bruder ist gestern offiziell zu einem römischen Staatsbürger geworden“, führte der Gastgeber die Rede seiner Frau fort. „Wir haben ihn als unseren Sohn in das Familienregister eintragen lassen, und zwar unter dem Namen Quintus Secundus Valerianus.“

„Was?“ hauchte Melina ungläubig und verlor alle Farbe aus ihren Wangen.

„Ja, der Knabe ist jetzt mein anerkannter Sohn“, sagte Valerianus freundlich. „Seid versichert, dass es ihm bei uns an nichts fehlen wird, junge Dame. Zudem gilt er nicht mehr als Geisel und ist damit außer Lebensgefahr. Er wird als freier Römer heranwachsen und eine gute Ausbildung erhalten.“

„Nun… nun, das ist ja alles schön und gut…“, stotterte Melina. Lucius streckte seine Hand aus und strich ihr behutsam über den Arm, um sie zu beruhigen.

„Aber warum…?“ fragte die junge Griechin weiter. „Aber warum… warum, Quintus Valerianus… warum erhielt Kimon einen neuen Namen?“

„Es ist notwendig, da er Römer geworden ist! Und es ist in Rom üblich, dass Söhne den Namen Ihres Vaters weiterführen“, erklärte der Angesprochene in sanftem Ton. „Glaubt mir, Melina, es ist auch für Euren Bruder besser so. Seine Erinnerungen an sein früheres Leben werden mit der Zeit verblassen, je älter er wird…“

„Dann ist unser Wiedersehen also so etwas wie ein Abschied?“ fragte die junge Frau, in deren Augen bereits ein paar aufsteigende Tränen schimmerten.

„Aber nicht doch!“ widersprach Valerianus sofort. „Wie kommt Ihr nur darauf?“

„Ihr nehmt ihm seinen Namen, als ob Ihr damit seine frühere Herkunft auslöschen wollt“, erklärte sie. „Dabei hat meine Mutter… meine Mutter hat ihr Leben für ihn gelassen…“

Sie schloss die Augen, um zu verhindern, dass Tränen herausflossen, aber es war umsonst. Dicke Tropfen perlten über ihre Wangen.

„Das tut mir leid!“ entfuhr es Valerianus. „Davon wusste ich nichts!“

„Meli…“, ließ sich Kimon leise vernehmen.

Die junge Griechin drückte ihren Bruder wieder fest an sich und küsste ihn auf die Wange.

„Meli…“, sagte Kimon. „Nich weinen… Meli…“

„Ach, mein Kleiner“, flüsterte sie. „Mein Kleiner… du sollst mich vergessen…“

Flora hatte sich von ihrer Liege erhoben, ging auf  Melina und ihren Bruder zu und sagte freundlich: „Bitte, meine Liebe, davon kann doch keine Rede sein. Selbstverständlich könnt Ihr Euren Bruder ab und zu sehen. Aber Ihr werdet dann nur eine Freundin der Familie sein und nicht mehr seine Schwester, versteht Ihr?“

„Nein…“, schluchzte Melina. „Nein, das verstehe ich nicht. Niemand kann ungeschehen machen, dass wir Geschwister sind…“

 „Meli… lachen!“ forderte Kimon und spielte mit ihren Haaren. „Meli… nich weinen…“

„Hört auf den Kleinen“, murmelte Flora sanft. Sie reichte der jungen Frau ein Tuch, das diese dankbar ergriff und sich damit die Tränen vom Gesicht wischte. Kimon hingegen drehte sich um, als er die Stimme der Hausherrin hörte, strahlte diese an und krähte fröhlich: „Mama…!“

Das war zu viel für die angeschlagene Gemütslage der jungen Griechin. Sie drückte Kimon noch einmal an sich und übergab ihn dann Flora. Eine Sekunde später stand sie auf und verließ schweigend den Raum.

„Meli… hierbleiben!“ rief Kimon.

Divia war von ihrem Sitz aufgesprungen und wollte ihrer Freundin nacheilen, doch Silvia, die einen raschen Blick mit ihrer Tante ausgetauscht und sich ebenfalls erhoben hatte, sagte zu dem Mädchen: „Ich kümmere mich schon um sie!“

Dann verließ auch sie das Esszimmer, um Melina zu folgen. Der überaus besorgte Lucius wollte es ihr gleichtun, doch Flora hielt ihn zurück und meinte: „Es ist besser, wenn meine Nichte sich allein mit der jungen Dame unterhält, Legatus! Sie findet ganz sicher die richtigen Worte, um Melina Aigikoreusa wieder zu beruhigen.“

„War es wirklich nötig gewesen, sie über die Adoption und die Namensänderung Ihres Bruders aufzuklären?“

„Ja, Legatus!“ antwortete Senator Valerianus in ernstem Ton. „Es würde die junge Dame sehr viel mehr verletzen, wenn sie es über Dritte erführe - denn verheimlichen kann man es auf die Dauer nicht vor ihr.“

Divia, die immer noch wie angewachsen auf der gleichen Stelle stand, funkelte den Gastgeber zornig an und zischte plötzlich: „Melina ist lieb und hat niemandem etwas Böses getan! Sie ist viel lieber als ihr alle! Aber anscheinend glaubt ihr, sie ständig kränken und verletzen zu müssen! Das hat sie nicht verdient!“

„Natürlich nicht, mein Kind“, sprach Flora ruhig auf das Mädchen ein und wollte ihm über den Kopf streicheln, aber es entzog sich ihr. Dann wandte es sich wütend an den kleinen Kimon, den Flora in ihren Armen hielt: „Und du? Du bist ein Verräter!“

„DIVIA!“ fuhr ihr Vater sie in strengem Ton an.

Kimon begann zu weinen, sagte immer wieder: „Meli… wiederkommen…“ und vergrub den Kopf an der Schulter seiner neuen Mutter. Diese entschuldigte sich und ging mit ihm aus dem Raum.

„Da siehst du, was du angerichtet hast!“ schimpfte Lucius mit seiner Tochter, die ihn jedoch nur wütend anfunkelte und ihre Arme vor der Brust verschränkte. „Am liebsten würde ich dich sofort nach Hause schicken!“

„Wir sollten auch sofort nach Hause gehen!“ stieß Divia hervor. „In einem Hause, in dem man Melina gekränkt hat, will ich ohnehin nicht länger bleiben!“

Sprachlos starrte Lucius sie an, dann wandte er sich an den Gastgeber: „Entschuldigt, Senator, aber meine Tochter scheint ihre Manieren vergessen zu haben.“

„Aber nicht doch, Legatus! Ich kann das Mädchen durchaus verstehen“, wehrte Valerianus ab. Als Divia ihn nach diesen Worten erstaunt anstarrte, lächelte er ihr zu und meinte: „Du magst die junge Dame wohl sehr gern und glaubst, wir hätten ihr absichtlich weh tun wollen. Wenn man es von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist es recht von dir, zu Melina zu halten. Darum sehe ich dir dein eigentlich ungehöriges Benehmen gerne nach. Loyalität ist etwas, das ich durchaus schätze, mein Kind. – Aber glaub mir, Mädchen, es lag keineswegs in meiner Absicht, deine griechische Freundin zu kränken. Doch es verhält sich nun einmal leider so, dass die Umstände, in der sie und ihre Brüder sich befinden, äußerst unglückliche sind. Ich dachte, es würde sie freuen zu hören, dass ihr kleiner Bruder außer Lebensgefahr ist.“

„War er denn vorher in Lebensgefahr?“ wunderte sich Divia.

„Ja, mein Kind.“

„Und… und jetzt ist er das nicht mehr?“

„Nein, jetzt ist er es nicht mehr.“

„Nur, weil er Euer Sohn geworden ist?“

„Genau so ist es, mein Kind“, bestätigte Valerianus lächelnd.

Irritiert blickte Divia nun zu ihrem Vater, der froh war, dass sein Gastgeber so viel Verständnis für das eigenwillige Mädchen aufbrachte.

„Ist Melina in Lebensgefahr, Vater?“ fragte sie plötzlich.

„Aber nein, Divia“, beruhigte er sie.

„Das ist merkwürdig“, sinnierte das Kind. „Melina ist nicht in Lebensgefahr, obwohl sie keinen neuen Namen erhalten hat. Aber ihr kleiner Bruder musste erst einen neuen Namen erhalten, damit er in Sicherheit ist. – Das verstehe ich nicht!“

„Melina ist erwachsen, ihr Bruder hingegen nicht!“ behauptete Lucius, der keinerlei Lust verspürte, seiner zehnjährigen Tochter die Regeln der römischen Politik zu erklären.

Genau das fühlte sie auch und wandte sich daher neugierig an Valerianus: „Ihr sagtet, Melina hätte noch mehr Brüder. Könnt Ihr mir wohl sagen, wie viele das sind?“

„Sie hat noch einen älteren Bruder, der gerade eine römische Militärausbildung erhält“, klärte der Senator sie auf.

„Wenn dieser Bruder älter ist als Melina, dann muss er auch schon erwachsen sein“, folgerte Divia. „Demnach ist er also genauso wie meine Freundin außer Lebensgefahr.“

Valerianus warf einen Blick zu Lucius, der unmerklich mit dem Kopf nickte, worauf der Gastgeber dem Mädchen antwortete: „So ist es, mein Kind.“

„Das ist alles sehr seltsam“, seufzte das Mädchen und schüttelte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass die beiden Erwachsenen ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatten und dies wohl auch nicht tun würden, wenn sie ihnen weitere Fragen stellte. Darum gab sie es auf. Vielleicht erfuhr sie das, was sie interessierte, ja auch auf eine andere Art und Weise. Quella wäre bestimmt auskunftsfreudiger als ihr Vater und Senator Valerianus.

Nachdem sie den Beschluss gefasst hatte, die alte Amme ihrer griechischen Freundin in aller Ruhe auszuhorchen, wenn sie mit ihr allein war, besserte sich ihre Laune um ein Vielfaches.

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Währenddessen wartete Melina an der Schwelle des Hauseingangs und hoffte, Lucius und Divia würden ihr gleich folgen. Als sie wenig später sich nähernde Schritte hinter sich hörte, glaubte sie, dass es einer der beiden war und drehte sie sich um. Den Anblick der besorgten Silvia hätte sie allerdings nicht erwartet.

„Melina, bitte! Ihr habt da eben etwas völlig falsch verstanden!“ sagte die junge Römerin

„Ich denke nicht!“ erwiderte die Griechin kühl und wandte sich ab. „Man will die Herkunft meines jüngeren Bruders, seine Erinnerungen daran und die Verbindung zu mir und Leandros sowie zu unserem Vater einfach auslöschen! All dies ist ein Teil von Kimon – egal, wie viele neue Namen ihr ihm gebt!“

„Bitte, Melina, lasst es mich in Ruhe erklären“, meinte Silvia.

„Nein! Ich habe genug gehört!“

„Bitte, kommt mit mir nach draußen in den Garten und hört mich wenigstens an, Melina! Danach könnt Ihr ja immer noch gehen, wenn Ihr unbedingt wollt!“

„Was habt Ihr mir schon zu sagen? Dass ich in Zukunft eine Fremde für meinen Bruder bin?“

„Nein, keine Fremde, eine Freundin!“

„Ich bin seine Schwester!“

„Aber, Melina, wollt Ihr denn wirklich nicht einsehen, dass es für Quintus Secundus das Beste ist?“

„Kimon! Er heißt Kimon!“

„Ihr seid jetzt aufgeregt“, meinte Silvia mit überaus sanfter Stimme, streckte ihre Hand aus und berührte Melina, die ihr den Rücken zugekehrt hatte, behutsam an der Schulter. „Ein wenig frische Luft würde Euch jetzt gut tun. Bitte, begleitet mich in den Garten. Dort können wir ein wenig spazieren gehen und uns dabei in Ruhe unterhalten. Bitte, Melina, hört mich wenigstens an!“

Doch die junge Griechin rührte sich nicht von der Stelle. Lediglich ein leises Schluchzen verriet, dass sie weinte.

„Melina, meine Liebe“, sagte Silvia leise. „Da Ihr mit mir also keinen Spaziergang machen wollt, bleibt mir nun nichts anderes übrig, als hier mit Euch zu sprechen. – Ich kann verstehen, dass Euch erschüttert, was mein Onkel Euch gerade mitgeteilt hat. Aber ist Euch wirklich nicht klar, Melina, wie unwahrscheinlich es ist, dass Ihr und Eure Geschwister nach Griechenland zurückkehrt? Seht doch, welch ein Glück es für Euren kleinen Bruder ist, dass mein Onkel ihn mit der Erlaubnis des Imperators adoptieren konnte. Als Sohn eines römischen Bürgers befindet er sich in Sicherheit. Ist dies nicht ein großer Trost für Euch, Melina?“

„Schon…“, gab sie zögernd zu, ohne sich umzudrehen.

„Es ist üblich, dass der Adoptivsohn den Namen seines neuen Vaters annimmt“, fuhr Silvia behutsam fort. „Durch diesen Akt wird natürlich ausgedrückt, dass die Bande zu seiner früheren Familie gelöst sind. Aber in Rom empfindet man das nicht als Tragödie, sondern als folgerichtige Konsequenz der Adoption. Seht, Melina, für Euren Bruder ist das ein Neubeginn. Er ist noch so jung, dass er problemlos zu einem römischen Bürger heranwachsen und sich wie einer fühlen wird. Es kann nicht ausbleiben, dass mit der Zeit seine Erinnerungen an sein vorheriges Leben verblassen, und das ist gut so! Stellt Euch vor, welch schreckliche Belastung es für ihn wäre, damit zu leben und sich dadurch in Rom wie ein ewiger Fremder zu fühlen, der nie dazugehören wird. Das könnt Ihr doch nicht wirklich wollen?“

Melina schwieg. Sie weinte nun nicht mehr, sondern schien nachzudenken. Nach einer Weile drehte sie sich endlich langsam um, immer noch mit tränenverhangenem Blick, aber sehr viel gefasster.

„Es klingt alles vernünftig, was Ihr sagt, Silvia. – Könntet Ihr mir bitte das Zimmer zeigen, in dem man Kimon untergebracht hat?“

„Aber natürlich! Bitte, folgt mir!“

Silvia führte sie zu einem großen Raum, dessen Tür offenstand, so dass man bereits von weitem sah, dass darinnen Licht brannte. Als die beiden jungen Frauen eintraten, sahen sie, dass Flora sich dort befand. Selbstvergessen saß diese auf einem bequemen, großen Schaukelstuhl, hielt Kimon an sich gedrückt und summte ihm leise ein Lied ins Ohr.

Dieser Anblick löste zwiespältige Gefühle in Melina aus: Einerseits rührte sie der Anblick der älteren Frau, die sich in zärtlicher Weise mit dem kleinen Jungen beschäftigte und ihn tatsächlich wie ein eigenes Kind zu lieben schien. Andererseits konnte sie niemals vergessen, dass ihre eigene Mutter Kimon unter großen Schmerzen geboren und einige Zeit später an den Folgen dieser Geburt gestorben war.

Tia, die gerade damit fertig war, alles in dem kleinen Kinderbettchen so vorzubereiten, dass Kimon angenehm schlafen konnte, richtete sich jetzt auf und erblickte die beiden Mädchen, die schweigend Flora betrachteten.

„Junge Herrin!“ sagte sie leise, worauf Melina sie ansah.

Doch auch die Aufmerksamkeit der Senatorengattin richtete sich nun wieder auf ihre Umgebung. Sie schien erstaunt, ihre Nichte und die Schwester ihres Adoptivsohnes hier zu sehen.

„Verzeiht, Tante, aber Melina wollte sehen, wie ihr Bruder bei uns lebt.“

Flora nickte verständnisvoll. Dann schaute sie wieder mit zärtlichem Blick auf Kimon, der in ihren Armen schlief, drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn und winkte dann Tia heran, die sofort kam und das Kind in Empfang nahm. Während die Sklavin es behutsam ins Bettchen legte, erhob Flora sich und bedeutete den beiden Mädchen, mit ihr wieder hinauszukommen. Draußen richtete sie dann leise das Wort an Melina: „Nun, meine Liebe, habt Ihr nicht den Eindruck gewonnen, dass Quintus Secundus es gut bei uns haben wird?“

„Er scheint sich überaus wohlzufühlen“, murmelte Melina, ließ dann ihren Blick wieder zum Eingang des Kinderzimmers gleiten und bat: „Könnte ich noch eine Weile bei meinem Bruder bleiben?“

Flora zögerte, als überlege sie, ob dies gut sei. Dann meinte sie jedoch: „Also schön. Ich sehe ein, dass ich Euch dies schuldig bin. Aber danach bitte ich Euch, wieder an der Cena teilzunehmen, Melina. Versprecht Ihr mir das?“

„Ja, Matrona“, erwiderte die Griechin, verneigte sich leicht und begab sich dann erneut in das Zimmer, in dem man Kimon untergebracht hatte, während sich die Hausherrin und ihre Nichte entfernten.

Tia stand neben dem Kinderbettchen und betrachtete den schlafenden Knaben. Melina gesellte sich zu ihr, schaute ebenfalls auf ihren Bruder und flüsterte dann: „Tia, sag mir, wie es euch ergangen ist, seit man uns gewaltsam getrennt hat? Behandelt man euch in diesem Hause gut?“

„Ja, Herrin“, wisperte die junge Sklavin. „Der Senator und seine Frau sind überaus freundliche Leute. Sie behandeln Euren Bruder tatsächlich wie ihren eigenen Sohn, und ich darf weiterhin seine Amme bleiben. Allerdings muss ich mich noch an den neuen Namen gewöhnen.“

„Ach, Tia, ist es nicht furchtbar, einem Kind seine Wurzeln zu nehmen?“

„Oh, Herrin, es hätte uns sehr viel schlimmer treffen können. Durch die Adoption bleibt Kimon wenigstens der Sklavenstand erspart und er wird so erzogen, wie es seiner Herkunft angemessen ist.“

„So siehst du das?“ wunderte sich Melina.

„Kann man es denn anders sehen, Herrin?“ fragte Tia und schaute sie offen an. „Es ist Euch doch wohl klar, dass wir die Heimat nie wiedersehen werden und uns daher mit den Umständen abfinden müssen? Eurem Bruder ist zum Glück ein günstiges Schicksal beschieden. Aber wie geht es Euch, Herrin? Ich hörte, dass Ihr bei Lucius Marcellus wohnt.“

„Ja, das ist richtig“, bestätigte die junge Frau. „Und ich kann mich nicht beklagen.“

„Es hätte mich auch gewundert, wenn es anders wäre“, meinte die Sklavin. „Der Legatus ist Euch äußerst wohlgesonnen und ich glaube, dass Ihr von ihm nichts zu befürchten habt, egal, was Quella von sich gibt.“

„Ach, sie hat dir gegenüber derartige Bemerkungen gemacht?“ fragte Melina und zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

„Nicht direkt, aber ich halte Augen und Ohren offen“, erklärte die Sklavin. „Quella ist Euren Eltern immer eine treue Dienerin gewesen und hängt sehr an Euch, Herrin. Umso größer ist ihr Hass auf alle, die sie für die Feinde Eures Vaters und damit auch für Eure Feinde hält. Und glaubt mir, Herrin, Quella hasst den Legatus aus ganzem Herzen. Ihr solltet ein Auge auf sie haben, damit sie sich selbst und anderen keine Schwierigkeiten bereitet.“

„Im Moment ist sie friedlich“, sagte Melina. „Ich glaube, sie hat sich endlich mit ihrem Schicksal abgefunden. Jedenfalls ist sie jetzt das Kindermädchen für die Tochter von Lucius Marcellus und kümmert sich gut um die Kleine.“

„Tatsächlich?“ entfuhr es Tia. „Nun, das freut mich.“

Kimon rührte sich ein wenig und brabbelte leise. Melina beugte sich über ihn, strich ihm sanft durch sein dunkles Haar und wisperte: „Schlaf gut, mein Kleiner!“

„Meli… ich dich lieb…“, hauchte der Junge, der seit gestern Quintus Secundus hieß, hielt einen Augenblick die Hand seiner Schwester fest und schlief wieder ein. Vorsichtig entzog Melina ihm ihre Hand, blickte traurig auf ihn herab und fragte leise: „Tia, wie fühlt Kimon sich bei Valerianus und seiner Frau?“

„Er ist wirklich glücklich hier“, antwortete die junge Sklavin ebenso leise. „Bitte, Herrin, nehmt es nicht so schwer. Wenn ich bedenke, wie kühl Euer Vater stets zu Kimon gewesen ist, dann glaube ich fast, dass er es bei diesem älteren Ehepaar sehr viel besser hat. Er nennt die beiden sogar schon Mama und Papa.“

„Mir bleibt nichts anderes übrig, als dies zu akzeptieren“, seufzte Melina. „Aber es fällt mir sehr schwer.“

Sie wandte sich nun wieder Tia zu, umarmte sie spontan und wisperte ihr ins Ohr: „Bitte, pass auf Kimon auf – denn für mich wird er stets Kimon sein! Alles Gute auch für dich, meine liebe Tia. Ich muss jetzt leider gehen. Aber wir werden uns sicher wieder begegnen.“

„Ja, Herrin, das hoffe ich auch!“ murmelte die junge Sklavin. „Und ich verspreche, mich gut um Kimon zu kümmern. Alles Glück dieser Welt für Euch, Herrin, denn Ihr seid stets gütig zu mir gewesen. Bitte, grüßt Quella von mir!“

„Das mache ich“, erwiderte Melina. „Danke für deine guten Wünsche. Auf Wiedersehen!“

 

Melina war froh, als sie kurz vor Mitternacht endlich wieder zu Hause ankamen. Zwar war es für sie zunächst ein schmerzlicher Abend gewesen, aber sie musste sich nach dem Gespräch mit Silvia und Tia selbst eingestehen, dass Kimon angesichts seines bisherigen unglücklichen Schicksals kein besseres Los hätte treffen können. Und nachdem sie während der Cena das Ehepaar Flora und Quintus besser kennengelernt hatte, war sie schließlich genauso wie Tia davon überzeugt, dass diese beiden ihrem kleinen Bruder gute Eltern sein würden. Dermaßen beruhigt konnte sie endlich die Abendgesellschaft genießen, zu der außer ihr, Lucius und Divia auch Flavius Senior und Flavius Junior sowie zwei befreundete Ehepaare der Gastgeber eingeladen waren.

Silvia genoss sichtlich das Zusammensein mit ihrem Verlobten und Melina musste einräumen, dass die beiden ein schönes Paar abgaben. Sie saßen beisammen, hielten Händchen und waren dermaßen damit beschäftigt, sich gegenseitig anzuschauen, dass sie kaum einen Blick auf die Darbietungen der Artisten warfen, die Quintus zur Unterhaltung seiner Gäste für den heutigen Abend engagiert hatte.

Divia hingegen war fasziniert von ihnen. Besonders hatte es ihr der Feuerschlucker angetan, der jedoch bei Melina ein leichtes Unbehagen auslöste. Sie atmete erleichtert auf, als dieser mit seiner Nummer fertig war, ohne etwas in Brand gesetzt zu haben.

Am Besten gefiel der jungen Griechin die Lyraspielerin, die als Letzte auftrat und mit ihrer glockenklaren Stimme die lieblichsten Lieder sang, die Melina je gehört hatte. Alle Anwesenden, bis auf Flavius Senior, waren bezaubert von ihrem Vortrag.

„Ach, Lucius“, seufzte das griechische Mädchen verzückt. „Du solltest diese Sängerin unbedingt auch einmal für eine deiner Gesellschaften bestellen.“

„Oh, Melina!“ rief Flavius Senior, der dem Wein bereits sehr zugesprochen hatte. „Lucius wird Euch diesen Wunsch bestimmt erfüllen… hicks! …, wenngleich ich nichts an einem derartigen Gezwitscher finden kann… hicks! … Hi, hi, hi… Aber was tut mancher Mann nicht alles für eine schöne Frau… Hi, hi, hi…!“

Einen Augenblick lang herrschte eine peinliche Stille im Raum. Dann wandte sich der Gastgeber in freundlichem Ton an die Lyraspielerin: „Dein Gesang hat uns überaus erfreut!“

Er winkte die Künstlerin zu sich heran und drückte ihr einige Geldstücke in die Hand.

„Danke, Herr!“ sagte die Lyraspielerin überrascht, verneigte sich tief und verschwand dann.

Flavius Senior blickte ihr hinterher und meinte dann: „Viel zu dünn… wirklich… hicks!“

Sein Sohn erhob sich und sagte: „Es ist schon sehr spät. Lass uns nach Hause gehen, Vater!“

„Wirklich? Du willst dich wirklich schon von Silvia trennen, mein Junge?“ fragte der alte Flavius.

„Wie gesagt, Vater, es ist bereits sehr spät!“

„Ist es wirklich schon so spät?“ fragte daraufhin der alte Offizier und blickte in Richtung des Gastgebers. Dieser nickte und meinte, wobei er sich gleichzeitig erhob: „Ja, mein Lieber. Ich fürchte, wir müssen diese Cena langsam beenden.“

Er warf einen Blick in die Runde seiner Gäste und sagte: „Ich hoffe, liebe Freunde, dass Euch der heutige Abend angenehm unterhalten hat und danke für Euren Besuch.“

Melina erinnerte sich, dass der junge Flavius sich beeilte, mit seinem Vater aus dem Haus zu kommen. Ihm blieb keine Zeit, um sich richtig von Silvia zu verabschieden, wie er es wohl gerne getan hätte, denn er warf seiner Braut einen Blick voller Bedauern zu, bevor er sich wieder um seinen Vater kümmerte.

Die Griechin wunderte sich, dass der junge Flavius dermaßen diszipliniert war, während sein Vater - laut Aussage von Lucius ein verdienter Offizier - das genaue Gegenteil zu sein schien. Dank seines hingebungsvollen Weingenusses fiel er mehrmals an diesem Abend durch peinliche Bemerkungen auf, die die Gäste jedoch geflissentlich ignorierten. Offensichtlich waren sie an derartige Verhaltensweisen des älteren Mannes gewöhnt.

Dennoch war Melina nicht entgangen, wie sehr sich Flavius Junior für seinen Vater schämte. Sie konnte verstehen, dass er nichts Eiligeres zu tun hatte, als diesen so schnell wie möglich von der Gesellschaft fortzubringen, ehe es noch peinlicher wurde. Der junge Mann konnte einem eigentlich leid tun.

Bevor sie sich jedoch mit Lucius und Divia auf den Heimweg machte, bat Silvia sie, mit ihr einen kurzen Spaziergang im Garten zu machen. Da Melina ihr unwirsches Verhalten gegenüber der jungen Römerin, die ihr doch so sympathisch war, inzwischen sehr leid tat, willigte sie sofort ein und schlenderte wenig später Arm in Arm mit ihr auf einem kleinen Weg zwischen blühenden Sträuchern voller Rosen und Jasmin, deren Wohlgeruch die Luft erfüllte. Die Nacht war hell und klar und der Himmel hing voller Sterne.

„Ihr scheint Euch wieder ein wenig gefangen zu haben, Melina“, begann Silvia vorsichtig. „Nachdem Ihr jetzt meinen Onkel und meine Tante kennengelernt habt und Euch selbst davon überzeugen konntet, dass Euer Bruder wohlauf ist, hoffe ich, dass Ihr die Trennung von ihm leichter ertragen werdet.“

„Ja, ich denke schon“, gab die Griechin zu. „Auch Tia, Kimons Kindermädchen, versicherte mir, wie gut es ihm hier geht und wie gütig Eure Verwandten zu dem Kleinen sind. Ich sah ja mit eigenen Augen, wie lieb Eure Tante zu meinem Bruder war.“

„Ja, sie ist so glücklich darüber, endlich Mutter sein zu dürfen“, erwiderte Silvia.

„Und Ihr seid glücklich mit Eurem Verlobten“, sagte Melina, um einen Themenwechsel herbeizuführen. „Er scheint ein netter, junger Mann zu sein. Aber mit seinem Vater ist es wohl nicht ganz so leicht. Wie kommt es, dass er so gänzlich anders zu sein scheint als Euer Bräutigam?“

„Ach, so übel ist mein zukünftiger Schwiegervater gar nicht“, erklärte Silvia. „Es ist immer nur dann schlimm, wenn er zu viel Wein getrunken hat. Wisst Ihr, letztes Jahr hat er in einer Schlacht eine böse Verletzung am rechten Bein davongetragen und lag viele Nächte im Fieberwahn. Zwar hat er es überstanden, aber manchmal kehren die Schmerzen im Bein zurück und er trinkt dann, um sie zu betäuben.“

„Ja, ein Soldat lebt gefährlich“, murmelte Melina. „Habt Ihr denn keine Angst um Euren Flavius, wenn er fort muss?“

„Natürlich, ein wenig immer, aber ich wusste, auf was ich mich einlasse, als ich mich mit einem Offizier verlobte“, antwortete die junge Römerin. „Außerdem bin ich nicht die einzige Frau, die mit einem Soldaten verbunden ist. Lucius Marcellus ist ein hoher Offizier und trotzdem war seine Gemahlin viele Jahre lang mit ihm zusammen; und damit steht sie nicht allein.“

„Gewiss habt Ihr schon gehört, dass Lucius sich von ihr getrennt hat“, sagte Melina.

„Ja, eine traurige Geschichte“, seufzte Silvia. „Sie kann einem wirklich leid tun. Nach Divia war es ihr nicht wieder vergönnt, Mutter zu sein. Totgeburten, Fehlgeburten oder Kinder, die wenige Tage nach der Geburt starben… das muss schrecklich sein! Und nach all diesen Strapazen, die sie auf sich nahm, um ihrem Mann einen Sohn schenken zu können, trennt Lucius sich schließlich von ihr.“

„Das also ist der Scheidungsgrund?“ wunderte sich Melina. „Er hat sie fortgeschickt, weil sie ihm keinen Sohn schenken konnte?“

„Jedenfalls ist das die offizielle Version“, bestätigte Silvia. „Vermutlich steckt noch mehr dahinter, aber das ist schlussendlich eine Sache, die nur Lucius und Selene etwas angeht. Mich interessiert viel mehr, wie es Euch geht, Melina? Habt Ihr Euch inzwischen ein bisschen einleben können?“

„Ich glaube schon. Heute war ich zum Beispiel das erste Mal in einer Therme.“

„Ach, hat Lucius Marcellus es endlich erlaubt?“

„Ja“, erwiderte Melina, ohne auf Silvias Frage näher einzugehen.

„Fein! Dann könnten wir uns doch hin und wieder für dort verabreden. Im Badehaus wären wir unter uns und hätten Gelegenheit, tiefergehende Gespräche zu führen.“

„Aber im Moment sind wir doch auch unter uns“, wandte Melina ein, wurde aber eine Sekunde später unterbrochen durch den lauten Ruf Divias, dass sie endlich nach Hause wollten. So verabschiedete sie sich von Silvia, dann von den Gastgebern, bei denen sie sich noch einmal für die Einladung bedankte, und stieg endlich zu Divia in jene Sänfte ein, mit der sie am Vormittag bereits zur Therme transportiert worden war. Lucius ritt ihnen langsam voraus und die Sklaven, die die Sänfte trugen, folgten ihm.

„Was hattest du eigentlich so lange mit Silvia zu besprechen?“ fragte die Zehnjährige mit ärgerlichem Unterton, während sie sich auf dem Heimweg befanden.

„Ach, sie hat mir von sich und ihrem Verlobten erzählt“, meinte Melina.

„Und das hat so lange gedauert?“

„Ja, denn ich wollte so einiges von ihr wissen.“

„Hm… wenn man verlobt ist, dann will man heiraten, stimmts?“

„Ja, das ist üblicherweise so, Divia.“

„Du willst bestimmt auch eines Tages heiraten, nicht wahr?“

„Darüber mache ich mir im Moment keine Gedanken“, behauptete Melina. „Jetzt möchte ich erstmal nach Hause und ein wenig zur Ruhe kommen. Der heutige Abend hat mich doch sehr aufgewühlt.“

„Bist du immer noch traurig wegen deines kleinen Bruders?“ fragte Divia mitfühlend.

„Nachdem ich gesehen habe, wie gut er es bei dem Senator und seiner Frau hat und wie wohl er sich bei ihnen fühlt, geht es mir etwas besser.“

„Gemein ist es trotzdem, dass man euch beide getrennt hat.“

„Wir müssen uns damit abfinden, Divia. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.“

Das Kind schwieg daraufhin und Melina vermutete, dass es nicht verstand, warum man so mit ihr und ihrem Bruder umsprang. Sie hielt es auch für besser, das Thema nicht zu vertiefen, denn es würde das Mädchen, das ein so gutes Herz besaß, nur bedrücken, weil es ja nichts dagegen machen konnte.

Sobald sie zu Hause waren, wünschte Melina Divia und Lucius eine gute Nacht und zog sich zurück, ohne den enttäuschten Blick des Legatus zu bemerken. Sie war durcheinander und hoffte, im Schlaf etwas Frieden zu finden. Doch sie konnte einfach nicht einschlafen und stand schließlich eine halbe Stunde später auf, warf sich einen leichten Mantel über und ging hinaus in den Garten, der noch von ein paar im Boden steckenden Fackeln beleuchtet war. Sie wollte sich auf die Schaukel setzen und dabei ein wenig die Sterne betrachten, die in dieser klaren Nacht besonders hell zu funkeln schienen. Was für eine schöne Mainacht es doch war! Und genau wie im Garten des Quintus Valerianus war auch die Luft hier von wohlriechenden Düften erfüllt. Melina schloss die Augen und atmete tief ein…

„Nanu, Melina, ich dachte, du liegst längst im Bett?“

Erschrocken schlug das Mädchen die Augen auf. Sie hatte nicht erwartet, dass Lucius noch wach war und sich hier im Garten befand. Aber da saß er auf einer langen, großen Bank und betrachtete sie neugierig.

„Ich war auch müde, aber ich konnte einfach nicht einschlafen und dachte, ein wenig frische Luft würde helfen“, erklärte sie, fühlte dabei aber ihr Herz heftiger schlagen.

„Komm, setz dich ein bisschen zu mir und lass uns plaudern“, schlug er vor.

Melina folgte dieser Aufforderung mit klopfendem Herzen und wunderte sich darüber. Sie hatte den ganzen Abend an der Seite von Lucius verbracht, ohne nervös zu werden. Doch jetzt war sie völlig allein mit ihm… warum trug diese Tatsache dazu bei, dass sie plötzlich spürte, wie heiß es hier draußen doch war? Vorhin hatte ihr die Hitze nichts ausgemacht, aber nun war ihr Mund trocken und in ihrem Bauch kribbelte es seltsam…

„Die Sache mit deinem kleinen Bruder tut mir wirklich sehr leid“, begann Lucius leise. „Glaub mir bitte, ich habe versucht, den Kaiser dazu zu bewegen, mir den Jungen zu überlassen, aber ohne Erfolg.“

„Schon gut“, erwiderte Melina ebenso leise und wagte kaum, ihn anzusehen. „Ich bin sicher, dass du dein Bestes versucht hast, um uns zu helfen. Mach dir bitte keine Gedanken um mich, ich muss mich nun einmal damit abfinden, dass Kimon neue Eltern hat. Mich tröstet einzig die Gewissheit, dass Senator Valerianus und seine Gemahlin ihn lieben und gut für ihn sorgen werden.“

„Meine liebe Melina…“, begann Lucius erneut und stockte einen kurzen Moment, bevor er fortfuhr: „Ich mache mir sehr oft Gedanken um dich…“

Das Mädchen schluckte, als es das hörte, und wagte dann, ihm in die Augen zu sehen.

„Du machst dir Gedanken um mich, Lucius? Warum…?“

„Weißt du, Melina, du gehst mir einfach nicht aus dem Kopf… seit ich dich kennengelernt habe, muss ich an dich denken – und von Tag zu Tag muss ich immer öfter an dich denken…“

„Was willst du mir eigentlich sagen, Lucius?“ fragte die junge Frau, spürte dabei, dass ihr beinah das Herz aus der Brust springen wollte, und lief feuerrot an, was man jedoch in dem dämmrigen Licht nicht sah.

„Ich habe dich sehr gern, Melina… hast du mich auch gern?“

„Ja… ja, Lucius, ich mag dich sehr…“

Sie spürte, dass seine Hand die ihre ergriff und drückte. Ihr war bisher noch nie aufgefallen, dass er unter schweißnassen Händen litt.

„Nun…“, flüsterte er. „Das sind gute Voraussetzungen…“

„Gute Voraussetzungen wofür?“

„Ich bin wieder ein freier Mann, Melina.“

Jetzt wandte sie erschrocken ihre Augen von ihm ab und starrte auf den Boden.

„Ich liebe dich, Melina“, hörte sie ihn flüstern. „Möchtest du meine Frau werden?“

Ihr stockte der Atem.

Hatte Lucius ihr eben wirklich einen Heiratsantrag gemacht oder hatte sie sich verhört?

„Was?“ fragte sie tonlos, ohne ihn anzusehen.

„Möchtest du meine Frau werden, Melina?“

Sie hatte sich also nicht verhört.

Melina sog tief die Luft in sich ein, schloss die Augen, um sie gleich darauf wieder zu öffnen und wagte es endlich, Lucius erneut anzusehen. Seine Miene war ernst, seine blauen Augen schienen förmlich in ihre eintauchen zu wollen, während er offensichtlich angespannt auf Antwort wartete.

„Lucius…“

„Ja… ja, Honigmädchen?“

„Das… das kommt so überraschend…“, wich sie aus. In ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles. Lucius liebte sie, wollte sie heiraten… es war genau das, was sie sich heimlich ersehnte, obwohl sie es nie für möglich gehalten hätte… sie könnte jauchzen vor Glück… er wollte sie heiraten… und sie hatte ihn doch so gern… er war ein so schöner Mann mit angenehmen Manieren und er besaß ein gutes Herz… sie würde sich immer auf ihn verlassen können…

„Oh, Lucius… ich möchte schon…“, hauchte sie.

Kaum waren ihr diese Worte über die Lippen gekommen, führte er ihre Hand, die er bis jetzt die ganze Zeit in seiner gehalten hatte, zum Munde und küsste das Innere ihrer Handfläche. Wieder schloss sie die Augen und spürte, wie ein starkes Kribbeln von dieser Stelle ausging und sich rasch über ihren ganzen Körper verbreitete.

Es war unglaublich!

Sollte sich am Ende das Unglück, das sie getroffen hatte, in Glück verwandeln?

„Lucius…“, sie öffnete wieder ihre Augen und lächelte ihn an. Er beugte sich nun zu ihr hinunter und verschloss sanft ihre Lippen mit den seinen. Behutsam schlang sie ihre Arme um seinen Nacken. Oh, gepriesen seien die Götter! Seit sie als kleines Mädchen die Statue Apollos gesehen hatte, träumte sie davon, eines Tages einen Ehemann zu haben, der ihm ähnlich war. Ein edler Charakter, der sie liebte, respektierte und beschützte, mit Haaren so hell wie die Sonne. All diese Attribute trafen auf Lucius Marcellus zu. Wie konnte Vater solch einen großartigen Mann wie ihn nur als Feind betrachten?

Vater!

Der Gedanke an ihren alten Herrn kam so plötzlich wie ein Faustschlag und bewirkte, dass der verliebten, jungen Frau ruckartig all jenes in Erinnerung kam, das in grausamer Weise ihren romantischen Träumen entgegenzustehen schien.

Wie konnte sie nur glauben, dass man es einem hochangesehenen Römer wie Lucius Marcellus gestatten würde, eine Fremde wie sie zur Frau zu nehmen?

Was war sie denn anderes als eine Kriegsgefangene, die nur aufgrund der Güte ihres neuen Herrn und seines Freundeskreises wohlwollend behandelt wurde? Nichtsdestotrotz hatte man ihr deutlich vor Augen geführt, wie unfrei sie war, als man sie von ihren Brüdern trennte! Sie konnte noch nicht einmal etwas dagegen tun, dass man ihrem jüngeren Bruder seinen Namen raubte und ihm neue Eltern gab!

„Lucius, wir werden nicht heiraten können“, sagte sie und löste sich aus seinen Armen.

„Was? Aber warum denn nicht?“ fragte er stirnrunzelnd.

„Ich bin keine römische Staatsbürgerin“, erklärte sie. „Ich bin doch nur eine Geisel, kaum besser als eine Sklavin…“

„Ach so…“, murmelte er.

Sie glaubte, den Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen. Aber genauso gut konnte ihr das dämmrige Licht der Fackeln einen Streich gespielt haben.

„Das ist gar kein Problem, mein Honigmädchen“, sagte er selbstsicher. „Der Kaiser hat dich aus dem Geiselstatus entlassen und in meine Obhut gegeben. Von mir erhältst du einen Freibrief und danach lebst du einfach als meine Frau weiterhin in meinem Haus.“

„Aus deinem Munde klingt das so einfach, Lucius.“

„Das ist es auch, Melina! Wir werden eine kleine Feier veranstalten, in der ich offiziell verkünde, dass wir beide im Konkubinat zusammenleben.“

„Konkubinat?“ fragte sie verständnislos. „Ich dachte, du wolltest mich zur Frau nehmen?“

„Aber nach dieser offiziellen Erklärung bist du meine Frau!“

„Ein Konkubinat ist keine Ehe!“ widersprach Melina.

„In Rom ist das fast dasselbe“, behauptete Lucius. „Viele Römer leben mit der Frau ihres Herzens in einer derartigen Verbindung, weil das geliebte Wesen nicht die römische Staatsbürgerschaft besitzt. Aber eigentlich, meine Schöne, ist es eine Ehe!“

Melina erhob sich abrupt von der Bank und murmelte: „Ich muss darüber nachdenken, Lucius. Bitte, entschuldige mich!“

Dann rannte sie so schnell sie konnte ins Haus, begab sich in ihr Gemach und verschloss die Tür. Verzweifelt lehnte sie sich dagegen, blickte zur Decke und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Sie konnte nicht fassen, dass Lucius gerade eben versucht hatte, ihr allen Ernstes weiszumachen, dass eine offizielle Geliebte hier in Rom fast einer Ehefrau gleichkam!

Für wie naiv musste er sie halten, wenn er glaubte, dass sie ihm eine solche Lüge abnahm?!

Erschrocken hielt sie den Atem an, da sie hörte, wie jemand sich mit lauten, festen Schritten ihrer Tür näherte. Dann klopfte er dagegen.

„Melina! Was ist denn nur los?“ hörte sie Lucius fragen.

„Geh weg!“ schrie sie.

„Bei Jupiter, Melina! Was ist geschehen?!“

„Geh weg!“

„Was soll das bedeuten?!“ fragte er, wobei der Klang seiner Stimme deutlich seinen Ärger verriet. „Was habe ich dir getan, Melina?!“

Sie ließ sich schluchzend zu Boden gleiten.

„Was, mein Honigmädchen, habe ich dir denn nur getan?“

Der ärgerliche Ton hatte sich in einen besorgten verwandelt.

„Wenn ich etwas gesagt oder getan habe, dass dich kränkte, so tut es mir von Herzen leid. Bitte, verrate mir doch, was los ist!“

Sie gab keine Antwort, sondern weinte weiter.

„Meine kleine Melina“, murmelte er sanft. „Bitte, öffne die Tür… dann komme ich rein zu dir und du sagst mir endlich, womit ich dich gekränkt habe…“

„Als ob du das nicht wüsstest!“ stieß sie zwischen zwei Schluchzern hervor.

Einen Augenblick schien er sprachlos zu sein. Dann meinte er: „Ich weiß es wirklich nicht, mein süßes Mädchen! Ach komm, bitte, sei lieb und öffne die Tür… bitte!“

Sie gab ihm weder eine Antwort noch reagierte sie auf seine Bitte, sondern erhob sich langsam vom Boden, ging ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Sie wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen… wie konnte Lucius ihr nur so weh tun?

„Melina?“ fragte er erneut.

Sie schwieg. Warum ging er nicht endlich fort?

Ein harter Schlag traf die Tür.

„Melina! Verdammt! Mach auf!“

Nein! Nein! Nein! Sie wollte ihn nicht sehen, sie wollte ihn nicht hören… keine Lügen mehr…

Noch einmal traf ein harter Schlag die Tür.

„Mach auf!“

Sie reagierte nicht. Dann hörte sie plötzlich Stimmengewirr. Vor ihrer Tür schien sich der ganze Haushalt versammelt haben.

„Was ist los, Herr?“ – „Können wir Euch helfen, Herr?“ – „Was sollen wir tun, Herr?!“ – Und mittendrin die wütende Stimme Divias: „Warum könnt ihr alle Melina nicht einfach mal in Ruhe lassen?!“

„Hat sich die junge Dame etwa in Ihrem Zimmer eingeschlossen?“ ließ sich Philine in ihrer ruhigen Art vernehmen. „Was ist passiert, Herr?“

„Woher soll ich das wissen?!“ knurrte Lucius zornig. „Sie spricht ja nicht mit mir!“

„Melina, mein Lämmchen! Mein armes, kleines Lämmchen!“ jammerte Quella. „Ach, was habt Ihr meinem armen Lämmchen nur angetan?!“

„ICH WAR SEHR NETT ZU DEINEM LÄMMCHEN!“ schrie Lucius sie an, worauf die Alte anfing, laut zu weinen.

Melina bekam Mitleid mit ihrer Amme, die sie doch stets zu beschützen versuchte. Sie wollte nicht, dass Lucius Quella etwas antat und spielte gerade mit dem Gedanken, ihre Tür doch zu öffnen, als sie hörte, wie Philine sagte: „Bitte, Herr, beruhigt Euch! Es ist sicher das Beste, wenn Ihr Euch nun zu Bett begebt und Euch ausschlaft!“

„Nein! Ich will wissen, warum Melina sich mir gegenüber plötzlich so merkwürdig verhält“, schimpfte er. „Vor kurzem saßen wir noch in guter Stimmung zusammen und auf einmal läuft sie ins Haus zurück, schließt sich in ihrem Zimmer ein und weint! Und als ich sie frage, was los ist, antwortet sie, dass ich das wüsste… Aber ich weiß nichts! Nichts!“

„Das lässt sich gewiss aufklären, Herr“, versuchte Philine ihn zu beschwichtigen. „Bitte, geht nun zu Bett. Ich werde versuchen, mit der jungen Dame ins Gespräch zu kommen. Vielleicht war alles für sie heute einfach zu viel. Bitte, vergesst nicht, Herr, dass sie durch den roten Mond noch geschwächt sein kann.“

„Hm…“, brummte er. Anscheinend überzeugte ihn das Argument der griechischen Sklavin.

„Also schön“, gab er endlich nach. „Versuch herauszufinden, was sie hat.“

„Lasst mich mit meiner Herrin sprechen!“

„Schweig, Alte! Du bist die Letzte, die ich im Augenblick zu Melina lassen würde. Meinst du, ich wüsste nicht, dass du sie sehr oft aufregst?! Halte dich bloß von dem Mädchen fern!“

„Wie kannst du nur so gemein zu Quella sein, Vater?!“

„Halt den Mund, Divia, und geh zu Bett! – He, Alte, bist du nicht eigentlich für meine Tochter zuständig?! Nimm sie und verschwindet beide aus meinem Blickfeld, und zwar sofort!“

Melina hörte, wie Quella jammerte und Divia leise schimpfte, während sie sich entfernten.

„Und ihr anderen alle?! Was steht ihr noch hier herum und glotzt?! Verschwindet, oder ich werde euch Beine machen!“ schrie Lucius.

Darauf war hastiges Getrappel zu hören und plötzlich war es wieder still. Melina fragte sich gerade, ob der Hausherr sich ebenfalls entfernt hatte, als sie die leise Stimme Philines vernahm: „Melina Aigikoreusa, schlaft Ihr schon?“

„Nein“, erwiderte sie.

„Das hätte mich auch sehr gewundert bei dem Lärm, der eben hier draußen herrschte. Bitte, lasst mich ein, damit ich sehe, wie ich Euch helfen kann. Denn ich glaube, es geht Euch nicht sonderlich gut, Herrin. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mir dann auch gern erzählen, was genau Euch so aufgeregt hat, dass Ihr Euch im Zimmer einschließt.“

„Seid Ihr allein, Philine?“

„Ja, außer mir ist niemand mehr hier, Herrin.“

Melina erhob sich aus ihrem Bett und ging zur Tür, um zu öffnen. Philine lächelte sie freundlich an und kam ins Zimmer. Sie betrachtete sich die junge Frau eingehend und meinte: „Ich sehe schon, dass Ihr nicht wohlauf seid, Melina, Eure Augen sind vom vielen Weinen ja ganz rot. Bitte, legt Euch hin. Ich werde sofort einen kühlen Umschlag für Euch holen.“

Mit diesen Worten verschwand die griechische Sklavin, kehrte jedoch einige Minuten später mit einem in kaltem Wasser getränkten Tuch zurück, das sie der jungen Frau, die sich wieder im Bett befand, über die geschlossenen Augen legte.

„So, mein liebes Kind“, meinte Philine freundlich. „Bitte, verratet mir jetzt doch einmal, warum Ihr Euch eingeschlossen habt und nicht aufmachen wolltet? Was hat der Herr Euch getan?“

„Ach, Philine, er treibt seinen Spott mit mir.“

„Das kann ich nicht glauben, Melina Aigikoreusa!“

„Aber es ist so!“ erklärte die junge Frau im Ton völliger Überzeugung. „Stellt Euch vor, er bat mich darum, seine Frau zu werden – und ich dummes Ding habe seinen Antrag ernst genommen.“

„Das war auch so gemeint, Melina“, sagte Philine eindringlich. „Aber wie kommt Ihr nur auf den Gedanken, dass er Euch mit seinem Antrag verspottet hat?“

„Weil er mich nicht heiraten, sondern im Konkubinat mit mir leben will!“

Melinas Stimme klang wieder weinerlich, als sie fortfuhr: „Was habe ich Lucius denn nur getan, dass er mich derart demütigt? Ich liebe ihn doch so sehr.“

„Unser Herr hat Euch nicht gedemütigt“, erklärte Philine mit ruhiger Stimme.

Melina fühlte, wie sie sich auf den Rand ihres Bettes setzte. Dann umschlossen zwei warme, große Hände ihre kleinen und drückten sie behutsam. Seltsam, ihr war nie aufgefallen, dass die griechische Sklavin so große Hände besaß…

„Ich würde dich niemals demütigen, mein Honigmädchen“, vernahm sie plötzlich die Stimme Lucius‘ und fuhr erschrocken zusammen. „Bitte, hör mich an, Melina: Wenn du eine römische Bürgerin wärst, würde ich keine Sekunde zögern, dich zu meiner Frau zu machen, denn ich liebe dich über alles. Aber da du nun einmal Griechin bist, kann ich dir nichts anderes anbieten, als im offiziellen Konkubinat mit mir zu leben. Das ist keine Demütigung, sondern eine anerkannte Beziehung, die fast so gut ist wie eine Ehe. – Bitte, Melina, denk in Ruhe darüber nach.“

Die junge Frau wagte nicht, sich zu rühren, sondern blieb liegen und schwieg. Lucius wartete einen Moment, dann küsste er sie zärtlich auf den Mund, murmelte: „Gute Nacht, meine kleine Melina!“, streichelte ihr sanft über die Arme, erhob sich dann vom Bettrand und verließ das Zimmer.

„Philine?“ fragte die junge Frau eine Minute später.

„Ja, Herrin?“

„Ist es denn wirklich wahr, was Lucius gesagt hat? Das Konkubinat ist eine anerkannte Beziehung, die beinah einer Ehe gleichkommt?“

„Ja, Herrin, so ist es! Viele Römer leben in solch einer Beziehung, weil ihre Frauen keine Staatsbürgerinnen sind.“

„Dann habe ich Lucius wohl Unrecht getan“, seufzte Melina traurig.

„Ja, das habt Ihr“, bestätigte die griechische Sklavin. „Und da Ihr Euren Irrtum jetzt eingesehen habt, werdet Ihr seinem Antrag wohl stattgeben, nicht wahr?“

„Das habe ich nicht gesagt“, widersprach Melina. „Ich muss darüber nachdenken… und ich möchte darüber mit meinem älteren Bruder Leandros sprechen!“

„Aber, Herrin, ich glaube nicht, dass das möglich ist“, meinte Philine irritiert.

„Warum sollte es denn nicht möglich sein?“ fragte die junge Frau, nahm sich endlich das Tuch von den Augen und starrte die Sklavin eindringlich an. „Für eine so wichtige Entscheidung wie die Bindung an einen Mann wird man sich ja wohl den Rat eines nahen Verwandten einholen dürfen!“

„Aber Euer ältester Bruder besitzt den Geiselstatus und darf daher die Kaserne, in der er seine militärische Ausbildung absolviert, nicht verlassen...“

„Ich bin sicher, Lucius findet einen Weg, wie ich ein längeres Gespräch mit meinem Bruder führen kann!“

 

Indessen hatte Quella Divia wieder auf deren Zimmer gebracht, konnte sich jedoch kaum darüber beruhigen, in welcher Weise der Herr des Hauses sie angeschrien hatte. Zudem machte sie sich große Sorgen um Melina. Es war höchst ungewöhnlich, dass ihre junge Herrin sich in ihrem Gemach einschloss und niemandem öffnen mochte. Nicht einmal das Gebrüll des grässlichen Marcellus hatte sie dazu bewegen können.

Vermutlich war irgendetwas zwischen Melina und dem Legatus vorgefallen, das die junge Frau stark aufgewühlt und zu ihrem verwunderlichen Verhalten geführt hatte. Sollte dieser Lucius am Ende etwa sein wahres Gesicht gezeigt und ihr Lämmchen dadurch erschreckt haben? Und zwar so sehr erschreckt, dass es sich voller Angst einschloss?

Falls es sich wirklich so verhielt, könnte man den Göttern nicht genug dafür danken, denn dann hätte Melina sicherlich einen heilsamen Schock erlitten und würde die Warnungen vor den Römern, und insbesondere vor Lucius Marcellus, endlich ernst nehmen.

Hoffnungsvoll wandte Quella sich an Divia, die sich bäuchlings auf ihr Bett hatte fallen und ihren Kopf in das Kissen vergraben hatte, wobei sie lauthals weinte.

„Ist vielleicht etwas auf der Cena vorgefallen, Divia?“

Kaum hatte die alte Amme dies gefragt, wandte das Mädchen ihr sein Antlitz zu und murmelte: „Ja… Melina hat sich sehr aufgeregt…“

„Tatsächlich? Warum denn?“

„Ach, es ging um ihren kleinen Bruder…“

„Um Kimon? Er war bei dieser Abendgesellschaft anwesend?“

„Ja, und Melina hat sich zuerst auch sehr darüber gefreut, bis…“

„Bis was? So lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Kind!“

Divia, der schlagartig klar wurde, wie überaus günstig der jetzige Zeitpunkt war, um auf ihre Fragen bezüglich Melina und deren Familie einige ehrliche Antworten zu erhalten, setzte sich langsam auf und fuhr fort: „Na ja, bis Senator Valerianus ihr erklärte, dass er ihren Bruder adoptiert und ihm einen neuen Namen gegeben habe. Es hat Melina überhaupt nicht gefallen!“

„Ja, das glaube ich!“ entfuhr es Quella empört. „Was denken diese Römer sich eigentlich dabei, ein kleines Kind seiner Familie zu entreißen und es Fremden zu überlassen, die sich als seine Eltern aufspielen! – Ach, mein armes Lämmchen! Es hat ihr sicherlich das Herz gebrochen. – Sag, Divia, hast du Kimon auch sehen können?“

„Ja, und dem kleinen Verräter geht es ziemlich gut“, erwiderte die Zehnjährige kühl.

„Kimon ist erst zwei Jahre alt und kann demnach kein Verräter sein. Weshalb also bezeichnest du ihn so?“

„Weil er die Frau des Senators bereits Mama nennt und sich freut, in ihrer Nähe zu sein.“

„Das ist ja noch schlimmer, als ich dachte“, murmelte Quella und schien bestürzt zu ein.

„Bitte, sag mir doch, warum man Melina und ihre Brüder voneinander getrennt hat“, wandte sich Divia in schmeichlerisch-flehendem Ton an die Alte. „Ist das vielleicht die Strafe für irgendein Vergehen?“

„Nein, Kind! Das einzige Verbrechen von Leandros, Melina und Kimon ist, dass sie Griechen sind“, erklärte Quella in verbittertem Ton und zog ihre Augenbrauen zusammen.

„Und das soll der Grund dafür sein, dass man sie getrennt hat?“ wunderte sich Divia.

„Ja, das ist der Grund!“

„Warum hat man die drei nicht in ihrer Heimat gelassen?“ bohrte das Mädchen weiter.

„Weil dein Vater der Meinung war, er müsste Geiseln nehmen, um in Attika Frieden herbeizuführen und zu bewahren“, erklärte die Alte.

„Geiseln? Was sind Geiseln?“

„Geiseln sind Personen, die man gefangen nimmt, um ihre Angehörigen zu etwas zu erpressen, dass diese freiwillig nie machen würden“, sagte Quella verbittert. „Nur aus diesem Grunde befinden sich Melina, ihre Brüder und fünf weitere junge Griechen in Rom. Dadurch sind ihrem Vater und seinen Mitstreitern in Athen die Hände gebunden, für ihre Freiheit zu kämpfen. Sie würden sonst das Leben ihrer Kinder gefährden.“

„Du willst mir damit sagen, dass man Melina töten würde, wenn in Athen aus irgendeinem Grunde erneut ein Aufstand losbricht?“ fragte Divia und starrte die Alte fassungslos an.

„Alle Geiseln aus Griechenland wären dann in Lebensgefahr – und Melina natürlich auch!“ bestätigte Quella grimmig und nickte.

„Aber Senator Valerianus behauptete, dass es nicht so sei! Er erklärte, Kimon wäre durch die Adoption römischer Staatsbürger geworden und darum keine Geisel mehr… Und mein Vater sagte, Melina drohe auch keinerlei Lebensgefahr mehr… ebenso wenig ihrem Bruder…“

„Dann hat man dich sicher angelogen, Mädchen!“ zischte Quella sie böse an. „Der einzige Grund, warum dein Vater meine Herrin und die anderen Griechen nach Rom verschleppte, ist ihre Funktion als Druckmittel auf deren Väter…!“

„Das ist wirklich ein großes Unrecht!“ entfuhr es der Zehnjährigen, der allein die Vorstellung, von fremden Menschen in ein fremdes Land verschleppt zu werden, Schreckensschauer über den Rücken fahren ließ. „Kein Wunder, dass Melina oft so traurig ist und manchmal weint. Sie hätte allen Grund dazu, uns zu hassen, aber das tut sie nicht! Stattdessen begegnet sie uns mit Freundlichkeit… sie ist überaus bewundernswert…“

Nun war es Quella, die ungläubig auf das römische Mädchen starrte, welches derart viel Verständnis für die Lage ihrer Herrin äußerte. Wieder einmal konnte sie nicht anders als anzuerkennen, dass Divia ein gutes Herz besaß und trotz ihrer gelegentlichen Frechheiten im Grunde doch recht liebenswert war.

Die Alte erinnerte sich auch wieder an Selene, Divias Mutter, eine äußerst ehrbare Frau, die völlig zu Unrecht von ihrem undankbaren Ehemann des Hauses verwiesen worden war.

Wie konnte es sein, dass sowohl Divia als auch ihre Mutter über einen guten Charakter verfügten, wo beide doch zu dem barbarischen Volk der Römer gehörten?

Konnte es sein, dass an Melinas Vorwürfen, sie hielte an den Vorurteilen fest, die deren Vater ihr eingeprägt habe, etwas Wahres dran war?

Quella schüttelte unwillig den Kopf. Nein, nein! Das, was die Römer ihren jungen Herrschaften angetan hatten, bestätigte nur, dass diese Barbaren genau so bösartig waren, wie Herr Theodoros ihr stets erzählt hatte, und Divia sowie ihre Mutter zwei der wenigen rühmlichen Ausnahmen darstellten…

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Melina schlief die restliche Nacht sehr unruhig und fühlte sich dementsprechend zerschlagen, als sie morgens erwachte. Dennoch kamen ihr sofort die Geschehnisse der gestrigen Nacht in Erinnerung. Dabei dachte sie vor allem an ihre Amme, deren Gejammere ihr noch deutlich im Ohr klang, und daran, dass Lucius die Ärmste in einem solch harten Ton angeschrien hatte, als ob Quella die Hauptschuld daran trüge, dass sie ihm gestern die Tür nicht öffnen wollte. Dabei machte sich die gute Seele sicherlich nur die größten Sorgen um sie und es war sehr ungerecht von Lucius, ihre Amme deshalb so heftig anzufahren.

„Philine!“ rief Melina in der Hoffnung, die Sklavin befinde sich vielleicht in ihrer Nähe. Doch statt ihrer tauchte Laila auf, an die die junge Frau gar nicht mehr gedacht hatte. Sie musste sich erst noch daran gewöhnen, eine neue Bedienstete zu haben.

„Philine ist nicht hier, aber ich erfülle gern jederzeit Eure Wünsche, Herrin“, sagte Laila und verneigte sich leicht. „Was kann ich für Euch tun?“

„Bitte, bring Quella zu mir“, antwortete Melina.

Laila verschwand rasch aus dem Zimmer und kam einige Minuten später in Begleitung der alten Amme zurück, die sofort zu ihrer früheren Schutzbefohlenen eilte und sie mit überaus besorgten Blicken bedachte.

„Ach, mein Lämmchen, wie geht es Euch?“

„Mach dir keine Sorgen, Quella, mir geht es soweit ganz gut“, versuchte Melina sie zu beruhigen. „Komm, setz dich neben mich. Ich möchte mit dir sprechen.“

Die Alte folgte zwar dieser Aufforderung, blickte dann jedoch zu Laila, die abwartend an der Türschwelle stand. Melina folgte diesem Blick, lächelte die dunkelhäutige Sklavin dann freundlich an und sagte: „Lass uns bitte allein!“

Sofort verschwand die Ägypterin, worauf sich die junge Frau wieder ihrer Amme zuwandte, deren Hände ergriff und murmelte: „Es tut mir so leid, dass du wegen mir Kummer erleiden musstest. Es war völlig unangebracht von Lucius, dich anzubrüllen.“

„Ihr braucht Euch doch wegen dieses Barbaren nicht bei mir zu entschuldigen, Herrin“, wehrte Quella ab. „Bei einem solchen Rüpel muss man mit einem derart ungehobelten Benehmen rechnen. Ich hoffe, er hat Euch gestern Abend nicht in irgendeiner Weise beleidigt, Herrin?!“

„Nein, Quella…“, kam es zögernd von Melina.

Die alte Amme runzelte die Stirn und fragte dann eindringlich: „Was ist gestern Abend passiert, mein Lämmchen? Weshalb habt Ihr Euch eingeschlossen?“

„Ach, es war nur ein dummes Missverständnis zwischen Lucius und mir…“

„Ich habe doch geahnt, dass es so etwas in der Art war! Wollt Ihr mir nicht erzählen, was vorgefallen ist?“

„Ich habe etwas falsch verstanden“, erklärte Melina.

„Ach, das kann ich mir nicht vorstellen“, widersprach Quella. „Lucius Marcellus muss irgendetwas sehr Kränkendes zu Euch gesagt haben.“

„Nun ja, eigentlich nicht… Aber ich dachte, es wäre eine Kränkung“, murmelte Melina. „Womöglich ist mir gestern einfach alles ein wenig über den Kopf gewachsen. Erst habe ich erfahren, dass Kimon nicht mehr mein Bruder ist und dann…“

„Ja, Herrin?“

„Dann fragte Lucius mich, ob ich seine Frau werden wolle…“

„Was?! Er hat Euch gefragt, ob Ihr seine…?“

„Ob ich seine Frau werden will, jawohl!“

„Aber… aber, Herrin…“, stotterte Quella, offensichtlich verwirrt über diese unerwartete Mitteilung. „Wollt Ihr etwa sagen… war das der Grund für den Aufruhr gestern Nacht?“

„In gewisser Weise schon…“

„Ihr spracht von einem Missverständnis, Herrin. Also ist irgendetwas faul an der Sache.“

„Ja, das dachte ich auch, weil… es gibt ein Problem, Quella!“

„Aha! Und worin besteht es?“

„Da ich keine Römerin bin, kann Lucius mich nicht zu seiner richtigen Ehefrau machen, sondern nur zu seiner Konkubine.“

„Oh, dieser Schurke!“ entfuhr es Quella. „Dass er sich nicht schämt, Euch ein derartiges Arrangement anzubieten! Ach, Herrin, Ihr hattet wahrlich allen Grund, Euch deswegen aufzuregen. Hat sich dieser grässliche Mensch inzwischen wenigstens bei Euch entschuldigt?“

„Dazu besteht keine Veranlassung“, sagte Melina. „Dieses Konkubinat scheint in Rom eine Form des Zusammenlebens zu sein, die häufig vorkommt zwischen einem Römer und einer Frau aus einem anderen Land, da ihnen die Ehe miteinander verboten ist.“

„Aber, Herrin, Ihr zieht doch nicht ernsthaft in Erwägung, den Antrag von Lucius Marcellus anzunehmen?!“ entfuhr es Quella. „Bitte, glaubt mir, mein Kind, dieser Mensch hat keine ehrenwerten Absichten! Sein Plan ist es, Euch Eure Ehre zu rauben – genau, wie ich es immer befürchtet habe!“

„Ach, Quella, hör doch bitte auf damit! Ich glaube, das ist eine fixe Idee von dir! Wenn dies wirklich seine Absicht wäre, hätte er es längst getan!“

„Nein, Herrin, die wahre Demütigung besteht ja gerade darin, Euch zu verführen und nach vollbrachter Tat überall zu verkünden, dass Ihr Euch aus freien Stücken einem Mann hingegeben habt, ohne mit ihm verheiratet zu sein…“

„Hör auf damit!“ rief Melina, barg ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.

„Bitte, Herrin, glaubt nicht, dass es mir Spaß macht, Euch solche unangenehmen Dinge vor Augen zu führen. Ich will Euch damit nur aufzeigen, welche Gefahren Euch drohen könnten… Ihr dürft nicht immer allen Menschen vertrauen, Melina!“

„Ich glaube nicht, dass er so ist…“

„Ihr kennt ihn doch gar nicht richtig. Ihr kennt nur seine Fassade!“

„Warum redest du immerfort so schlecht von ihm, Quella?“

„Um Euch klarzumachen, dass er der Feind ist…!“

„Nein… nein… das glaube ich nicht…“, stieß das Mädchen unter Tränen hervor.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Lucius trat ein. Er warf nur einen raschen Blick auf das Bild, das sich ihm bot, und zog blitzschnell seine Schlüsse daraus. Dann wandte er sich in strengem Ton an Quella: „Hatte ich dir nicht verboten, mit Melina zu sprechen?“

„Wenn meine Herrin mich braucht, bin ich an ihrer Seite“, erwiderte die Alte selbstsicher. „Ihr seht ja, dass sie des Trostes bedarf.“

„Sie bedarf nur des Trostes, weil du sie wieder einmal aufgeregt hast!“ sagte er mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme und warf ihr einen eisigen Blick zu. „Verschwinde!“

Quella machte keine Anstalten, sich zu rühren, sondern schaute besorgt auf Melina und fragte: „Soll ich wirklich gehen, Herrin?!“

„Verschwinde!“ zischte Lucius. „Na, wird’s bald?!“

„Bitte, geh!“ wisperte Melina ihr leise zu, worauf sich die Alte mit einem bedauernden Blick auf sie endlich erhob und dann zur Tür ging. Bevor sie jedoch den Raum verließ, begegneten ihre Augen den kalten des Hausherrn, den sie voller Verachtung ansah.

Nachdem Quella fort war, wandte sich Lucius an Melina und meinte: „Das respektlose Verhalten deiner Sklavin werde ich in Zukunft nicht länger dulden!“

„Bitte, du darfst ihr nicht böse sein“, versuchte das Mädchen ihn zu beschwichtigen. „Quella möchte mich doch nur beschützen, so wie sie es immer getan hat! Man kann nicht erwarten, dass sie es von heute auf morgen einfach ablegt…“

„Wenn ich mich recht erinnere, habe ich deiner Sklavin eine neue Aufgabe übertragen, indem ich sie zum Kindermädchen meiner Tochter machte. Darüber hinaus soll sie der kleinen Sidori alles beibringen, was eine Bedienstete wissen muss. Eigentlich müsste sie damit vollauf beschäftigt sein. Stattdessen sitzt sie hier herum…“

„Ich habe sie zu mir gebeten“, erwiderte Melina. „Darf ich nicht mal mit meiner eigenen Dienerin ein Gespräch führen?“

„Natürlich ist es dein gutes Recht“, räumte Lucius ein. „Allerdings habe ich den Eindruck, dass dir diese Art von Gesprächen nicht gut tun. Die Alte regt dich nur auf!“

Die junge Frau weinte wieder ein bisschen, worauf Lucius sich zu ihr setzte und in sanftem Ton sagte: „Tut mir leid, Melina. Lass uns nicht mehr davon sprechen.“

Er ergriff ihre Hand, führte sie zum Mund und hauchte einen Kuss darauf.

„Geht es dir wieder etwas besser, mein Honigmädchen?“ fragte er dann.

„Soweit es einem besser gehen kann, nachdem man erfahren hat, dass einem ein Blutsverwandter genommen worden ist“, erwiderte Melina leise. „Herrje, ich habe fast das Gefühl, all meine Familienbande lösen sich auf und verschwinden im Nichts, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte…“

„Nun, das ist sicher ein unangenehmes Gefühl“, stimmte Lucius zu und küsste erneut ihre Hand. „Aber, mein Herz, du könntest eine neue Familie haben, die dir Halt gibt, und ein neues Zuhause… jetzt, wo dieses fatale Missverständnis zwischen uns geklärt ist…“

Wieder drückte er einen Kuss auf ihren Handrücken und fuhr dann fort: „Du brauchst nur meinen Antrag anzunehmen… und du willst ihn doch auch annehmen, nicht wahr?“

„Das muss ich mir noch überlegen“, erwiderte sie und entzog ihm ihre Hand.

Er starrte sie verwirrt an.

„Was soll das heißen, Melina? Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir gestern im Garten deine Zustimmung gegeben – oder habe ich da etwas falsch verstanden?“

„Nein, aber da ging ich ja noch davon aus, dass ich deine Ehefrau werde“, erklärte sie. „Doch seit ich weiß, dass ich nie mehr als deine Konkubine sein kann, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es richtig wäre, deinen Antrag anzunehmen.“

„Aber, Melina, ich sagte dir bereits, dass das Konkubinat einer Ehe fast gleichkommt“, wandte Lucius ungeduldig ein.

„Das mag schon sein; dennoch möchte ich eine Weile darüber nachdenken. Dagegen kannst du doch nichts haben, nachdem du mir gestern Nacht selbst diesen Rat gabst“, entgegnete die junge Frau und fuhr nach einer kurzen Pause, in der Lucius leise etwas vor sich hingrummelte, fort: „Außerdem würde ich gerne mit meinem älteren Bruder sprechen!“

„Ach ja, richtig“, sagte der Hausherr. „Philine teilte mir diesen Wunsch mit. Allerdings wird das schwierig sein. Leandros ist eine Geisel, wie du weißt, und man hat sicher etwas dagegen, dass er sich außerhalb des Ausbildungslagers begibt.“

„Dann bring mich zu ihm!“

„Nein! Nein, das will ich nicht! Eine Kaserne ist kein Aufenthaltsort für ein junges Mädchen!“

„Solange ich nicht mit meinem Bruder gesprochen habe, wirst du keine Antwort von mir erhalten, Lucius!“

Die bis jetzt zwar irritierte, aber dennoch freundliche Miene des Hausherrn verwandelte sich nach diesen Worten in eine äußerst grimmige.

„So? Du willst meinen Antrag also solange nicht annehmen, bis du mit deinem Bruder gesprochen hast?“ fragte er nochmals nach.

„Ja!“ erwiderte sie mit fester Stimme, unbeeindruckt von seinem offensichtlichen Ärger.

„Na schön!“ Lucius erhob sich. „Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Aber ich kann nicht versprechen, dass es mir gelingt, für deinen Bruder eine Erlaubnis zu erwirken, damit er dich besuchen darf.“

„Bitte, Lucius, mach es möglich – für mich!“ flehte sie ihn eindringlich an.

Er wandte sich schweigend um und öffnete die Tür, um den Raum zu verlassen, als ihm seine Tochter entgegenkam, unter seinem Arm hindurch in das Zimmer hineinhuschte und sofort an Melinas Bett eilte, um sich der jungen Frau einen Augenblick später in die Arme zu werfen und an sich zu drücken.

„Oh, Meli, ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht!“ rief die Kleine. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als du dich gestern hier eingeschlossen hast. Ist zwischen dir und Vater alles wieder gut?“

„Wie kommst du darauf, dass wir uns gestritten haben?“ wollte Lucius daraufhin wissen.

„Nicht gestritten – Quella sagte mir, zwischen euch habe ein Missverständnis geherrscht, das nun aber aus der Welt sei!“ erwiderte Divia, die ihn jetzt anblickte, während sie sich immer noch an Melina klammerte.

„Diesem alten Weib sollte man den Mund mit Brennnesseln auswaschen!“ brummte ihr Vater ärgerlich.

„Apropos waschen“, ging die Zehnjährige gleich darauf ein. „Darf ich zusammen mit Melina die Therme aufsuchen?“

„Nein, das erlaube ich nicht“, antwortete Lucius grimmig. „Melina ist erschöpft und durcheinander. Deshalb ist es auch am Besten, wenn sie heute den ganzen Tag auf ihrem Zimmer bleibt, damit sie zur Ruhe kommen und über einige Dinge nachdenken kann.“

„Gut, dann werde ich ihr Gesellschaft leisten!“ erklärte Divia fröhlich.

„Nichts da!“ fuhr ihr Vater sie an. „Hast du nicht verstanden, was ich sagte? Melina braucht Ruhe! Sie wird den Tag in ihrem Zimmer verbringen - allein !“

„Aber…“, wollte Divia protestieren, doch Lucius bedachte sie mit einem äußerst strengen Blick, während sein Arm nach draußen wies.

„Wenn mich nicht alles täuscht, wartet der Webstuhl auf dich, meine Tochter! Zu diesem begibst du dich jetzt; und du wirst Melina erst wieder besuchen, wenn ich es dir erlaube!“

„Ja, Vater“, sagte Divia demütig und löste sich mit traurigen Augen von der jungen Griechin, die ihr leicht zulächelte. Als sie an der Schwelle zur Tür stand, drehte sich das Mädchen noch einmal um und winkte ihr kurz zu, bevor es endgültig verschwand.

Melina wartete, bis sie Divias Schritte nicht mehr vernahm, und wandte sich dann an Lucius: „Musstest du so grausam zu ihr sein? Divia ist doch noch ein Kind!“

„Wer ist hier grausam, junge Dame?!“ fragte Lucius kühl. „Ein Vater, der seinem Kind Disziplin beibringt, ist es jedenfalls nicht! Aber eine Frau, die einen liebenden Mann hinhält, kann man ohne Übertreibung grausam nennen. – Guten Tag, Melina Aigikoreusa!“

Mit diesen Worten verschwand er aus ihrem Gemach und ließ sie fassungslos zurück…

 

 

 

 

„Ich weiß gar nicht, was du hast, Lucius! Ich finde, Melina verhält sich vorbildlich!“

Appius saß hinter seinem Schreibtisch und lächelte seinen Bruder an, der mit verärgerter Miene im Zimmer auf und ab lief. Dieser blieb jetzt abrupt stehen und starrte ihm ungläubig ins Gesicht.

„Was? Du findest ihr Verhalten vorbildlich?!“ brüllte er dann. „Ich bin nett zu ihr, ich lasse ihr Freiheiten, ich mache ihr Geschenke und habe überhaupt sehr viel Verständnis für sie. Dann finde ich endlich den Mut, ihr meine Liebe zu gestehen und sie zu bitten, ihr weiteres Leben mit mir zu teilen... und sie hält mich hin! Das findest du wirklich in Ordnung?! Ich nenne das grausam! Wie kann sie nur so mit meinen Gefühlen spielen?! Jeder anderen Frau hätte ich ein solches Verhalten zugetraut – aber Melina? Niemals!“

„Na, na, beruhige dich erstmal, Lucius“, sagte sein Bruder. „Ich glaube nicht, dass die junge Dame mit deinen Gefühlen spielt. Sie ist sicher genauso durcheinander wie du.“

„Ach? Und wie kommst du zu dieser Erkenntnis?!“ fauchte Lucius.

„Hast du selbst mir nicht erzählt, was für einen irritierten Eindruck sie gestern auf dich machte, nachdem du ihr eröffnet hast, dass du im Konkubinat mit ihr leben willst? Ist sie nicht erst daraufhin in ihr Zimmer geflüchtet und hat sich eingeschlossen? Und hattest du selbst nicht das größte Verständnis für ihr Verhalten, nachdem du erfahren hast, dass sie glaubte, du triebest deinen Spott mit ihr?“ führte Appius aus.

„Ja, das schon!“ gab sein Bruder unwirsch zu. „Doch nach meiner Erklärung, dass ein Zusammenleben im Konkubinat nichts Unehrenhaftes sei, müsste sie doch einsehen, wie ernst ich es mit ihr meine! Ich liebe sie, und sie hat zugegeben, dass es ihr genauso geht. Weshalb also zögert sie, meinen Antrag anzunehmen?“

„Aber, Lucius, hast du etwa völlig vergessen, aus welchem Kulturkreis Melina stammt?!“

„Was hat das denn damit zu tun?!“

„Sie ist Griechin! Und nicht nur das! Als Tochter eines griechischen Edelmannes ist sie bestimmt sehr behütet aufgewachsen und hat eine äußerst strenge Erziehung genossen!“

„Na und?!“

„Merkur hilf! Wie kann ein Mann nur derart verstockt sein!“ entfuhr es Appius in leicht spöttischem Ton. Dann wandte er sich mit ruhiger Stimme wieder an seinen aufgebrachten Bruder: „Ich will dir damit nur ins Gedächtnis rufen, dass du selbst mir erzählt hast, wie eingeschränkt die griechischen Frauen leben. Keine von ihnen ist jemals so frei wie eine unserer Witwen oder eine geschiedene Römerin, und keine von ihnen verfügt über Eigentum oder gar Bargeld! Da halten Väter, Brüder und Ehemänner die Hand drauf! Und genau diese Männer sind es, die eine Griechin wegen allem, was sie tun möchte, um Erlaubnis fragen muss!“

„Melina lebt nicht mehr in Griechenland!“

„Dennoch kann sie nicht einfach aus ihrer Haut, Lucius!“ verteidigte Appius das Mädchen. „Bitte, vergiss nicht, wie jung und unerfahren Melina ist! Glaubst du wirklich, sie ist viel aus ihrem Elternhaus herausgekommen? Mit Sicherheit nicht! Kannst du dir denn gar nicht vorstellen, dass es ihr Angst macht, eine Entscheidung zu treffen, die ihre Familie verärgern könnte – wo sie so sehr an dieser Familie hängt?“

„Mach dich nicht lächerlich, Appius!“ entgegnete der Legatus wütend. „Ihre Familie besteht doch nur noch aus ihrem Vater und ihrem älteren Bruder – und beide können ihr keinen Schutz gewähren; ich hingegen schon!“

Lucius hielt inne, ließ ein kurzes, verächtliches Lachen hören und fuhr dann in leicht ironischem Ton fort: „Melinas Vater, der alte Narr, ist weit weg! Und, gelinde gesagt, interessiert es mich nicht im Geringsten, dass er mit mir als Schwiegersohn wahrscheinlich nicht einverstanden ist.“

„Vermutlich denkt das Mädchen genauso und ist deshalb so durcheinander. Ich glaube nämlich auch, dass sie dich gernhat, Lucius, aber ihren Vater will sie deshalb trotzdem nicht kränken!“

„Wie kann sie ihn kränken, wenn sie keinen Kontakt mit ihm hat?!“

„Allein das Wissen, dass ihr Vater dich ablehnen würde, bedrückt sie. Vermutlich will sie deshalb mit ihrem älteren Bruder sprechen! Du solltest alles tun, um ihr dies so schnell es geht zu ermöglichen!“

„Und was soll es bringen, wenn sie mit Leandros darüber spricht, ihren Vater nicht kränken zu wollen, Appius?“

„Allein diese Frage verrät mir deutlich, dass die Liebe deinen Verstand tatsächlich umnebelt, Bruderherz!“ seufzte Appius. „Du solltest im Interesse von Melina und auch in deinem eigenen dafür sorgen, dass Leandros noch heute mit seiner Schwester spricht!“

„Pah! Warum sollte ich das tun? Ich bin sehr verärgert über Melinas Verhalten und habe keinerlei Lust, ihr einen Gefallen zu erweisen!“

„Oh, Merkur, bitte sende Licht in den Geist meines Bruders!“ flehte Appius theatralisch und verdrehte seine Augen nach oben. Dann meinte er ungeduldig: „Ich denke, du liebst das Mädchen, Lucius, und möchtest, dass sie glücklich ist?! Glaub mir, es wäre auch zu deinem Vorteil, wenn Melina mit ihrem Bruder sprechen könnte. Du wirst sehen, dass sich dein Kummer bald verflüchtigt – und wenn du es heute noch schaffst, den jungen Aigikoreus zu seiner Schwester zu bringen, wirst du vor Mitternacht ein glücklicher Bräutigam sein.“

„Seit wann besitzt du die Gabe, in die Zukunft zu sehen?!“ blaffte der Legatus seinen Bruder an, von dem er sich zusehends verspottet fühlte. „Wer sagt denn, dass Melina nach ihrem Gespräch mit Leandros eine Entscheidung treffen wird?!“

„Ich sage es!“ entgegnete ihm der Rechtsanwalt in selbstsicherem Ton und grinste. „Und diese Entscheidung wird zu deinen Gunsten ausfallen, mein Lieber!“

Lucius schüttelte nur den Kopf, was Appius dazu herausforderte, ihm endlich seinen Gedankengang mitzuteilen.

„Hör mal, Bruderherz“, begann der Rechtsgelehrte. „Du sagtest doch, Leandros Aigikoreus ist mehr als einverstanden damit, dass du dich mit seiner Schwester verbindest. Ergo, kannst du dem Gespräch zwischen den beiden Geschwistern gelassen entgegensehen. Denn Leandros ist der älteste Sohn und Nachfolger des Vaters, folglich sein Stellvertreter. Sobald sie ihm von deinem Antrag erzählt, hat sie ihrer Pflicht als gehorsame Tochter und Schwester Genüge getan und ist bestimmt unendlich erleichtert, seine Zustimmung zu finden. Du kannst gewiss sein, dass sie dir nach ihrem Gespräch mit dem Bruder sofort ihr Jawort gibt.“

Lucius starrte Appius an, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Erst allmählich schien er den Sinn dessen zu erfassen, was ihm sein Bruder soeben gesagt hatte, und ein leichtes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

„Glaubst du wirklich, dass Melina mich nur aus diesem Grunde hinhält?“ fragte er dann leise. „Sie quält sich mit einem inneren Konflikt herum, weil sie mich einerseits liebt, aber andererseits ihre Familie nicht kränken will?“

„Ja, du Dummkopf! Und wärst du selbst nicht so tief in deinem Liebeswahn gefangen, hättest du leicht von selbst darauf kommen können!“

„Das bedeutet, sie spielt gar nicht mit meinen Gefühlen…?“

„Wie hast du nur einen Augenblick ernsthaft glauben können, dass solch ein argloses und überaus gefühlvolles Geschöpf wie Melina in der Lage wäre, derart berechnend zu handeln?“ tadelte Appius seinen Bruder. „Eine berechnende Frau hätte deinen Antrag ohne Bedenken jederzeit angenommen!“

„Du hast recht – ich war ein großer Dummkopf!“ gab Lucius zerknirscht zu. „Und statt sofort ihrem Wunsch zu entsprechen, habe ich sie vorschnell verurteilt und bestraft. Was bin ich nur für ein Idiot!“

„Gut, dass du es einsiehst!“ meinte der Rechtsanwalt in ernstem Ton. Dann lächelte er plötzlich und fragte: „Worauf wartest du noch, Legatus? Bring sofort ihren Bruder zu ihr, sonst verklage ich dich auf Schmerzensgeld für meine zukünftige Schwägerin, weil du ihre Qualen unnötig verlängerst!“

Lucius boxte Appius freundschaftlich gegen die Brust, murmelte: „Danke!“ und verließ mit glücklichem Gesicht das Haus seines Bruders…

=<>=<>=<>=

 

Nachdem Lucius sie in wütender Stimmung verlassen hatte, saß Melina traurig auf ihrem Bett und ließ ihre Gedanken schweifen. Verzweifelt fragte sie sich, wie er nur glauben könne, dass sie ihn hinhielte, um ihn zu quälen. Natürlich verstand sie seine Ungeduld, aber er musste doch auch einsehen, dass sie selbst auf ihre Ehre und die ihrer Familie zu achten hatte. Sie wusste einfach nicht, ob es richtig wäre, sich auf ein Zusammenleben im Konkubinat einzulassen. Gerade deshalb bedurfte sie des Rates ihres älteren Bruders.

Lucius war doch selbst Vater einer Tochter und müsste nachvollziehen können, warum das Gespräch mit Leandros für sie so wichtig war. Im Falle von Divia gäbe er sicherlich auch nicht sofort sein Einverständnis, ohne das Für und Wider einer Verbindung mit dem betreffenden Mann abgewogen zu haben – und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen sie ihn um Bedenkzeit gebeten hatte.

Es klopfte und gleich darauf trat Philine mit einem Tablett, auf dem sich eine kleine Mahlzeit und ein Becher mit Wasser befanden, herein.

„Es ist an der Zeit, dass Ihr etwas zu Euch nehmt, Melina“, sagte die Sklavin.

„Aber Ihr hättet Euch doch nicht die Mühe machen und mir das Essen hinaufbringen müssen“, meinte die junge Frau. „Warum habt Ihr mich nicht einfach ins Esszimmer gerufen?“

„Der Patron hat uns angewiesen, darauf zu achten, dass Ihr Euer Gemach nicht verlasst, Herrin“, erklärte Philine. „Ferner verbot er, dass jemand aus dem Haus Euch hier aufsucht, sofern Ihr nicht seine Dienste benötigt. Auch sollten wir jegliche Unterhaltung mit Euch vermeiden.“

Melina war blass geworden, als sie das hörte. Lucius musste sehr wütend sein!

„Was ist mit Quella?“ fragte sie sorgenvoll, denn sie erinnerte sich seiner bösen Bemerkung, dass man ihrer Amme den Mund mit Brennnesseln auswaschen solle. „Ist sie bei Divia?“

„Nein, ähm… Laila kümmert sich um Divia und Sidori…“, kam es zögernd von Philine.

„Und warum ist Quella nicht bei den Mädchen?“

„Nun…ähm… der Patron…“

„Bitte, sagt mir, was mit Quella ist! Was hat der Patron befohlen?“

„Er meinte, es täte ihr gut, wenn sie Reinigungsarbeiten durchführte“, sagte die Sklavin. „Und er meinte, sie hätte wohl zu viel Zeit, um zu plaudern. Deshalb muss sie das gesamte Atrium sauber machen – allein!“

Melina atmete auf. Sie hatte schon eine schlimmere Strafe für Quella befürchtet. Dass Lucius deren Respektlosigkeit ihm gegenüber zunächst nur mit Reinigungsarbeiten vergalt, war an sich harmlos und galt gewiss nur als erste Verwarnung. Hoffentlich lernte Quella daraus, sich ihm gegenüber zukünftig respektvoller zu verhalten.

„Wenn Ihr gegessen habt, klingelt einfach, damit man das Geschirr abholt“, meldete sich Philine wieder zu Wort. „Ich muss jetzt runter und die Vorratsschränke inspizieren.“

Sie verneigte sich leicht und ging dann aus dem Zimmer. Melina blickte ihr nachdenklich hinterher. Offenbar wollte sich die griechische Sklavin soweit wie möglich an die Befehle ihres Herrn halten und daher nicht zu lange bei ihr bleiben.

Ach, es war einfach abscheulich von Lucius, sie in ihrem Zimmer einzusperren und jegliche Kontakte zu anderen zu unterbinden! Vermutlich wollte er ihr damit demonstrieren, dass er als Herr des Hauses jederzeit die Macht hatte, mit ihr tun zu können, was er wolle.

Während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, wurde Melina plötzlich klar, wie hoffnungslos ihre Lage war. Sie hatte ihre frühere soziale Stellung verloren und war jetzt eigentlich ein Nichts… eine Verlorene, genau wie Laila es gesagt hatte…

Verzweifelt vergrub Melina ihr Gesicht in den Kissen und weinte.

Wie hatte es überhaupt dazu kommen können, dass sie sich in einer solch unglücklichen Lage befand? Dabei schien sich doch gestern Nacht alles zum Guten zu wenden…

 

Sie stand im Festsaal des Hauses ihres Vaters. Durch die großen Fenster schien das strahlende Licht der Sonne herein. Im Saal war eine riesige Tafel bereitet, als stünde ein großes Gastmahl bevor. Die weiße, silbern durchwirkte Tischdecke war mit roten Rosen und frischen Myrtenzweigen geschmückt. Aber noch befand sich kein Mensch darinnen.

Mit einem Mal hörte sie den lieblichen Gesang einer wohltönenden Männerstimme und schaute sich um. Hinter ihr stand, in einem gleißenden Gewand, der Gott Apollo, der sich selbst auf einer Kythara begleitete. Sein helles Haar wurde von einem leuchtenden Strahlenkranz umrahmt. Melina war von seiner Erscheinung derart überwältigt, dass ihr unwillkürlich Tränen in die Augen traten, während sie den Blick nicht von ihm wenden konnte.

Nachdem der Gott sein Lied beendet hatte, verneigte er sich leicht und fragte dann: „Mein liebes Mädchen, warum weinst du?“

„Ich bin so glücklich über Eure Gegenwart“, antwortete sie. Apollo lächelte, kam auf sie zu und ergriff ihre Hand. Dann machte er mit seiner anderen Hand eine weit auslandende Geste über die gesamte Tafel und erklärte: „Es ist alles für dein Hochzeitsfest bereit!“

 

Erschrocken wachte Melina auf. Was für einen seltsamen Traum hatten die Götter ihr geschickt und was mochte er wohl bedeuten? Sie war in ihres Vaters Haus gewesen… Kehrte sie etwa nach Griechenland zurück?

Ein merkwürdiges Gefühl, das einerseits Freude und andererseits Schmerz enthielt, zog durch ihr Herz. Natürlich würde sie sich freuen, ihren Vater wiederzusehen und ihren kleinen Fluss im Wald wieder aufsuchen zu können. Aber das würde auch bedeuten, sich von Lucius zu trennen… Lucius, der solch helles Haar hatte wie der von ihr verehrte Gott Apollo. Sie erinnerte sich wehmütig daran, wie sie dem Legatus das erste Mal begegnet war. An ihrem Lieblingsplatz, dem kleinen Fluss im Wald, und er hatte ihr sofort gut gefallen…

Plötzlich klopfte es an der Tür!

Melina fuhr zusammen! Sie hatte gar nicht gehört, dass sich jemand ihrem Zimmer näherte, da sie so in ihre Erinnerungen vertieft gewesen war.

Erneut klopfte es.

„Herein!“ rief sie und setzte sich auf, gespannt, was nun folgen würde. Ihre Augen wurden groß, als sich die Tür öffnete und eine Sekunde später ein ihr wohlbekanntes Gesicht ihr entgegen lächelte. „Leandros!“

„Hallo, Melina, ich habe gehört, du seist krank?“ fragte er und trat ein. Er schien etwas besorgt zu sein, denn er setzte sich sogleich zu ihr auf das Bett und legte seine Hand auf ihre Stirn. „Sie fühlt sich tatsächlich ein wenig heiß an, Schwesterchen!“

„Leandros… dass du da bist…“, hauchte sie und starrte ihn an. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass er leibhaftig hier neben ihr saß und mit ihr sprach. Offensichtlich war Lucius‘ Liebe zu ihr stärker als seine Wut auf sie, sonst säße ihr Bruder jetzt nicht bei ihr.

„Leandros, ich bin nicht krank, sondern nur ein wenig aufgeregt“, sagte sie endlich. „Weißt du, ich habe gestern sehr viel weinen müssen.“

„Und warum?“ fragte er, immer noch besorgt. „Ist denn etwas Schlimmes geschehen?“

„Kimon ist nicht mehr länger unser Bruder“, erklärte sie und schlang dann ihre Arme um Leandros‘ Hals. Mit heiserer Stimme flüsterte sie: „Er ist adoptiert worden.“

„Ja, ich weiß“, gab ihr Bruder zurück und drückte sie an sich. „War bestimmt ein schwerer Schlag für dich, nicht wahr, Melina?“

Einen Augenblick hielten sie sich gegenseitig fest, dann löste sich das Mädchen wieder aus der Umarmung und blickte ihren Bruder fragend an.

„Woher hast du denn von der Adoption gewusst, Leandros?“

„Nun, der Imperator erwähnte es ja an unserem ersten Abend in Rom; und dann erzählte mir Flavius, dass Kimon bei den Verwandten seiner Braut lebt und dass es ihm gut geht. Es gibt also keinen Grund zur Besorgnis, Melina. - Doch vermutlich war die Nachricht von Kimons Adoption nicht das Einzige, was dich aufgeregt hat, oder?“

„Nein, war es nicht!“ gab das Mädchen zu und schaute ihren Bruder ernst an. Dann ergriff sie seine Hände und erzählte ihm von dem Gespräch, das sie gestern Abend mit Lucius im Garten gehabt hatte. Als sie damit zu Ende war, lächelte Leandros sie an.

„Nun, was sagst du zu dem Antrag des Legatus?“ fragte Melina nervös. „Meinst du, es ist wirklich in Ordnung, mit ihm im Konkubinat zu leben?“

„Was sagst du selbst dazu, Schwesterchen?“ stellte Leandros ihr die Gegenfrage. „Würde es dir gefallen?“

„Ich habe keine Ahnung von diesen Dingen – bitte, hilf mir doch bei der Entscheidung!“

„Nun gut, du scheinst wirklich Hilfe in dieser Hinsicht zu benötigen“, meinte ihr Bruder. „Also frage ich dich: Wie ist es um deine Gefühle für Lucius Marcellus bestellt? Magst du ihn oder nicht?“

„Ja, ich mag ihn… ich liebe ihn…“, murmelte sie ein wenig verlegen und errötete.

„Was hält dich dann davon ab, ihm dein Jawort zu geben, Melina?“

„Vater wäre bestimmt nicht damit einverstanden.“

„Vater ist weit weg und die Wahrscheinlichkeit, dass du ihn je wiedersiehst…“, Leandros stockte kurz und sah sie eindringlich an. Dann fasste er sie an den Schultern und fuhr fort: „Ich will dich wirklich nicht schockieren, kleine Schwester, aber wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass wir nie mehr in die Heimat zurückkehren werden. Darum ist es auch gut, dass Kimon neue Eltern gefunden hat; und darum ist es auch gleichgültig, wie Vater zu deinem zukünftigen Mann steht. Finde dich damit ab, Vater niemals wiederzusehen, Melina!“

„Es aus deinem Munde zu hören, macht mir die Hoffnungslosigkeit unser Lage noch einmal bewusster“, sagte die junge Frau und senkte ihren Blick. Doch Leandros fasste sie unter das Kinn und hob ihr Gesicht zu sich empor.

„Unsere Lage ist nicht hoffnungslos“, gab er mit fester Stimme zurück. „Lucius liebt dich und du liebst ihn; und wenn du mit ihm zusammen sein willst, dann hast du meinen Segen dazu.“

„Was? Ist das dein Ernst?“

„Natürlich! Er ist ein Ehrenmann und er kann dir ein gutes Leben bieten, Melina. Und ich verrate dir noch etwas: Er hat bereits um mein Einverständnis für eure Verbindung gebeten, bevor er sich dir erklärte, und ich habe seiner Bitte entsprochen, denn ich kann mir keinen besseren Schwager wünschen.“

Melina konnte kaum fassen, was sie soeben gehört hatte – bestätigte es doch nur ihr eigenes Gefühl, das nie an den lauteren Absichten Lucius‘ gezweifelt hatte.

„Oh, Leandros, ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich mich diese Nachricht macht!“ rief sie mit Tränen in den Augen aus und umarmte nochmals spontan ihren Bruder. Dieser lachte und murmelte: „Schon gut… schon gut… Meli… kleine Meli…“

Dann schob er sie ein Stück von sich und betrachtete sie lächelnd.

„Meine kleine Schwester ist jetzt also endlich erwachsen geworden, hat sich tatsächlich verliebt und wird eine enge Bindung zu einem angesehenen Mann eingehen…“, murmelte er dann und schüttelte leicht den Kopf, als könne er es nicht glauben. Dann drückte er sie wieder an sich. „Werde glücklich mit Lucius, Schwesterchen!“

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Lucius saß zusammen mit Flavius Junior und einem anderen jungen Offizier, die beide den Kriegsgefangenen Aigikoreus zum Haus ihres Legatus begleitet hatten, damit dieser seine kranke Schwester besuchen konnte, im Esszimmer und nahm mit ihnen einen kleinen Imbiss ein, als unerwartet Melina, in ein einfaches, weißes Kleid gehüllt, am Arm von Leandros bei ihnen erschien. Kaum hatte sie den Hausherrn erblickt, löste sie sich von ihrem Bruder und ging mit strahlendem Lächeln auf ihn zu.

„Ach, Lucius, ich danke dir, dass du meine Bitte erfüllt hast“, sagte sie und reichte ihm ihre Hände, die er sofort ergriff, während er Melina erwartungsvoll anstarrte. „Ich sage Ja! Ich sage aus vollem Herzen Ja!“

Der Hausherr erhob sich und zog sie rasch an sich.

„Ach, mein Honigmädchen!“ stieß er erleichtert hervor.

Die beiden jungen Unteroffiziere blickten verständnislos auf ihren Vorgesetzten und die kleine Griechin, die doch angeblich krank war. Aber dies schien ein Irrtum zu sein.

„Meine Schwester ist von zarter Konstitution und bekommt leicht Fieber, sobald sie sich aufregt“, ließ sich Leandros nun vernehmen und setzte sich neben Flavius, der ihm mittlerweile fast so etwas wie ein guter Freund geworden war. „Zum Glück ist es mir gelungen, den Grund ihrer Besorgnis zu entkräften, so dass auch das Fieber sich verflüchtigte und Melina wieder wohlauf ist.“

Lucius wandte sich mit strahlendem Gesicht an Leandros: „Ich bin dir überaus dankbar für diese schnelle Heilung, denn ich habe mir große Sorgen um deine Schwester gemacht!“

Er sah wieder zärtlich auf Melina hinab und meinte: „Wir werden es nachher allen hier im Haus verkünden, nicht wahr? Und dann überlegen wir beide uns, auf welchen Termin wir das Fest legen wollen.“

„Ja, Lucius“, hauchte sie glücklich. Dann warf sie einen Blick auf die beiden römischen Unteroffiziere und sagte: „Allerdings solltest du deine Gäste auch nicht weiter im Dunkeln tappen lassen.“

„Du hast recht, mein Herz“, erwiderte der Hausherr, erhob seinen Becher und sprach: „Trinkt mit mir auf die Liebe und das Glück! Denn sie haben heute Einzug in meinem Hause gehalten!“

 

 

 Info an die geneigte Leserschaft:

Allmählich beginnt die Story gruselig zu werden und ist vielleicht nicht für jeden geeignet. Deshalb weise ich vorsorglich auf Folgendes hin:

In der Geschichte sind Elemente aus der Mythologie der Griechen, Römer und Ägypter eingebaut, die auch mit der Verschmelzung von Tier-Mensch spielen (Symbolismus!).

Des Weiteren möchte ich anmerken, dass Mythologien meist recht grausam sind und zart besaitete Gemüter aufregen bzw. erschrecken könnten.

Die Erwähnung des Gottes Apollo geschah bereits im 1. Kapitel nicht ohne Grund. Es ist eigentlich der Gott, den Melina verehrt. Wie alle Götter des griechisch-römischen Pantheons ist er vielschichtig. Einer seiner Beinamen ist Lykaios (Wolf).

Apollo Lykaios ist der Gott Apollo in Wolfsgestalt. Hier wird seine zwiespältige Natur ziemlich deutlich. Einerseits selbst angreifender Wolf wird er andererseits als Beschützer der Herden verehrt. Denn schließlich ist er doch derjenige, der die anderen Wölfe (Angreifer, Feinde) verjagt, verfolgt oder gar tötet.  Apollo ist also mit Vorsicht zu genießen…

Zum anderen wird man auch bald mit der Geschichte eines Frevlers bekannt gemacht, der nicht nach jedermanns Geschmack sein dürfte. Es könnte recht düster werden…

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Der heutige Abend war für Quella unerträglich. Das Unfassbare war tatsächlich geschehen: Ihr argloses Lämmchen hatte sich bereit erklärt, in unkeuscher Beziehung mit dem grässlichen Legatus zu leben, und schien darüber auch noch glücklich zu sein.

Aber dem heuchlerischen Römer war es nicht nur gelungen, ihrer unschuldigen Melina, die gar nicht ahnte, welches Los sie als Konkubine erwartete, den Kopf zu verdrehen, sondern auch ihren jungen Herrn für sich zu gewinnen.

Oh, wie sehr hatte sie sich gefreut, als Leandros vorhin ins Haus gekommen war, um seine Schwester zu besuchen. Wie glücklich war sie gewesen, als er später allein zu ihr ins Atrium kam, um mit ihr zu sprechen. Sie hoffte, er würde ihr einen Plan unterbreiten, um Melina aus dem Hause des Marcellus herauszubringen, ohne von einem der dem Legatus treu ergebenen Sklaven entdeckt zu werden. Aber sie wurde enttäuscht.

Leandros erklärte ihr eindringlich, wie dankbar sie Lucius Marcellus sein müsse, dass er Melina und sie in seinem Hause aufgenommen habe und gut behandele und sie ihm deshalb Respekt und Gehorsam schulde. Zudem sei es ein großes Glück, dass der Legatus sich mit Melina verbinden wolle. Auf ihren Einwand, dass Marcellus der Feind wäre und man ihm nicht trauen dürfe, entgegnete Leandros, dass sie sich in einem Irrtum befände.

„Füge dich endlich, Quella!“ ermahnte er sie in strengem Ton. „Jeglicher Ungehorsam deinerseits gegen Lucius trifft auch meine Schwester - und du möchtest Melina doch keinen Kummer bereiten?“

„Will er etwa mein Lämmchen bestrafen, wenn ich mich nicht füge?“ hatte sie daraufhin erschrocken gefragt.

„Nein, Quella“, erwiderte Leandros. „Lucius liebt meine Schwester und wird versuchen, alles, was sie bedrücken könnte, von ihr fernzuhalten. Allerdings würde es ihr Schmerz bereiten, wenn er gezwungen wäre, dich zu bestrafen… Und glaub mir, Quella, die Reinigung des Atriums ist nichts gegen die Strafen, die unzweifelhaft folgen werden, wenn du dich weiterhin respektlos und ungehorsam gegenüber dem Legatus verhältst. Er deutete mir gegenüber an, dass Stockschläge auf Hände und Füße oder die Peitsche schon manch unbeugsamen Sklaven zur Besinnung gebracht hätten. Also, Quella, reiß dich ein bisschen zusammen und füge dich endlich deinem Schicksal. Weder Melina noch ich möchten, dass du dir durch deine Uneinsichtigkeit selbst Schaden zufügst.“

Genau diese Worte hatten ihr unmissverständlich klargemacht, dass es Marcellus gelungen war, Leandros auf seine Seite zu ziehen. Dabei hatte er gleich die Gelegenheit genutzt, sich über sie zu beschweren und ihr indirekt zu drohen. Oh nein! Ihr junger Herr mochte ja glauben, dass der Römer Melina liebte – sie glaubte es nicht!

Doch viel Besorgnis erregender war der Umstand, dass ihr kleines Lämmchen selbst von der Aufrichtigkeit des wölfischen Legatus überzeugt war und ihm völlig vertraute. Wie konnte man das arme Täubchen nur davor bewahren, Opfer dieses Wüstlings zu werden, der sowohl seine Lust an ihr stillen als auch gleichzeitig die Ehre ihrer Familie in den Schmutz ziehen wollte? Ach, wenn sie nur einen Weg wüsste, wie sie Melina retten könnte…

Voller Wut knallte Quella den Lappen auf den Boden und wischte unentwegt weiter, obwohl eigentlich alles sauber war und sie sich wie die restliche Hausgemeinschaft im Speisesaal einfinden könnte, um Lucius und Melina zur Verlobung zu gratulieren…

Verlobung!

Tränen rannen der alten Amme übers Gesicht!

Ach, wenn es wenigstens eine Verlobung wäre!

Aber die Zusage eines Mädchens, mit einem Mann in einer Verbindung zu leben, die vom römischen Staat nicht als Ehe anerkannt wurde, war in Quellas Augen keine Verlobung…

 

Leise Schritte näherten sich plötzlich und Quella drehte sich erschrocken herum. Hinter ihr stand Melina und sah sie besorgt an.

„Quella, was tust du denn noch hier?“ fragte sie. „Komm doch rein und feiere ein bisschen mit uns.“

„Ich… ich muss den Boden noch fertigmachen“, antwortete die Alte hastig und widmete sich erneut ihrem Tun. Sie konnte es nicht ertragen, das nichtsahnende junge Mädchen, das so glücklich aussah, anzusehen. Sie hatte dieses zarte Geschöpf bereits als Neugeborene in ihren Armen gehalten, es gesäugt, es gewärmt, es aufgezogen… und es war zu einem hübschen, tugendhaften Mädchen herangewachsen, auf das jedes Elternpaar stolz sein würde. Und nun sollte ihr süßes Täubchen einem Mann wie Lucius Marcellus gehören… allein die Vorstellung war ihr unerträglich…

„Aber der Boden ist doch sauber, Quella“, sagte Melina jetzt sanft. „Bitte, lass die Arbeit ruhen und komm zu uns ins Esszimmer. Du hast für heute genug getan.“

„Ach, meine kleine Herrin“, wandte sich die Alte ihr zu und schaute sie traurig an. „Seid Ihr denn auch sicher, dass es richtig ist, was Ihr tut?“

„Aber ja, Quella! Ich bin so glücklich! Und ich fühle, dass Lucius der richtige Mann für mich ist.“

„Ihr könntet auch noch ein bisschen damit warten, Euch einem Mann zu versprechen! Ihr seid doch noch so jung, Melina!“

„Bitte, Quella, freu dich doch mit uns…“

„Ach, mein Kind, denkt Ihr denn gar nicht an die frühere Frau des Legatus? Es ist noch nicht allzu lange her, seit sie das Haus verlassen musste; und kaum ist sie weg, schlägt Euch ihr früherer Gemahl dieses schändliche Arrangement vor… Es gefällt mir einfach nicht, Herrin, es gefällt mir ganz und gar nicht! Ihr habt etwas Besseres verdient!“

Die alte Amme konnte nicht verhindern, dass sie anfing zu weinen. Erschrocken ließ sich Melina nun neben ihr nieder und schloss sie in die Arme.

„Quella, mach dir doch keine Sorgen um mich“, versuchte sie sie zu trösten. „Ich habe mit Leandros gesprochen und er heißt diese Verbindung gut. Warum also sollte ich Lucius‘ Vorschlag nicht annehmen? Ich möchte mit ihm zusammen sein – gern sogar!“

„Verzeiht, Herrin, ich habe mich vergessen“, murmelte die Alte daraufhin, schniefte und löste sich aus den Armen Melinas. Dann stand sie auf und griff nach Eimer und Lappen. „Natürlich wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass Ihr glücklich werdet, mein Lämmchen. – Entschuldigt mich jetzt bitte, Herrin, ich bin sehr müde und möchte mich zurückziehen, wenn Ihr erlaubt.“

Melina hatte sich ebenfalls erhoben und nickte, worauf sich Quella dann rasch entfernte. Nachdenklich sah die junge Frau ihr hinterher und starrte auch noch eine Weile in diese Richtung, als die Bedienstete längst ihrem Blick entschwunden war.

„Melina, da steckst du also?“ ließ sich jetzt Lucius vernehmen, der aus dem Speisesaal getreten war und nun auf sie zukam. „Was machst du hier draußen, mein Herz?“

Die Angesprochene wandte sich ihm zu und lächelte.

„Ich habe Quella gebeten, zu uns zu kommen, aber sie sagte, sie sei zu müde“, erklärte sie dann. „Es ist bedauerlich, dass sie nicht mit uns feiert… sie gehört doch zu mir…“

„Sie ist eine alte Frau“, meinte Lucius daraufhin und umarmte sie. „Wenn sie müde ist, sollten wir es akzeptieren.“

Melina nickte und legte ihren Kopf an seine Brust. Er strich ihr sacht über ihre dunklen Locken, zog sie fester an sich und drückte ihr einen Kuss auf das Haar.

„Lucius?“ fragte sie plötzlich leise.

„Ja, mein Honigmädchen?“

Sie löste sich aus seiner Umarmung und schaute ihm ernst ins Gesicht.

„Bitte, sag mir ehrlich, Lucius, hast du dich meinetwegen von Selene getrennt?“

„Wie kommst du jetzt auf Selene?“ wunderte sich der Hausherr.

„Ach, sie fiel mir gerade ein… sie ist doch erst vor ein paar Tagen gegangen“, erklärte Melina. „Musste… musste sie wegen mir gehen?“

„Nein, du hattest damit nichts zu tun“, behauptete Lucius, wich dabei jedoch dem eindringlichen Blick der jungen Frau aus, indem er auf den Boden starrte. „Schon bevor ich dich kennenlernte, lebten Selene und ich nur noch nebeneinander her… es war kein Miteinander mehr…“

„Könnte uns das eines Tages auch passieren?“ fragte Melina leise.

„Nein… uns passiert das nicht“, antwortete er und sah sie nun wieder an.

„Was macht dich da so sicher, Lucius?“

„Ich liebe dich, Melina!“

„Aber hast du Selene denn nicht auch geliebt?“

„Nein, wir haben nur aus Vernunftgründen geheiratet – und es ging lange Jahre ja auch gut, bis… nun ja, bis es einfach vorbei war…“

„Es ist so traurig, Lucius“, meinte sie bedrückt. „Und ich habe Angst, dass…“

„Scht!“ wisperte er und legte ihr einen Finger auf den Mund. „Kein Wort mehr, Honigmädchen! Meine Ehe mit Selene ist Vergangenheit und mit unserer Verbindung nicht zu vergleichen. Ich mochte Selene, das ist wahr! Aber es ist genauso wahr, dass sich meine Gefühle für sie allmählich abgekühlt haben und ich es für falsch hielt, an einer Ehe festzuhalten, die sowohl Selene als auch mich nur noch unglücklich machte. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist, dass du die erste Frau bist, die in mir Gefühle weckte, welche ich noch nie zuvor erlebt habe. Wenn früher einige meiner Freunde erzählten, wie nervös sie seien, weil sich diejenige, in die sie verliebt waren, in ihrer Nähe befand, konnte ich das nie nachvollziehen und habe mich teilweise sogar darüber lustig gemacht. Aber seit ich dir begegnet bin, weiß ich genau, wovon sie sprachen… Ich hatte solche Angst davor, dir meine Gefühle zu offenbaren…“

„Ach, Lucius“, murmelte Melina und umarmte ihn wieder. „Ich hatte ebensoviel Angst… ich dachte doch, ich dürfte dich nicht lieben, weil du verheiratet bist…“

„Du brauchst kein schlechtes Gewissen wegen Selene zu haben. Sie und ich haben einfach nicht zusammen gepasst. Mach dir keine Gedanken mehr um sie. Das ist vollkommen unnötig.“

Lucius küsste seine Verlobte auf den Mund und lächelte sie an. Sie erwiderte sein Lächeln scheu und blickte dann zu Boden.

„Melina“, sagte er leise, legte eine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht wieder zu sich empor, damit sie ihm in die Augen sah. „Wir werden glücklich miteinander sein, glaube mir. Wir sind füreinander bestimmt. Fühlst du das nicht auch, mein Liebling?“

Sie nickte. Er strich ihr sanft über die Wange.

„Na, siehst du, Honigmädchen; und nun lass uns wieder zurück in den Speisesaal gehen und unsere Verlobung feiern!“

„Ja, Lucius, aber zuvor möchte ich gern meinem Vater einen Brief schreiben.“

„Was?!“ entfuhr es dem Hausherrn überrascht. „Warum denn das?“

„Ich bin so glücklich und ich wünschte, alle, die mir nahestehen, könnten an meinem Glück teilhaben. Aber Leandros durfte nur eine Stunde bleiben, Quella ist angeblich zu müde, um mit uns zu feiern, Kimon gehört jetzt zu einer anderen Familie und mein Vater ist weit weg in Athen. Bitte, ich würde ihm wenigstens gern einen kurzen Brief schreiben, Liebster, er ist doch mein Vater…“

„Also schön, ich habe nichts dagegen“, gab er nach und strich ihr wieder zärtlich über die Wange. Dann nahm er sie an der Hand, führte sie in sein Arbeitszimmer und setzte sie an den Schreibtisch, auf dem sich bereits ein Glas mit schwarzer Tusche und eine Rohrfeder befanden. Er öffnete eine Truhe, die sich unter dem Fenster befand, von dem man einen Blick in den Garten hatte, und entnahm dieser eine unbeschriebene Papyrusrolle, die er Melina auf den Tisch legte.

„Ich lasse dich jetzt allein, damit du in Ruhe an deinen Vater schreiben kannst“, sagte er dann und verließ das Zimmer. Lächelnd sah die junge Griechin ihrem Verlobten nach, dann wandte sie sich dem leeren Papyrus zu, nahm die Rohrfeder, tauchte diese in das mittlerweile geöffnete Tuscheglas und begann zu schreiben…

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Theodoros Aigikoreus fand sich im Festsaal seines Hauses wieder, in dem eine große, mit Rosen und Myrtenzweigen geschmückte Tafel hergerichtet war, die von den durch das Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen in ein freundliches Licht getaucht wurde.

„Wessen Hochzeit wird hier gefeiert?“ entfuhr es ihm unwillkürlich bei diesem Anblick.

„Ich heirate, Vater!“

Er blickte zur Tür des Saales und sah seine Tochter dort auf der Schwelle stehen. Sie trug ein weißes, mit Rosen gesäumtes Kleid. Ihre schönen, schwarzen Locken waren kunstvoll hochfrisiert und ebenfalls mit Rosen festgesteckt worden. Sie sah wunderschön aus.

„Melina!“ entfuhr es ihm freudig und eine Welle von Glück erfasste ihn. „Endlich bist du wieder heimgekehrt! Und du willst heiraten?! Wo ist dein Bräutigam? Ich will ihn sehen!“

Neben Melina tauchte plötzlich ein Wolf mit auffallend hellblauen Augen auf. Als er Theodoros sah, knurrte er ihn an. Doch seine Tochter griff dem Tier furchtlos in den Nacken und kraulte es, worauf es sofort Ruhe gab und sich niedersetzte, ohne allerdings den alten Griechen aus den Augen zu lassen.

„Was ist das?“ fragte Theodoros, starr vor Schreck.

Melina lächelte den Vater arglos an und antwortete: „Das ist mein Bräutigam.“

„Nein! Nein, mein Kind! Ein Wolf kann doch niemals dein Bräutigam sein!“

„So? Warum denn nicht, alter Mann?“ ließ sich der Wolf nun in ironischem Ton vernehmen. Sein Fell nahm eine goldgelbe Farbe an, sein Gesicht verwandelte sich in ein menschenähnliches Antlitz mit halblangen, blonden Locken. „Dir sind die Geschichten doch bekannt, die man sich erzählt: Eurynomes Gefährte war die Schlange Ophion und Zeus näherte sich der Leda in Gestalt eines Schwans. Warum sollte Apollo Lykaios da nicht der Bräutigam deiner schönen Tochter sein? Ist deine Tochter nicht ein Lämmchen und Apollo Lykaios der Beschützer der Herde?“

„Mein Lämmchen! Mein Lämmchen!“ hörte Theodoros wie aus weiter Ferne die wehklagende Stimme Quellas, worauf der wölfische Apollo in lautes Lachen ausbrach und endlich menschliche Gestalt annahm. Er hielt Melinas Hand und schaute sie zärtlich an. Dann wandte er sich wieder an den entsetzten Theodoros und erklärte: „Du hast völlig recht, alter Mann. Nicht ich bin der Bräutigam deiner süßen Tochter, sondern einer, der mir ähnlich ist!“

„Wer ist es?!“ rief der griechische Edelmann, immer noch entsetzt, aus.

Apollo ließ Melinas Hand los und trat zur Seite. Dann hörte man, wie sich jemand mit lauten, festen Schritten näherte. Gespannt starrte Theodoros zur Tür. Wer mochte der Erwählte seiner Tochter sein? Allmählich konnte er undeutlich den Umriss eines großen, kräftigen Mannes ausmachen. Doch als dieser endlich so nahe kam, dass er sein Gesicht klar erkannte, stieß der alte Grieche einen gellenden Schrei aus.

Lucius Marcellus, gekleidet wie ein Zivilist, ergriff nun mit zärtlichem Blick die Hand Melinas, die seinen Blick ebenso zärtlich erwiderte, und schaute Theodoros dann mit einem spöttischen Grinsen an.

„Guten Tag, Schwiegervater!“

 

Der markerschütternde Ton, mit dem Aigikoreus erwachte, rief sein ganzes Hausgesinde zusammen, das aufgebracht in sein Gemach stürmte.

„Was ist geschehen, Herr?!“

Doch der alte Edelmann schüttelte den Kopf, unfähig, ein Wort über das schauderhafte Nachtgesicht zu verlieren, das sich ihm gerade eben offenbart hatte. Er erhob sich abrupt von seinem Nachtlager, deutete auf den Schrank und seine Bediensteten verstanden sofort. Sie halfen ihm rasch beim Einkleiden. Dann stürmte Theodoros aus seinem Zimmer, als wären die rächenden Erinnyen persönlich hinter ihm her. Nur fort, fort… fort in den Tempel des Zeus… nur der Oberste aller Götter konnte seiner armen Tochter jetzt noch beistehen…

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Zufrieden stand Megara an Deck des großen Schiffes, das sich augenblicklich noch im Hafen von Piräus befand, und blickte auf die Lichter jener Stadt, in der sie lange Jahre gelebt hatte. Sie würde Athen sicher nicht vermissen, nachdem ihr geliebter Bruder Alexandros dort seinen Tod gefunden und Theodoros sie aus dem Haus verbannt hatte.

Ein verächtliches Lächeln spielte um ihren Mund, als sie an ihren alten Ehemann dachte.

„Man sieht sich immer zweimal im Leben, mein Gemahl“, dachte sie. „Und eines Tages, das schwöre ich dir, kehre ich zurück und werde furchtbare Rache an dir nehmen!“

Sicher dachte Theodoros, dass sie jetzt elendig irgendwo in der Gosse saß und Leute darum anflehte, ihr etwas zu essen zu geben. Wenn er wüsste, dass sie – einer glücklichen Eingebung folgend – den römischen Statthalter in seiner Residenz aufgesucht und dabei dessen Freund Sorex kennengelernt hatte, der aus irgendeinem Grunde Gefallen an ihr fand, wäre er gewiss sehr enttäuscht. So hatte sich der Alte die Strafe für sie bestimmt nicht ausgemalt.

Megara lächelte jetzt zufrieden.

Sorex war freundlich zu ihr gewesen, hatte ihr sogar eine eigene, recht bequeme Kabine in diesem Schiff herrichten lassen und tat alles, damit sie sich bei ihm wohlfühlte.

Zuerst hatte sie angenommen, er würde dies machen, um sie als Geliebte zu gewinnen, was sich jedoch rasch als Irrtum herausgestellt hatte. Schon recht seltsam… sehr seltsam. Solch ein Mann war ihr bisher noch nie begegnet. Jedenfalls nicht bei den Griechen. Vielleicht waren die Männer Roms ja aus einem gänzlich anderen Holz geschnitzt?

Sei’s drum: Sorex gefiel ihr, obwohl er bestimmt nicht sehr viel jünger war als Theodoros. Und er schien irgendwie eine Schwäche für sie zu haben, denn warum sonst war er so großzügig, sie für ihre Gesellschaft zu bezahlen, wo er doch gewiss sein konnte, dass sie auch ohne Bezahlung mitgefahren wäre?

Auch der Legatus Lucius Marcellus hatte ihr gefallen. Er, der Armeeführer jenes großen Heeres, das vor fast drei Monaten Athen belagert hatte, brachte ihr mehr Respekt entgegen als ihr damaliger Ehemann. Doch schien sich das Interesse des Offiziers leider vor allem auf ihre Stieftochter zu richten, was einer aufmerksamen Beobachterin wie ihr natürlich nicht entgangen war, obwohl Lucius sich gut ihm Griff hatte und sein Mienenspiel kaum etwas über das verriet, was in ihm vorging. Aber war es ihm nicht gelungen, das überraschte Aufleuchten seiner Augen zu verbergen, als Melina den Saal betrat und seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, oder den schmerzlichen Zug um den Mund, als ihm klar wurde, dass sie die Tochter seines Hauptgegners war.

Megara lächelte jetzt voller Häme. Einerseits war es zwar schade, dass sie Marcellus nicht näher kennengelernt hatte und ihr so vielleicht eine lohnende Affäre entgangen war – andererseits bereitete ihr der Gedanke Vergnügen, dass Melina, das naive Gänschen, inzwischen womöglich von dem Offizier bedrängt wurde und Mühe hatte, dessen Verlangen abzuwehren oder diesem Verlangen vielleicht schon nachgeben musste. Oh, das wäre für die verwöhnte Tochter des Aigikoreus sicherlich eine besonders demütigende Erfahrung!

„Wollt Ihr nicht lieber wieder in Eure Kabine gehen, Herrin?“ sprach eine hohe Fistelstimme sie höflich an. „Allmählich wird es kühl hier draußen.“

Megara wandte sich langsam zu dem einen Kopf kleineren, dünnen und daher zerbrechlich wirkenden Ägypter um, den Sorex ihr vor etwa zwei Stunden als einen seiner Sklaven namens Serpa-Thot vorgestellt hatte. Er sollte ihnen während ihrer Reise durch das Land des Nils als Führer und Übersetzer dienen; und Serpa-Thot schien froh zu sein, nach all den Jahren, die er bei Sorex dienen musste, endlich die Heimat wiederzusehen. Außerdem durfte er sich nach Ende der Reise darauf freuen, freigelassen zu werden. Kein Wunder, dass der kleine Ägypter es kaum erwarten konnte, aufzubrechen.

„Es ist sehr freundlich, dass du mich darauf hinweist“, bedankte sich Megara mit herablassender Freundlichkeit und nickte ihm zu. „Wie kommt es, dass du noch wach bist und hier draußen herumschleichst?“

„Der Herr bat mich, ein Auge auf Euch zu haben und dafür zu sorgen, dass es Euch wohl ergeht“, antwortete Serpa-Thot und verneigte sich ein wenig vor der spitznasigen Griechin.

Diese Antwort erfreute Megara ungemein. Sieh an, sie war Sorex demnach alles andere als gleichgültig. Merkwürdig, dass er gestern auf ihren Verführungsversuch nicht einging. Doch vielleicht war er schüchtern, hatte schon lange keine Frau mehr gehabt…?

Die Griechin lachte leise vor sich hin. Die Reise nach Ägypten dauerte seine Zeit, und in dieser Zeit würde es ihr sicherlich gelingen, Sorex‘ Schüchternheit zu verscheuchen. Dieser freundliche Römer hatte es mehr als Theodoros verdient, dass sie ihm wieder zeigte, wie köstlich die Freuden der Liebe sein konnten… sie würde ihm die Nächte hier an Bord schon versüßen. Vielleicht führte er sie dann ja nicht nur als seine Gesellschafterin und Hauswirtschafterin nach Pompeji, sondern als seine Gemahlin…?

Welch guter Einfall es doch gewesen war, um eine Audienz bei Fabius Maiorus Graeccus zu ersuchen…

 

 

 

Selene starrte verzweifelt aus dem Fenster ihres Zimmers und versuchte, die Nachricht, die ihr soeben von einem ihrer Sklaven hinterbracht worden war, zu verarbeiten. Demnach hatte eine ihrer Bediensteten während des Einkaufens auf dem Markt eine der Sklavinnen ihres früheren Ehemannes getroffen und von dieser die schier unglaubliche Nachricht erfahren, dass sich Lucius vor etwa zwei Wochen mit Melina Aigikoreusa verlobt hatte und plante, Anfang Juni ein kleines Fest zu geben, bei dem er offiziell verkünden würde, dass er nun mit der kleinen Griechin im Konkubinat zusammenlebte.

Es war unglaublich, dass er sich so kurze Zeit nach ihrem Auszug aus seinem Haus zu der jungen Ausländerin bekannte. Andererseits bestätigte dies nur, wie richtig sie mit ihrer Befürchtung gelegen hatte, das fremde Mädchen sei eine Konkurrenz um die Gunst ihres Mannes. Schon als Lucius bei seiner Rückkehr aus Attika die Kleine über die Schwelle seines Hauses trug, deuchte ihr dies ein schlechtes Omen in Bezug auf die Dauer ihrer Ehe zu sein, deren Fundament damals bereits etwas brüchig schien.

„Herrin!“

Eine Sklavin stand an der Schwelle zu Selenes Tür und wartete, bis diese sich zu ihr umgedreht hatte.

„Ja, was gibt es?“

„Eure Mutter bittet Euch zu Tisch“, sagte die Sklavin, verneigte sich und verschwand.

Selene seufzte und begab sich dann in das Esszimmer Aemilia Antonias, die bereits lächelnd auf sie wartete. Als sie jedoch den missmutigen Gesichtsausdruck ihrer Tochter wahrnahm, wich auch ihr Lächeln und sie fragte besorgt: „Was hast du, mein Kind?“

Selene setzte sich ihrer Mutter gegenüber, schenkte ihr einen eindringlichen Blick und antwortete dann: „Meine Gefühle haben mich nicht getrogen!“

„Wie bitte? Ich verstehe nicht, mein Kind.“

„Jetzt ist genau das eingetreten, was ich befürchtet habe, Mutter: Lucius wird schon bald erklären, dass er mit Melina zusammenlebt. Siehst du, wie richtig meine Einschätzung war, dass sie meine Ehe zerstört?“

Aemilia schüttelte nur den Kopf und meinte: „Ach, mein Kind, du übertreibst wieder einmal. Ich glaube nicht, dass es an der jungen Dame lag...“

„Aber, Mutter!“

„Nein, lass mich ausreden“, sagte Aemilia streng. „Soweit ich mich erinnere, hegtest du schon lange, bevor Melina in euer Haus kam, die Befürchtung, Lucius könne die Scheidung von dir verlangen. Damals war er gerade nach Attika aufgebrochen und kannte das griechische Mädchen noch gar nicht. Das heißt also, dass es nicht an der Kleinen gelegen haben kann. Sie war möglicherweise nur der Auslöser für etwas, das ohnehin früher oder später passiert wäre.“

„Warum nimmst du diese Fremde immer wieder in Schutz?!“ schluchzte Selene.

„Weil du ungerecht zu ihr bist und sie für etwas verantwortlich zu machen suchst, dass du dir vermutlich selbst zuzuschreiben hast“, erwiderte die Herrin des Hauses. „Statt in Melina den Grund deines Unglücks zu sehen, solltest du dir lieber Gedanken darüber machen, was du selbst zum Scheitern deiner Ehe beigetragen hast.“

„Lucius hat es Pavo doch gesagt: Er will einen Sohn und ich kann ihm diesen Sohn nicht schenken!“ entfuhr es Selene.

„Ja, das ist seine offizielle Erklärung“, meinte Aemilia. „Was soll er auch anderes sagen, mein Kind? Dies ist ein guter Scheidungsgrund.“

Ihre Tochter brach in Tränen aus und schien sich kaum beruhigen zu können. Aemilia ließ sie gewähren in der Hoffnung, dass es den Kummer Selenes, für die sie doch heftiges Mitleid empfand, lindern würde.

„Und das nach allem, was ich auf mich genommen habe, um Lucius‘ Wunsch zu entsprechen“, stieß Selene zwischen Schluchzern immer wieder hervor. „Auch als er wiederkam… oh Mutter! ... Als er wieder zu Hause war, wollte ich erneut versuchen… ach, es ist so niederträchtig von Lucius! … Weißt du, dass er mir vorwarf, ich würde ihn unter Druck setzen, weil ich einen Sohn von ihm wolle! … Es ist so abscheulich von ihm, dass er dann als Scheidungsgrund angibt, ich könne ihm diesen Sohn nicht schenken…!“

„Nun, nun… vermutlich wollte er nicht, dass alle Welt die tiefergehenden Gründe für seine Trennung von dir erfährt – auch, um dich zu schützen“, versuchte Aemilia sie zu trösten. „Und er hat dir doch sicher unter vier Augen verraten, warum er sich trennt, oder?“

Selene schniefte, trocknete sich die Tränen, schwieg jedoch. Sie schämte sich zu sehr, ihrer Mutter zu sagen, dass Lucius ihr vorgeworfen hatte, eine schlechte Mutter für Divia zu sein und darüber hinaus mit fremden Personen über ihre Beziehung zu ihm zu sprechen. Dabei konnte sie sich nicht erinnern, jemals einer Bekannten gegenüber in Gegenwart Divias ihre Befürchtung geäußert zu haben, ihr Mann könne Kurtisanen in einem Bordell aufsuchen. Die Einzige, die das einmal angesprochen hatte, war ihre Mutter gewesen – und Divia war zu diesem Zeitpunkt doch längst im Bett gewesen. Woher also konnte das Mädchen diese anrüchigen Worte aufgeschnappt haben? Wenn es überhaupt stimmte, dass ihre kleine Tochter je so etwas behauptet hatte. Womöglich hatte ihr hinterlistiger Schwager diese Geschichte ersonnen und es Lucius so erzählt, als ob es tatsächlich geschehen sei…

„Appius hat seinen Bruder gegen mich aufgehetzt!“ entfuhr es Selene unabsichtlich.

„Aber, Kind, warum sollte er so etwas tun?“ fragte ihre Mutter sofort.

„Er konnte mich noch nie besonders gut leiden.“

„Ach, du redest dir da wieder etwas ein, Kind.“

„Nein, Mutter! Appius hat noch nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen mich gemacht. Ich bin sicher, er hat Lucius‘ Verliebtheit in die kleine Griechin dazu genutzt, meinen Mann gegen mich aufzuhetzen; und du ahnst gewiss selbst, wie offen ein verliebter Mann für alle Argumente ist, die dazu beitragen, ihn mit seiner Angebeteten zusammenzubringen. Dazu gehört auch, Gründe zu finden, um die eigene Ehefrau loszuwerden.“

„Wie dem auch sei“, entgegnete Aemilia jetzt unwirsch. „Es ist müßig, darüber zu spekulieren, was Lucius letztendlich dazu getrieben hat, die Scheidung auszusprechen. Du solltest dir lieber überlegen, wie du dich am Vorteilhaftesten zurechtmachst, um wohlgefällige Blicke auf dich zu ziehen. Eine hübsche Frau wie du braucht nicht allein zu bleiben, und es gibt genügend Witwer, die keinen Wert mehr auf Nachwuchs legen.“

„Du redest ebenso wie Lucius!“ sagte Selene heftig. „Auch er meinte, ich könne einen Mann finden, der besser zu mir passe als er und mit dem ich glücklich werde.“

„Und er hat recht!“ bekräftigte ihre Mutter. „Statt hier zu Hause Trübsal zu blasen, solltest du deine Gedanken hoffnungsvoll auf die Zukunft richten. Ich gebe heute Abend eine kleine Gesellschaft und habe auch zwei nette, ledige Männer in deinem Alter eingeladen. Also mach dich zurecht und versuche, ein bisschen fröhlicher auszusehen, wenn unsere Gäste kommen.“

„Also schön, wenn du meinst“, seufzte Selene ergeben. Obgleich sie keine große Lust verspürte, in Gesellschaft anderer Menschen zu sein, wollte sie versuchen, dem Vorschlag ihrer Mutter zu folgen. Vielleicht tat diese ja recht daran, sie dazu zu zwingen, aus ihrer selbstgewählten Isolation herauszukommen und sich etwas abzulenken…

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Sie waren bereits seit einigen Tagen auf See und Megara genoss es, dass Sorex ihr Komplimente machte und sie mit allerlei kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnte. Dennoch war es ihr bisher nicht gelungen, ihn dazu zu bringen, das Bett mit ihr zu teilen.

„Warum magst du mich nicht?“ fragte sie gespielt beleidigt und setzte ein schmollendes Gesicht auf.

Sorex lachte, kniff sie zärtlich in die Wange und meinte: „Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht mag, Megara. Aber ich fürchte, du erwartest von einem alten Mann wie mir einfach zu viel. Ich würde dich bestimmt nur enttäuschen.“

„Nein, das glaube ich nicht“, schnurrte sie und schmiegte sich an seine Schulter. „Du bist so gut zu mir, Sorex, du warst mein Retter. Kannst du es mir verdenken, dass ich dir deine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gerne vergelten würde? Und ich mag dich wirklich…“

„Ach, Megara, lass gut sein“, wehrte der Römer ab und lächelte sie an. „Es genügt mir, dass du mich unterhältst und ein bisschen nett zu mir bist.“

„Aber mir reicht es nicht, Sorex“, maulte sie.

„Nun, vielleicht sollte ich dir eine Aufgabe geben“, meinte er leichthin.

Sofort spitzte Megara ihre Ohren.

„Was für eine Aufgabe?“ fragte sie neugierig.

„Nun, mir scheint, du bist eine kluge Frau“, erwiderte er. „Deshalb möchte ich dir etwas vorlesen und deine Ansicht darüber hören.“

Er erhob sich, ging zu einer seiner Reisekisten, entnahm dieser eine Papierrolle und kehrte auf die Liege neben Megara zurück. Dann zog er das Schriftstück auseinander und las:

 „Gepriesen sei Ra, der Allerhöchste!

Gepriesen seien all die gütigen Gottheiten von Memphis!

Dank dafür, o ihr Ewigen, dass ihr die Macht des Bösen geschwächt und gebannt habt. Möge es ihm nie mehr gelingen, aus seinem Kerker zu entfliehen.

O Mensch, der du dies liest, preise täglich die gütigen Götter für unsere Rettung, die auch deine Rettung ist.

Danke dafür, dass du vor Qara, Sohn des Seth, der sich Ah-Hotep nannte, errettest wurdest.

Danke dafür, dass du errettest wurdest vor Ah-Hotep, Hohepriester des Ra, der sein Amt missbrauchte.

Der Macht des Ra danke dafür, dass Ah-Hotep gefangen und seiner Macht beraubt ist!

Einst beging Ah-Hotep den Frevel, das Wasser des Lebens zu trinken.

Einst beging Ah-Hotep den Frevel, das Geheimnis ewigen Lebens zu ergründen.

Groß war daraufhin die Macht des Frevlers Ah-Hotep, Sohn des Seth.

Voll Übermut forderte er Menschenleben.

Voll Übermut tötete er Menschen und beschmutzte den Altar des Allerhöchsten mit ihrem Blut. Dem Blut von Opfern, die Ra nie verlangte!

So wurde das Heiligtum des Allerhöchsten entweiht!

Das Blut der Unschuldigen schrie nach Rache – und Ra, der Allerhöchste, gepriesen sei er, erhörte ihren Ruf. Er versammelte seine gütigen Geschwister um sich, damit sie ihm Kraft gaben den zu besiegen, der den Göttern gleich sein wollte und es doch nicht war!

So sammelte Ra, der Allerhöchste, gepriesen sei er, all seine Kräfte und schleuderte die goldenen Sonnenstrahlen gegen Ah-Hotep, um ihn für seinen Frevel zu bestrafen!

Ah-Hotep wurde in den dunklen Abgrund gestoßen!

Ah-Hotep wurde in dem dunklen Abgrund gefangen gesetzt!

Ra versiegelte das Gefängnis des Frevlers Ah-Hotep, Sohn des Seth, mit seinen goldenen Sonnenstrahlen und bannte ihn dadurch.

Die Kinder der Wüste wehklagten! Ah-Hotep, Sohn des Seth, ist seiner Macht beraubt! Ah-Hotep, Sohn des Seth, ist besiegt! Verloren haben die Kräfte der Dunkelheit!

Ra, der Allerhöchste, gepriesen sei er, rettete die Welt vor der ewigen Dunkelheit!

Doch ach, sein Heiligtum ist entweiht! Es wurde zum Gefängnis von Ah-Hotep, Sohn des Seth. Oh, Mensch, fliehe nun den einst geweihten Ort und errichte zum Dank für deine Rettung einen neuen Tempel für den Allerhöchsten und seine Geschwister.

Gepriesen seid ihr, o ihr ewig gütigen Götter!

Gepriesen sei Ra, der Retter der Welt!“

 

Nachdem Sorex dies vorgelesen hatte, rollte er das Schriftstück wieder zusammen und blickte dann gespannt zu Megara.

„Nun, was sagst du dazu?“ fragte er sie.

„Ich weiß nicht recht“, erwiderte sie irritiert. „Es scheint ein religiöser Text zu sein. Doch von diesem Ra oder diesem Ah-Hotep habe ich noch nie gehört. Gehören sie zu den ägyptischen Göttern?“

„Ja, Ra war in Memphis, der alten Hauptstadt Ägyptens, der höchste Gott einer Vielzahl von Göttern“, erklärte Sorex. „Und auch heute noch verehrt man ihn.“

„Interessierst du dich für fremde Religionen?“

„Nicht so sehr, aber für vielversprechende Abenteuer, meine Liebe.“

„Vielversprechende Abenteuer?“ fragte Megara verständnislos und runzelte die Stirn. „Ich dachte, du wolltest einfach durch Ägypten reisen, um dir das Land genauer anzuschauen?“

„Das stimmt nicht ganz“, gab Sorex zu. „Eigentlich suche ich das Grab von Ah-Hotep.“

„Des Frevlers, von dem der Text sagt, es sei besser, er bliebe für alle Zeiten in seinem Gefängnis eingesperrt?“ fragte die Griechin verständnislos nach. Dann schüttelte sie den Kopf und meinte in leicht ironischem Ton: „Vermutlich ist dieser Ah-Hotep nur eine von unzähligen mythischen Gestalten des alten Ägyptens und hat womöglich noch nicht einmal existiert.“

„Genau das möchte ich herausfinden“, erklärte der Römer lächelnd. „Nach Aussage von Serpa-Thot hat dieser ominöse Ah-Hotep tatsächlich gelebt, und zwar lange, bevor Ober- und Unterägypten zu einem Reich zusammengeschlossen wurden. Aber niemand spricht gern über diesen Mann. Die Ägypter glauben, es bringe Unglück, wenn man seinen Namen auch nur erwähnt. Selbst Serpa-Thot kam er nur stockend über die Lippen.“

„Abergläubisches Geschwätz, ich wusste es!“ spottete Megara und nahm einen Schluck Wein aus ihrem Becher. „Warum willst du deine Zeit mit solch einem Unsinn verschwenden, Sorex, wo es wesentlich angenehmere Dinge gibt, wie zum Beispiel, sich in Zärtlichkeit einer liebenden Frau hinzugeben…?“

Sie beugte sich zu ihm und knabberte sanft an seinem Ohrläppchen, was dem alten Veteranen ein wohliges Geräusch entlockte. Dennoch zwang er sich gleich darauf in die Gegenwart zurück.

„Nicht jetzt“, murmelte er und schob Megara sanft von seinem Gesicht weg. Dann räusperte er sich kurz und wandte sich erneut an seine enttäuscht dreinblickende Gesellschafterin: „Schade, dass du diesen Text so wenig ernst nimmst. Dabei ist er der Auslöser dafür, dass ich überhaupt nach Ägypten reise. Denn ich will unbedingt das Grab des Ah-Hotep finden.“

„Aber warum?“ brummte Megara missmutig. „Was versprichst du dir davon? Sind dort vielleicht Schätze verborgen, von denen niemand außer dir etwas weiß?“

„Hm, das könnte schon sein“, gab Sorex zurück und registrierte erfreut, dass er nun endlich die volle Aufmerksamkeit der jungen Frau besaß.

„Du glaubst, es befinden sich Schätze in diesem Grab?“ fragte sie nochmals nach.

„Oh ja, Megara, hast du denn nicht zugehört? Ah-Hotep verfügte laut dem Text über große Macht. Er soll auch der Zwillingsbruder einer der ersten Könige von Ägypten gewesen sein. Unzufrieden damit, als jüngerer Bruder unter seinem Zwilling, dem König Qasa, besser bekannt unter seinem offiziellen Titel Ra-Horeb II., zu stehen, richtete sich sein Ehrgeiz darauf, den Bruder zu übertreffen, der doch als Sohn des Ra galt und nach seinem Tod ebenfalls zu einem Gott werden würde, indem er sich mit Ra vereinigte. Qara blieb nur die Laufbahn als Oberster Priester des Ra – und so wurde er zu Ah-Hotep.“

„Das hast du mir vorhin aber nicht vorgelesen“, meinte Megara.

„Nun ja, es stand da auch nicht drin“, erklärte Sorex. „Doch ich habe Nachforschungen über Ah-Hotep anstellen lassen und Serpa-Thoth gelang es, einige seltene Aufzeichnungen über die Familie des Königs Ra-Horeb I. zu bekommen. Dieser war der Vater der Zwillingsbrüder Qasa und Qara, deren Rivalität einen großen Raum in diesen Texten einnimmt. Vor allem Qara scheint sehr neidisch auf die Machtstellung seines älteren Bruders gewesen zu sein und einen Weg gesucht zu haben, ihn in irgendeiner Form zu übertreffen. Nun, wenn man den alten Texten glauben darf, so ist es ihm auch gelungen.“

„Tatsächlich? Wie?“

„Genaueres darüber verraten die Texte nicht, doch es heißt, nachdem er mehrere Jahrzehnte in treuer Pflichterfüllung seine Aufgaben als Hohepriester des Ra erfüllt habe, beschloss er eines Tages, für einen Monat in die Wüste zu gehen, um das Geheimnis des ewigen Lebens zu ergründen. Allein der Wunsch, dieses Geheimnis erfahren zu wollen, galt als Blasphemie. Entsprechend entsetzt waren die Priester, die unter ihm standen, und flehten ihn an, von seinem Vorhaben abzulassen. Zudem warnten sie ihn davor, in die Wüste zu gehen. Du musst wissen, Megara, dass die Wüste bereits damals schon als Machtbereich des Gottes Seth, des Herrn über Tod und Verderben, galt. Doch Qara lachte nur über diese Warnungen und meinte, wenn er den Tod überwinden und damit das Geheimnis des ewigen Lebens ergründen wolle, sei die Wüste, über die der Gott der Unterwelt herrsche, genau der richtige Ort. – Nun, er kehrte jedenfalls nach einem Monat unversehrt wieder, zog sich in den Tempel des Ra zurück und begann bald darauf, Menschenopfer zu fordern. Er erklärte, Ra verlange dies, da sonst großes Unheil über Memphis kommen werde. Natürlich schenkte man Qara, da er der Hohepriester war, zunächst Glauben und kam seinen Forderungen nach. Doch die Abstände, in denen er Menschenopfer forderte, wurden immer kürzer. Außerdem geschah etwas Seltsames: Qara, der zu dieser Zeit bereits sehr alt war, schien sich nach jedem dargebrachten Menschenopfer zusehends zu verjüngen. Die Texte sprechen davon, dass er sich in einen kraftvollen, jungen Mann zurückverwandelte. Genau dies war es, was die anderen Priester verwunderte. Also fragten sie ihn, wie so etwas möglich sein könne. Qara entgegnete ihnen selbstsicher, dass er im Besitz des Geheimnisses des ewigen Lebens sei, welches er in der Wüste einem Gott entlockt habe. Als man ihn entsetzt darauf hinwies, dass es sich dabei nur um Seth gehandelt haben konnte, lachte Qara, ohne eine weitere Erklärung dazu zu geben. – Um diese Geschichte zu einem Abschluss zu bringen: Die Priester setzten dem Treiben Qaras ein Ende, da er in ihren Augen einen Frevel begangen und sich mit dem Gott der Unterwelt eingelassen hatte. Sie töteten ihn, legten seinen Leichnam in einen Sarkophag und versiegelten diesen. Dann mauerten sie den Totenschrein im Allerheiligsten des Ra-Tempels ein und zogen darüber hinaus eine hohe Mauer um den Tempel, der durch den Blutfrevel, den Qara begangen hatte, entweiht war. Dann verließen die Einwohner das alte Memphis und errichteten diese Stadt an einer anderen Stelle neu. Doch sie hinterließen keinerlei schriftliche Aufzeichnungen, wo sich das alte Memphis einst befunden hatte. Denn für die Ägypter gehört ein entweihter Ort ebenfalls zum Machtbereich des Seth und jeder ist gut beraten, der einen solchen Ort meidet.“

„Aber du scheinst nicht auf die Warnungen hören zu wollen“, meinte Megara und grinste. „Was glaubst du, welche Schätze dieser Qara wohl in dem Tempel verborgen hat?“

Sorex bedachte die Griechin mit einem merkwürdigen Blick, nahm dann einen Schluck Wein, und antwortete bedächtig: „Dir scheinen wichtige Aussagen meiner Erzählung entgangen zu sein, sonst wüsstest du genau, was ich im Grab von Ah-Hotep zu finden hoffe.“

„Dieses Grab ist identisch mit dem früheren Altarraum des Gottes Ra, in dem der frevlerische Priester Menschen tötete. Du interessierst dich doch nicht etwa für die Knochen von Toten? Denn was sonst könntest du dort finden?“

Sorex schüttelte nur den Kopf.

„Du hast nichts verstanden…“

„Höre, mein Lieber, die Altarräume meiner Heimat sind schlicht, ohne Schmuck, und ich dachte immer, dass dies überall so sei. Verhält es sich bei den Ägyptern etwa anders?“

Der alte Römer seufzte. Vielleicht war es ganz gut, dass die junge Frau ihm gegenüber nicht erriet, wonach er strebte. Dabei hatte er immer geglaubt, dass aus dem alten Text deutlich hervorginge, welche Schätze Ah-Hotep besaß. Wohlweislich hielt er jedoch den anderen, geheimen Text unter Verschluss – jenen Text, der ihm verriet, wie er Ah-Hotep wieder zum Leben erwecken konnte…

 

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Lebhaftes Treiben beherrschte an jenem Spätnachmittag die Straßen Roms, als zwei kräftige Sklaven, die eine Sänfte trugen, sich einen Weg durch sie hindurch bahnten in der Absicht, in eine der engen Seitenstraßen einzubiegen, die nicht ohne Grund von vielen der anständigen Bürger gemieden wurden. Nun ja, jedenfalls gab man sich normalerweise den Anschein, um diese Seitenstraßen einen Bogen zu machen… in Wirklichkeit jedoch nahmen auch die Vornehmen dieser Stadt hin und wieder gern die Hilfe jener Frauen in Anspruch, die sich unter anderem zwielichtigen Gesindel dort aufhielten und in dem zweifelhaften Ruf standen, Zauberinnen zu sein.

Auch Selene hatte sich dazu entschlossen, den Beistand einer dieser Töchter Hekates zu erbitten, nachdem sie während der gestrigen Cena glaubte, die Demütigung nicht mehr ertragen zu können.

Zunächst ließ sich der Abend ja gut an. Dem Rat ihrer Mutter folgend hatte Selene sich ein schönes Gewand angezogen, sich geschminkt und sich das Haar von ihren beiden Sklavinnen zu einer überaus kunstvollen Flechtfrisur herrichten lassen. Als sie sich im Spiegel betrachtete, gefiel sie sich selbst ausnehmend gut und ging, derart mit neuer Selbstsicherheit gestärkt, zu ihrer Mutter ins Esszimmer, um mit dieser zusammen die Gäste zu empfangen. Diese trafen auch bald danach ein und man hieß sie willkommen.

Das Gastmahl verlief auch recht angenehm, bis zu dem Augenblick, als Gaius, einer der beiden Witwer, die ihre Mutter eingeladen hatte, das Gespräch mit ihr suchte. Zunächst machte er ihr Komplimente wegen ihres Aussehens, was sie lächelnd entgegennahm, dann fragte er sie nach ihrem Befinden.

„Danke, es geht mir gut“, erwiderte sie freundlich. „Und Euch?“

„Ich kann nicht klagen“, sagte Gaius. „Die Geschäfte laufen ausgezeichnet.“

„Demnach seid Ihr also Händler?“

„Ja, ich verkaufe Stoffe aller Art.“

„Wie überaus interessant. Ich nehme an, dass Ihr auch Weberinnen beschäftigt?“

„Aber natürlich! Viele der Sklavinnen in Privathaushalten verdienen sich auf diese Weise – natürlich mit Zustimmung ihres Herrn - ein wenig Geld, um sich damit den einen oder anderen kleinen Wunsch erfüllen zu können. Übrigens befindet sich unter meinen Weberinnen auch eine gewisse Philine, die Euch sicherlich bekannt ist. Wenn mich nicht alles täuscht, so wart Ihr doch mit ihrem Herrn verheiratet, nicht wahr?“

„Wenn es sich dabei um Lucius Marcellus handelt, dann ja“, gab sie zu, obwohl schon die bloße Erwähnung von Philines Namen in ihr ein unangenehmes Gefühl auslöste.

„Sie ist eine sehr geschickte Weberin, deren Tücher und Kleider hohes Interesse bei meiner Kundschaft finden. Eine sehr tüchtige und zuverlässige Frau, finde ich.“

„Ja, das kann man ohne Übertreibung sagen“, entgegnete Selene und hoffte, dass das Thema damit beendet wäre. Aber weit gefehlt. Offensichtlich hatte Gaius einen Narren an der griechischen Sklavin gefressen.

„Ich hörte, dass sie im Moment für Marcellus den Haushalt führt, solange dieser sich noch nicht wieder offiziell mit einer anderen Frau verbunden hat. Allerdings geht das Gerücht um, Euer früherer Gemahl trage sich mit derartigen Gedanken und es stünde wohl demnächst eine kleine Feier ins Haus“, plapperte der Stoffhändler ohne zu überlegen munter weiter.

„Ach, tatsächlich?“ fragte Selene und tat ahnungslos.

„Oh, Ihr wusstet gar nichts davon?“ Gaius schien wirklich überrascht. Dann jedoch lachte er und meinte: „Nun ja, es handelt sich vorläufig noch um ein Gerücht, welches sich jedoch bald bewahrheiten dürfte. Philine bat mich nämlich, ihr statt des Geldes einen feinen, roten Stoff zu überlassen. – Feiner, roter Stoff... Ihr versteht? Die Art von Stoff, aus denen der Brautschleier gemacht wird…“

Bei diesen Worten fuhr Selene ein scharfer Stich durchs Herz. Abrupt stand sie auf und entschuldigte sich, da ihr unwohl sei und sie sich zurückziehen müsse. Für den heutigen Abend hatte sie genug gehört. Wie konnte Mutter nur annehmen, dass sie solch einen taktlosen Menschen wie diesen Gaius ernsthaft als möglichen Ehegemahl ins Auge fasste?

Aufgebracht, wie sie war, verspürte sie nicht die geringste Lust, sich noch mit dem anderen Witwer zu befassen, den sie bei der Begrüßung nur kurz gesehen hatte: Ein großer, dünner Mann mit beginnender Halbglatze, der ihr nicht sonderlich sympathisch war.

Bei einer derartigen Auswahl brachte sie wirklich keinerlei Neigung auf, sich neu zu binden. Wer brauchte schon einen Partner, der taktlos war oder der einem nicht gefiel? Auf Lucius traf beides nicht zu! Sie wollte ihren Mann zurück! Lucius gehörte ihr!

Was fiel dieser kleinen Griechin ein, ihren Lucius zu bezaubern und ihn ihr wegzunehmen?!

Aber sie würde ihn ihr nicht so einfach überlassen!

Genau das war der Punkt, an dem Selene sich entschloss, eine Zauberin um Hilfe zu bitten, und sich gut verhüllt in einer geschlossenen Sänfte auf den Weg dorthin zu machen. Sie spürte, dass diese sich nun senkte und hörte gleich darauf einen der Träger flüstern: „Herrin, wir sind jetzt in der Straße angekommen, in die Ihr wolltet. Es ist kaum eine Menschenseele zu sehen.“

Selene öffnete die Tür der Sänfte, schaute sich noch einmal nach allen Seiten um und stieg, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sich niemand in der Straße befand, der sie kannte, endlich aus.

„Wartet hier auf mich!“ befahl sie den beiden Sklaven und ging dann in ein Haus hinein, auf dessen Tür zwei gerade Linien sich kreuzten, über denen eine Fackel schwebte. [1] Kaum war sie eingetreten, spürte sie eine merkwürdige Atmosphäre, die sie kaum einordnen konnte, und in dem dunklen Raum, der nur von zwei an der Wand befindlichen Öllampen beleuchtet wurde, konnte sie den Umriss einer auf dem Boden sitzenden Frau ausmachen.

„Tretet näher“, hörte Selene nun die sitzende Gestalt sagen und folgte dieser Aufforderung langsam, wobei ihr Herz von einem deutlich spürbaren, beklemmenden Gefühl erfasst wurde. „Setzt Euch doch, meine Dame!“

Vorsichtig ließ sich Selene auf das bereitstehende große Sitzkissen, das sich gegenüber der Zauberin befand, nieder und blickte die Hausherrin gespannt an. Diese war eine Frau mittleren Alters, deren graublaue Augen förmlich durch sie hindurchzusehen schienen.

„Ihr benötigt meine Hilfe in einer Herzensangelegenheit“, stellte die weise Frau in sachlichem Ton fest, ohne zu lächeln. „Ihr glaubt, man hätte Euch etwas genommen, das Euch gehört.“

„Ja“, bestätigte Selene, die sich sogleich verstanden fühlte. „Eine Fremde hat mir meinen Mann weggenommen und ich glaube, dass sie dies mit unnatürlichen Mitteln tat.“

„Keineswegs“, antwortete die weise Frau. „Hier war keine Magie im Spiel, sondern Liebe. Ich sehe ein junges Mädchen mit reinem Herzen und einen Mann, der ihr in tiefer Liebe zugetan ist. Die beiden sind füreinander bestimmt...“

„Bitte, helft mir, meinen Mann zurückzugewinnen!“ sagte Selene eindringlich. „Ich bin auch bereit, jeden Preis zu zahlen!“

„Es ist so gut wie unmöglich, ein Paar zu trennen, das in solch starker Liebe miteinander verbunden ist. Es wäre besser, von diesem Vorhaben abzulassen. Denn der Preis dafür, vom Schicksal füreinander vorgesehene Menschen zu trennen, könnte hoch sein!“ warnte die Zauberin in eindringlichem Ton.

„Wie gesagt – ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, den Ihr verlangt! Ich habe Geld genug!“ erwiderte Selene rasch und begann wieder zu hoffen.

„Wer spricht denn vom Geld?“ murmelte ihr Gegenüber in ernstem Ton. „Ich weise Euch nur darauf hin, dass Magie unberechenbar ist. Um das Herz eines Mannes zu gewinnen, das in echter Liebe einer anderen Frau zugetan ist, wird ein sehr starker Zauber vonnöten sein. Ein Zauber von der Art, die ein großes Opfer verlangt. Ich bitte Euch noch einmal, lasst ab von Eurem Wunsch… lasst Euren früheren Gefährten los…“

„Nein, ich will meinen Mann zurück!“

„Hört, edle Dame, ich könnte einen guten Zauber für Euch vollziehen!“ schlug die weise Frau vor. „Einen Liebeszauber, der bewirkt, dass Ihr einen Mann kennenlernt, der Euch wahrhaftig liebt und dem Ihr auch zugetan wäret. Ihr könntet eine Ehe mit diesem neuen Mann eingehen und glücklich werden, statt das Glück eines anderen Paares zu zerstören. Das wäre viel besser für Euch.“

„Warum sollte ich Rücksicht nehmen auf meinen ehemaligen Gatten und seine Geliebte? Die beiden haben auf mich auch keine Rücksicht genommen!“

„Ich verstehe, dass Ihr jetzt noch sehr verletzt seid, edle Dame. Aber ich kann Euch Linderung verschaffen, und wenn Ihr Euren Kummer überwunden habt, dann könntet Ihr…“

„Nein!“ schrie Selene und bedachte die Zauberin mit zornigem Blick. „Mein Glück wurde zerstört von einem fremden Mädchen! Es ist mein gutes Recht, mir zurückzuholen, was mein war!“

„Euer Glück?“ fragte die weise Frau spöttisch. „Ihr habt Euren Gemahl doch nie geliebt; und sein Herz hat Euch auch nie wirklich gehört.“

„Schweig! Was weißt du schon davon?!“

„Ihr vergesst, dass ich eine Frau mit besonderen Fähigkeiten bin“, erwiderte die Zauberin gleichmütig. „Ich kann in die Herzen der Menschen sehen und erkennen, wie es dort wirklich aussieht. Deshalb weiß ich, dass Ihr im Grunde niemandem etwas Übles wollt, sondern im Moment nur verletzt seid. Aber wenn Ihr Euch ein wenig in Geduld übt, wird auch das Liebesglück zu Euch kommen! Deshalb rate ich Euch erneut, edle Dame, lasst Euren früheren Gefährten los und reinigt Euren Geist von all dem Unrat, der noch in ihm wohnt. Dabei könnte ich Euch behilflich sein…“

„Nein! Ich will, dass die Geliebte meines Mannes verschwindet!“

„Ich führe keine Zauber aus, die einem anderen Menschen den Tod bringen!“ entgegnete die weise Frau in festem Ton. „Dieses Mädchen ist reinen Herzens! Sie ist ein Liebling der Götter! Und im Namen der Götter beschwöre ich Euch noch einmal, lasst von Eurem Vorhaben ab, Euren Mann zurückgewinnen zu wollen! Es wird nur großes Unglück über Euch und andere bringen!“

„Niemand verlangt den Tod der Kleinen!“ stellte Selene wütend klar. „Alles, was ich will ist, dass sie aus Rom verschwindet! Mehr verlange ich nicht von dir!“

„Glaubt Ihr wirklich, dass sich Euer früherer Gefährte Euch wieder zuwendet, wenn diejenige, die er liebt, seinem Blickfeld entzogen ist? Dann lasst Euch sagen, dass Ihr Euch hierin in einem großen Irrtum befindet. Seine Liebe zu dem Mädchen ist so tief, dass sie durch nichts zu erschüttern ist…“

„Das werden wir ja sehen!“ schnaubte Selene. „Ist also ein Zauber möglich, der bewirkt, dass die Geliebte meines einstigen Ehemannes aus Rom verschwindet?“

„Ja… solch einen Zauber könnte ich natürlich vollziehen…“; gab die weise Frau in gedehntem Ton zurück, musterte ihre Bittstellerin jedoch mit einem seltsamen Blick, wobei ein kaum merkliches, spöttisches Lächeln ihre Lippen umspielte. „Aber wenn ich diesen Zauber vollziehe, müsst Ihr erklären, dass Ihr die alleinige Verantwortung tragt für all die Folgen dieses Zaubers. Denn ich möchte nicht den Zorn der Götter auf mich ziehen, weil ich versucht habe, zwei füreinander bestimmte Liebende zu trennen…“

„Führ diesen Zauber aus!“ verlangte Selene sofort.

„Tragt Ihr die Folgen, die sich daraus unweigerlich ergeben werden, edle Dame?“

„Ja, ich trage die Folgen, die sich daraus ergeben!“

„Gut, so sei es denn!“ erklärte daraufhin die weise Frau, erhob sich jetzt und bedeutete Selene, es ihr gleichzutun. Dann ging sie mit ihr zur Feuerstelle und forderte sie auf zu erklären, dass sie für den jetzt folgenden Zauber die volle Verantwortung übernehme. Während ihre vornehme Klientin dies tat, ergriff die weise Frau ein kleines Messer, das sich neben dem Herd befand, umfasst dann Selenes rechtes Handgelenk und schnitt ihr unversehens in den Zeigefinger. Dann spritzte sie drei Tropfen des daraus hervorschießenden Blutes in die Flamme, murmelte leise eine Beschwörung, die Selene nicht verstand, und nahm danach eine der kleinen Bleitafeln, die sich unweit des Herdes befanden.

„Wie heißt die Frau, von der Ihr wollt, dass sie aus Rom verschwindet?“ fragte die Zauberin.

„Ihr Name ist Melina… Melina Aigikoreusa“, erwiderte Selene verbittert. Sie beobachtete, dass die Zauberin diesen Namen nun mit dem blutbefleckten Messer in die kleine Bleitafel ritzte. Dabei wurde Selene erneut von einem beklommenen Gefühl erfasst und fragte sich für einen kurzen Augenblick, ob sie mit ihrem Vorhaben nicht doch zu weit ging. Was, wenn etwas furchtbar Böses daraus erfolgte? Doch dann tat sie diese Bedenken wieder ab. Schließlich hatte die Zauberin ihr erklärt, dass sie keine Todesflüche gegen jemand ausführen würde…

 „Gebt mir noch einmal die Hand, an deren Finger ich Euch die kleine Wunde beibrachte“, bat die weise Frau sie plötzlich. Unwillkürlich reichte Selene ihr diese. Die Zauberin drückte nochmals deren Zeigefinger zusammen, so dass wieder etwas Blut hervorschoss, und strich mit diesem über die Bleitafel, auf dem gut lesbar der Name Melina Aigikoreusa stand.

„Dies dient nochmals zur Bekräftigung Eurer Verantwortung für diesen Zauber und allen Folgen, die daraus entstehen“, erklärte die Zauberin, nachdem das Täfelchen mit dem Blut aus Selenes Finger getränkt war. „Sobald Euer Lebenssaft darauf eingetrocknet ist, werde ich Euch die Bleitafel überlassen. Und dann liegt es an Euch, ob ihr diese Tafel außerhalb Roms in die Erde vergrabt oder nicht. Tut ihr es nicht, bedeutet dies, dass Ihr darauf verzichtet, den Zauber seine Wirkung entfalten zu lassen, und es geschieht nichts. Solltet Ihr aber tatsächlich das Bleitäfelchen draußen vergraben, dann wird auch bald die Person, deren Name darauf geschrieben steht, Rom verlassen. Ihr seht also, edle Dame, es liegt jetzt in Eurer Hand, was geschieht. Meine Dienste enden hier.“

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Theodoros Aigikoreus war mehr als erstaunt, als ihm durch einen Boten des römischen Statthalters eine Nachricht mit den Worten „aus Rom für Euch“ überbracht wurde. Mit einer Mischung aus Ärger, Erstaunen und Angst nahm er das Schreiben an sich und riss es ungeduldig auf. Als er jedoch die ihm wohlbekannte Handschrift erkannte, wurde er blass und überflog rasch den Brief:

 

„Lieber Vater,

nach langer Zeit gestattet man es mir, dir zu schreiben. Ich hoffe, du bist wohlauf? Wie geht es Megara? Hat sie schon unserem Geschwisterchen das Leben geschenkt?

Sicher interessiert es dich, wie es uns ergangen ist, seit wir gewaltsam auseinandergerissen wurden. Die Reise nach Rom verlief ohne Zwischenfälle und wir kamen unbeschadet in der großen Stadt des Imperiums an. Doch dann trennte man uns. Leandros und seine Kameraden befinden sich derzeit in einem römischen Militärlager, wo man sie zu Legionären ausbildet. Kimon ist bei einer sehr netten Familie untergebracht und ich konnte mich bereits während eines Besuchs dort davon überzeugen, dass es ihm gut geht.

Ich selbst weile im Hause von Lucius Marcellus und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gütig er zu mir ist und wie sehr er mich verwöhnt – immer darauf bedacht, dass ich mich hier wohlfühle. Niemals hätte ich geglaubt, in Rom glücklich zu werden, aber nun bin ich es.

Der Grund für meine Freude, lieber Vater, ist der, dass Lucius mich bat, seine Frau zu werden, und ich habe Ja gesagt, nachdem Leandros mir sein Einverständnis dazu gab.

Ich werde also heiraten, mein lieber Vater, und an der Seite meines geliebten Lucius hier in Rom eine neue Heimat finden.

Ach, ich wünschte, du wärest dabei, um selbst Zeuge unseres Glücks zu sein – aber das ist ja leider nicht möglich. Dennoch hoffe ich, dass du dich mit uns freust, lieber Vater, und dass du unser Glück vervollständigst, indem du uns deinen Segen zu unserer Verbindung erteilst.

Worte allein können kaum sagen, wie sehr ich dich vermisse, lieber Vater, und wie sehr ich darauf hoffe, dass wir uns eines Tages wiedersehen.

Ich versichere dich meiner Liebe und Achtung.

Deine Tochter Melina.“

 

Mit zitternden Händen und Tränen in den Augen ließ Theodoros die Nachricht seiner Tochter sinken und starrte mit glasigem Blick vor sich hin. Hier stand es also schwarz auf weiß, dass sein Augenstern tatsächlich die Frau von diesem Lucius Marcellus werden würde – vielleicht waren die beiden sogar schon miteinander verheiratet… Ach, all seine Gebete zu Zeus, diese Verbindung nicht zuzulassen, waren vergeblich gewesen.

Wie hatte es überhaupt geschehen können, dass Melina sich dazu bereit erklärte, den Legatus zu heiraten? Und was bewog Leandros dazu, sich mit dieser mehr als unerwünschten Verbindung einverstanden zu erklären?

Theodoros fand hierzu nur eine Erklärung: Seine beiden älteren Kinder waren von Lucius Marcellus dazu gezwungen worden – möglicherweise hatte er damit gedroht, Kimon umzubringen, wenn sie ihm nicht gehorchten. Oh ja, das sähe diesem Römer ähnlich! Leandros und Melina würden alles tun, damit dem kleinen Muttermörder kein Leid geschah.

Und da sich die Dinge nach Ansicht des alten Aigikoreus so verhielten, war Melinas Brief für ihn nichts anderes als ein versteckter Hilferuf – denn offen konnte seine Tochter ihre Verzweiflung nicht äußern, da man ihr Schreiben sicherlich kontrolliert hatte…

Schrieb sein Augenstern denn nicht, wie sehr sie ihn vermisste, wie sehr sie sich danach sehnte, in die Heimat zurückzukehren…? Aber er, ihr eigener Vater, konnte ihr nicht helfen…

Theodoros weinte nun hemmungslos.

Ach, verflucht sei der Tag, an dem er geplant hatte, gegen Rom zu rebellieren!

Verflucht sei auch der Tag, an dem seine Frau Cora ihre gemeinsame Tochter zu jenem heiligen Hain des Apollo mitnahm, der sich damals noch in der Nähe des Zeus-Tempels am Waldrand von Athen befand. Cora stammte aus Delos [2] und war eine glühende Anhängerin des Apollo-Kultes, von dem sie auch in ihrer neuen Heimat nicht ablassen wollte.

Ihm selbst war Apollo stets ein wenig zwielichtig erschienen, besaß jener doch eine schwer einzuschätzende Doppelnatur: Einerseits verkörperte er die Sonne, achtete auf Recht und Ordnung, war Herr über Kunst, Wissenschaft und Prophetie sowie Vater des Asklepios, der den Kranken Linderung und Heilung brachte – wenn man jedoch durch irgendetwas Apollos Zorn erweckte, konnte er zum todbringenden Feind werden. Denn er besaß eine Wolfsnatur, wie sein Beiname Lykaios sehr klar zum Ausdruck brachte, obwohl seine Anhänger immer behaupteten, dass Apollo Lykaios die Schafherden vor reißenden Wölfen beschützte…

Theodoros jedoch traute diesem Gott nicht über den Weg und konnte auch von seiner Frau nicht davon überzeugt werden, dass Apollo Licht und Schutz verhieß und ihnen äußerst wohlgesonnen war. Aber Theodoros ließ seiner geliebten Cora ihren Glauben und hatte zunächst auch nichts dagegen gehabt, als sie die damals achtjährige Melina zum ersten Mal mit dem Gott ihrer Heimat bekannt machen wollte. Doch musste er bald darauf einsehen, dass dies ein schwerer Fehler war.

Nachdem Melina nämlich mit ihrer Mutter wieder nach Hause zurückkehrte, erklärte sie dem erschrockenen Vater, wie schön sie Apollo finde, wie sehr er ihr gefalle und wie gerne sie in seinem heiligen Hain als Tempeljungfrau dienen wolle. Und wenn sie groß sei, würde sie nur einen Mann heiraten, der Apollo ähnlich wäre.

Natürlich waren die Worte seiner kleinen Tochter damals in kindlichem Freimut ohne böse Absicht erfolgt und Cora hatte darüber nur gelacht und gemeint, wie sehr solche Worte Apollo erfreuen würden. Doch Theodoros fand sie blasphemisch und brachte dem Lichtgott vorsorglich ein Sühneopfer dar, um seinen kleinen Augenstern vor dessen Zorn zu bewahren.

Danach allerdings verbot er seiner Frau, Melina nochmals zum Heiligtum Apollos mitzunehmen, und ließ sich weder durch Bitten noch durch Schmeicheleien Coras von diesem Entschluss abbringen. Vielmehr erklärte er ihr, die Kleine schützen und ihr die unsinnige Idee austreiben zu wollen, Tempeljungfrau zu werden. Ihre Bestimmung, so machte er seiner Frau unmissverständlich klar, sei es, einen griechischen Edelmann seiner Wahl zu heiraten, um eine günstige politische Verbindung zu schaffen, und ihnen viele Enkel zu schenken.

Indem er Apollo seine Tochter auf diese Weise entzog, hatte er geglaubt, sie dadurch in Sicherheit gebracht zu haben. Doch ein Gott ließ sich nicht so leicht die Anhängerin rauben. Apollo hatte ihm Melina auf andere Weise entrissen und sie Lucius Marcellus, dem er gewogen zu sein schien, zugeführt…

Theodoros schluchzte erneut auf. Ach, er ahnte, dass dies Apollos Strafe dafür war, dass er ihm seinerzeit Melina nicht zum Tempeldienst überlassen wollte.

Seine süße Tochter musste nun also einen Barbaren zum Manne nehmen – und eigentlich müsste er als ihr Vater sie daraufhin verstoßen, doch dazu war er nicht imstande.

Melina war das unschuldige Opfer seines Hochmuts! Sie sollte nach dem Verlust ihrer Mutter, ihrer Heimat und ihrer Brüder nicht auch noch den Verlust der Liebe ihres Vaters erleiden müssen, nur weil man sie zwang, sich an einen römischen Offizier zu binden. Natürlich geschah das nur, um ihn und seine Familie zu demütigen. Sein armes Töchterchen. Wie unerträglich musste es für sie sein! Er als ihr Vater und Verursacher ihres Unglücks war verpflichtet, etwas zu tun, um ihr schreckliches Schicksal wenigstens ein bisschen zu lindern…

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[1] Hekate, die Göttin der Zauberei und der Weggabelungen, wurde häufig mit Fackel und Geißel dargestellt.

[2] Delos war neben Delphi einer der Hauptkultorte, an denen Apollo verehrt wurde.

 

 

 

Info vorab an die geneigte Leserschaft:

Wenn ein römischer Bürger und eine römische Bürgerin heirateten, war dies in der Regel eine reine Privatsache. Es war nicht notwendig, eine staatliche oder eine religiöse Zeremonie zu begehen. Zwar gab es einen traditionellen Hochzeitsritus, der jedoch nicht rechtsverbindlich war.

Wenn sich ein römischer Bürger mit einer freigelassenen Nichtrömerin verband, d. h. in einem Konkubinat lebte (da die Ehe miteinander ihnen ja verboten war), konnte er diese Verbindung demnach also auch feiern, wie er wollte.

Und so halten wir es jetzt auch.

Viel Spaß beim Lesen!

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Es war ein wundervoller Junimorgen und Melina schien es, als hätten sich alle guten Kräfte des Himmels und der Erde vereint, um ihr diesen Tag so schön wie möglich werden zu lassen.

Denn es war ihr Tag – ihr Hochzeitstag!

Jedenfalls hatte Lucius sie davon überzeugen können, es so zu sehen.

Nachdem sie ihm vor gut drei Wochen ihr Jawort gegeben hatte, mit ihm im Konkubinat zu leben, betonte er so oft wie möglich, dass ihre Verbindung für ihn persönlich eine Ehe sei, ganz egal, wie das römische Gesetz es sehe. Demzufolge, so führte er weiter aus, wolle er den Tag, an dem er offiziell bekannt gab, dass er mit ihr als Gefährtin zusammenleben werde, wie ein Hochzeitsfest begehen – denn es sei ja ihre Sache, ob und wie sie die Verkündigung ihres Zusammenlebens feierten.

Melina war darüber sehr glücklich, zeigte ihr dies wieder einmal überdeutlich, wie sehr Lucius sie liebte und alles tat, damit sie sich bei ihm und in seiner Heimat wohlfühlte.

Sie einigten sich darauf, den Termin ihrer  > Hochzeit <  auf den 9. Juni zu legen; und seitdem war das ganze Hausgesinde damit beschäftigt, alles für den großen Tag vorzubereiten. Melina selbst stellte mit Hilfe von Philine ein Menü zusammen und war sich auch nicht zu schade dafür, selbst einige der Mahlzeiten vorzubereiten, obwohl das der Köchin mehr als peinlich war und sie ein ums andere Mal sagte: „Aber nicht doch, Herrin, das müsst Ihr wirklich nicht tun!“

Melina lachte nur und erwiderte: „In Griechenland habe ich oft für die Familie gekocht und gebacken. Also lass mir die Freude. Es macht mir wirklich Spaß! Und wir haben doch alle Hände voll zu tun!“

Damit gewann sie vollends das Herz der gutmütigen Köchin und auch Odalind, die neue Sklavin aus Gallien, verlor jegliche Unsicherheit vor der jungen Dame, die bald die Herrin des Hauses sein würde.

Melina war schon recht froh, dass die Bediensteten sie sofort als neue Frau an der Seite des Pater familias akzeptierten, denn sie hatte zunächst ein klein wenig befürchtet, dass die Sklaven aus Solidarität zu Lucius‘ früherer Gattin ihr Schwierigkeiten bereiten würden. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Sklaven schienen alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihr bei allem, worin sie noch unsicher war oder was sie nicht wusste, zu helfen, so dass sie sich mittlerweile fast wirklich wie zu Hause fühlte.

Die junge Griechin erinnerte sich auch daran, dass sie ein wenig Angst davor gehabt hatte, Divia würde wütend darüber sein, dass ihr Vater ihr so kurz nach dem Weggang der eigenen Mutter eine neue Frau an seiner Seite präsentierte – doch auch hier erlebte sie eine positive Überraschung: Die Zehnjährige umarmte sie spontan, küsste sie heftig auf die Wange und murmelte immer wieder, wie schön es sei, dass sie für immer bliebe.

Der einzige Wermutstropfen für Melina war, dass Quella alles andere als glücklich über ihre Absicht war, sich mit Lucius zu verbinden. Die alte Amme glaubte nach wie vor, dass ihr Lämmchen sich auf eine unehrenhafte Beziehung mit einem Feind ihres Volkes einließ und nichts konnte sie von dieser Meinung abbringen.

„Was würden nur Eure Eltern dazu sagen, Herrin?“ hatte Quella traurig gefragt.

„Wenn Vater Lucius kennen würde, dann hätte er sicher nichts dagegen“, antwortete sie ihr daraufhin. „Und Mutter würde mich verstehen… ja, Mutter würde mich besser verstehen als alle anderen…“

Seitdem hatte Quella kein Wort mehr über ihre bevorstehende Hochzeit verloren, sondern sich von ihr zurückgezogen und sich um Divia und Sidori gekümmert.

Melina seufzte resigniert, wenn sie daran dachte, mit welch betrübter Miene ihre alte Amme durchs Haus schlich, wenn sie sie zufällig mal sah. Es tat ihr weh, die Frau, die ihr doch fast eine Mutter war, so zu sehen. Aber sie hatte es mittlerweile aufgegeben, Quella davon zu überzeugen, dass sie ein völlig falsches Bild von den Römern und insbesondere von Lucius besaß. Philine hatte bestimmt recht mit ihrer Behauptung, dass alte Menschen von ihrer einmal vorgefassten Meinung kaum abzubringen seien. Sie solle sich um Quella nicht so viele Gedanken machen, da diese eine Sklavin war, die sich mit den gegebenen Umständen abzufinden habe.

Ach ja, Philine! Was würde sie nur ohne diese gute Seele machen!

Ihre Landsmännin war zwar seit Jahren die treuergebene Sklavin von Lucius und ihre Loyalität galt in erster Linie ihrem Herrn, dennoch versicherte sie ihr ihre Ergebenheit, nachdem Lucius sie ihr als seine zukünftige Frau vorgestellt hatte, der sie in allem mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte. Und Philine kam dieser Forderung anscheinend freudig nach. Entschlossen nahm sie die Organisation der Hochzeit in die Hand, erklärte Melina, sie müsse sich um nichts weiter kümmern als darum, welches Kleid sie gern tragen würde, wen man alles einladen und welche Speisen man den Gästen servieren solle.

Natürlich wusste Melina auch, dass Philine ihre Vorschläge nochmals mit Lucius durchging. Doch das machte ihr nichts aus. Sie war dankbar, dass die griechische Sklavin ihr so hilfreich unter die Arme gegriffen hatte, dass man wirklich mit allen Vorbereitungen für die Feier gestern fertig geworden war. Danach jedoch erwartete sie ein große Überraschung: Philine erklärte ihr, dass eine Rheda draußen bereitstehe, welche sie beide sowie Laila zum Hause des Quintus Valerianus bringen würde. Dort sollte sie die Nacht vor der Hochzeit verbringen. Ihr Bräutigam hätte dies so mit dem Senator abgesprochen. Verwundert fügte sie sich und wurde sehr herzlich von Valerianus, seiner Frau und Silvia willkommen geheißen. Sie verbrachten einen netten Abend zusammen, bei dem auch Kimon dabei war, der sich natürlich über die Anwesenheit der großen Schwester freute. Doch dass er seine Adoptiveltern mit Mama und Papa ansprach, tat Melina nach wie vor weh, aber sie bemühte sich, dies nicht zu zeigen.

Während sie mit der Familie des Senators im Esszimmer weilte, richteten Philine und Laila ihr ein Schlafgemach im Gästezimmer ein und brachten dort auch eine große Truhe hinauf, die sie bisher erfolgreich vor ihr verborgen hatten.

Im Nachhinein musste Melina über die Geheimniskrämerei der beiden Sklavinnen lachen. Es war so rührend von den beiden, sie zu überraschen.

Nachdem sie heute Morgen nämlich mit ihnen vom Besuch der Therme ins Haus des Senators zurückkehrte, führten Philine und Laila sie wieder in das Gästezimmer, entkleideten sie rasch und zeigten ihr dann, was sie in der bislang verschlossenen Truhe verborgen gehalten hatten. Zum Vorschein kam ein weißes Hochzeitskleid aus feinstem Stoff, das Philine selbst für sie gewebt hatte. Der dazu gehörige rote Wollgürtel war hingegen das Werk Divias, die unbedingt auch etwas für ihre  > Meli <  zur Hochzeit machen wollte. Ein Schleier aus feinem, durchsichtigem, rotem Stoff sowie die roten Schuhe vollendeten die Brautkleidung.

Bevor Laila und Philine jedoch daran gingen, Melina anzukleiden, kämmten sie ihr langes, schwarzes Haar, teilten es dann in sechs Bahnen, die sie zu Zöpfen flochten und hochsteckten. Nachdem sie sie danach angekleidet hatten, legten sie ihr den Schleier aufs Haupt, steckten auch diesen mit kleinen Spangen fest, damit er nicht verrutschte, und setzten Melina zu guter Letzt einen Myrtenkranz auf.

„Ach, Herrin, Ihr seht wunderschön aus!“ seufzte Laila und Philine nickte äußerst zufrieden.

Dann meinte die griechische Sklavin, sie hätten noch etwas Zeit, bevor sie sich zum Haus von Lucius aufmachen müssten.

Ach, sie konnte es kaum erwarten, ihren Geliebten wiederzusehen. Welche Überraschungen hielt er wohl noch an dem heutigen Tage für sie bereit?

Einem so wunderschönen Junitag, dass eigentlich alles nur noch schön werden konnte.

„Seid Ihr glücklich, Herrin?“ fragte Laila leise.

„Ja, ja… ich bin so glücklich, dass ich es kaum beschreiben kann“, seufzte Melina. „Wann fahren wir denn eigentlich nach Hause zurück?“

„Es kann nicht mehr lange dauern“, versprach Philine lächelnd, öffnete dann die Tür einen Spalt breit und meinte: „Ich glaube, Herrin, es ist jetzt soweit!“

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Lucius war an diesem Junimorgen genau wie sonst auch früh aufgestanden, war seinen Pflichten nachgekommen, hatte sich danach zur Therme begeben und wartete nun, gehüllt in eine dunkelrote Toga, gemeinsam mit seinen Gästen, seiner Tochter und seinen Bediensteten vor dem mit Blumen geschmückten Haus auf die Ankunft Melinas.

Er war sich sicher, dass ihr Bruder längst im Hause von Valerianus eingetroffen sein musste, um die junge Dame abzuholen und sie in seiner Funktion als Brautführer zum Hause ihres zukünftigen Lebensgefährten zu begleiten. Allzu lange dürfte es nicht mehr dauern.

Und richtig, eben bog die mit Blumen und Schleifen geschmückte Rheda um die Ecke, wenig später gefolgt von einem zweiten Gefährt, in dem sich Valerianus und seine Familie befanden, die Lucius ebenfalls zur Hochzeit eingeladen hatte.

Doch die Aufmerksamkeit des Legatus war auf den ersten Wagen gerichtet, in dem sich seine Braut befand. Dieser hielt eben vor dem Haus, worauf zwei Sklaven sogleich zu ihm eilten, um die Tür zu öffnen. Leandros stieg zuerst aus und reichte dann seiner Schwester die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

Lucius erfasste ein beinahe ehrfürchtiges Gefühl, als Melina aus dem Wagen kam. In ihrem weißen Kleid, das Gesicht mit dem roten Schleier verhüllt und dem Myrtenkranz um ihr Haupt, schien sie das vollkommene Bild der Unschuld und Reinheit zu sein. Und dieses wundervolle Geschöpf liebte ihn und würde bald sein sein.

Langsam schritt Melina neben Leandros, auf dessen Arm sie ihre Hand gelegt hatte, nun auf Lucius zu. Als sie vor ihm angekommen waren, nahm ihr Bruder ihre Hand und legte sie nun auf den Arm ihres Bräutigams, während er dabei sprach: „Nimm diese Frau in deine Obhut. Ich übergebe sie dir, auf dass sie als treue, gehorsame Gefährtin ihr weiteres Leben mit dir teilt und auf dass du für sie sorgen mögest und ihr ein guter Mann bist.“

„Ich nehme diese Frau als meine Gefährtin in meine Obhut und verspreche, mein weiteres Leben mit ihr zu teilen, für sie zu sorgen und ihr ein guter Gefährte zu sein“, erwiderte Lucius darauf in feierlichem Ton, bevor er sich an Melina wandte: „Bitte, komm mit mir!“

Gemeinsam schritten sie nun bis zur Schwelle des Hauses, dann hob Lucius Melina auf die Arme und trug sie darüber. Divia, Sidori und Quella, die Spindel, Rocken und Wolle trugen, gingen direkt hinter dem Paar her, hinter sich die übrigen Gäste nachziehend. Man folgte Lucius in die Küche, wo er seine Braut endlich wieder auf ihre Füße stellte, dann ihre Hand ergriff und sie dreimal gemessenen Schrittes um den Herd herumführte. Als dies geschehen war, knieten sich beide vor den Hausaltar des Lar familiaris, der sich direkt neben dem Herd in einer kleinen Mauernische befand, und Lucius sprach leise ein kurzes Gebet. Dann murmelte er, so dass Melina es gerade noch hören konnte: „Bitte, nimm meine neue Frau gnädig in meine Familie auf.“

Sie knieten danach noch einen Moment schweigend vor dem Hausaltar, bis Lucius sich schließlich erhob, die Hand seiner Braut erneut ergriff und sie nun wieder vor den Herd führte. Wie aufs Stichwort trat Philine jetzt neben Melina und reichte ihr ein offenes Kästchen, in dem sich drei Haarlocken befanden, die sie der jungen Frau heute Morgen abgeschnitten hatte. Die Braut nahm sie heraus und warf sie ins Feuer, wobei sie murmelte: „Hiermit weihe ich mich dir, dem Lar familiaris, und bitte dich, nimm mein Opfer gnädig an.“

Während sie beobachteten, wie die Flammen gierig die Locken verzehrten, erhoben Melina und Lucius ihre Hände, tauchten diese, mit den Handflächen nach vorne, eine Sekunde ins Feuer und zogen sie rasch wieder zurück. Ein Sklave mit einer großen Schüssel voll Wasser war hinter das Brautpaar getreten, das nach der Berührung mit dem Feuer seine Hände sogleich dort hineintauchte.

Lucius strahlte seine Braut nun an und sagte laut: „Willkommen in der Familie! Willkommen in meinem Haus, Melina, meine liebe Frau!“

Er hob den Schleier vor ihrem Gesicht empor, beugte sich hinunter und küsste sie auf den Mund. Jemand klatschte laut und gleich darauf setzte Musik ein. Melina schaute sich erstaunt um, konnte aber nichts sehen.

„Ja, ja“, murmelte Lucius ihr zärtlich ins Ohr. „Ich habe ein paar Überraschungen für dich, Liebste, und hoffe sehr, du freust dich darüber.“

Er bot ihr seinen rechten Arm und sie hängte sich bei ihm ein. Er führte sie aus der Küche hinaus und sie wusste, dass sie sich nun alle auf den Weg in den Garten machten, in dem eine große, festlich gedeckte Tafel auf sie wartete. Doch Melina war nicht darauf gefasst gewesen, dass vor der Küche eine Gruppe von Flötenspielern bereitstand, sie und ihren Bräutigam auf dem Weg zum Garten musikalisch zu begleiten.

In der Mitte der hufeisenförmig angeordneten Tafel nahm das Brautpaar dann Platz; und nachdem sich auch die übrigen Gäste gesetzt hatten, klatschte Lucius in die Hände, worauf es plötzlich still wurde, da die Anwesenden alle gespannt zu dem Gastgeber hinsahen.

Dieser ließ jetzt seinen Blick mit zufriedenem Lächeln in die Runde schweifen, dann erhob er sich mit dem Becher in der Hand und begann: „Willkommen, liebe Freunde. Ich freue mich, dass ihr heute hier erschienen seid, um mit mir meine Verbindung mit Melina zu feiern. Zwar dürfen wir dies offiziell nur Konkubinat nennen, weil meine liebe Braut keine freie Römerin ist, aber wir alle wissen, dass es sich hierbei doch um eine Ehe handelt. Und deshalb, liebe Freunde, erhebt mit mir das Glas und trinkt auf das Wohl meiner lieben Braut, die mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht hat, indem sie einwilligte, meine Gefährtin zu werden. Melina lebe hoch!“

„Melina lebe hoch!“ ertönte es und alle erhoben sich und prosteten ihr zu, was die junge Frau zutiefst erröten ließ. Dann setzten sie sich wieder auf ein Handzeichen von Lucius und gleich darauf trat die Lyraspielerin auf, die Melina letztens während der Cena bei Senator Valerianus so bewundert hatte, und begann zu singen:

 

Weiße Blüten, rote Rosen – ein Traum wird heute wahr.

Preiset diesen Freudentag,

lasst’s vom Mund zum Ohre fließen –

zwei innig Verbundene geben sich das Ja.

 

Seht, der Bräutigam nimmt seine Liebste heut zur Frau.

Hoch lebe der Bräutigam! Glück und Segen begleite ihn.

 

Ein Mädchen wird zur Frau und begegnet der Liebe.

Der Mann öffnet Herz und Tür für die Liebste.

Oh Willkommen, Licht meiner Augen,

kehre ein in mein Haus und teile dein Leben mit mir.

 

Seht, die Braut reicht ihrem Liebsten heut ihre Hand.

Hoch lebe die Braut! Glück und Segen begleite sie.

 

Willkommen sind die Freunde zu diesem Hochzeitstag.

Der Liebste nahm die Liebste zur Frau.

 

Die Vereinigung zweier Herzen – welche Freude –

Süß war die Begegnung der Liebenden.

Die Braut, schön wie das Licht des Mondes,

der Bräutigam, strahlend wie die Sonne,

entzücken das Auge.

 

Hoch lebe das Brautpaar! Glück und Segen sollen sie begleiten.

Ein Hoch auf das Brautpaar, es soll leben, voll Glück und Freude.

Ein Hoch auf das Brautpaar!

 

Liebe Braut und lieber Bräutigam,

die Schicksalsweberinnen führten euch zusammen;

so reicht euch denn die Hände zum heil’gen Bund

und vereinigt euch.

 

Hoch lebe das Brautpaar!

Freude und Glück wünschen wir ihm.

Hoch lebe das Brautpaar!

 

Oh Freunde, stimmt mit mir an,

das Loblied auf die Nacht.

Schaut, sie kommt allmählich heran.

 

Süß ist es Herz an Herz zu liegen - süß ist es Hand in Hand zu schlafen.

 

Oh Brautpaar, euch ist bereitet ein duftendes Lager aus Rosen und Honig,

der süße Duft der Liebe umschmeichelt euer Beisammensein.

Liebkost euch, bereitet einander Vergnügen – beschenkt euch mit Milch und Honig!

Oh Braut, die du entzückst das Auge deines Bräutigams – dein Garten wird blühen.

Oh Bräutigam, lege die Liebste auf das duftende Honigbett und bestelle den brachliegenden Acker. Begieße mit dem Tau deiner aufgerichteten Zeder den Garten deiner Liebsten.

Fülle ihr Horn mit Milch und Sahne, auf dass das Getreide wächst und der Garten verschwenderisch blüht und üppig Früchte trägt.

 

Hoch lebe das Brautpaar.

Möge Freude ihr Leben begleiten.

Mögen die Götter ihm Glück und Segen schenken!

Hoch lebe das Brautpaar!

 

Nachdem die Sängerin ihr Stück beendet hatte, wischte sich Melina verstohlen die Tränen aus den Augen und wandte sich an ihren Bräutigam: „Ach, Lucius, ich danke dir! Das war wirklich eine wundervolle Überraschung!“

Er lächelte ihr zu und drückte ihre Hand, dann hob er seinen Arm und die Sklaven begannen, das Essen aufzutragen und die Gäste zu bedienen, während Lyra- und Flötenspieler dazu aufspielten.

„Ich danke dir auch dafür, dass du es ermöglicht hast, dass Leandros frei bekam“, flüsterte Melina ihrem Bräutigam zu. „Und dass auch mein kleiner Bruder hier ist…“

„Ist doch selbstverständlich, Liebling“, murmelte er, küsste sie und schaute sie dann wohlgefällig an. „Du bist so wunderschön, Melina… ich kann es noch gar nicht fassen, dass du jetzt meine Frau bist… meine Frau… du gehörst mir allein…“

„Kannst wohl deinen Blick nicht von deiner hübschen Braut wenden, was?!“ ließ sich Appius, der neben seinem Bruder saß, vernehmen und grinste. Dann wandte er sich an die junge Frau: „Ich freue mich sehr, dass du jetzt meine Schwägerin bist.“

„Danke, Appius!“ Melina stiegen wieder Tränen der Rührung in die Augen.

„Warum weinst du denn?“ wollte Divia, die neben ihrem Onkel saß, besorgt wissen.

„Ich bin so glücklich…“, hauchte die Braut.

Die Zehnjährige schüttelte nur den Kopf und meinte: „Das verstehe ich nicht.“

„Brauchst du auch noch nicht, Divia“, mischte sich Appius nun ein. „Warte ab, wenn du erstmal heiratest, dann weinst du gewiss auch vor Glück.“

„Pah! Ich heirate niemals!“ erklärte das Kind voller Überzeugung in der Stimme.

„Warten wir‘s ab!“ erwiderte ihr Onkel darauf, hob dann den Becher und wandte sich wieder an das Brautpaar: „Auf euer Wohl, ihr Lieben!“

„Da kann ich mich nur anschließen!“ stimmte Leandros, der neben seiner Schwester saß, zu und hob auch den Becher. „Ein Hoch auf das glückliche Paar!“

 

Alle waren guter Stimmung – alle, außer Quella. Sie konnte es nicht ertragen, Melina als Braut glückstrahlend neben Lucius Marcellus zu sehen, und zog sich in die Küche zurück, wo sie hoffte, Ruhe zu finden. Aber weit gefehlt. Die gutmütige Köchin und Odalind schwärmten geradezu von der jungen Braut.

„Die beiden sind wirklich ein schönes Paar“, seufzte die Köchin und blickte träumerisch gegen die Decke. „Und unsere Herrin sah so wunderschön aus in dem Kleid. Ach, ich hoffe, sie wird glücklich mit dem Patron. Die beiden haben es verdient.“

„Lucius Marcellus ist viel zu alt für meine kleine Herrin“, wandte Quella grimmig ein, was ihr jedoch einen ärgerlichen Blick der beiden Sklavinnen eintrug.

„Was soll das heißen – zu alt?“ fragte die Köchin dann giftig nach. „Er ist ein Mann in den besten Jahren und sieht zudem gut aus.“

„Er könnte Melinas Vater sein“, entgegnete die Amme, worauf die anderen beiden Sklavinnen sich einen kurzen Blick zuwarfen und dann plötzlich anfingen zu lachen.

„Ist es nicht üblich, dass junge Frauen reifere Männer heiraten?“ meinte die Köchin dann nur und Odalind nickte heftig. „Außerdem könnte unser Patron fast jede Römerin haben, die er wollte… aber er liebt nun einmal unsere neue Herrin. Ach, sie ist aber auch ein so entzückendes Geschöpf!“

„Was meinst du?“ fragte dann Odalind. „Ob es lange dauert, bis unsere Herrschaften Nachwuchs erwarten?“

„Hm… ich denke, unsere junge Herrin wird bald guter Hoffnung sein“, mutmaßte die Köchin. „Und wenn sie dem Herrn erstmal den heißersehnten Sohn schenkt… Ach, es wäre die Krönung des Glücks für den Patron!“

Quella hatte genug gehört, erhob sich wieder und ging rasch aus dem Raum. Doch sie wusste nicht wohin. Alles im Hause war festlich geschmückt und erinnerte unverkennbar an ein Hochzeitsfest – und alle Anwesenden machten einen glücklichen Eindruck. Wie ihr dieses ganze Gehabe zuwider war!

Unentschlossen stand die Alte im Atrium und blickte starr auf die geöffneten Türen, die hinaus in den Garten führten. Wie sollte sie es bloß weiterhin in diesem Haus hier ertragen? Odalind und die Köchin hatten gerade etwas angesprochen, das für sie das Widerwärtigste war, das zu diesem ganzen abstoßenden Schauspiel gehörte: Der Vollzug der sogenannten  > Ehe <, die doch keine gesegnete Verbindung war. Oh, der Legatus würde ihrem Lämmchen bestimmt sehr weh tun...

Quella traten unwillkürlich die Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte. Niemand könnte Melina jetzt noch vor dieser unangenehmen Erfahrung bewahren. Ihr armes Täubchen! Morgen früh würde sie gewiss beklagen, dass sie sich mit Lucius Marcellus eingelassen hatte. Und dann würde sie für ihr Lämmchen da sein, um es zu trösten… um seine Tränen zu trocknen. Oh, ihre arglose, kleine Melina… warum nur vertraute sie einem Wolf?

Von draußen näherte sich nun Tia, die als Kindermädchen Kimons ihre Herrschaften zu der Hochzeit begleitet hatte, sich nun aber anderweitig nützlich machen wollte, da man ihre Dienste im Moment nicht benötigte, denn die Adoptivmutter ihres Schützlings kümmerte sich selbst um den Kleinen.

„Nanu, Quella, was stehst du denn hier herum und weinst?“ wunderte sich die junge Sklavin.

„Wie soll ich nicht weinen angesichts dieser... dieser…“, murmelte die Alte.

„Ja, Hochzeiten können einen schon rührselig machen“, seufzte Tia und warf einen Blick zurück zu dem Brautpaar. „Es ist kaum zu glauben, dass unsere kleine Herrin verheiratet ist, nicht?“

„Oh, ich ertrage es nicht…“, jammerte Quella leise. „Mein Lämmchen ist doch noch ein Kind…“

Tia blickte mit gerunzelter Stirn auf die Alte.

„Was redest du nur für einen Unsinn, Quella? Unsere Herrin ist erwachsen. Sie war doch schon einmal verlobt, erinnerst du dich nicht? Damals hast du nicht so ein Theater gemacht wie jetzt.“

„Die Verlobung mit Alexandros Hipparchos war von Herrn Theodoros erwünscht“, erwiderte die Amme. „Das war etwas völlig anderes als diese erbärmliche Feier hier…“

„Diese Feier ist schön! Und unsere Herrin ist glücklich!“ wies Tia die Alte zurecht. „Melina konnte Alexandros nicht ausstehen – er war ekelhaft und er hat sie kaum beachtet. Unsere junge Herrin war für ihn nichts weiter als ein Mittel zum Zweck…“

„Das ist sie für den grässlichen Legatus auch!“

„Nein! Das stimmt nicht! Lucius Marcellus liebt unsere Herrin – sieh doch nur genauer hin, Quella!“

„Ach! Alle Welt nimmt diesen furchtbaren Mann in Schutz – sogar du, Tia!“

„Das liegt daran, dass er nicht der furchtbare Mann ist, für den du ihn hältst“, sagte die junge Sklavin, dann legte sie einen Arm um Quella und lächelte. „Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für dich ist. Schließlich hast du die kleine Herrin großgezogen und jetzt musst du sie gehenlassen, obwohl du sie am liebsten immer noch beschützen möchtest. Aber das ist in Zukunft die Aufgabe ihres Mannes. Finde dich damit ab, Quella! Glaub mir, unsere junge Herrin ist bei Lucius Marcellus gut aufgehoben.“

„Nein… nein, ich kann es nicht glauben…“, schluchzte die Alte leise. „Allein die Vorstellung, dass sie heute Nacht… nein… das ist unerträglich…!“

„Ach, Quella, unsere Melina liebt den Legatus und sie hat sich dazu entschieden, mit ihm zusammenzuleben – als seine Frau. Diese Vorstellung schreckt sie nicht; und wenn das dein Lämmchen nicht erschreckt, dann sollte es dich auch nicht erschrecken. Bitte, akzeptiere endlich die Umstände, wie sie nun einmal sind und quäle dich nicht länger selbst, denn ändern kannst du nichts.“

=<>=<>=<>=

Notgedrungen musste Quella im Hause des Lucius Marcellus ausharren, da sie nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte. Schweren Herzens ließ sie sich von Tia überreden, bei der Bedienung der Gäste mitzuhelfen. Der einzige Lichtblick an diesem für die alte Amme so trüben Tag war das Wiedersehen mit Kimon, der sie lauthals begrüßte, als er ihrer ansichtig wurde. Nachdem Tia dem Senator und seiner Frau erklärt hatte, wer Quella war, verwickelte Flora die Alte in ein längeres Gespräch; und wieder einmal musste die alte Griechin einräumen, dass auch Kimons Adoptivmutter eine ehrenwerte Frau zu sein schien. Die Unterhaltung zwischen ihnen verging wie im Fluge und der Kleine schlief mittlerweile ein, ungeachtet der Flöten- und Lyraklänge und dem Stimmengewirr der Gäste, die alle angeregt miteinander sprachen, laut lachten und immer wieder dem Brautpaar zuprosteten.

Verstohlen warf Quella einen Blick auf Melina, die jedoch immer noch glücklich aussah.

„Wir sollten allmählich nach Hause aufbrechen“, murmelte Flora, die liebevoll Kimon anschaute. „Es ist sicher besser, wenn Secundus zu Hause in seinem Bettchen schläft.“

Quella starrte die Frau des Senators einen Moment verständnislos an, dann jedoch wurde ihr schlagartig klar, dass es sich bei ‚Secundus‘ um den neuen Namen von Kimon handeln musste.

Flora winkte Tia zu sich heran und gab ihr, kaum war sie da, den Kleinen in den Arm.

„Bring ihn schon mal zum Wagen!“ sagte sie leise zu der Sklavin. „Mein Mann und ich verabschieden uns nur noch von dem Brautpaar.“

Tia nickte und kam der Aufforderung der Senatorengattin nach. Quella war unversehens aufgestanden und folgte ihr zur Rheda, vor der die junge Sklavin stehenblieb. Als sie die Alte sah und diese verwundert anblickte, erklärte Quella: „Bitte, kann ich heute Nacht bei dir bleiben, Tia?“

„Da musst du Senator Valerianus fragen“, gab die junge Sklavin zurück, schaute aber immer noch erstaunt, worauf die Alte erklärte: „Ich möchte heute Nacht einfach nicht in diesem Hause sein, Tia… nicht heute Nacht…“

Die junge Sklavin nickte nun verständnisvoll und wandte sich dann an Quintus und seine Frau, die gerade auf sie zukamen: „Quella hat Secundus so lange nicht gesehen und es fällt ihr schwer, sich von ihm zu trennen. Könnte sie nicht wenigstens heute Nacht bei dem Jungen verbringen?“

„Ich habe nichts dagegen“, meinte der Senator und blickte seine Frau an, die lächelnd nickte. „Hast du wenigstens Bescheid gegeben, damit man dich nicht vermisst?“

„Natürlich, Herr!“ erwiderte Quella rasch, obwohl es nicht stimmte. Aber sie glaubte, dass niemand im Hause von Lucius Marcellus sie vermissen würde…

 

 

Allmählich wurde es Abend und etwa eine Stunde, nachdem sich Valerianus mit Frau, Nichte und Adoptivsohn verabschiedet hatte, meinte auch Flavius Junior, dass es für ihn und Leandros Zeit würde, zu gehen.

Während Melina sich traurig von ihrem Bruder verabschiedete, winkte ihr Bräutigam einen der Sklaven herbei und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Es ist alles vorbereitet, Herr“, erwiderte der Bedienstete leise, worauf Lucius zufrieden nickte und sich dann ebenfalls erhob.

„Liebe Freunde“, wandte sich der Hausherr nun an seine Gäste. „Genießt noch weiterhin das Fest und lasst es euch wohlergehen. Doch für meine Frau und mich wird es jetzt Zeit, uns zu verabschieden.“

„Was?!“ entfuhr es Melina, die erschrocken auf ihren Bräutigam starrte. „Warum denn das?“

Lucius lächelte sie an und ergriff ihre Hand.

„Noch eine Überraschung, mein Liebling“, flüsterte er und führte ihre Hand an seine Lippen.

Während sie beisammen standen, bildeten die Gäste um sie herum einen Kreis, nahmen sich bei den Händen und begannen zu den Klängen der Musik einen Reigen um das Brautpaar zu tanzen. Dabei sangen sie:

 

Die Braut, schön wie das Licht des Mondes,

der Bräutigam, strahlend wie die Sonne,

entzücken das Auge.

 

Oh Freunde, stimmt mit mir an,

das Loblied auf die Nacht.

Schaut, sie kommt allmählich heran.

 

Süß ist es Herz an Herz zu liegen - süß ist es Hand in Hand zu schlafen.

 

Hoch lebe das Brautpaar.

Möge Freude ihr Leben begleiten.

Mögen die Götter ihm Glück und Segen schenken!

Hoch lebe das Brautpaar!

 

 

„Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können“, meinte Lucius lächelnd und blickte seiner Braut tief in die Augen. „Die Nacht naht, und wir werden sie in meinem Landhaus verbringen.“

„Was denn? Heute Abend sollen wir alle noch aufs Land ziehen?“ fragte Melina erschrocken.

„Nein – nur wir beide fahren dorthin“, erklärte ihr Bräutigam sanft, legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie mit sich fort. „Es wird uns gut tun, ein paar Tage allein miteinander zu verbringen.“

„Und wer führt hier das Haus, Lucius?“

„Philine kümmert sich darum – mach dir keine Gedanken!“

Sie traten vor das Haus, vor dem ein geschmückter Wagen mit frischen Pferden stand. Einer der Sklaven hielt schon die Tür der Rheda auf, damit die Herrschaften einsteigen konnten. Oben auf dem Kutschbock saß Laila, in einen Umhang gehüllt, neben dem Fahrer. Um den Wagen herum befanden sich sechs gesattelte Pferde. Sie wurden sofort von einigen Offiziersfreunden Lucius‘, die dem Brautpaar nach draußen gefolgt waren, bestiegen.

„Sie werden uns das Geleit geben“, erklärte der Bräutigam, nickte seinen Freunden lächelnd zu und wollte Melina in die Rheda hineinhelfen, als Philine rasch zu ihnen geeilt kam, in den Händen eine Palla [1], die sie der jungen Braut umlegte.

„Es wird eine lange Reise und Ihr sollt Euch nicht verkühlen, Herrin“, erklärte sie und erntete daraufhin ein dankbares Lächeln von Melina. Lucius nickte der griechischen Sklavin freundlich zu und half dann endlich seiner Braut in den Wagen hinein, bevor er selbst einstieg. Vom Fenster aus winkten sie den zurückbleibenden Gästen und Bediensteten zu, während sich das Fahrzeug in Bewegung setzte…

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Megara stand an diesem milden Juniabend an der Reling des sanft über das Wasser gleitenden Schiffes, das sie nach Alexandria bringen würde, und ließ ihren Blick nachdenklich in die Ferne schweifen. Sie konnte es kaum erwarten, das Grab dieses Ah-Hotep zu finden, in dem sich nach Aussage von Sorex große Schätze befinden mussten.

Sie lachte leise in sich hinein.

Welch ein Glück, dass Sorex sich gerade bei Fabius Maiorus Graeccus befand, als sie dort vorsprach und um Schutz und Hilfe flehte. Er würde einen prächtigen Ehemann für sie abgeben!

Bereits jetzt schon war der römische Veteran wohlhabend, aber wenn sie erst gemeinsam die Schätze aus Ah-Hoteps Grab gehoben hatten, wäre er einer der reichsten Männer der Welt; und im Moment war sie die einzige Frau in seiner Nähe. Es musste ihr einfach gelingen, ihn zu verführen und an sich zu binden. Dann wäre sie die Gattin des reichsten und daher am meisten angesehenen Mannes Pompejis. In einer derartigen Stellung könnte sie sich mit Leichtigkeit an Theodoros rächen und an Melina, falls diese noch nicht genug durch die Römer gedemütigt sein sollte…

„Entschuldigt, meine Dame, aber der Herr verlangt nach Eurer Gesellschaft.“

Serpa-Thot stand neben ihr und betrachtete sie eingehend.

„Nun, Ägypter, was starrst du mich so an?“ fragte sie ihn und registrierte amüsiert, dass der Sklave seinen Blick sofort senkte. „Gefalle ich dir?“

„Entschuldigt bitte“, erwiderte er, ohne sie ein weiteres Mal anzusehen. „Ich wollte auf keinen Fall respektlos sein… es ist nur…“

„Sprich frei heraus!“ forderte Megara ihn auf.

„Ich frage mich, weshalb eine Dame wie Ihr mit meinem Herrn nach Ägypten reist“, sagte Serpa-Thot leise. „Dies ist nämlich keineswegs eine Vergnügungsreise, müsst Ihr wissen.“

„Ja, dein Herr erklärte mir bereits, dass er etwas Bestimmtes in deiner Heimat finden möchte.“

„Er hat es Euch gesagt?!“ entfuhr es dem Ägypter überrascht. Dann fing er sich schnell wieder und fragte: „Was hat er Euch erzählt?“

„Die Legende über einen gewissen Ah-Hotep, dessen Grab er unbedingt finden will“, gab Megara leichthin zurück.

„Oh, bitte, meine Dame, erwähnt nicht den Namen dieses Frevlers“, flehte Serpa-Thot sie daraufhin an. „Wir sollten das Schicksal nicht herausfordern…“

Megara lachte laut auf.

„Du glaubst doch nicht wirklich diesen Unsinn über Ah-Hotep?“ fragte sie dann spöttisch.

„Oh bitte, sprecht diesen Namen nicht aus!“

Die offensichtliche Ängstlichkeit des Ägypters reizte Megara erneut zum Lachen. Dann meinte sie: „Hör mal, Serpa-Thot, diese Geschichte um ihn ist doch nichts weiter als eine Legende. Etwas, womit man die Leute unterhält oder kleinen Kindern und Narren Angst einjagt.“

„Ihr irrt Euch!“ sagte der Sklave eindringlich und schaute sie nun mit schreckgeweiteten Augen an. „Seit vielen Generationen wird die Geschichte dieses frevelhaften Zwillingsbruders des großen Königs Ra-Horeb II. weitergegeben, damit wir sie niemals vergessen und außerdem daran denken, welche Gefahren die Wüste birgt, in deren Weiten sich irgendwo das entweihte Heiligtum des Allerhöchsten - gepriesen sei er ! -, das zum Gefängnis für den Verfluchten wurde, befindet.“

„Ja, genau! Das Grab des Ah-Hotep, das wir finden werden!“

„Oh – nicht diesen Namen, bitte!“ flehte Serpa-Thot erneut. „Und wenn Ihr klug seid, dann bringt den Herrn von dem Vorhaben ab, nach dem Grab dieses Frevlers zu suchen.“

„Warum sollte ich? Schließlich befinden sich dort unermessliche Schätze! Ich wäre eine Närrin, wollte ich Sorex daran hindern, noch reicher zu werden!“ entgegnete die Griechin mit glänzenden Augen.

„Ihr glaubt, an dem verfluchten Ort Schätze zu finden?“ fragte Serpa-Thot fassungslos.

„Verhält es sich denn nicht so, dass ihr eure vornehmen Toten überaus prunkvoll bestattet? Sorex jedenfalls erzählte davon. Er meinte, da niemand sich aus Angst jemals der Grabkammer dieses Ah-Hotep zu nähern wagte, müsste sie immer noch voller Reichtümer stecken.“

„Oje, oje!“ jammerte der Ägypter. „Selbst, wenn es sich so verhielte, lasst ab von dem Plan, das Gefängnis des Frevlers zu suchen. Es wird nur großes Unglück über uns alle bringen!“

„Dummes Zeug!“ gab Megara spöttisch zurück. „Was kann uns ein Toter schon tun?“

„Aber der Verfluchte ist nicht tot, sondern nur gebannt!“ erklärte Serpa-Thot eindringlich.

„Was redest du da für einen Unsinn?“

„Hat Euch der Herr den Text über den Verfluchten vorgelesen?“

„Ja, na und?“

„Dann wisst Ihr doch, dass der Frevler nicht sterben kann!“

Megara lachte erneut laut auf und schüttelte den Kopf.

„Bitte, Herrin, glaubt mir! Es hieß eindeutig, der Verfluchte habe das Geheimnis des ewigen Lebens gefunden! Das bedeutet, dass er niemals sterben kann… er ist nicht tot, sondern nur gefangen… wir sollten ihn nicht suchen… es ist zu gefährlich!“

„Was für törichtes Zeug du redest, Serpa-Thot! Wie lange ist es schon her, dass Ah-Hotep in jener Grabkammer eingemauert wurde?“

„Bevor die beiden Reiche Ägyptens vereinigt wurden…“

„Das ist einige Jahrhunderte lang her, nicht wahr, mein Lieber?“

„Ja, Herrin, aber das spielt bei einem Wesen wie dem Verfluchten keine Rolle!“

„Unsinn, Serpa-Thot! Kein Mensch überlebt einen so langen Zeitraum – selbst, wenn er lebendig begraben wurde!“

„Der Verfluchte war kein Mensch mehr!“

„Schluss jetzt! Ich höre mir dieses dumme Geschwätz nicht länger an!“ sagte Megara kalt und ließ den fassungslosen Ägypter stehen, um Sorex in seiner Kabine aufzusuchen. Er hatte sie bereits erwartet, wie der reichlich gedeckte Tisch bewies. Lächelnd setzte sie sich dem alten Römer gegenüber.

„Verzeih, dass ich jetzt erst komme“, entschuldigte sie sich mit sanfter Stimme. „Aber die Aussicht vom Schiff aufs Meer war einfach zu schön.“

„Es hatte keine Eile, Megara“, meinte Sorex mit mildem Lächeln. „Genieße ruhig diese Reise. In Alexandria werden wir mit der Suche beginnen müssen und ich denke, es wird nicht so einfach sein, einen Anhaltspunkt zu finden, wo sich das frühere Memphis befunden hat. Die Einheimischen fürchten sich einfach immer noch wegen dieser alten Legende vor ihrer einstigen Hauptstadt.“

„Ja, einen Vorgeschmack dessen, was uns erwartet, habe ich gerade bekommen“, erwiderte Megara mit hämischem Lächeln. „Allein die Erwähnung des Namens von Ah-Hotep löste bei Serpa-Thot Furcht aus. Stell dir vor, er glaubt tatsächlich, dass dieser obskure Hohepriester noch leben könnte – nach all den Jahrhunderten. Was für ein Unsinn!“

„Nun, der Legende nach hat Ah-Hotep die Sterblichkeit überwunden“, gab der Römer in sachlichem Ton zurück. „Der Text spricht ja nicht vom Tod des Frevlers, sondern nur davon, dass Ra ihn in sein Gefängnis gebannt hat.“

„Ach komm, mein Lieber! Du hältst es doch nicht wirklich für möglich, dass Ah-Hotep in seinem Sarkophag nach Jahrhunderten noch am Leben sein könnte!“

„Natürlich hört es sich unsinnig an“, gab Sorex zu. Dann hob er seinen Becher und prostete Megara zu. „Auf dein Wohl, meine Liebe. Lass uns darauf trinken, dass wir bald das Grab des Frevlers finden und uns seine Schätze aneignen können.“

Die spitznasige Griechin grinste ihn zufrieden an, hob ebenfalls ihren Becher und leerte diesen dann in einem Zug.

„Was für ein köstlicher Wein“, lobte sie dann. „Woher stammt er?“

„Aus Samos, meine Liebe, aus Samos“, erwiderte Sorex und bedachte sie mit einem langen, wohlgefälligen Blick. „Griechenland hat viele gute Sachen zu bieten.“

„Wenn dir der Wein aus meiner Heimat genauso vorzüglich mundet wie mir, so lass ihn uns zusammen genießen“, schlug Megara vor, nahm die auf dem Tisch befindliche gefüllte Karaffe und schenkte den Becher ihres Gastgebers voll. Dieser dankte ihr lächelnd, prostete ihr erneut zu und ließ die wohlschmeckende Flüssigkeit dann genüsslich seine Kehle hinunter gleiten. Megara beobachtete Sorex dabei, nippte jedoch nur hin und wieder von ihrem Becher, während sie denjenigen des alten Römers unermüdlich nachfüllte, sobald er wieder leer war…

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Es war bereits sehr spät, als Lucius und Melina in dem Landhaus ankamen. Jedoch verrieten ihnen die brennenden Fackeln, die den Weg zu dem Anwesen säumten, dass sie erwartet wurden. So war es denn auch keine große Überraschung, dass vor der Villa eine Gruppe Bediensteter stand, um die Herrschaften zu empfangen.

„Befinden sich diese Sklaven immer hier?“ fragte Melina neugierig, als sie sie erblickte.

„Natürlich, mein Liebling. Ein großes Haus muss doch stets in Ordnung gehalten werden“, antwortete Lucius lächelnd. „Außerdem ist es ungemein praktisch. Man braucht nur mitzuteilen, wann man kommt, und alles wird für unseren Aufenthalt vorbereitet. Unser Brautbett wartet bestimmt schon schön geschmückt auf uns.“

„Ach, Lucius…“, murmelte Melina verlegen. Sie dachte daran, dass sie heute ihre Hochzeitsnacht mit ihm verbringen müsste. Das erste Mal würde sie mit ihm das Bett teilen und wusste doch nicht so recht, was genau sie dabei eigentlich erwartete. Niemand hatte ihr darüber etwas erzählen wollen, nicht einmal Philine. Diese meinte lediglich, dass sie dem Herrn in dieser Hinsicht völlig vertrauen solle. Schließlich sei er ein erfahrener Mann, der schon das Richtige tun werde.

Lucius lachte über die Verlegenheit seiner jungen Gefährtin, streichelte zärtlich über ihre Wange und meinte: „Na komm! Die Sklaven der Villa sind bestimmt neugierig auf dich.“

Einer der Bediensteten war inzwischen an die Rheda geeilt und hatte die Tür aufgerissen. Gleich darauf erhob sich der Legatus, stieg aus und half dann seiner Braut aus dem Wagen. Als er sie an der Hand vor die Haustür führte, vor der sich die Sklaven mittlerweile in einer Reihe aufgestellt hatten, wurden sie von den Bediensteten willkommen geheißen. Lucius nickte zufrieden und sagte: „Dies hier ist meine Frau Melina. Ihr werdet sie ehrerbietig behandeln!“

„Natürlich, Herr!“ beeilten sich die Sklaven zu sagen. Dann trat eine Dienerin aus der Reihe hervor und meinte schüchtern: „Es ist alles vorbereitet für Euch und Eure Braut, Herr!“

„Gut! Dann lasst uns nun hineingehen!“ erwiderte Lucius, wandte sich dann an Melina, hob sie erneut auf seine Arme und trug sie nun auch über die Schwelle der Villa. Dann führte er sie wie in seinem Stadthaus in die Küche, ging mit ihr dreimal um den Herd und betete gemeinsam mit Melina zu dem Lar dieses Hauses. Als das Ritual beendet war, richtete Lucius erneut das Wort an die Bediensteten: „Meine Freunde, für deren Wohlergehen ihr sorgen werdet, besaßen die Güte, mich und meine Braut auf dem langen Weg hierher zu begleiten. Sie werden heute ebenfalls im Haus übernachten. Ich hoffe, es ist alles für sie hergerichtet?“

„Selbstverständlich, Herr!“ versicherte ihm die Sklavin, die hervorgetreten war. „Auch für Euch und die Herrin ist alles bereit!“

„Sehr schön“, lobte Lucius, winkte dann zwei andere Bedienstete herbei und sagte: „Ihr werdet eure neue Herrin gemeinsam mit ihrer persönlichen Dienerin in das Brautlager begleiten und ihr helfen, sich für die heutige Nacht zurechtzumachen.“

Dann wandte er sich in freundlichem Ton an Melina: „Bitte, geh mit den Sklavinnen, mein Herz. Ich werde bald nachkommen.“ 

Lucius küsste seine Braut auf die Stirn und überließ sie dann der Obhut von Laila und den beiden anderen Dienerinnen, die sie in ein großes Zimmer hinaufführten. Der liebliche Duft von Rosen und Honig erfüllte die Luft des Raumes und das mit Rosenblättern bestreute Bett sah sehr einladend aus. Trotzdem bereitete dieser Anblick der jungen Griechin ein gewisses Unbehagen. Was würde sich dort heute Nacht ereignen?

„Darf ich Euch die Palla abnehmen, Herrin?“ fragte Laila.

„Natürlich“, erwiderte Melina und ließ es zu, dass ihre ägyptische Dienerin ihr das Übergewand auszog.

„Bitte, setzt Euch hierhin, Herrin“, bat daraufhin eine der Sklavinnen und deutete auf einen bequemen, breiten Stuhl vor einem kleinen Tisch, auf dem sich eine Bürste, ein Kamm, eine zierliche Amphore, eine Karaffe mit Wasser, eine große und eine kleine Schüssel sowie einige Tücher befanden.

Melina leistete dieser Bitte Folge und die beiden Bediensteten sowie Laila gingen nun daran, ihr zunächst den Kranz abzunehmen und den an ihrem Haar festgesteckten Schleier zu lösen. Dann halfen sie ihr behutsam dabei, das Brautkleid auszuziehen und ihre Brust von der fascia mamilla [2] zu befreien. Nun füllte eine der Sklavinnen die große Schüssel mit Wasser aus der Karaffe, und einen Augenblick später wuschen die andere Sklavin und Laila den Körper Melinas und trockneten ihn dann mit den weichen Tüchern ab, während die andere damit beschäftigt war, Öl aus der Amphore in die kleine Schüssel zu füllen.

„Rosenöl, Herrin“, erklärte sie dann mit freundlichem Lächeln, tunkte ein zusammengerolltes Stück Stoff hinein und begann damit, den Körper der jungen Braut einzuschmieren.

Dermaßen verwöhnt und umsorgt, entspannte sich Melina ein wenig und atmete genüsslich den wohlriechenden Duft ein. Sie fragte sich gerade, wie lange es noch so weiterginge, als die leise Stimme Lailas an ihr Ohr drang: „Fühlt Ihr Euch wohl, Herrin?“

Als die junge Griechin daraufhin nickte, murmelte ihre Dienerin: „Nun, wo Ihr für die Hochzeitsnacht fast fertig hergerichtet seid, könnt Ihr Euer Brautkleid wieder anziehen. Danach werden wir Euer Haar öffnen und Euch ins Ehebett geleiten.“

Die Erinnerung daran, dass es wohl nicht mehr allzu lange dauern würde, bis Lucius kam, um ihr als Gemahl beizuwohnen, ließ Melinas Herz vor Aufregung wieder höher schlagen.

„Der Herr macht sich auch gerade schön für Euch“, wisperte eine der Sklavinnen der Villa vergnügt, während sie der Braut in ihr Kleid hineinhalf und die andere Bedienstete dann den roten Gürtel um das weiße Gewand legte und wieder verknotete.

Melina fühlte erneut ein wenig Angst in sich aufsteigen vor dem, was in der Nacht passieren würde, und begann leicht zu zittern.

„Keine Angst, Herrin“, flüsterte Laila ihr ins Ohr und strich ihr behutsam über die Schultern.

Die beiden anderen Sklavinnen, die nun auch bemerkten, wie besorgt die junge Braut war, strichen ihr über den Arm und bekräftigten leise: „Nein, nein, keine Angst, Herrin. Dazu besteht überhaupt keine Veranlassung. Der Herr wird Euch gewiss sehr glücklich machen.“

 

Eine Viertelstunde später lag Melina mit offenem Haar auf dem Hochzeitslager und wartete mit klopfendem Herzen auf ihren Bräutigam, der jeden Augenblick kommen würde. Die drei Bediensteten, denen es kaum gelungen war, ihre Furchtsamkeit zu verscheuchen, hatten sie längst verlassen.

Nun hörte sie endlich herannahende Schritte und dann die ruhige Stimme Lucius‘: „Ich wünsche, heute Nacht nicht mehr gestört zu werden!“

„Ja, Herr!“ versicherte man ihm diensteifrig. Eine Sekunde später wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen, doch Melina wagte nicht, hinzusehen. Dafür betrachtete Lucius sie umso intensiver und lächelte über die Verlegenheit der jungen Frau. Langsam näherte er sich dem Bett, setzte sich auf dessen Rand und strich mit einer Hand sanft über ihre Wange. Melina wandte ihr Antlitz daraufhin endlich ihrem Bräutigam zu.

„Du bist wunderschön“, murmelte Lucius, beugte sich dann zu ihr hinab und küsste sie zärtlich, wobei er begann, über ihr Haar zu streicheln. Er spürte das leichte Zittern ihres Körpers und flüsterte: „Keine Angst, meine kleine Parthenos [3], ich werde vorsichtig sein.“

Mit beiden Händen begann er dann, über ihre Schultern zu streicheln und gleichzeitig erneut ihren Mund mit seinen Lippen zu verschließen. Obwohl es ihr gefiel, zitterte Melina noch immer. Der Umstand, dass Lucius sich jetzt auch ins Bett begab und sich mit seinem Oberkörper dicht über sie beugte, trug ebenfalls nicht dazu bei, dass sie ihre Furcht verlor.

„Mein liebes, kleines Honigmädchen“, wisperte er sanft und betrachtete sie lächelnd. Er nahm eine ihrer Hände und führte sie zu einer Fibula [4], mit der sein Gewand an der Schulter zusammengehalten wurde. „Öffne es, Liebling.“

Unsicher nestelte Melina daran, und als sie es schließlich aufbekam und die beiden Teile des Gewandes auseinanderfielen, entblößte sich ihr der halbe Oberkörper ihres Bräutigams. Sie erschrak ein bisschen darüber, aber Lucius lachte nur und strich ihr wieder über den Kopf.

„Nun öffne das andere, mein Schatz“, forderte er sie gleich darauf auf.

Nachdem sie auch dies getan hatte und nun den vollständigen, nackten Oberkörper ihres Mannes sah, ergriff Lucius sofort ihre beiden Hände und legte sie auf seine Brust.

„Streichle mich!“ befahl er leise und sie gehorchte ihm.

Sie fand es angenehm, seine Haut zu berühren und seine hellbehaarte Brust zu streicheln.

„Wenn das alles ist, was man in der Hochzeitsnacht macht, ist es eigentlich gar nicht so schlimm“, dachte Melina und entspannte sich etwas. Sie spürte die Brustwarzen Lucius‘ unter ihren Händen und begann ohne nachzudenken, diese mit den Fingern sanft zu umkreisen. Er gab wohlige Brummlaute von sich, küsste sie nun wieder und begann vorsichtig, mit seiner Zunge ihre Lippen zu liebkosen. Melina kannte dies noch nicht, musste jedoch lachen, weil es sie ein wenig kitzelte.

„Schön, dass es dir Freude bereitet, Liebes“, flüsterte er zärtlich und schaute ihr tief in die Augen. Sie versank darinnen, ließ ihre Hände nun von seiner Brust zu seinem Antlitz gleiten und streichelte sein Gesicht. Behutsam näherte er es wieder dem ihren, verschloss ihren Mund mit seinen Lippen und setzte seine Liebkosung mit der Zunge fort, während Melina ihre Arme um seinen Nacken geschlungen hatte und allmählich ihren Mund öffnete, so dass Lucius‘ Zunge endlich darin eindringen konnte. Wenig später spielten ihrer beiden Zungen miteinander und das Mädchen fühlte ein angenehmes Ziehen im Unterleib, das ihr bislang völlig unbekannt war.

Lucius, der bemerkte, dass seine junge Frau sich entspannt hatte, ließ seine rechte Hand nun zu ihrem Busen wandern und begann behutsam, ihn zu streicheln. Melina erschauerte aufgrund dieser für sie wundervollen Berührung, während ihre Zunge noch mit derjenigen ihres Bräutigams spielte. Das angenehme Ziehen im Unterleib verwandelte sich allmählich in ein leichtes Pulsieren. Sie selbst bemerkte nicht, dass sie begonnen hatte, mit ihren Händen in Lucius‘ Haaren zu wühlen. Für ihn jedoch schien dies das Signal zu sein, ihren Gürtel vom Brautkleid zu lösen und ihre Seite zu liebkosen, wobei er langsam das Kleid hochzog, bis er ihre nackte Haut unter seiner Hand spürte. Nun erst zog er sich aus dem Mund Melinas zurück und fragte mit leiser, rauher Stimme: „Na, wie gefällt dir das?“

Ein wohliges Seufzen antwortete ihm. Er lächelte zufrieden, streifte sich rasch sein Gewand vom Körper und schmiss es achtlos auf den Boden. Dann entkleidete er seine scheue Braut behutsam und musste unwillkürlich lachen, als sie einen Arm über ihre Brüste legte und mit der anderen Hand ihre Scham verdeckte.

„Ach, du süße, kleine Parthenos!“ seufzte er, streichelte zunächst den über die Brüste gelegte Arm und schob ihn dann sachte weg, während er einen Busen mit der Hand liebkoste und den anderen mit seinen Lippen. Kurz darauf stöhnte Melina das erste Mal laut auf. Nun fuhr er in liebkosender Weise über ihren anderen Arm bis zu ihrer Hand hinunter, die auf ihrer Scham lag, und schob auch diese behutsam weg. Stattdessen legte er seine Hand darauf und begann, ihren Unterleib zu streicheln.

„Nein, Lucius“, versuchte Melina zu protestieren, aber er verschloss ihre Lippen mit den seinen, liebkoste sie weiter und erkundete in zärtlicher Weise ihren Unterleib, bis seine Braut leise stöhnte. Er löste wieder seine Lippen von den ihren, hielt ihren Blick mit seinen Augen fest, während er vorsichtig ihre Beine spreizte und sich dann zwischen sie platzierte. Er konnte es kaum erwarten, sich mit ihr zu vereinen, stützte sich mit den Armen ab und drang behutsam in sie ein. Als er sich langsam in ihr bewegte, stöhnte sie wohlig, doch dann vollführte er seinen ersten harten Stoß und sie schrie wehklagend auf. Sofort zog er sich aus ihr zurück, legte sich neben sie und nahm sie in seine Arme, während sie weinte und ihre Beine wieder geschlossen hielt.

„Sch… sch…“, flüsterte Lucius sanft und streichelte sie. „Tut mir leid, aber so ist es nun einmal, wenn ein Mädchen von einem Mann zur Frau genommen wird…“

Sie schluchzte und fragte: „Ist… ist es… immer… so…?“

„Nein, nur beim ersten Mal“, erklärte er ruhig, schaute ihr in das verweinte Gesicht und küsste ihr dann behutsam die Tränen weg. Dann drückte er sie wieder an sich und meinte: „Nun hast du es ja überstanden, Liebling. Wir haben die Ehe vollzogen und du bist jetzt meine Frau; und ich verspreche dir, dass es das nächste Mal, wenn wir miteinander schlafen, schön sein wird.“

„Wirklich?“ fragte Melina zweifelnd und schluchzte noch ein bisschen.

„Natürlich, oder haben dir meine Liebkosungen vor unserer Vereinigung etwa nicht gefallen?“

„Doch…“

„Na, siehst du, Honigmädchen. Das war nur ein Vorgeschmack darauf, wie die Vereinigung zwischen uns werden wird…“

Diese Worte trösteten Melina ein bisschen und sie schmiegte sich eng an Lucius. Es war schön, in seinen starken Armen und an seiner warmen Brust zu ruhen. Sie hörte, wie sein Herz schlug, genoss es, dass er sie sanft streichelte und schlummerte wenig später ein…

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[1] Palla = Ein langes Gewand, das von römischen Frauen beim Ausgehen über den anderen Kleidern getragen wurde. Eine vornehme Dame sollte niemals unverhüllt aus dem Hause gehen, wobei sie vor allem darauf zu achten hatte, dass ihr Haupt bedeckt war.

[2] fascia mamilla (oder: fascia pectoralis) war eine Brustbinde aus Stoff, die von römischen Frauen unter der Kleidung getragen wurde, um die Brüste zu stützen. Ein Vorläufer des BHs sozusagen.

[3] Parthenos = griechisch: Jungfrau

[4] Fibula = eine Art Spange, mit der Gewänder zusammengehalten wurden.

 

 

Melina lag glücklich lächelnd in Lucius‘ Armen und hörte die regelmäßigen Atemzüge ihres schlafenden Bräutigams, mit dem sie sich vor etwa einer halben Stunde das zweite Mal vereinigt hatte. Es war zwar noch ein wenig unangenehm gewesen, aber längst nicht mehr so schmerzhaft wie vor zwei Stunden, als Lucius sie entjungferte. Ganz im Gegenteil hatten diesmal die Lustgefühle bei ihr überwogen, so dass ihr Mann den Geschlechtsverkehr mit ihr bis zum Ende vollziehen und seinen Samen in ihren Schoß gießen konnte, was sie irgendwie schön fand. Schließlich wäre es ja möglich, dass dadurch das Blut in ihrem Unterleib befruchtet worden war und sie Mutterfreuden entgegensehen würde. [1]

Die junge Griechin seufzte und schloss beglückt die Augen. Sie konnte es selbst noch gar nicht richtig glauben, dass sie nun die Gefährtin von Lucius Marcellus war, dem Mann, den sie von ganzem Herzen liebte. Dabei hätte sie das nie geglaubt, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Es musste so etwas wie eine Schicksalsfügung geben, denn Lucius hatte ihr gleich überaus gut gefallen.

Melina schmiegte sich zärtlich an den geliebten Mann und genoss die körperliche Nähe zu ihm. Sie war Lucius‘ Frau… sie war seine Frau… es war so schön, von ihm gehalten zu werden…

 

Sie lag in Lucius‘ Armen und schlief, als sie es plötzlich rascheln hörte. Erschrocken schlug sie die Augen auf. Vor ihrem Ehebett stand ihr Vater Theodoros und sah sie mit traurigem Blick an, während er langsam den Kopf schüttelte.

„Vater!“ rief sie erfreut aus und richtete sich halb auf. „Es ist so schön, dich zu sehen.“

„Mein Augenstern, was hast du getan?“ murmelte er bedrückt und deutete mit seinem Haupt in Richtung des schlafenden Lucius. „Warum liegst du bei ihm, mein Töchterchen?“

Melina sah zuerst zu ihrem Mann, dann schaute sie wieder ihren Vater an und erwiderte: „Lucius ist jetzt mein Gemahl und ich bin glücklich darüber. Bitte, gib uns deinen Segen, Vater.“

„Ich würde deine Verbindung gern segnen, mein Kind, aber das kann ich nicht“, antwortete Theodoros traurig. „Musstest du dir ausgerechnet Lucius Marcellus als Gatten wählen?“

„Aber ich liebe ihn, Vater, ich liebe ihn so sehr… bitte, gibt uns deinen Segen!“

„Ich kann es nicht, Melina! Ich kann es einfach nicht…“

Theodoros schüttelte erneut den Kopf, vergrub dann sein Gesicht in beide Hände und weinte…

 

Mit einem Ruck fuhr Melina aus dem Schlaf auf und merkte einen Moment später, dass sie wohl nur geträumt haben musste. Doch was war das für ein bedrückender Traum gewesen…

Sie erinnerte sich des Briefes, den sie an ihren Vater geschrieben und ihn darin um seinen Segen für ihre Verbindung mit Lucius gebeten hatte. Er müsste dieses Schreiben längst erhalten haben und vielleicht war dieser Alptraum nun die Antwort darauf.

Traurig gestand Melina sich ein, dass sie genau diese Reaktion befürchtete. Wahrscheinlich war ihr Vater sehr erzürnt darüber, dass sie nicht nur einen Römer, sondern ausgerechnet den Mann als Gefährten gewählt hatte, den er als einen seiner größten Feinde überaus verabscheute. Vermutlich betrachtete Theodoros Aigikoreus sie nun nicht mehr als seine Tochter… das war der Preis für ihre Liebe zu Lucius.

Die junge Frau blickte voller Zärtlichkeit auf ihren schlafenden Bräutigam und streichelte ihm zärtlich über die Wange. Nein, sie bereute es nicht, seinen Antrag angenommen zu haben. Sie wollte keinen anderen Mann als ihn, und wenn es bedeutete, dass sie deshalb von ihrem Vater verstoßen wurde, dann würde sie es ertragen. Es war immer noch besser, als die Frau eines Mannes wie Alexandros Hipparchos zu sein, auf den ihr Vater einst so große Stücke hielt…

Melina näherte ihr Antlitz dem Gesicht von Lucius und gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. Er erwachte davon, erblickte sie und lächelte sie zärtlich an.

„Mein Honigmann“, wisperte sie. „Ich liebe dich…“

„Und ich liebe dich, Honigmädchen“, murmelte er und streichelte ihre Wange. „Meine süße Melina, meine kleine Frau. Endlich gehörst du mir allein… für immer…“

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Zufrieden blickte Megara auf den laut schnarchenden Sorex, den sie soeben von seinen zwei großen, kräftigen, germanischen Sklaven ins Bett hatte bringen lassen. Der alte Römer war so betrunken von dem schweren, süßen Wein aus Samos, dass er nach einigen Gläsern sofort eingeschlafen war und nicht einmal mitbekam, wie die beiden Sklaven ihn in sein Nachtquartier verfrachteten. Megara folgte ihnen und schickte die Bediensteten dann aus dem Raum, während sie selbst hinter ihnen die Tür schloss. Dann widmete sie sich dem betrunkenen, älteren Mann, dessen Gewand sie behutsam öffnete, bevor sie selbst sich entkleidete und neben ihm ins Bett legte. Sie kicherte ein wenig in sich hinein, weil die Umstände sich zu ihren Gunsten fügten. Natürlich hatte sie um die Wirkung des Weines aus Samos gewusst und Sorex diesen nicht ohne Hintergedanken immer wieder eingeflößt. Ihm würde am nächsten Morgen jegliche Erinnerung an die Ereignisse des heutigen Abends fehlen… welch ein Glück für sie…

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Schweren Herzens betrat Quella am anderen Morgen wieder das Haus von Lucius Marcellus in der Erwartung, im Laufe des Tages ihre unglückliche, junge Herrin trösten zu müssen. Die Hochzeitsnacht war für ihr Lämmchen sicherlich ein schreckliches Erlebnis gewesen.

„Ah, das bist du ja!“ wurde sie in lautem, strengem Ton von Philine begrüßt, nachdem sie das Atrium betreten hatte. „Wo warst du die ganze Nacht?“

„Ich habe Senator Valerianus und seine Familie nach Hause begleitet und mich um den kleinen Bruder meiner Herrin gekümmert. Es war notwendig, seiner Kinderfrau noch einige Anweisungen bezüglich seiner Pflege und Erziehung zu geben. Darüber wurde es schließlich so dunkel, dass man mir freundlicherweise anbot, im Hause des Senators zu übernachten. Ich komme soeben von dort“, behauptete Quella in sachlichem Ton.

„Du hättest wenigstens jemandem im Hause Bescheid sagen können, wo du bist“, tadelte Philine die Alte. „Divia hat nach dir gefragt, weil sie wünschte, dass du sie zu Bett bringst und ihr eine Geschichte erzählst. Aber du warst nirgendwo aufzufinden. Ich habe sogar einige Sklaven ausgeschickt, um nach dir suchen zu lassen. – Was für ein Glück, dass Lucius Marcellus und Melina Aigikoreusa dies nicht mitbekommen haben. Die junge Herrin hätte sich sicherlich wieder unnötig aufgeregt, und das an ihrem Hochzeitstag!“

„Tut mir leid“, erwiderte die Alte in entschuldigendem Ton. „Aber ich nahm an, dass niemand hier im Hause mich gestern gebraucht hat.“

„Selbst, wenn es sich so verhielte, ist es deine Pflicht, dich abzumelden, bevor du das Haus verlässt“, wies Philine sie zurecht. „Was, wenn die junge Herrin darauf bestanden hätte, sich von dir, ihrer alten Amme, zu verabschieden und niemand weiß, wo du bist?“

Quella runzelte verständnislos die Stirn. Dann fragte sie: „Verabschieden? Warum sollte sich meine Herrin von mir verabschieden wollen?“

„Sie und der Herr sind gestern Abend aufs Land gefahren, wo der Patron einige Tage allein mit seiner neuen Frau verbringen möchte“, erklärte Philine in kühlem Ton.

„Was denn? Die beiden sind abgereist?“ fragte die Alte erneut nach.

„Ja, und deshalb ist es nötig, dass du dich besonders um Divia kümmerst. Sie vermisst Melina und ihren Vater bestimmt sehr.“

„Aber warum hat Melina mir denn nichts davon erzählt?“

„Unsere neue Herrin wusste nichts davon. Es war eine Überraschung, die der Patron sich ausgedacht hat“, antwortete Philine, lächelte etwas und meinte dann: „Und nun kümmere dich um Divia und Sidori. Sie sind beide draußen im Garten und spielen.“

„Wann… wann kehrt Melina nach Rom zurück?“ fragte Quella tonlos.

„Wahrscheinlich erst wieder im September“, entgegnete Philine. Als sie den fassungslosen Blick der Alten sah, begann sie zu lachen und erklärte: „Es ist üblich, dass viele römische Familien die Sommermonate auf dem Land verbringen. Unser Herr ist mit seiner Frau nur einige Tage vor uns hingefahren. Divia soll nächste Woche nachkommen, wobei du und Sidori die Kleine begleiten.“

„Mein Lämmchen ist also… einige Tage… allein… mit Lucius Marcellus?“ ließ sich Quella noch einmal vernehmen und starrte Philine immer noch ungläubig an.

„Ja, so ist es!“ bestätigte ihr Gegenüber und musterte sie kühl. „Es wird dem Brautpaar bestimmt gut tun, einige Tage für sich allein zu sein.“

„Mein Lämmchen…“, hauchte die Alte und Tränen traten ihr aus den Augen.

„Finde dich endlich damit ab, dass Melina eine erwachsene Frau und verheiratet ist!“ entgegnete Philine daraufhin in strengem Ton. „Und nun kümmere dich endlich um die beiden Mädchen, denn das ist deine eigentliche Aufgabe hier!“

Mit diesen Worten drehte die griechische Sklavin sich um und ließ Quella stehen…

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Divia und Sidori saßen im Garten auf dem Boden und versuchten, ihre Murmeln in die kleine Kuhle rollen zu lassen, die sie unweit von ihrem Sitzplatz in die Erde gegraben hatten.

Mit immer noch feuchten Augen näherte sich Quella ihnen und betrachtete sie. Ja, so war ihre kleine Melina auch einmal gewesen. Ein argloses Kind, das sorgenfrei und glücklich mit ihrer Mutter und ihr zusammen gespielt hatte. Ach, wenn sie daran dachte, dass sie Cora Aigkoreusa, ihrer früheren Herrin, auf dem Sterbebett versprochen hatte, darauf zu achten, dass Melina nichts passierte… Erneut füllten sich die Augen der alten Sklavin mit Tränen. Was würde die Mutter ihrer jungen Herrin wohl zu der jetzigen Situation sagen, wenn sie noch lebte? Bestimmt wäre sie alles andere als einverstanden mit der Wahl ihrer Tochter…

„Quella!“ drang plötzlich die Stimme Divias an ihr Ohr und einen Augenblick später stand die Zehnjährige freudestrahlend vor ihr. „Quella! Schön, dass du wieder da bist! Wo warst du denn nur? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht! – Aber was ist mit dir? Warum weinst du?“

„Ach, es ist nichts!“ wehrte die Alte ab und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ihr Erwachsenen seid schon seltsam“, meinte Divia, zu der Sidori sich nun gesellte. „Melina hat gestern auch manchmal geweint und behauptet, dass sie dies tue, weil sie so glücklich sei. Weinst du auch deswegen, Quella?“

„Ja“, log die Angesprochene.

Daraufhin wandte sich Divia an ihre Spielgefährtin und fragte: „Verstehst du, wie man vor Glück weinen kann, Sidori?“

„Nein“, erwiderte das iberische Mädchen und schüttelte den Kopf. „Ich weine immer nur dann, wenn ich traurig bin.“

„Ja, genau!“ bestätigte Divia, dann widmete sie sich wieder der alten Amme: „Mein Onkel behauptete, dass Frauen vor Glück weinen, wenn sie heiraten. Ich habe auch bemerkt, dass außer Melina noch einige andere der anwesenden Damen weinten. Weinst du jetzt etwa auch, weil Meli meinen Vater geheiratet hat?“

„Ja, so ist es!“ bestätigte Quella, nun wahrheitsgemäß.

Die Zehnjährige schüttelte nur verständnislos den Kopf. Dann glitt ein Lächeln über ihr Antlitz und sie erklärte: „Ich bin so glücklich darüber, dass Meli meinen Vater geheiratet hat. Das bedeutet, dass sie jetzt für immer bei uns bleibt, nicht wahr, Quella?“

Die alte Amme nickte bekümmert und schwieg.

„Das ist fein!“ fuhr Divia munter fort. „Es war mein größter Wunsch, dass Meli für immer bei mir und Vater bleibt. Jeden Abend habe ich die Götter darum gebeten – und ich bat sogar darum, dass Meli niemals etwas geschehen sollte…“

„Das ist recht von Euch“, erwiderte Quella, betrachtete das römische Mädchen aber immer noch traurig. Sie verstand sehr gut, was in dem Kind vorging, wenngleich sich ihr eigener Wunsch in die genau entgegengesetzte Richtung bewegte: Melina musste fort aus Rom und fort von Lucius Marcellus.

„Wie sich herausstellte, habe ich mir völlig umsonst Sorgen gemacht“, erklärte Divia. „Nachdem Vater und Meli abgereist waren, fragte ich meinen Onkel nochmals, wie es sich mit Geiseln verhält und ob Meli in Lebensgefahr sei. Weißt du, was er mir antwortete?“

„Was?“ fragte die alte Amme.

„Dass du dich in einem Irrtum befindest, wenn du annimmst, dass Melinas Leben durch mein Volk bedroht sei“, entgegnete das Mädchen. „Zwar hätte Vater sie und die anderen jungen Griechen zunächst als Geiseln mit nach Rom genommen, aber der Kaiser ordnete an, dass Meli und ihr kleiner Bruder nicht mehr als Geiseln zu betrachten seien. Sie kam in Vaters Obhut, während Kimon in die Familie von Senator Valerianus gegeben wurde. – Ich war sehr froh, als Onkel Appius mir das sagte. Siehst du, wir brauchen uns also keine Sorgen um Meli zu machen. – Nicht wahr, das ist doch eine gute Nachricht, Quella?“

Die Alte nickte betrübt. Divia betrachtete sie stirnrunzelnd.

„Warum bist du denn immer noch so traurig, Quella?“ fragte das römische Mädchen dann.

„Bestimmt vermisst sie Melina“, wagte Sidori leise zu sagen.

„Ach ja – natürlich!“ entfuhr es Divia und mit einem verständnisvollen Lächeln nahm sie die Hand der alten Amme. „Sei nicht traurig, Quella, wir sehen Vater und Meli ja bald wieder. In einigen Tagen fahren wir zu ihnen in das Landhaus. Dort ist es wirklich sehr schön, wirst sehen!“

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Mit lautem Stöhnen erwachte Sorex am späten Vormittag und fuhr sich unwillkürlich mit einer Hand an den Kopf. Sein Schädel fühlte sich an, als wolle er platzen.

„Na, Liebling, hast du endlich ausgeschlafen?“ drang gurrend die Stimme Megaras dicht an sein Ohr und er spürte gleich darauf ihre Lippen auf seiner Wange. Überrascht drehte der Römer seinen Kopf zur Seite und sah die Griechin neben sich im Bett liegen. Ihre nackten Schultern ließen darauf schließen, dass auch ihr übriger Körper, der noch durch die Decke verhüllt war, unbekleidet war.

„Haben wir etwa…?“ fragte er ungläubig, worauf Megara nickte und grinste. Dann strich sie ihm behutsam über die Wange.

„Du warst gar nicht schlecht, Sorex“, murmelte sie zärtlich. „Auf diese Weise konnte ich mich endlich einmal bei dir dafür erkenntlich zeigen, dass du mich davor bewahrt hast, ins Elend zu geraten.“

Sie küsste ihn sanft auf den Mund und der alte Veteran wehrte sich nicht. Ihm gefiel die anschmiegsame Seite seiner Begleiterin recht gut, obwohl er ja anderes mit ihr vorhatte. Aber warum sollte man bis dahin nicht gemeinsam ein wenig Spaß haben? Nur ärgerlich, dass er sich aufgrund seines Rausches nicht mehr an die Liebesnacht erinnern konnte.

„Ich mag dich gern, Sorex“, wisperte Megara nun und strich ihm behutsam über sein Haar. „Du weißt eine gute Gefährtin bestimmt zu schätzen, und ich könnte dir eine solche sein, wenn du es nur willst.“

„Ich habe nichts dagegen“, brummte er, während er sich erneut mit der Hand an seine pochende Stirn griff. „Was hältst du davon, mir einen kalten Lappen auf den Kopf zu legen, Gefährtin? Ich habe das Gefühl, mein Kopf platzt gleich.“

„Alles, was du wünscht, mein Lieber!“

Megara stieg aus dem Bett, wobei er ihren schlanken Körper bewundern konnte. Bei Jupiter, wie kam Fabius nur zu der Behauptung, diese Frau sei nicht schön? Darüber hinaus schien sie überaus angenehme Seiten zu besitzen. Ihr Ehemann war ohne Zweifel ein Trottel, dass er ein solch prachtvolles Weib aus dem Haus gejagt hatte.

Die Bewunderte zog sich rasch ihr Gewand über, öffnete dann die Tür und verschwand. Wenig später kehrte sie mit Serpa-Thot, der eine Schüssel voll Wasser trug, zurück, setzte sich auf den Bettrand neben Sorex und wies den ägyptischen Sklaven an, die Schüssel auf das Beistelltischchen neben dem Nachtlager abzustellen. Dann tauchte sie ein Tuch, das sie mitgebracht hatte, in das Wasser und begann, die schmerzende Stirn von Sorex behutsam abzutupfen. Dankbar lächelte dieser sie an.

„Ich hoffe, ich kann damit dein Leiden ein wenig lindern, Liebster?“ fragte sie leise.

„Deine Gegenwart und deine Fürsorge tragen bereits dazu bei, Megara“, antwortete der alte Römer. „Ich bereue es nicht, dich aus Athen mitgenommen zu haben.“ Mit leisem Bedauern dachte Sorex an seinen Plan. Eigentlich war die junge Griechin viel zu schade, um einem alten Dämon geopfert zu werden… andererseits war kein Opfer groß genug, um die Schätze zu erhalten, die er begehrte, und die Ah-Hotep ihm zweifellos geben konnte: Jugend und ewiges Leben…

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Selene stand nachdenklich am Fenster ihres Gemachs, das sie im Hause ihrer Mutter bewohnte, und starrte hinaus. Zum wiederholten Male fragte sie sich, warum sie nicht längst die Bleitafel, die die Zauberin in ihrem Auftrag anfertigte, vor den Toren Roms vergraben hatte. Vielleicht wäre es dann nicht zu dem Ereignis gekommen, durch das sie sich zutiefst verletzt fühlte.

Gestern hatte eine Freundin ihrer Mutter während der Cena erzählt, dass Lucius vor ungefähr zehn Tagen offiziell bekannt gab, mit Melina Aigikoreusa, der Tochter des Rebellenführers aus Attika, im Konkubinat zu leben.

Aber diese Nachricht war es nicht, die Selene erschütterte, da sie nichts anderes von ihrem geschiedenen Mann erwartet hatte. Doch dass Lucius die Unverfrorenheit besaß, die Bekanntgabe seines Konkubinats mit der jungen Griechin als eine Art großes Hochzeitsfest zu begehen, zu der er alle seine Verwandten, Freunde und Bekannten eingeladen hatte, ging ihrer Ansicht nach entschieden zu weit. Melina war schließlich nichts weiter als seine Geliebte!

Wenn Selene daran dachte, dass Lucius die Hochzeit mit ihr damals nur im bescheidenen Rahmen mit den engsten Verwandten und einigen gemeinsamen Freunden feierte, konnte sie den Zorn in sich kaum bändigen.

Wenn Lucius schon mit dieser Fremden zusammenleben musste, hätte er dies doch ein wenig diskreter kundtun können. Wie stand sie als seine geschiedene Gemahlin denn jetzt in der vornehmen Gesellschaft da? Seine Handlungsweise würde wesentlich dazu beitragen, ihr ohnehin angeschlagenes Ansehen noch mehr zu schmälern. Fast schien es, als lege Lucius es darauf an, sie über die Scheidung hinaus zu demütigen.

Einen Moment lang fragte sich Selene, ob sie ihn wirklich als Gatten zurückhaben wollte. War dieser Mann es tatsächlich wert, sich wegen ihm den Unmut der Götter zuzuziehen? Aber hatte sie nicht Juno, die Schutzpatronin der Ehe, auf ihrer Seite? Es war doch kein Verbrechen, wenn sie wieder mit ihrem Gemahl zusammenkommen wollte!

Nein! Sie war es sich selbst schuldig, Lucius für sich zurückzugewinnen. Sie durfte es nicht einfach hinnehmen, sich von einer fremden, jungen Frau den Ehemann wegnehmen zu lassen!

Umso erstaunlicher war es darum auch, dass sie nicht die Bleitafel mit Melinas Namen vergraben hatte, damit die kleine Griechin endlich aus Rom verschwand. Aber etwas in ihrem Inneren hielt sie aus unerklärlichen Gründen bislang davor zurück.

Selene schüttelte über sich selbst den Kopf.

Ob es die Warnung der Zauberin war, die sie daran hinderte?

Aber das glaubte sie eigentlich nicht. Ebenso wenig wie sie daran glaubte, dass ein Mann und eine Frau füreinander bestimmt waren. Lucius und sie hatten eine gute Ehe geführt – und das würden sie auch wieder tun, dessen war Selene sich gewiss. Es dauerte vielleicht seine Zeit, bis es so weit war und ihr geschiedener Gatte seiner kleinen Griechin überdrüssig wurde. Dann kehrte er sicherlich wieder zu ihr, seiner früheren Gemahlin, zurück. Möglicherweise war es darum also gar nicht notwendig, die Bleitafel zu vergraben. Nun, sie würde zunächst einmal ihrem Gefühl vertrauen und es nicht tun…

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Melina war mit Lucius auf einem ausgedehnten Spaziergang gewesen und gerade auf dem Weg nach Hause, als sie bereits von weitem sah, dass eine Rheda vor dem Gebäude stand.

„Oh, sie sind endlich da!“ rief sie erfreut aus, löste sich von der Hand ihres Mannes und lief nun zur Villa, während Lucius ihr lächelnd folgte. Als er das Haus betrat, fand er Melina in inniger Umarmung mit seiner Tochter vor. Er war schon recht froh, dass die beiden sich so gut verstanden.

„Divia!“ rief er, worauf die Zehnjährige ihren Blick auf ihn richtete und ihn anstrahlte. Dann löste sie sich von Melina und stürzte sich in die weit geöffneten Arme ihres Vaters, der sie lachend an sich drückte. „Na, hast du mich doch vermisst, Divia?!“

„Melina und dich!“ erwiderte das Kind unbekümmert und warf wieder einen liebevollen Blick auf die junge Griechin, die die beiden lächelnd betrachtete.

„Schön, dass ich an zweiter Stelle komme“, spottete Lucius, konnte seiner Tochter jedoch nicht böse sein, da Melina ja auch in seinem Herzen den ersten Platz einnahm.

„Aber, Papa, das habe ich nicht so gemeint“, sagte Divia in entschuldigendem Ton und sah ihn mit bittenden Augen an. „Ich habe euch beide gern und ich bin so glücklich, dass Meli nun bei uns bleibt.“

„Weiß ich doch“, murmelte ihr Vater gutmütig, hob die Kleine hoch und küsste sie auf die Stirn. Es rührte ihn, dass seine Tochter ihn nach langer Zeit endlich mal wieder Papa nannte. Das hatte sie zuletzt, wenn er sich recht erinnerte, im Alter von fünf Jahren getan und ihn kurz danach mit der förmlichen Anrede Vater angesprochen. Merkwürdig! Aber es hing sicherlich damit zusammen, dass ihre Mutter sie damals von ihrer kleinen Sklavin getrennt hatte. Divia war jedoch nicht nur auf Selene böse gewesen, sondern auch enttäuscht, weil er Liuba nicht zurückholte. Er konnte sich noch genau erinnern, wie unglücklich sie darüber war, als er ihr sagte, ihre Spielgefährtin nicht wiederfinden zu können. Natürlich hatte er da gelogen. Ob Divia das gespürt hatte? Seitdem – da war er sich sicher - sprach sie ihn mit Vater  an. Merkwürdig, dass ihm dies jetzt erst auffiel. Nun ja, aber es war schon lange Vergangenheit und er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Tochter noch an dieses Ereignis dachte. Im Augenblick jedenfalls umarmte sie ihn fest und er genoss es, dass offensichtlich zwischen ihnen alles wieder in Ordnung war. Dies ließ sich gewiss auf den Einfluss Melinas zurückführen…

Divia wandte sich jetzt zu der neuen Gefährtin ihres Vaters um, streckte einen Arm nach ihr aus und rief: „Meli, komm zu uns! Wir drei gehören doch jetzt zusammen!“

Die junge Griechin lachte und folgte dieser Aufforderung, während Lucius seine Tochter wieder auf ihre eigenen Füße stellte und dann die beiden Mädchen fest an sich zog…

 

Quella tat es weh zu sehen, wie sehr ihre junge Herrin von Lucius Marcellus und dessen Kind vereinnahmt wurde und dabei glücklich schien. Sie bat eine der Haussklavinnen, die in der Villa tätig waren, sie und Sidori mit dem Gebäude vertraut zu machen. Die Bedienstete führte sie daraufhin wunschgemäß durch das Haus. Als sie ihnen das große Zimmer zeigte, in dem der Patron und seine neue Frau schliefen, versetzte es Quella wieder einen Stich ins Herz.

„Die Herrin hat keinen eigenen Raum für sich?“ fragte die Alte ungläubig.

„Nein, sie wollte dies nicht“, erwiderte die Sklavin freundlich. „Sie meinte, für die paar Wochen lohne es sich nicht. Nun ja, frisch Verheiratete sind nun einmal gern zusammen.“

Quella schluckte, als sie das hörte, und betrachtete sich das Zimmer der Herrschaften genauer. Es war hell, wirkte harmonisch und besaß ein großes Bett, in dem… Oh nein, sie wollte es sich gar nicht vorstellen…

„Möchtest du etwas essen?“ wandte sich die Sklavin gerade in freundlichem Ton an Sidori, die bislang schweigend alles in sich aufgenommen hatte. Sie nickte und lächelte schüchtern. Daraufhin drehte sich die Bedienstete nun auch zu Quella um: „Du bist sicherlich auch hungrig, nicht wahr?“

Aber die Alte schüttelte nur den Kopf und starrte immer noch auf das Bett.

„Ich gehe jetzt mit dem Kind in die Küche“, sagte die Sklavin, nahm Sidori bei der Hand und verschwand. Doch Quella blieb genau da stehen, wo sie stand, ohne sich zu rühren, den Blick wie gebannt auf das Bett gerichtet.

Wenige Augenblicke später erschien Laila neben ihr.

„Quella, willst du nicht endlich auch in die Küche kommen und etwas zu dir nehmen?“ fragte sie behutsam und legte einen Arm um alte Amme. Diese schien erst aufgrund dessen wieder zu sich zu kommen. Mit feuchten Augen wandte sie sich der Ägypterin zu.

„Sag mir, wie ist es Melina hier ergangen?“

„Sie ist glücklich, glaub mir“, antwortete Laila freundlich und lächelte.

„Wirklich? Sie ist glücklich, obwohl…“, Quella schaute erneut auf das Bett. Dann sah sie die ägyptische Sklavin eindringlich an. „Ist die Ehe… vollzogen… worden…?“

„Aber natürlich!“ Laila warf nun ebenfalls einen Blick auf das Nachtlager der Herrschaften. „Ich habe am anderen Morgen den Beweis dafür auf dem Laken gesehen.“

„Und wie ging es Melina?“

„Sie hat gestrahlt wie es sich für eine Braut gehört.“

„Tatsächlich?“ fragte die Alte, die das kaum glauben konnte.

„Ach, Quella, nun glaub doch endlich, dass deine junge Herrin und der Patron sich lieben“, erwiderte Laila lächelnd. „Sie sind sehr zärtlich zueinander und es gibt kaum einen Wunsch, den unser Herr seiner Braut nicht erfüllen würde. Die beiden sind glücklich miteinander, und darüber solltest du dich eigentlich freuen – findest du nicht?“

Die Alte seufzte. Sie musste sich wohl vorerst damit abfinden, dass Melina derzeit blind vor Liebe zu Lucius Marcellus war. Am Besten schien es wirklich, sich zu fügen, da im Augenblick sowieso keinerlei Möglichkeit bestand, etwas an der gegebenen Situation zu ändern…

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An jenem Abend ging Selene ohne ihre Mutter aus, die sich unpässlich fühlte. Zwar wäre sie lieber bei ihr geblieben, aber Aemilia Antonia bestand darauf, dass ihre Tochter an der Cena des Bruders teilnahm. Also brach Selene in ihrer Sänfte auf und wurde eine Viertelstunde später von Pavo und seiner Frau Claudia begrüßt. Beide hörten mit Bedauern, dass es der Mutter nicht gut ging.

„Ist es denn etwas Ernstes?“ fragte Claudia ängstlich, die ihre Schwiegermutter sehr mochte.

„Ach, ich denke nicht“, erwiderte Selene. „Sonst hätte sie mich nicht fortgeschickt.“

„Dennoch sollten wir den Medicus bemühen“, meinte Pavo, rief einen seiner Sklaven und befahl ihm, den heilkundigen Griechen, der sich seit ein paar Jahren unter seinen Bediensteten befand, zu Aemilia Antonia zu bringen. Nachdem der Sklave sich rasch entfernt hatte, um diesen Auftrag auszuführen, wandte Pavo sich wieder seiner Schwester zu: „Wollen wir hoffen, dass meine Besorgnis ohne Grund ist. Wie ging es Mutter denn bisher, Selene?“

„Heute Morgen war sie noch wohlauf, Pavo. Ich glaube wirklich, sie ist nur ein wenig müde“, erwiderte die Angesprochene.

„Vielleicht sollten wir wirklich davon ausgehen“, meinte nun auch Claudia und zwang sich zu einem Lächeln, während sie sich bei der Schwägerin unterhakte. „Komm jetzt mit ins Esszimmer. Die anderen Gäste sind bereits da.“

Obwohl die Unruhe, die Pavo und Claudia aus Sorge um die Mutter ergriffen hatte, nicht spurlos an Selene vorüberging, gelang es dieser bald, sie abzuschütteln. Dazu trug in nicht unwesentlichem Maße die Anwesenheit zweier ihrer alten Freundinnen bei, die bestrebt schienen, sie in ihrem Unglück zu trösten.

„Es ist wirklich kaum zu glauben, dass Lucius dich nach all den Jahren einfach auffordert, sein Haus zu verlassen“, meinte Cinna, eine der Freundinnen, die bereits Witwe war. „Das war sicherlich furchtbar für dich, nicht wahr?“

„Nun, ich versuche, es mit Fassung zu tragen!“

„Was dir überaus gut gelingt“, sagte Gordia, die andere Freundin, und warf ihrem langjährigen Gatten, welcher gerade im Gespräch mit einem anderen Gast vertieft war, einen raschen Blick zu, bevor sie dann wieder an Selene gewandt meinte: „Ich finde, du hältst dich fabelhaft. Vor allem angesichts der Unverfrorenheit von Lucius, sich gleich nach eurer Trennung mit diesem fremden Mädchen zu verbinden, auf das viele römische Bürger ein Loblied singen.“

„So? Wer denn zum Beispiel?“ fragte Selene spöttisch.

„Na ja, Senator Valerianus und seine Frau sind sehr angetan von ihr. Sie meinen, dass ihre vornehme Herkunft unverkennbar ist“, erzählte Gordia.

„Niemand hat je bestritten, dass diese Griechin sich gut benimmt“, murmelte Selene verächtlich. „Habt ihr sie denn schon einmal kennengelernt?“

„Nein – und ich lege auch keinen Wert darauf“, antwortete Cinna und Gordia nickte heftig. „Schließlich sind wir mit dir befreundet, nicht mit deinem früheren Ehemann, der uns im Übrigen nicht einmal eingeladen hat, seitdem er sich von dir trennte.“

„Nun ja, damit war wohl kaum zu rechnen“, meinte Selene mit ironischem Lächeln.

„Wie ist dieses Mädchen denn so?“ fragte Gordia dann mit leiser Stimme. „Was hat sie an sich, dass Lucius sich wegen ihr von einer so ehrsamen Dame wie dir trennt, zumal du doch die Mutter seiner Tochter bist?“

„Das kann ich wirklich nicht sagen“, gab Selene seufzend zu und schüttelte den Kopf. „Eine Schönheit ist diese Melina Aigikoreusa jedenfalls nicht.“

„Oh, da hab ich anderes gehört“, mischte sich nun Cinna wieder ein. „Man sagt allgemein, sie sei recht hübsch und überaus anmutig. Sogar Flavius Tingellinus Senior, von dem ja alle Welt weiß, dass er üppigen Schönheiten den Vorzug gibt, findet Wohlgefallen an ihr. War er dir nicht stets zugetan, Selene?“

„Ja, das kann man sagen“, gab die Angesprochene zu, doch das Gesagte machte sie wieder mutlos. Was, so fragte sie sich, fanden denn bloß alle an dieser nichtssagenden, kleinen Griechin mit den großen Kuhaugen? Sie war gepflegt und wohlerzogen, weiter nichts.

„Wäre er denn nicht ein geeigneter Ehekandidat?“ ließ sich Cinna nun leise vernehmen und kicherte ein wenig. Selene starrte sie fassungslos an, worauf sie im Flüsterton sagte: „Nun ja, er ist schließlich geschieden – und er ist nicht so ein komplizierter Mann wie dein Lucius mit seinen Launen.“

„Was redest du denn da?“ fragte Selene leicht verärgert. „Flavius ist ein haltloser Mensch.“

„Eben!“ bestätigte Cinna und nickte lebhaft mit dem Kopf. „Er braucht eine starke Frau an seiner Seite – so jemanden wie dich. Findest du nicht, er wäre genau der Richtige?“

„Flavius ist der Freund von Lucius“, erwiderte Selene in strengem Ton und schaute ihre Freundin böse an. „Seine Loyalität gilt in erster Linie ihm, seinem Vorgesetzten und Freund! Er war sogar einer der Zeugen, als Lucius mir gegenüber die Scheidung aussprach. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich so jemanden ernsthaft als möglichen Ehepartner in Betracht ziehe, Cinna?“

„Meinst du denn, Lucius hätte etwas dagegen?“

„Er wahrscheinlich nicht – aber ich!“

„Die ganze Sache lohnt den Streit nicht“, mischte sich nun Gordia ein. „Ich an Selenes Stelle würde auch keinen der Freunde meines früheren Gemahls heiraten.“

Sie senkte ihre Stimme eine Nuance und beugte ihren Kopf zu ihren Freundinnen, während sie wisperte: „Mir ist aufgefallen, dass einer der männlichen Gäste dich die ganze Zeit betrachtet, Selene. Dort drüber, der große Braunhaarige in der Mitte, mit der violetten Toga, der neben deinem Bruder sitzt, lässt immer wieder den Blick zu dir schweifen.“

„Tatsächlich?“ fragte die Angesprochene und lugte vorsichtig in Richtung Pavos, mit dem sich der soeben Beschriebene gerade unterhielt. Der Zufall wollte es, dass er ebenfalls wie unbeabsichtigt zu ihr hinsah. Ihre Blicke begegneten sich und der Braunhaarige lächelte ihr zu. Unwillkürlich erwiderte Selene dieses Lächeln. Dann wandte sie sich irritiert wieder an Gordia: „Wer ist dieser Mann?“

„Einer der Offiziere, die erst vor einigen Tagen wieder aus Germanien zurückgekehrt sind“, berichtete Gordia. „Er stellte sich uns vorhin als Crassus Heraclius vor.“

„Ein Offizier? Bist du sicher?“ fragte Selene zweifelnd. „Lucius hat ihn mir nie vorgestellt.“

„Das liegt vielleicht daran, dass dieser gutaussehende Crassus jahrelang in Germanien stationiert war“, flüsterte Cinna ihr zu und musterte Heraclius wohlgefällig. „Er dürfte in unserem Alter sein, meine Liebe.“

„Und nach allem, was man hört, ist er unverheiratet“, murmelte Gordia lächelnd.

„Das mag ja sein, aber was hab ich damit zu tun?“ wehrte Selene die Anspielungen ihrer Freundinnen unwillig ab. Dann warf sie jedoch wieder einen Blick auf Crassus. Der Mann sah nicht schlecht aus und schien Gefallen an ihr zu finden, denn er schenkte ihr erneut einen warmen Blick aus seinen dunklen Augen und lächelte sie freundlich an. Selene senkte schüchtern ihre Lider und starrte nachdenklich zu Boden. Woher kannte sie nur dieses Lächeln, diese Augen? Es kam ihr so bekannt vor…

„Du bist doch auch unverheiratet“, flüsterte Gordia ihr zu. „Du könntest dir selbst keinen größeren Gefallen tun und dich gleichzeitig an Lucius rächen, wenn du dich ebenfalls neu bindest. Dieser Crassus scheint sich sehr für dich zu interessieren und du solltest ihn näher kennenlernen.“

Genau diese Worte waren es, die den Trotz in Selene wieder hochsteigen ließen. Sie erinnerten sie so sehr an diejenigen ihres früheren Gemahls, der gemeint hatte, sie würde mit einem anderen Mann sicher glücklicher werden als mit ihm; und nun fiel ihr auch wieder ein, an wen der Blick von Crassus sie erinnerte: Genau so hatte Melina ihren Lucius angeschaut, mit solch einem Lächeln hatte sie das Herz ihres Mannes gewonnen…

MELINA – wieder stieg das Bild ihrer verhassten Konkurrentin vor ihrem inneren Auge auf.

Nein, sie würde sich von keinem anderen Mann einfangen lassen – und sollte dieser ihr auch noch so schmachtende Blicke zuwerfen und es noch so ehrlich meinen. Sie wollte ihren Lucius zurück!

Bevor sie auch nur daran denken konnte, eine neue Verbindung einzugehen, musste sie Melina besiegen. Sie musste dieser kleinen Griechin einfach zeigen, dass eine Römerin sich nicht ohne weiteres von einer Fremden den Mann wegnehmen ließ.

Selene schaute nun wieder hoch und starrte mit kühlem Lächeln dem freundlichen Offizier ins Gesicht. Ermutigt davon, richtete dieser nun das Wort an sie: „Verzeiht, edle Dame, ich hörte, dass Ihr die Schwester meines Gastgebers Pavo Antonius seid. Darf ich mich Euch vorstellen: Mein Name ist Crassus Heraclius.“

„Sehr erfreut, mein Herr“, erwiderte sie und nickte ihm kaum merklich zu. „Ich bin Selene Marcella…“

„Aber, Selene“, unterbrach sie ihr Bruder lächelnd. „Hast du denn ganz vergessen, dass du nun wieder eine freie Frau bist und nicht mehr die Gattin von Marcellus?“

„Entschuldige, Pavo, aber ich fühle mich immer noch mit meinem Mann verbunden“, gab sie freundlich zurück, erhob sich dann und meinte: „Verzeih mir, aber ich mache mir doch große Sorgen um Mutter und würde jetzt gerne nach Hause gehen.“

Dann wandte sie sich mit entschuldigendem Lächeln an Crassus: „Dafür habt Ihr gewiss Verständnis?“

Der Angesprochene nickte, erhob sich dann ebenfalls und bot an: „Darf ich Euch nach Hause begleiten, Selene Antonia?“

„Das wäre überaus freundlich, vielen Dank“, antwortete sie und ergriff seinen dargebotenen Arm. Dann bedankten sie sich bei den Gastgebern, wandten sich an die übrige Gesellschaft und verabschiedeten sich, bevor sie den Speisesaal verließen.

Nachdem eine Sklavin Selene ihre Palla gebracht und umgelegt hatte, begleitete Crassus sie galant bis zu ihrer Sänfte, die mitsamt den zwei Trägern im Hof der Villa auf sie wartete. Hier wandte sich Selene noch einmal zu ihm um und erklärte mit unverkennbarem Bedauern in der Stimme: „Ihr seid ohne Zweifel ein vornehmer Mann, aber ich bin noch nicht bereit dazu, eine engere Verbindung einzugehen. Bitte verzeiht mir meine Direktheit, aber ich möchte nicht, dass Ihr Euch falsche Hoffnungen macht.“

Der Offizier verneigte sich leicht vor ihr und meinte: „Es ehrt Euch, so zu mir zu sprechen, und ich schätze diese Ehrlichkeit sehr. Aber ich bin sicher, dass Ihr mit der Zeit über die Kränkung, die Euch Euer Gemahl zugefügt hat, hinwegkommt. Euer Bruder, mit dem ich sehr gut bekannt bin, erzählte mir bereits davon. Natürlich kann ich verstehen, dass Euch aufgrund dessen eine nähere Bekanntschaft vorerst abschreckt. Dennoch möchte ich Euch gerne meine Freundschaft antragen, Selene, und ich versichere Euch, dass ich damit keinerlei Erwartungen an Euch verbinde – lediglich die Hoffnung, dass ich damit auch Eure Freundschaft gewinne.“

„Ihr seid sehr gütig“, murmelte Selene und hatte große Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die ihr vor Rührung über seine Worte, aus den Augen treten wollten. Dann stieg sie schnell ein, befahl den beiden Sklaven: „Nach Hause!“ und schloss rasch den Vorhang vor dem Fenster, um endlich lautlos weinen zu können. Sie erinnerte sich wieder daran, dass die Zauberin davon gesprochen hatte, es gäbe einen anderen Mann, der sie aufrichtig liebe und mit dem sie glücklich werden könne… war Crassus Heraclius vielleicht dieser Mann?

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[1] Der römische Historiker Gaius Plinius Secundus war jedenfalls – ähnlich wie Aristoteles – der Ansicht, dass aus dem (Menstruations)Blut der Frau neues Leben entstehen konnte. Seiner Meinung nach sei dieser Vorgang mit einem Kuchen zu vergleichen. Dabei spiele der männliche Samen die Rolle der Hefe, durch die der Teig (= das Blut) aufgehe und damit erst in Form gebracht würde.

 

 

Das Abendessen durften Quella und Sidori gemeinsam mit Lucius, Melina und Divia einnehmen. Der Hausherr plauderte vergnügt mit seiner Tochter und deren kleiner Spielgefährtin, die zusehends ihre Schüchternheit verlor.

Indessen setzte sich Melina neben ihre alte Amme und umarmte sie.

„Schön, dass du hier bist“, sagte sie zu ihr und lächelte sie an. „Ich habe dich vermisst.“

„Wirklich, Herrin?“ fragte Quella zweifelnd, wobei sie vorsichtig einen Blick auf Lucius warf. Dann meinte sie leise: „Ich hörte, dass Ihr hier sehr glücklich wärt, Melina.“

„Oh ja, das bin ich“, erwiderte die junge Griechin und sah mit zärtlichem Ausdruck zu ihrem Gefährten und den beiden Mädchen. Dann erhob sie sich. „Komm, lass uns ein wenig im Garten spazieren gehen und plaudern.“

„Gern, Herrin!“

Quella erhob sich rasch in der Annahme, Melina suche nur eine Gelegenheit, mit ihr unter vier Augen sprechen zu können, um ihr zu gestehen, wie unglücklich sie in Wirklichkeit mit dem Römer sei. Ihr Lämmchen brauchte jetzt bestimmt ihren Beistand.

Melina wartete draußen, bis ihre alte Amme kam. Dann hakte sie sich bei ihr unter und begann, langsam mit ihr herumzuschlendern.

„Nun, mein Kind, was habt Ihr auf dem Herzen?“ fragte Quella besorgt.

„Ach, ich kann dir gar nicht sagen, wie unendlich glücklich ich bin“, antwortete Melina, drehte sich spontan zu ihr um und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Dass ich Lucius‘ Frau geworden bin, war die beste Entscheidung meines Lebens. Er ist so lieb zu mir, so gut… es ist so schön, mit ihm zusammen zu sein.“

Verwundert starrte die Alte ihre junge Herrin an. Auf ein Geständnis dieser Art war sie gar nicht vorbereitet. Doch Melina bemerkte die Fassungslosigkeit ihrer ehemaligen Kinderfrau nicht. Sie sah glückstrahlend in den Himmel hinauf und seufzte: „Die Götter haben es gut mit mir gemeint, als sie Lucius nach Attika schickten.“

Quella starrte das junge Mädchen immer noch irritiert an, ohne ein Wort zu sprechen.

„Ist es nicht schön hier?“ fuhr Melina fort. „Es ist so ruhig, die Luft ist herrlich und man kann viel freier atmen als in Rom. Endlich hatten Lucius und ich mal viel Zeit füreinander. Wir haben ausgedehnte Spaziergänge unternommen, uns die wunderbare Landschaft betrachtet und lange Gespräche geführt.“

„Ihr scheint glücklich mit ihm zu sein“, murmelte Quella.

„Ja! Ja, ich bin glücklich! Er ist der Mann, den ich liebe – und er liebt mich auch!“

„Ich freue mich, dass Ihr glücklich seid, mein Lämmchen“, meinte die Alte in traurigem Ton. Melina starrte sie daraufhin erstaunt an.

„Du klingst, als zweifeltest du an meinen Worten.“

„Ach, Herrin, ich glaube Euch, dass Ihr diesen furchtbaren Legatus liebt – wenngleich ich nicht verstehen kann, warum Ihr das tut“, sagte Quella vorsichtig. „Er zwingt Euch dazu, mit ihm in einer Beziehung zu leben, die keinesfalls ehrenvoll ist…“

„Aber, Quella, er hat mir erklärt, dass…“

Doch die Alte ließ Melina nicht ausreden, sondern fuhr unbeirrt fort: „Egal, wie Lucius Marcellus es darstellt – es ist keine Ehe! Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Legatus Euch von den Göttern geschickt wurde.“

„Doch, Quella! Er wurde von ihnen geschickt, das spüre ich“, widersprach Melina. „Ich bin sogar davon überzeugt, dass Apollo selbst ihn für mich ausgewählt hat.“

„Aber, mein Lämmchen, wie kommt Ihr denn nur darauf?“ fragte die Alte erschrocken, denn die Worte ihrer jungen Herrin erschienen ihr wie Blasphemie.

„Ich habe von Apollo geträumt und er sagte mir, es sei alles für meine Hochzeit bereit“, berichtete die junge Griechin freimütig und das glückliche Lächeln, das vorhin auf ihren Zügen lag, kehrte wieder zurück. „Es war kurz nach dem Antrag von Lucius. Ein eindeutigeres Zeichen, dass der Segen der Götter auf unserer Verbindung liegt, kann es wohl kaum geben, nicht wahr?“

„Ach, mein Lämmchen“, seufzte Quella und sah sie mit traurigen Augen an. „Wie kann denn auf Eurer Verbindung mit dem Legatus der Segen der Götter liegen, wenn dies einen anderen Menschen ins Unglück stürzt? Habt Ihr denn ganz vergessen, dass Lucius Marcellus sich zuvor von seiner Gemahlin getrennt hat?“

Melinas glückliche Miene verschwand. Diesen Umstand hatte sie tatsächlich vergessen.

„Die Matrona war über diese Trennung gewiss sehr unglücklich“, fuhr Quella fort. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, es ist nicht recht… es ist ganz und gar nicht recht…“

Die junge Griechin schwieg. Sie erinnerte sich noch sehr deutlich an Selenes Vorwurf, ihre Ehe zerstört zu haben. Ja, die Scheidung musste der Matrona großen Schmerz bereitet haben…

„Aber Lucius sagte, ihre Ehe wäre schon lange brüchig gewesen“, verteidigte sich Melina, die plötzlich das schlechte Gewissen plagte. „Er wollte sich sowieso von ihr trennen.“

„Ach, was Männer so sagen…“, murmelte die Alte verächtlich.

„Gewiss hat sich Selene längst damit abgefunden“, meinte Melina, um sich selbst zu beruhigen. Sie dachte daran, dass diese Frau Divias Mutter war. Bestimmt vermisste sie ihre Tochter, auch wenn die Kleine immer behauptete, sie sei ihrer Mutter gleichgültig gewesen. Divia ließ sich bisher von niemandem davon überzeugen, dass Selene zu den Menschen zählte, die ihre Gefühle nicht so leicht zeigen konnten. Sicherlich war eine Annäherung zwischen ihr und ihrer Mutter erst dann möglich, wenn man Liuba gefunden und wieder mit Divia in Kontakt gebracht hatte…

Die Gedanken an diese traurige Geschichte trieb Melina wieder Tränen in die Augen. Quella hingegen deutete dies anders und rief: „Seht Ihr, Herrin, Ihr glaubt es ja selbst nicht!“

„Was?“ ließ sich gleich darauf die Stimme von Lucius vernehmen. Erschrocken fuhr die Alte herum und sah, dass er direkt hinter ihr stand. Mit kaltem Blick musterte er die Sklavin, dann wandte er sich in besorgtem Ton an Melina: „Was hast du denn, mein Liebling? Was glaubst du nicht? Wovon spricht deine Dienerin?“

Melina warf einen irritierten Blick auf Quella und wandte sich dann wieder ihrem Geliebten zu: „Ich weiß auch nicht genau, was sie meint. Gerade eben war ich in Gedanken ganz woanders…“

„Aha!“ meinte Lucius nur, schenkte der alten Amme einen kurzen, eindringlichen Blick, aber es war offensichtlich, dass er Melina kein Wort glaubte. Er legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern und meinte sanft: „Divia äußerte den Wunsch, mit dir zusammen ein Bad zu nehmen, da diese Villa ja eine eigene, kleine Therme besitzt. Was hältst du davon?“

„Das ist eine gute Idee“, nahm die junge Griechin diesen Vorschlag auf und lächelte.

„Dann geh ins Haus. Divia, Sidori und Laila warten schon auf dich!“ sagte er und schaute ihr liebevoll nach, als sie seinen Worten Folge leistete. Als Quella ihr jedoch hinterher gehen wollte, hielt Lucius sie plötzlich am Handgelenk fest und zog sie zu sich heran. Mit wütendem Blick starrte er auf sie hinab und sagte in kaltem Ton: „Ich habe endgültig genug davon, dass du Melina unglücklich machst! In Zukunft wirst du dich von ihr fernhalten, verstanden?!“

Dann ließ er sie endlich los und schien sie mit seinen eisblauen Augen förmlich zu durchbohren. Quella, obwohl sie etwas erschrocken war, hielt seinem Blick stand und erwiderte so ruhig sie es vermochte: „Wie soll das gehen, Herr? Schließlich habt Ihr selbst mich zur Kinderfrau Eurer Tochter gemacht; und diese will ständig in der Gesellschaft meiner Herrin sein. Ich kann also, selbst wenn ich es wollte, Euren Befehl nicht befolgen.“

„Na schön!“ knurrte er. „Aber du wirst alles vermeiden, was Melina traurig macht oder sie aufregen könnte. Sonst lernst du mich von einer richtig unangenehmen Seite kennen, Alte!“

„Aber meine Herrin wollte sich aussprechen und wenn sie nun einmal traurig ist, dann…“, versuchte Quella zu erklären, doch der eisige Ton Lucius‘ schnitt ihr das Wort ab.

„Schweig, Weib! Meinst du etwa, ich sei blind und taub?“ fuhr er sie an. „Mir ist nicht entgangen, dass Melina vor allem dann unglücklich ist, wenn sie mit dir zusammen war. Du tust ihr eindeutig nicht gut, auch wenn du behauptest, deine Herrin zu lieben! Die ganze Zeit während unseres Alleinseins hier war sie glücklich an meiner Seite, hat gelacht und gestrahlt. Doch kaum bist du da, wirkt sie bedrückt. Das kann doch kein Zufall sein! Drum höre: Wenn ich noch ein einziges Mal mitbekomme, dass du Melina Kummer bereitest, dann wirst du dir wünschen, nie geboren zu sein! Hast du das verstanden, Alte?!“

„Ja, Herr“, hauchte Quella ängstlich.

„Gut!“ Lucius nickte ihr mit grimmiger Miene zu, drehte sich dann herum und kehrte ins Haus zurück. Die alte Sklavin sah ihm nach und begriff, dass sie von nun an vorsichtig sein müsste, mit dem, was sie ihrer Herrin sagte. Denn sie bezweifelte keinen Augenblick, dass Marcellus seine Drohung wahr werden ließ…

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Anfang Juli lief das Schiff, auf dem Sorex und Megara sich befanden, endlich in Alexandria ein und der alte Veteran schickte sofort einen Boten an einen seiner Freunde, der hier lebte. Noch während seine Sklaven damit beschäftigt waren, die Sachen ihres Herrn zu packen, erhielt Sorex die Antwort von Drusus Fausto, dass er selbstverständlich in seinem Hause willkommen sei.

„Du hast wohl überall Bekannte, nicht wahr?“ fragte Megara in schmeichlerischem Ton.

„Aber natürlich, meine Liebe“, brummte er zufrieden. „Schließlich haben wir mal zusammen in der gleichen Einheit gedient, als wir jung waren. Danach war er lange in Ägypten stationiert und beschloss, auch seinen Ruhestand hier zu verbringen. Ich muss gestehen, ich bin gespannt, wie er jetzt lebt. Hab ihn lange nicht mehr gesehen.“

 

Bereits eine Stunde später befanden sich die Griechin und der alte Römer im Hause des besagten Drusus und speisten mit ihm zusammen in einem komfortabel eingerichteten Esszimmer.

„Ich freue mich wirklich, dich wiederzusehen, Sorex“, sagte der Gastgeber freundlich und musterte dann mit abschätzigen Blicken die Begleiterin seines ehemaligen Kameraden. „Was führt dich nach Ägypten?“

„Ich habe mich schon immer für dieses Land interessiert“, erwiderte der Veteran. „Mich reizen die Geheimnisse, die es hier zu entdecken gibt.“

„Geheimnisse? Was genau meinst du damit?“ fragte Drusus erstaunt.

„Nun, ich interessiere mich für die Pyramiden und für sonstige Gräber“, antwortete Sorex. „Man erzählt sich geheimnisvolle Geschichten darüber. Demnach sind manche der Toten nicht wirklich tot, sondern werden auf geheimnisvolle Weise am Leben erhalten. Stimmt es, dass man den vornehmen Ägyptern Speisen, wertvolle Gegenstände, ja sogar Bedienstete mit ins Grab gibt, weil man glaubt, dass sie auch nach dem Tod weiterleben?“

„Oh, mein Freund!“ rief Drusus aus und lachte laut. „Es stimmt zwar, dass man den Vornehmen dieses Landes viele Dinge mit ins Grab gibt, aber diese Dinge sollen ihnen im Jenseits dienen; und wenn die Einheimischen von einem Leben nach dem Tode sprechen, dann meinen sie damit, dass sie in dieser jenseitigen Welt weiterleben werden.“

„Das mag schon sein“, meinte Sorex. „Aber ich habe noch andere Geschichten gehört. Von Menschen, die den Tod überwanden…“

„Ägypten ist voller Legenden und Mythen, die wir nicht verstehen“, tat Drusus es ab und betrachtete sich wieder eingehend Megara, die ihn kühl anlächelte. „Am Besten, man nimmt sie als das, was sie sind – abergläubisches Geschwätz!“

Nun wandte sich der Gastgeber direkt an die Griechin und fragte: „Was haltet Ihr eigentlich von derlei Geschichten? Könnt Ihr Euch vorstellen, dass irgendein Mensch den Tod überwand und weiterhin auf Erden lebte, anstatt im Jenseits?“

„Nein!“ gab Megara unumwunden zu und blickte dann zu Sorex, der sie fassungslos anstarrte. „Tut mir leid, mein Lieber, aber so ist es! Wir leben jetzt – und ich will mein Leben genießen, statt irgendwelchen Hirngespinsten nachzujagen.“

„Wer sagt denn, dass wir das tun?“ brummte der alte Veteran verärgert. „Ich möchte mir nur mal selbst diese Gräber betrachten. Mich interessieren vor allem die ganz alten.“

„Ich weiß zwar nicht, was du daran findest, aber wenn dem so ist, wendest du dich am Besten an einige der Schriftgelehrten oder an einen Priester“, meinte Drusus. „Meine Sklaven sind dir sicher gerne dabei behilflich, jemanden zu finden, der dir als Führer auf deiner Expedition in die ägyptische Vergangenheit dient. Gehe ich recht in der Annahme, dass du das Land bereisen willst?“

„Ja, das ist richtig“, bestätigte Sorex.

„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich deiner… hm… Gesellschafterin… gerne meine Gastfreundschaft anbieten, so lange du unterwegs bist“, sagte Drusus, während er wieder mit interessierten Blicken Megara streifte. Diese sah Sorex daraufhin beunruhigt an.

„Sehr freundlich von dir“, entgegnete jetzt der Veteran. „Aber Megara wird mich auf meiner Reise durch Ägypten begleiten. Sie interessiert sich ebenfalls für alte Gräber. Deshalb habe ich sie mitgenommen.“

„Ach so?“ Druses musterte die spitznasige Griechin daraufhin erstaunt und zuckte dann die Schultern. „Also schön, wenn es deiner Begleiterin mehr Spaß bereitet, sich anstrengenden Wanderungen in der Wüste auszusetzen, um mit dir zusammen Nekropolen aufzusuchen, anstatt sich das wunderschöne Alexandria anzusehen und sich in meiner Gesellschaft dem angenehmen Müßiggang mit Gastmählern, Musik, Tanz und guter Unterhaltung hinzugeben, dann muss ich es wohl akzeptieren.“

„Wir könnten ja einen solch angenehmen Abend zusammen begehen, bevor Megara und ich aufbrechen“, meinte Sorex und wandte sich dann seiner Begleiterin zu. „Würde dir das zusagen, Liebste?“

Die spitznasige Griechin lächelte den alten Römer liebenswürdig an, worauf Drusus, der die beiden spöttisch betrachtete, versprach: „Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch gleich morgen Abend ein schönes Fest zu bereiten.“

„Darauf sollten wir anstoßen!“ rief Megara aus und erhob ihren Becher, worauf die beiden älteren Männer ihre Trinkgefäße dagegen schlugen und lachten. Sie schenkte den beiden ein freundliches Lächeln, während sie sie innerlich verachtete. Ihre Erfahrung mit Sorex, den sie so leicht davon überzeugen konnte, mit ihr geschlafen zu haben, und der mittlerweile wirklich ihr Liebhaber war, und das Verhalten dieses Drusus Fausto bewiesen ihr wieder einmal, dass sich das Hauptaugenmerk der meisten Männer nur auf die Unterhaltung einer Beziehung geschlechtlicher Art richtete und man sie damit am Besten einfangen konnte. Warum vergeudete Sorex, zu dem sie wirklich eine Art Zuneigung empfand, wenngleich nicht so stark wie zu ihrem verstorbenen Bruder, seine Zeit hier mit dem Austausch von Geplänkel, anstatt sich sofort auf die Suche nach dem Grab des Ah-Hotep zu machen? Sie könnten längst im Museion sein und sich mit einem der zahlreichen Schriftgelehrten unterhalten, die dort in der Bibliothek tätig waren und sich gewiss mit alten Schriften auskannten. [1] Dort, so hatte sie Sorex geraten, sollten sie mit der Suche nach dem alten Memphis beginnen, wo sich nach der Legende die Grabstätte des Frevlers Ah-Hotep befand. Dieser Ort musste ja zu finden sein.

Während die beiden Römer sich erneut den Becher mit Wein füllten, erhob sich Megara.

„Bitte, entschuldigt mich“, wandte sie sich in höflichem Ton an Drusus. „Wenn Ihr erlaubt, möchte ich mich jetzt zurückziehen, denn ich bin doch ein wenig müde von der Reise.“

„Aber natürlich, meine Liebe“, erwiderte der Gastgeber jovial.

„Sorex“, nickte Megara ihrem Liebhaber zu, der ihr nur ein kaum merkliches Lächeln schenkte. Verärgert darüber verließ die Griechin das Esszimmer und zog sich in den Raum zurück, den man ihr für die Zeit ihres Aufenthaltes zur Verfügung gestellt hatte. Sie ging eine Weile hin und her, blieb endlich stehen und betätigte das Glöckchen, das auf ihrer Kommode stand. Gleich darauf erschien einer der Sklaven von Drusus.

„Ich möchte Serpa-Thot sprechen“, befahl sie.

Wenig später stand der schmächtige, kleine Ägypter vor ihr und verneigte sich.

„Was kann ich für Euch tun, edle Dame?“ fragte er.

„Dein Herr befindet sich zur Zeit noch in der Gesellschaft unseres freundlichen Gastgebers, obwohl wir beide eigentlich lieber die Bibliothek besucht hätten“, erklärte Megara. „Im Grunde suchen wir jemanden, der uns etwas über die ältere Geschichte Ägyptens erzählt. Dein Auftrag lautet nun, ins Museion zu gehen und dich nach so einem Menschen umzusehen. Vereinbare mit ihm sodann einen Zeitpunkt, zu dem Sorex und ich mit ihm unter vier Augen sprechen können. Hast du das verstanden?“

„Habt Ihr denn immer noch vor, das Grab des Frevlers zu finden?“ fragte Serpa-Thot beunruhigt und starrte die Griechin wieder mit schreckgeweiteten Augen an.

„Nein, wir möchten nur etwas über Memphis wissen, da wir vorhaben, dorthin zu reisen“, antwortete Megara, die nicht umhin konnte, den ägyptischen Sklaven spöttisch zu mustern.

„Wirklich?“ fragte Serpa-Thot ungläubig.

„Ja – Sorex meinte, das, was wir suchen, befinde sich mit Sicherheit in eurer alten Hauptstadt“, führte die Griechin aus. „Wir suchen also jemanden, der uns alles erzählen kann über das alte Memphis – das uralte Memphis…“

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Betrübt schlich Serpa-Thot durch die hohen Räume der Bibliothek, die sich im Museion befanden, und wagte kaum, einen der zahlreichen Bibliothekare anzusprechen, die entweder dabei waren, Schriftrollen zu sortieren, einzuordnen oder irgendwelche Listen zu führen. Wahrscheinlich hatte die unangenehme Griechin, die seinen Herrn auf dieser Reise begleitete, recht in der Annahme, dass er an diesem Ort jemanden fand, der etwas über die Geschichte des alten Ägyptens wusste und ihr einen Ratschlag geben könnte, wo in etwa sich das entweihte Heiligtum des Ra, in dem der verfluchte Blutdämon gefangen saß, befände. Doch alles in Serpa-Thot sträubte sich dagegen, den Fremden zu helfen, die mit ihrem Plan die Ordnung der Welt gefährden und Tod und Verderbnis über die Erde bringen konnten. [2] Wenn er doch nur jemanden fände, der ihn darin unterstützte, Sorex und seine Geliebte von ihrem Vorhaben abzubringen. Aber wem würden die beiden schon glauben?

Serpa-Thot starrte zu Boden und seufzte laut.

Einer der Bibliothekare, ein älterer Mann mit kahlem Schädel, schaute erstaunt auf und sah den bedrückten, kleinen Ägypter mit traurigem Blick verloren zwischen zwei hohen Regalen voller Papyrus-Rollen stehen.

„Kann ich Euch helfen?“ fragte der Bibliothekar.

Verwirrt starrte Serpa-Thot zu ihm hin, als könne er nicht fassen, dass ihn ein Mensch bemerkt hatte. Dann nickte er kaum merklich und ging ein paar Schritte auf ihn zu.

„Nun, was kann ich für Euch tun?“ wollte der Kahlköpfige in sachlichem Ton wissen. „Welches Werk sucht Ihr?“

Aber der kleine Ägypter schüttelte den Kopf und murmelte: „Ich suche kein Schriftstück, sondern jemanden, der sich hervorragend in Mythologie und Geschichte unseres Landes auskennt. Und außerdem wäre es gut, wenn dieser Mensch noch über die nötige Überzeugungskraft verfügte, um meinen Herrn und seine Gefährtin daran zu hindern, die Welt ins Chaos zu stürzen.“

„Ihr sprecht in Rätseln, mein Freund“, meinte der Bibliothekar und runzelte verständnislos die Stirn. „Wie kommt Ihr darauf, dass Eure Herrschaften so etwas Schreckliches tun könnten?“

„Oh, sie wollen es gewiss nicht absichtlich tun“, erklärte Serpa-Thot daraufhin traurig. „Jedoch ermessen sie gar nicht die Gefahr, die entsteht, wenn ihnen ihr Vorhaben tatsächlich gelingen sollte.“

Die Neugier des Bibliothekars war geweckt und er bat Serpa-Thot, sich mit ihm an seinen Schreibtisch zu setzen und ihm ausführlich das angesprochene Problem zu schildern. Der Sklave ließ sich nicht zweimal bitten, sondern schien froh zu sein, endlich einmal mit einem Menschen über das zu sprechen, was seine Seele belastete. Während er erklärte, dass Sorex Nigellus das Grab des Ah-Hotep (diesen Namen flüsterte Serpa-Thot ängstlich) finden und öffnen wolle, da es ihn nach den darin vermuteten Schätzen gierte, wurde der alte Bibliothekar immer blasser. Nachdem der kleine Ägypter seinen Bericht beendet hatte, sah ihn sein Zuhörer mit ernster Miene an und sagte dann tonlos: „Bring deine Herrschaften heute nach Sonnenuntergang hierher zu mir. Dann wird außer mir und meinem Neffen niemand mehr zugegen sein.“

„Ihr wollt Euren Neffen bemühen?“ fragte Serpa-Thoth neugierig. „Meint Ihr denn, er kann uns helfen?“

„Das will ich doch hoffen“, erwiderte der Bibliothekar. „Er ist ein Priester des Ra und kennt die Geschichte des Frevlers besser als unsereiner. Bestimmt lässt er sich etwas einfallen, um deinen Herrn und seine Gefährtin daran zu hindern, unwissentlich großes Unheil über die Welt zu bringen.“

„Ach, wenn es doch so wäre!“ seufzte Serpa-Thot und verneigte sich leicht, nachdem er sich von seinem Stuhl erhoben hatte. „Ich danke Euch jedenfalls sehr dafür, dass Ihr mir Euer Ohr geliehen habt. Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass Euer Neffe meinen Herrn zur Vernunft bringt.“

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[1] Im Museion von Alexandria befand sich ein Teil der berühmten Bibliothek, die das ganze damalige Wissen der Welt beherbergte.

[2] Die „Ordnung der Welt stören“ bedeutet, sie in „Chaos“ zu stürzen – für die alten Ägypter war das gleichbedeutend mit Tod und Verderbnis. Dass es zudem „Fremde“ (also Nicht-Ägypter) sind, die diese Ordnung bedrohen, passt gut ins Bild, denn die Ägypter misstrauten allen Fremden.

Hier wäre noch anzumerken, dass der Wüstengott „Seth“, von dem bereits die Rede war, für die alten Ägypter in engem Zusammenhang steht mit „Chaos“, mit „den Fremden“ und mit „Tod und Verderben.“ – Die Ägypter hatten zu Seth, der in einigen Mythen als Beschützer der Sonne (Ra) auftritt, ein recht zwiespältiges Verhältnis. Manchmal ist er der Freund von Ra oder Horus, dann wieder ihr Gegner oder gar ihr ärgster Feind. Im Laufe der Zeit wurde sein Charakter immer übler dargestellt, bis er schließlich ganz mit dem „Bösen“ gleichgesetzt wurde.

 

Sorex und Megara konnten es kaum erwarten, den Mann zu treffen, der sie heute Abend in die Bibliothek bestellt hatte und ihnen laut Serpa-Thot alles über das uralte Memphis und die Legende über den Frevler, für dessen Grab sie sich interessierten, – den Namen hatte der kleine Ägypter diesmal nicht auszusprechen gewagt – erzählen konnte.

Sie entschuldigten sich bei Drusus für ihre Absage zum Abendessen, indem sie erklärten, in der Stadt eine Verabredung mit einem Bekannten von Megara zu haben, der von ihrer Ankunft gehört hätte und sie dringend zu sich bitte. Danach hatten sie sich sofort auf den Weg in die Bibliothek gemacht, die sich im Museion befand.

Als Serpa-Thot nun den römischen Veteran und die spitzgesichtige Griechin zu dem Raum der Bibliothek führte, in den ihn der Bibliothekar bestellt hatte, staunten die beiden nicht schlecht, von einem altem und einem jungen kahlköpfigen Mann erwartet zu werden, die die beiden Fremden äußerst aufmerksam betrachteten.

„Guten Abend“, begrüßte sie der ältere Mann endlich und forderte sie auf, sich auf jeweils einen der bereitstehenden Stühle vor seinem Schreibtisch zu setzen. Sobald Sorex und Megara dieser Bitte nachgekommen waren, verabschiedete sich Serpa-Thot von ihnen, um draußen vor dem Gebäude auf seine Herrschaften zu warten.

„Ich bin doch sehr überrascht, statt eines Mannes gleich deren zwei zu begegnen“, meinte Sorex, als sein ägyptischer Sklave sich entfernt hatte. „Mit wem habe ich das Vergnügen, meine Herren?“

„Mein Name ist Schest-Aron“, stellte sich der Bibliothekar höflich vor. „Ich bin seit vielen Jahren in der Bibliothek von Alexandria tätig, habe sehr viele der hier befindlichen Schriften studiert und besitze daher großes Wissen. Als Euer Diener mir heute Vormittag erzählte, dass Ihr Auskunft wünschtet über eine gewisse Person, über die man in unserem Lande besser kein Wort verliert, und nicht davon ablassen würdet, bevor Ihr nicht alles über sie erfahren hättet, hielt ich es für angebracht, Euch zu mir zu bestellen. Darüber hinaus bat ich meinen Neffen Hatum-Ra, der als Priester seit einigen Jahren im Tempel des Allerhöchsten dient, Euch alles zu erzählen, was es über den Frevler zu berichten gibt.“

Der Blick des alten Römers und seiner Begleiterin richteten sich jetzt sehr viel interessierter auf den jungen Mann, der neben seinem Onkel ihnen gegenüber saß und den Kopf nun leicht zur Begrüßung neigte. Seine Lippen jedoch zeigten nicht die Spur eines Lächelns.

„Wie ich hörte, seid Ihr auf der Suche nach dem Grab des Frevlers Qara“, begann Hatum-Ra dann in ernstem Ton und musterte Sorex und die Griechin mit durchdringendem Blick. „Darf ich erfahren, was Ihr Euch davon erhofft?“

„Diese Ruhestätte eines hochwohlgeborenen Ägypters dürfte eine der wenigen sein, die noch vollständig erhalten geblieben sind, weil sich aus Angst wohl bislang kein Grabräumer daran zu schaffen machte“, erwiderte der Römer. „Es interessiert mich eben, wie solch eine Begräbnisstätte ursprünglich aussah.“

„Verzeiht, aber Eure Worte klingen nicht glaubhaft“, sagte der Priester. „Es wäre besser, Fremder, wenn Ihr mir Eure wahren Beweggründe darlegt.“

„Wahre Beweggründe?“ fragte Sorex heftig. „Meine Worte entsprachen der Wahrheit!“

Hatum-Ra lächelte leicht verächtlich und schwieg, wobei er seinen Blick von dem alten Römer zu der jungen Griechin immer wieder hin und her wandern ließ, als warte er darauf, dass einer von ihnen etwas sagte.

„Also schön“, begann Megara nach einer Weile, ohne den warnenden Blick zu beachten, den ihr Liebhaber ihr zuwarf. „Mein  Mann  hat viel über Ägypten gelesen und ist fasziniert von Eurer hohen Kultur. Er schwärmte mir in den höchsten Tönen vor, mit welcher Ehrfurcht Ihr Eure Toten bestattet und wie prachtvoll Ihr deshalb auch deren Grabstätten ausgestaltet. Da ich es mir nicht vorstellen konnte, wollte er mir unbedingt eine davon zeigen. Natürlich hat mein lieber Mann  die merkwürdige Geschichte über Ah-Hotep gelesen…“

„Wir ziehen es vor, von Qara, dem Frevler, zu sprechen“, unterbrach Hatum-Ra sie in ruhigem Ton. „Ah-Hotep war sein Ehrentitel, bevor er die Blasphemie beging, den Allerhöchsten zu verraten und sich dem Herrn der Wüste [1] zu unterwerfen.“

„Wie dem auch sei“, fuhr Megara in überaus freundlichem Ton fort. „Nachdem mein Mann unseren ägyptischen Sklaven darauf ansprach und dieser uns dann in ängstlichem Ton davor warnte, uns besser nicht mit der Geschichte von ‚Qara, dem Frevler‘ zu befassen, vermutete mein Gemahl, dass dessen Grab vielleicht noch nicht von schändlichen Grabräubern geplündert worden sei. Nach Serpa-Thots Worten hätte sich nämlich niemand mehr in die Nähe dieser Begräbnisstätte getraut aus Angst vor der angeblichen Rache des Frevlers.“

„Und Ihr, Weib, habt Ihr denn keine Angst vor dem Geist dieses Dämons?“ fragte Hatum-Ra.

„Nun, mein Mann und ich sind keine ängstlichen Naturen und halten die Geschichte über ‚Qara, den Frevler‘ für übertrieben“, erwiderte Megara selbstsicher und lächelte. „Vermutlich hat man sie nur in Umlauf gesetzt, damit niemand das Grab dieses vornehmen Ägypters anrührt. Immerhin ist er doch der Bruder eines Königs gewesen und seine letzte Ruhestätte daher sicherlich prachtvoll ausgestattet. Genau dies möchte mein Gemahl mir zeigen. Nur deshalb interessieren wir uns für das Grab des Frevlers.“

Der junge Priester musterte sie eindringlich, als frage er sich, wie viel von ihren Worten wahr sei. Dann jedoch meinte er: „Nun, Ihr scheint bereits etwas über die Person Qaras zu wissen. Wenn Ihr erlaubt, möchte ich Euch und Eurem Ehemann nun die vollständige Geschichte des Frevlers erzählen, damit Ihr selbst ermessen könnt, wie gefährlich er ist.“

Hatum-Ra warf noch einen Blick auf seinen Onkel, dann wandte er sich wieder den Fremden zu und begann:

„Qara war der jüngere Sohn des ehrwürdigen Königs Ra-Horeb I. und beneidete seinen älteren Zwillingsbruder Qasa um dessen Stellung als Thronfolger. In seiner Jugend unternahm Qara deshalb jede ihm mögliche Anstrengung, um den Vater davon zu überzeugen, dass er der geeignetere Anwärter für den Thron sei, indem er versuchte, den Bruder in vielen Dingen zu übertreffen. Sei es das Wagenlenken, sei es der Zweikampf oder der Umgang mit Pfeil und Bogen. Qara war auch sehr geschickt in all diesen Disziplinen, aber sein Zwillingsbruder stand ihm darin in keiner Weise nach – und so blieb die für Qara sehr unbefriedigende Situation erhalten. Nicht einmal der Vorschlag Qasas, sich den Thron mit dem Bruder zu teilen, wurde von dem Vater ernsthaft in Erwägung gezogen. Ra-Horeb I. wies dies mit dem Hinweis zurück, dass durch die Teilung der Herrschaft die Gefahr bestünde, dass das Land uneins würde und sich zersplittere. Stattdessen meinte der König, sein jüngerer Sohn könne doch die Laufbahn eines Priesters einschlagen und später als Hohepriester des Allerhöchsten seinem königlichen Bruder treu zur Seite stehen. Qara fügte sich dem Wunsch des Vaters und versah seinen Dienst im Tempel mehrere Jahre höchst ehrenvoll. Als der Vater starb und sein älterer Bruder den Thron als Ra-Horeb II. bestieg, schien sein früherer Neid auf Qasa nicht mehr vorhanden zu sein. Er gelobte dem Bruder Treue und stand ihm stets als wertvoller Ratgeber zur Seite, sobald dies von Ra-Horeb II. gewünscht wurde.

Einige Jahre danach, als Qara, der damals noch den Ehrentitel Ah-Hotep führte, bereits ergraut war, kam ein Fremder in die damalige Hauptstadt Memphis, die jetzt schon lange nicht mehr existiert, und berichtete seltsame Geschichten über das Geheimnis des ewigen Lebens. Auch Qara hörte davon und verlor keine Zeit damit, diesen Mann zu sich einzuladen. Niemand weiß, was der Fremde dem Hohepriester des Allerhöchsten über diese verbotenen Dinge erzählte. Jedenfalls muss es Qara überaus fasziniert haben. Der Fremde war am nächsten Tag bereits verschwunden, aber der Same zu dem blasphemischen Wunsche war erfolgreich ausgestreut. Qara erklärte dem stellvertretenden Hohepriester, sich für einen Monat in die Wüste zurückziehen zu wollen, um dort zur Ruhe zu kommen und das Geheimnis des ewigen Lebens zu ergründen. Natürlich versuchte sein Stellvertreter, ihm dieses Vorhaben auszureden, aber umsonst. Nicht einmal die Warnung vor der Gefahr, die durch Seth auf ihn in der Wüste lauern könnte, brachte Qara von seinem Plan ab.“

Hatum-Ra hielt einen Augenblick in der Erzählung inne. Offensichtlich kostete es ihn große Überwindung, von all diesen Dingen zu sprechen. Diese Pause nutzte Megara, um zu fragen: „Warum nennt ihr den Wunsch, das Geheimnis des ewigen Lebens ergründen zu wollen, blasphemisch?“

Der junge Priester starrte sie daraufhin einen Moment fassungslos an, dann zog er seine Augenbrauen nach oben und erklärte in hochmütigem Ton: „Es steht einem Menschen nicht zu, göttliches Wissen besitzen zu wollen! Wenn es den gütigen Göttern gefällt, dann werden sie es demjenigen, den sie für würdig dafür erachten, nach seinem Tode zugänglich machen.“

Megara musste sich sehr beherrschen, um ernst zu bleiben. Was, so fragte sie sich selbst, sollte es einem Menschen nützen, zu erfahren, wie man ewig lebte, wenn er bereits gestorben war? Vermutlich hatte Drusus recht gehabt, als er darauf hinwies, dass dieses Gerede vom ewigen Leben, das Sorex so zu faszinieren schien, sich auf das Jenseits bezog und nichts mit dem diesseitigen Leben zu tun hatte.

„Was ist dann passiert?“ fragte in diesem Augenblick der alte Römer, der der Erzählung des jungen Priesters bis jetzt aufmerksam gelauscht hatte. „Nach dem Text, den ich gelesen habe, ging Qara in die Wüste und kehrte nach einem Monat unversehrt zurück.“

„Das ist richtig!“ bestätigte Hatum-Ra und nickte. Dann fuhr er fort: „Er schien ganz der Alte zu sein und die Priesterschaft sowie seine Verwandten freuten sich natürlich, dass ihm in der gefährlichen Wüste nichts passiert war. Doch diese Annahme sollte sich bald als Irrtum herausstellen. Unter dem Vorwand, sehr müde von der Wanderung zu sein, zog Qara sich in sein Gemach zurück und kam dort am nächsten Tag erst wieder nach Einbruch der Dunkelheit heraus. Sofort ging er in den Tempel des Allerhöchsten, um mit diesem – wie er behauptete – im innigen Gebet Zwiesprache zu halten. Niemand wunderte sich darüber, denn er war schließlich einen ganzen Monat fort gewesen; und da er der Hohepriester war, konnte er ungehindert zum Allerheiligsten vordringen, wo er sich dann mehrere Tage lang einschloss. Als er endlich wieder daraus hervorkam, teilte er den gerade vor der Tür befindlichen Priestern mit, dass der Allerhöchste – die Majestät dieses Gottes verbietet es mir, seinen Namen in den Abendstunden auszusprechen [2], aber da ihr die Geschichte kennt, wisst Ihr gewiss, von wem die Rede ist – ein Menschenopfer fordere. Als Grund gab Qara an, dass Memphis großes Unheil drohe, das nur durch ein solches Opfer abgewendet werden könne. Natürlich schenkte man ihm Glauben. Er war schließlich der oberste Priester des Allerhöchsten, und so opferte sich einer der vielen Ägypter freiwillig für das Wohl seines Volkes…“

Wieder hielt Hatum-Ra in seiner Erzählung inne, als könne er nicht weitersprechen, und sah zu seinem Onkel. Dieser räusperte sich daraufhin kurz und erklärte: „Dieses Opfer, das jener gute Mensch brachte, um Unheil von Memphis und seinen Mitmenschen abzuwenden, war jedoch sinnlos gewesen. Denn die Majestät des Allerhöchsten hat niemals ein solches Opfer verlangt – doch das fand man erst sehr viel später heraus, nachdem viele andere seinem Beispiel folgten. Die Herzen meiner Landsleute trauern noch heute um jene Vorfahren, die sich damals freiwillig dem Opfertod hingaben… einem sinnlosen Opfer, das nur die Gier des elenden Frevlers befriedigte.“

„Wie hat man Qara entlarvt?“ fragte Sorex. „Ihr sagtet ja selbst, dass er der Hohepriester von Memphis war und man keinen Grund sah, an seinen Worten zu zweifeln.“

„Das ist richtig!“ gab Hatum-Ra zu. Er schien wieder in der Lage zu sein, mit seiner Erzählung fortzufahren und tat dies jetzt auch. „Das Unheil, das Qara angekündigt hatte, blieb natürlich aus und der Frevler verkündete voller Stolz, dass man dies nur dem dargebrachten Menschenopfer zu verdanken hätte. Dementsprechend war man ihm und dem Hohepriester sehr dankbar dafür, dass Memphis von großem Unglück verschont blieb. Jedoch erschien der Priesterschaft des Allerhöchsten seltsam, dass Qara gar nicht mehr aus dem Allerheiligsten des Tempels herauskommen wollte, sondern nur ab und zu abends erschien, Anweisungen gab und sich dann zurückzog. Auf Befragen antwortete er stets, in religiöser Andacht mit der Majestät des Allerhöchsten zu verschmelzen und sich daraus nur ungern lösen zu wollen.“

„Das klingt gerade so, als sei er das Vorbild eines vollkommenen Priesters gewesen“, murmelte Sorex.

„Ja, das hat man zuerst auch angenommen und ihn dafür bewundert“, sagte Hatum-Ra, doch er schien traurig zu sein. Dann schüttelte er leicht den Kopf. „Er hat alle erfolgreich täuschen können. Leider ist man ihm zu spät auf die Schliche gekommen, sonst hätten nicht so viele andere Menschen ihr Leben für seine Gier lassen müssen…“

„Was war denn eigentlich mit ihm?“ wollte Megara nun neugierig wissen. „Was stimmte nicht mit Qara?“

„Hört die Geschichte des Frevlers weiter, dann wird es Euch hoffentlich klar“, erwiderte Hatum-Ra und fuhr dann fort: „Wie gesagt, alle in Memphis bewunderten den religiösen Eifer Qaras, der sich fortwährend im Allerheiligsten des Tempels aufhielt und dieses nur dann verließ, um der Priesterschaft die angeblichen Wünsche der Majestät des Allerhöchsten mitzuteilen. Nach dem ersten Menschenopfer dauerte es eine Weile, bis Qara wieder erschien und erneut behauptete, der Allerhöchste fordere ein weiteres Opfer. Auch diesmal wurde dieser Forderung entsprochen und der nächste Freiwillige verlor sein Leben, um Memphis zu retten. – Auf diese Weise ging es eine Zeitlang weiter. Und jedes Mal war man davon überzeugt, Unheil von Memphis und seinen Bewohnern abgewendet zu haben. Doch dann fiel einem aus der Priesterschaft auf, dass Qara allmählich jünger zu werden schien. Erst schenkte er diesem Umstand keine große Beachtung, sondern erwähnte es lediglich einem anderen Priester gegenüber und meinte, dass dies sicherlich darauf zurückzuführen wäre, dass der oberste Priester sich in solch lobenswerter Weise der religiösen Andacht hingab und darüber sogar vergaß, Nahrung zu sich zu nehmen. Die alten Texte beschreiben Qara zu diesem Zeitpunkt als asketischen Menschen, der stark an Gewicht verlor und dessen Wangen wohl aufgrund dessen stark eingefallen waren, während seine Haut sehr bleich wirkte. Wenn man damals nur ein wenig aufmerksamer auf diese Merkmale geachtet hätte…“

Hatum-Ra seufzte kurz auf, schenkte den Fremden einen traurigen Blick und erzählte dann weiter: „Nun, gewiss hätte Qara seine frevlerischen Taten noch sehr viel länger verbergen können, wenn seine Gier nicht größer gewesen wäre als seine Vorsicht. Da er sich jedoch in Sicherheit wähnte, ließ er sie allmählich fallen und begann, in immer kürzeren Abständen Menschenopfer zu fordern. Nur deshalb fiel bald allen aus der Priesterschaft auf, dass Qara nach jedem dargebrachten Menschenopfer immer jünger zu werden schien. Sein graues Haar gewann seine ursprüngliche dunkle Farbe zurück, die Falten verschwanden aus seinem Antlitz und auch sein Körper schien wieder kraftvoller zu werden.“

„Das ist ja unglaublich!“ entfuhr es Sorex. Dann fragte er begierig: „Wie war das möglich?“

„Genau das wollten die Priester des Allerhöchsten auch erfahren“, sagte Hatum-Ra. „Doch sie scheuten sich, Qara direkt danach zu fragen, sondern fanden sich zu einer geheimen Besprechung außerhalb des Tempels zusammen. Der stellvertretende Hohepriester erinnerte sich wieder daran, weshalb Qara eigentlich für einen Monat in die Wüste verschwunden war und mutmaßte, dass irgendetwas dort mit ihm passiert sei. Noch während sie gemeinsam darüber nachsannen, was mit ihm los sein könnte, erreichte sie die Nachricht eines Novizen, dass der Hohepriester im Namen des Allerhöchsten ein neues Menschenopfer gefordert hätte, das in zwei Tagen zu erbringen sei. Wie üblich sollte man den entsprechenden Freiwilligen dann mit verbundenen Augen vor den Eingang des Allerheiligsten führen, damit Qara ihn abholte und auf dem Altar der Majestät des Allerhöchsten bei Sonnenaufgang das Opferritual durchführte.“

„Wenn das Opfer erst am nächsten Morgen in der Frühe dargebracht werden sollte, warum verlangte Qara, es bereits am Abend bei ihm abzuliefern – und warum musste man dem Opfer die Augen verbinden?“ wunderte sich Megara.

„Nun, Weib“, gab Hatum-Ra in hochmütigem Ton zurück. „Kein normal Sterblicher darf den Glanz der Majestät des Allerhöchsten in seinem irdischen Dasein schauen; und Qara begründete die Auslieferung des Freiwilligen am Abend damit, dass er diesen mit Heiligen Sprüchen und besonderen Ritualen von allen Unreinheiten befreien müsse, ehe er ihn bei Sonnenaufgang – wenn die Majestät des Allerhöchsten wieder aus dem Körper der großen Nut aufersteht – als Opfer darbrachte.“

„Wenn ich es recht verstehe, dann war die Begründung des Frevlers Qara jedoch eine Lüge“, mischte sich nun Sorex ein. „Allerdings steht in meinem Text eine etwas andere Version dieser Geschichte. Demnach haben die Priester ihn direkt gefragt, wie es komme, dass er immer jünger werde und…“

„Natürlich existiert auch diese Variante der Geschichte“, unterbrach ihn Schest-Aron. „Aber es handelt sich dabei um die volkstümliche Erzählung. Schließlich darf man der einfachen Bevölkerung gegenüber nicht zugeben, dass auch die Priesterschaft Phasen der Ratlosigkeit durchmacht. Das Volk würde sonst alle Zuversicht in die Priester verlieren, deren Aufgabe schließlich darin besteht, die Ordnung der Welt aufrechtzuerhalten, damit nicht das Chaos über uns hereinbricht.“

Hatum-Ra hatte sehr aufmerksam diesem Wortwechsel gelauscht und Megara vermeinte, ein kleines spöttisches Lächeln über dessen Züge gleiten zu sehen, ehe er erneut das Wort ergriff.

„Nun, Fremder, Ihr habt das ungeheure Privileg, die wahre Geschichte über den Frevler Qara zu erfahren“, sagte der junge Priester herablassend. „So hört denn, wie es weiterging. Der ratlosen Priesterschaft widerstrebte es, bereits zwei Tage nach dem gerade dargebrachten Opfer, erneut ein Menschenleben hinzugeben, weil die Majestät des Allerhöchsten es angeblich fordere. Einer der jüngeren Priester wagte tatsächlich anzuzweifeln, dass der Allerhöchste dies verlange, was man nur aufgrund der Behauptungen des Hohepriesters wisse. Bevor ihn Qaras Stellvertreter zurechtweisen konnte, hatten sich mehrere der anderen Priester der Meinung des jüngeren angeschlossen. Im Verlauf der weiteren Beratungen kam man schließlich überein, dass sich einer der Priester in nächster Nähe des Eingangs des Allerheiligsten verbergen und hineinschleichen solle, sobald Qara die Tür öffnen würde, um das Opfer zu holen.“

„Wie verträgt sich das Eindringen eines einfachen Priesters mit dem Umstand, dass nicht jeder den Glanz des Allerhöchsten schauen darf?“ wagte Megara ironisch einzuwenden.

Ein ärgerlicher Blick der beiden Ägypter traf sie und Schest-Aron antwortete in strengem Ton: „Nur einem normal Sterblichen ist es verboten – doch ein Priester besitzt das Privileg, sich in der Nähe des Allerhöchsten aufzuhalten, vor allem, wenn es darum geht, einem Verbrechen auf die Spur zu kommen!“

„Und der auserwählte Priester besaß den Segen der Majestät des Allerhöchsten, denn es gelang ihm, den Frevel des Qara aufzudecken“, erklärte Hatum-Ra. „So hört denn weiter: Als Qara nun abends die Tür des Allerheiligsten öffnete, schlüpfte der Priester rasch hinein und verbarg sich hinter einer Säule, während der Frevler sein bedauernswertes Opfer hereinholte, hinter diesem die Tür verschloss und es dann langsam zum Altar der Majestät des Allerhöchsten führte, wo er es behutsam hinlegte. Der Priester, der von dem Frevler in seiner Gier nicht bemerkt wurde, konnte von seinem Versteck aus alles genau beobachten. Er erwartete eigentlich, dass Qara nun die Reinigungsriten an dem Freiwilligen vollzog, aber nichts dergleichen geschah. Vielmehr beugte sich der heuchlerische Hohepriester nun über das Opfer, welches kurz darauf einen Schrei ausstieß und dann rasch erschlaffte, während Qara weiterhin über ihn gebeugt blieb. Es verging eine Weile, in der der Priester sich fragte, was genau der Hohepriester dort eigentlich machte. Dann endlich richtete sich jener auf und der Spion erkannte, dass an seinen Mundwinkeln Blut klebte. Ein Blick auf das Opfer, dessen Kehle zerrissen war, machte dem Priester schlagartig klar, dass Qara kein Mensch mehr war, sondern ein Blutdämon, der sie bisher alle erfolgreich getäuscht hatte…“

„Wie gelang es dem Priester, unbeschadet aus dem Allerheiligsten herauszukommen?“ fragte Sorex neugierig. „Hatte der Dämon ihn denn nicht bemerkt?“

„Qara, der Frevler, fühlte sich zu sicher und glaubte nicht, dass einer seiner Priester es wagen würde, sich ohne seine Erlaubnis in das Allerheiligste zu begeben“, erwiderte Hatum-Ra. „Und außerdem ruhte auf unserem Bruder der Segen der Majestät des Allerhöchsten, dem es nicht gefiel, dass sich ein heimtückischer Priester seines ehrenvollen Namens bediente, um Morde zu begehen.“

„Dieser Dämon ist sicherlich sehr mächtig gewesen“, meinte der Römer. „Wie ist es der Priesterschaft nur gelungen, ihn gefangen zu setzen?“

„Nun, der Frevler mag in seiner dämonischen Natur zwar mächtig gewesen sein, doch gegen die Macht des Allerhöchsten, gepriesen sei er tausendfach, kam er nicht an!“ rühmte Hatum-Ra. „Und so war es auch die strahlende Kraft, welche den dunklen Dämon in seine Schranken zurechtwies, auf dass man ihn bannen konnte.“

„Aber wie?!“ fragte Sorex erneut. „Wie haben die damaligen Priester das vollbracht?“

Hatum-Ra lächelte und fuhr fort: „Von dem Allerhöchsten mit der nötigen Stärke versehen, verhielt unser Bruder, der das Risiko auf sich nahm, hinter das Geheimnis Qaras zu kommen, sich ruhig und besonnen. Er konnte zwar nichts mehr für den armen Menschen tun, dessen Blut sich der Dämon einverleibt hatte, aber er wurde Zeuge, wie der Frevler sich in einen schön geschmückten Sarkophag, den er hinter dem Bildnis der Macht des Allerhöchsten versteckt hielt, begab, sobald er spät in der Nacht den Leichnam des Opfers auf dem Altar verbrannt hatte. Der Priester wartete noch eine ganze Weile, bis er es schließlich wagte, sich leise aus dem Raum des Allerheiligsten zu schleichen, und verlor keine Zeit, seinen Mitbrüdern von dem ungeheuren Frevel, den Qara am Altar der Majestät unseres höchst verehrten Gottes beging, zu berichten. Entsetzt erkannte nun auch der stellvertretende Hohepriester, dass sich der Bruder des Königs wohl der Macht des Wüstenherrn unterworfen haben musste, welcher ihn zur Belohnung in einen unsterblichen Blutdämon verwandelte. Noch in derselben Stunde begann man, einen Plan zu ersinnen, wie man dem Treiben dieses gefährlichen Wesens ein Ende setzen könne und der Allerhöchste selbst sandte Licht in den Geist meiner Mitbrüder. Ihrer Besonnenheit und ihrem Mut verdanken wir, dass die Welt damals nicht in Chaos versank, sondern die Ordnung wiederhergestellt wurde…“

„Doch sagt mir, wie man Qara besiegte?“ drängte Sorex nun ungeduldig, denn er konnte es kaum erwarten zu hören, was geschehen war. Immerhin musste er Vorkehrungen treffen, um sich selbst später schützen zu können. „Zu welchen Mitteln griffen die Priester, um den Dämon zu besiegen?“

„Zum Licht des Allerhöchsten selbstverständlich!“ entgegnete Hatum-Ra selbstzufrieden.

„Licht des Allerhöchsten?“ fragte der Römer verständnislos.

„Das Sonnenlicht, Liebster“, erklärte Megara daraufhin.

„Wie könnt Ihr es wagen, in dieser späten Stunde den Namen der Majestät des Allerhöchsten anzudeuten, Weib?!“ herrschte der junge Priester sie an.

„Du solltest ihr verzeihen, Neffe“, wandte sich Schest-Aron sogleich in ruhigem Ton an ihn. „So wie die Majestät des Allerhöchsten dieser Fremden gewiss verzeiht, denn unsere Kultur ist ihr weitgehend verschlossen.“

„Es ist verboten, den Namen des Allerhöchsten nachts auszusprechen!“ zischte Hatum-Ra Megara nochmals an.

„Wenn es sich so verhält, tut es mir leid“, erwiderte die Griechin entschuldigend, aber der wütende Blick, den sie dabei dem jungen Priester zuwarf, strafte diese Worte Lügen. Hatum-Ra, dem das nicht entging, gab sich jedoch scheinbar mit ihrer Entschuldigung zufrieden. Er nickte kurz und erzählte dann weiter: „Sobald die Majestät des Allerhöchsten am Himmel wieder auferstand, versammelte sich seine Priesterschaft und öffnete alle Türen des Tempels, damit dieser von Licht durchflutet war. Dies ist es, was der Blutdämon wirklich fürchtet. Natürlich wurde auch die Tür zum Allerheiligsten aufgetan und man trug den Sarkophag, in dem der Frevler Qara schlief, vor den Altar, um ihn dort zu öffnen, damit das Licht des Allerhöchsten den Dämon verbrannte. Doch man hatte Qara unterschätzt: Was man auch unternahm, der Totenschrein blieb fest verschlossen. Selbst mit einem Brecheisen ließ sich der Sarkophag des Dämons nicht öffnen. Sogar der Versuch, ihn zu verbrennen, gelang nicht. Vermutlich hatte der Frevler seine Ruhestätte mit einem überaus starken Schutzzauber belegt.“

„Dieser Qara scheint ziemlich klug gewesen zu sein“, mutmaßte Sorex daraufhin.

„Nicht klug, Römer“, widersprach Schest-Aron. „Er war heimtückisch und listig, mit der Schläue derer versehen, die dem Herrn der Wüste dienen. Doch das nützte ihm nichts.“

„Nein, denn wenn sich auch der Totenschrein des Verfluchten nicht öffnen ließ, so konnte man ihn doch daran hindern, je wieder aus diesem herauszukommen“, erklärte Hatum-Ra sofort. „Man übergoss den Sarkophag Qaras mit heißem Blei, versah ihn mit mehreren Siegeln der Majestät des Allerhöchsten, auf die man Bannsprüche gegen Dämonen legte, und umwand ihn mit starken Tauen, welche ebenfalls durch Segenssprüche geheiligt waren. Danach versenkte man den Schrein mit dem Frevler in einer vor dem Altar ausgehobenen, tiefen Grube. Möge der Verfluchte auf immerdar in diesem Gefängnis ruhen!“

Mit diesen Worten schloss Hatum-Ra seine Erzählung und blickte die Fremden nun abschätzig an.

„Ich hoffe, mein Neffe konnte Euch klarmachen, wie gefährlich es ist, sich dem verfluchten Ort, an dem ‚Qara, der Frevler,‘ gebannt ist, auch nur zu nähern“, ließ sich nun der alte Bibliothekar wieder vernehmen.

„Wollte man dies tatsächlich tun, müsste man erst einmal wissen, wo dieser Ort sich befindet“, erwiderte Sorex und schenkte Schest-Aron einen eindringlichen Blick. „Es ist mir zwar bisher nicht gelungen, Aufzeichnungen darüber zu finden, aber gewiss beherbergt diese Bibliothek Schriften darüber, nicht wahr?“

„Nein“, antwortete der Bibliothekar und lächelte matt. „Da niemand in unserem Land Interesse daran hat, einen gefährlichen Blutdämon wieder zum Leben zu erwecken, wurden jedwede Hinweise auf die uralte Hauptstadt getilgt. Lediglich die Geschichte von ‚Qara, dem Frevler‘, wird von Generation zu Generation weitergegeben. Man darf nie vergessen, wie gefährlich er ist und welche Gefahren in der Wüste auf einen lauern können.“    

„Aber was kann es schon schaden, sich einmal die Überreste des uralten Memphis anzusehen?“ fragte der Römer leichthin.

„Wenn von dieser Geisterstadt überhaupt noch etwas übrig ist“, meinte Schest-Aron.

„Nun, immerhin wird sich dort wohl noch der alte Tempel des Allerhöchsten befinden, nicht wahr?“ spottete Sorex, worauf sich der Bibliothekar und sein Neffe einen beunruhigten Blickwechsel lieferten, was weder dem Römer noch seiner Begleiterin entging. „Alte Gebäude halten sich doch über Jahrhunderte hinweg, nicht wahr? Und nach meinen Informationen bannten eure Vorfahren Qara nicht nur im Allerheiligsten, sondern zogen darüber hinaus eine hohe Mauer um den gesamten Tempel. Diese dürfte kaum zu übersehen sein.“

„Selbst wenn es so ist, Fremder, was wollt Ihr an dem entweihten Ort?“ fragte Hatum-Ra lauernd.

„Nun, meine Gefährtin sagte es Euch bereits“, antwortete Sorex. „Wir wollten uns einmal ein unversehrtes Grab betrachten.“

„Es ist höchst frevelhaft, die Ruhestätte eines Toten zu betreten“, ermahnte ihn der junge Priester in strengem Ton. „Darüber hinaus kann man keineswegs davon sprechen, dass Qara ein Grab besitzt! Vielmehr wurde er an einem geheiligten Ort gebannt, den er durch seinen Blutfrevel entweihte! Gleichzeitig wurde dadurch nicht nur der Tempelbezirk, sondern auch die gesamte alte Hauptstadt verflucht, so dass seine Bewohner gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und sich woanders ein neues Leben aufzubauen. Seitdem interessiert es niemanden mehr, wo sich der verfluchte Ort befindet, der nun zum Machtbereich des Herrn der Wüste gehört! Ihr seht, Fremde, Euer Vorhaben ist also aussichtslos!“

„Ihr solltet von Eurem Vorhaben ablassen“, bekräftigte Schest-Aron die Worte seines Neffen in mildem Ton. „Wenn Ihr Euch mit unserer Kultur vertraut machen wollt, dann schaut Euch hier im Museion um, seht Euch Alexandria und andere Städte Ägyptens genau an. Ich bin sicher, dass sich dabei vieles von den Schönheiten unseres Landes Eurem Auge offenbart.“

„Ihr könnt mich nicht täuschen!“ meinte Sorex in höhnischem Ton und ließ seinen Blick zu dem jungen Priester schweifen. „Ich bin davon überzeugt, dass zumindest Euer Neffe mir einen Hinweis darauf geben kann, wo sich in etwa das uralte Memphis befunden hat. Es wäre besser für euch beide, mir bei meiner Suche behilflich zu sein, denn ich bin ein ehemaliger römischer Offizier und sehr gut mit dem Proconsul von Alexandria bekannt. Ein Wort von mir und er könnte euch Unannehmlichkeiten bereiten. Respektlosigkeiten von Unterworfenen gegenüber einem römischen Staatsbürger werden vom Imperium nämlich streng bestraft!“

Erneut tauschten die beiden Ägypter einen Blick aus, dann seufzte Hatum-Ra und sagte: „Also schön, Fremder, Ihr habt gewonnen. Allerdings ist mir nur der ungefähre Standpunkt der uralten Hauptstadt bekannt. Wenn Ihr Euch damit zufriedengeben wollt?“

„Aber natürlich!“ erwiderte Sorex grinsend. „Ich höre…“

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[1] Herr der Wüste = Damit ist der Gott Seth gemeint

[2] Da Ra (die Sonne) als Tagesgestirn nachts im Inneren der Göttin Nut ruhte und erst am nächsten Morgen von ihr neu geboren wurde, war es verboten, seinen Namen während seiner nächtlichen Abwesenheit öffentlich auszusprechen. Aufgrund dieses Tabus umschrieben die Ägypter, wenn es unumgänglich war, von Ra zu sprechen, ihn nur ehrfurchtsvoll als „die Majestät dieses Gottes“. Im Verlauf der Geschichte erlaube ich mir, auch von der  >Majestät des Allerhöchsten<  zu sprechen.

 

Anmerkungen der Autorin:

Die Kinder aus einem Konkubinat sind zunächst einmal mit der Mutter verwandt. Doch der Vater kann sie durch Adoption zu seinen legitimen Erben machen.

Es gibt verschiedene Mythenerzählungen um Isis und Osiris. In diesem Sinne halte ich mich nicht unbedingt an die bekannte Überlieferung des Plutarch, sondern gebe die Geschichte nur verkürzt wieder.

Nochmal zur Erinnerung: Mythologien sind meist recht grausam!

Und jetzt wünsche ich Euch viel Vergnügen beim Lesen!

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Es war tiefste Nacht, als Sorex und Megara aus dem Museion traten. Der alte Römer wirkte höchst zufrieden, doch seine Geliebte schüttelte langsam den Kopf, als sie ihn nun wieder ansah.

„Der junge Priester hat uns da wirklich eine hanebüchene Geschichte aufgetischt“, wisperte Megara ihm in höhnischem Ton zur. „Du solltest ihm nicht trauen. Es war offensichtlich, dass weder er noch sein Onkel wollten, dass wir uns mit der Geschichte des Frevlers Qara befassen oder gar uns auf die Suche nach dem Ort begeben, an dem er der Legende nach angeblich gebannt sein soll. Bestimmt hat Hatum-Ra dir auch falsche Angaben bezüglich des uralten Memphis gemacht.“

„Das wird er nicht gewagt haben“, widersprach Sorex selbstsicher. „Dazu haben diese Ägypter viel zu viel Angst vor uns.“

Sein Blick fiel auf Serpa-Thot, der sich unweit von ihnen an einer Mauer gelehnt aufhielt und sie noch nicht bemerkt hatte.

„Hey da, Serpa!“ sprach der Römer ihn in etwas lauterem Ton an, worauf der kleine Ägypter aufschreckte und in seine Richtung sah. Kaum hatte er Sorex erkannt, eilte er sofort auf ihn zu und fragte in unterwürfigem Ton: „Ja, Herr?“

„Meine Gefährtin meinte, deine Landsleute hätten keinen Respekt vor meinem Volk“, behauptete der alte Veteran. „Was sagst du dazu?“

„Aber natürlich respektiert jeder Ägypter die Römer!“ beeilte sich der Sklave in ängstlichem Ton zu sagen, wobei er Megara mit großen Augen ansah.

„Da hörst du es selbst!“ wandte sich Sorex daraufhin in triumphierendem Ton an die Griechin. „Und nun komm, lass uns in das behagliche Haus von Drusus zurückkehren!“

Der alte Römer bot Megara seinen Arm, die ihn stumm ergriff. Doch sie war äußerst unzufrieden damit, wie leicht Sorex sich von dem jungen Priester hatte abspeisen lassen, der ihnen eine Wegbeschreibung auf einer Pergamentrolle aufgemalt und ihnen lediglich versichert hatte, wenn sie dieser Beschreibung nur folgten, könnten sie den entweihten Ort nicht verfehlen. Die Griechin fragte sich, wie man nur dermaßen selbstsicher und von sich überzeugt sein konnte wie Sorex. Sie an seiner Stelle hätte Hatum-Ra festgesetzt und ihn gezwungen, als Führer auf ihrer bevorstehenden Reise zum uralten Memphis zu dienen.

Serpa-Thot folgte seinem Herrn und dessen Gefährtin schweigend. Er brannte zwar vor Neugier darüber, ob es dem Bibliothekar und dessen Neffen gelungen war, den alten Römer von seinem Vorhaben abzubringen, doch er würde sich gedulden müssen, bis Sorex ihm davon erzählte…

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Fabius Maiorus Graeccus staunte nicht schlecht, als ihn eines Morgens ein Bote aufsuchte, der ihn im Namen von Theodoros Aigikoreus darum bat, mit der nächsten Post nach Rom eine Nachricht für Leandros Aigikoreus sowie ein kleines Paket für Melina Aigikoreusa mitzunehmen.

„Was kann dein Herr schon für Nachrichten an seinen Sohn und seine Tochter haben?“ höhnte der Statthalter. „Wie du weißt, befindet sich der Älteste deines Herrn in einem unserer Ausbildungslager, wo man ihn zu einem römischen Soldaten erzieht. Theodoros Aigikoreus kann doch nicht im Ernst glauben, dass man die Sendungen, die er seinen Kindern schickt, einfach unkontrolliert weiterleitet! Im Übrigen entzieht es sich meiner Kenntnis, wo sich die hübsche Melina befindet.“

„Sie ist bei Lucius Marcellus“, erklärte ihm der griechische Bote daraufhin.

„Wirklich?“ fragte Fabius ungläubig und starrte sein Gegenüber an.

„Ja, Herr, und er hat sie zu seiner Gefährtin gemacht“, antwortete der Grieche.

„Tatsächlich?!“ der römische Statthalter konnte es kaum fassen. Zwar war ihm schon klar gewesen, dass der Legatus Gefallen an der Tochter des Rebellenführers gefunden hatte, aber dass er sie dann tatsächlich zu seiner Geliebten nahm, schien ihm schier unglaublich. Sie war so jung, gerade erst zur Frau erblüht. Dem gegenüber erschien Marcellus wie ein alter Mann. Er konnte nicht sehr viel jünger als Theodoros sein.

„Woher hast du diese Information?“ fragte Fabius nach.

„Melina Aigikoreusa selbst schrieb ihrem Vater davon“, erwiderte der Bote.

„So, so? Na schön! Was also will Aigikoreus seiner Tochter schicken?“

„So viel mir bekannt ist, befindet sich in dem kleinen Paket ein von den Priestern des Zeus angefertigtes Schutzamulett für die Tochter meines Herrn. Jeder Vater wünscht doch nur das Beste für seine Kinder, nicht wahr?“

Fabius nickte und murmelte dann: „Gut, gut. Leg die Sachen auf den Tisch. Sie werden mit der nächsten Sendung nach Rom gehen!“

„Vielen Dank, Herr!“ erwiderte der Grieche, kam der Aufforderung des Statthalters nach und verschwand dann umgehend, während der Römer nachdenklich auf die kleine Papierrolle für Leandros und das Päckchen für Melina blickte und dann kaum merklich den Kopf schüttelte. Er fragte sich, was Theodoros sich davon versprach. Seine Kinder würde er nicht mehr wiedersehen, so lange er lebte – und was sollte das Schutzamulett seiner lieblichen Tochter jetzt noch nützen? Sie gehörte nun Lucius Marcellus, der sie zu seinem Bettschatz gemacht hatte. Sicherlich war dies ein schwerer Schlag für den stolzen Aigikoreus gewesen und erneut empfand Fabius ein wenig Mitleid mit dem Alten. Doch auch ein Schutzamulett würde die Tatsache nicht ungeschehen machen können, dass Melina jetzt als Geliebte von Marcellus in dessen Haus in Rom leben musste…

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Während ihre Herrschaften auf dem Land weilten, führte Philine in Rom den Haushalt für ihren geliebten Herrn Lucius, dem sie in tiefer Zuneigung verbunden war. Die griechische Sklavin war überaus froh gewesen, als er sich von seiner arroganten Ehefrau trennte und Melina als neue Gefährtin wählte. Das junge Mädchen war immer noch unsicher in dem für sie fremden Land und würde sich gewiss leicht von ihr lenken lassen und ihren Vorschlägen folgen. Und da Melina so ein freundliches Wesen besaß, gönnte sie ihr von Herzen die Liebe des Patrons.

Philine war klug genug, um zu wissen, dass Lucius eine einfache Sklavin wie sie niemals zu seiner Konkubine machen würde, obwohl er sie sehr mochte und mit ihr ein paar Jahre vor seiner Heirat mit Selene eine sexuelle Affäre unterhielt. Nein, Lucius war zu sehr auf seinen Stand bedacht, zu arrogant, um eine engere Bindung zu einer einfachen Frau auch nur in Betracht zu ziehen. Bei einer griechischen Adligen wie Melina hingegen, selbst wenn sie zunächst als Geisel nach Rom gekommen war, sah das völlig anders aus. Philine wusste, dass die junge Dame in den Augen ihres Herrn ihm als gleichrangige, adäquate Gefährtin erschien – genau die richtige Frau, um ihm einen standesgemäßen Erben zu schenken, den er gleich nach der Geburt adoptieren könnte. Denn das war eins seiner größten Anliegen an Melina, auch wenn er es nicht aussprach.

Philine konnte ihrem Herrn deshalb nicht böse sein. Sie liebte ihn so, wie er war, und sie gönnte es ihm, dass er wohl zum ersten Mal in seinem Leben einem anderen Menschen tiefe Zuneigung entgegenbrachte. Melina konnte sich wirklich glücklich schätzen, dass Lucius sie liebte.

Die griechische Sklavin seufzte. Sie hatte die junge Frau ebenfalls ins Herz geschlossen und nicht vergessen, dass diese versucht hatte, sie vor Selene in Schutz zu nehmen.

Wie sehr unterschied Melina sich doch von Selene. Obwohl von edler Geburt, machte sie kein Aufhebens davon, sondern war zu jedermann freundlich. Gerade deshalb gewann sie die Sympathien der meisten Menschen, die mit ihr bekannt wurden. Natürlich tat man einem so reizenden Geschöpf gern einen Gefallen. Aus diesem Grunde war Philine jetzt auch unterwegs zu dem Sklavenhändler Decimus, um dort ihre Suche nach Liuba zu beginnen.

Von weitem erblickte sie den ihr wohlbekannten Stand des Decimus, in dem sie vor vielen Jahren selbst zu verkaufen gewesen war und das Glück hatte, von Lucius Marcellus erworben zu werden. Es war ein seltsames Gefühl, jetzt als Außenstehende auf all die anderen Menschen zu sehen, die man als Sklaven feilbot. Eine innere Traurigkeit beschlich Philine. So viele Leben, über die andere herrschten. Wie viele tragische Schicksale verbargen sich wohl hinter all den zum Verkauf stehenden Unfreien? Vielleicht gelang es ihr, wenigstens die kleine Liuba wiederzufinden, so wie Melina es sich wünschte, um möglicherweise deren Los zum Besseren ändern zu können. Sie hoffte nur, dass dem Mädchen nichts Schlimmes widerfahren war.

Als Philine an dem Verkaufsstand von Decimus ankam, beriet der Händler gerade einen interessierten Käufer, und sie wartete deshalb geduldig, bis der Verkauf abgeschlossen war. Erst dann wandte sich Decimus, dem die griechische Sklavin natürlich längst aufgefallen war, an sie: „Grüß dich, Philine! Weshalb bist du hier? Hat Lucius Marcellus etwas an den neu erworbenen Sklavinnen zu beanstanden?“

„Nein, wir sind mit ihnen äußerst zufrieden“, erwiderte die Angesprochene. „Aber erinnert Ihr Euch vielleicht noch an eine junge Sklavin namens Liuba? Mein Herr hat sie vor einigen Jahren bei euch gekauft, aber auf Drängen seiner Gattin wurde sie wieder zurückgebracht.“

Decimus überlegte eine Weile, dann meinte er: „Ach ja, ich kann mich dunkel daran erinnern. War das nicht dieses angeblich wilde Kind, das die Tochter deines Herrn andauernd zu Dummheiten angestiftet haben soll?“

„Ja, das hat die damalige Ehefrau meines Herrn gesagt“, gab Philine zu und lächelte. Sie spürte ein wenig Hoffnung in sich aufsteigen. Wenn Decimus sich an solche Kleinigkeiten erinnerte, wusste er vielleicht auch noch, an wen er Liuba damals weiterverkauft hatte.

„Warum fragst du nach all den Jahren nach diesem Mädchen?“ wunderte sich Decimus.

„Nun, meine neue Herrin ist sehr angetan von der kleinen Sidori“, behauptete Philine. „Bei einem längeren Gespräch stellte sich nun heraus, dass Liuba mit ihr verwandt ist. Deshalb möchte meine neue Herrin dieses Mädchen gerne wieder zurückkaufen, wenn es geht.“

„Hm, das dürfte schwierig werden“, brummte der Sklavenhändler nachdenklich. „Damals hab ich sie zwar an einen Römer verkauft, aber dessen Namen weiß ich nicht mehr.“

„Ach, so ein Pech!“ seufzte Philine. „Da wird unsere neue Herrin gewiss sehr betrübt sein und ich mag mir gar nicht ausmalen, wie Lucius Marcellus reagieren wird, wenn er den Grund dieser Traurigkeit erfährt.“

„Ich hab schon davon gehört, dass dein Herr eine junge Konkubine besitzt“, meinte Decimus und warf einen unsicheren Blick auf die griechische Sklavin. „Und nach allem, was man mir zugetragen hat, scheint er ihr so gewogen, dass er ihr jeden Wunsch erfüllen möchte.“

„Oh ja“, bestätigte Philine, die den Sklavenhändler aufmerksam betrachtete und vergnügt registrierte, dass dieser aufgrund der eben erhaltenen Information zusehends nervös wurde. Sie wusste, dass Decimus bestrebt war, alles zu tun, um sich nicht den Unwillen des hoch angesehenen Lucius Marcellus zuzuziehen. Deshalb fuhr sie in besorgt-warnendem Ton fort: „Wenn die junge Herrin traurig ist, wird dies meinen Patron überhaupt nicht erfreuen.“

„Höre, Philine, ich versuche herauszufinden, wo sich diese Liuba derzeit aufhält und schicke dir umgehend eine Nachricht, sobald ich damit Erfolg hatte“, sprach Decimus jetzt eindringlich auf sie ein. „Bitte, versichere deinem Herrn, dass ich alles in meinen Kräften Stehende tun werde, um dem Wunsch seiner neuen Gefährtin nachzukommen!“

„Das richte ich Lucius Marcellus sehr gern aus“, erwiderte die Griechin, lächelte ihrem Gesprächspartner aufmunternd zu und verabschiedete sich dann. Sie konnte jetzt nur noch hoffen, dass der Sklavenhändler das gesuchte Mädchen auch wirklich fand und dass es wohlauf war…

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An einem der vielen schönen Sommertage, die während des Landaufenthaltes wie im Fluge vergingen, legte sich Lucius an jenem milden Spätnachmittag zu einem Schläfchen hin. Unterdessen versammelte Melina Divia, Sidori, Quella und Laila im Garten der Villa, um sich mit ihnen zusammenzusetzen und die Zeit bis zum Abendessen mit Plaudereien zu überbrücken. Dabei kam das Gespräch auch auf Ägypten und Melina, die so gut wie nichts über dieses Land wusste, forderte Laila auf, ein wenig aus ihrer Heimat zu erzählen.

„Ach, Herrin, als ich nach Rom kam, war ich noch sehr klein“, wehrte die dunkelhäutige Ägypterin verlegen ab. „Meine Eltern kamen als Sklaven in einem großen Haushalt zu vornehmen Römern und ich erlernte während meines Heranwachsens, einer edlen Dame zu dienen, indem ich meiner Mutter bei dieser Tätigkeit zusah und ihr dann auch half. Doch unsere Herrin meinte, ich sei jetzt zu erwachsen, um noch länger in ihrem Hause zu bleiben. Deshalb verkaufte ihr Gemahl mich an den Sklavenhändler, von dem unser Patron mich dann erwarb. Weiter gibt es über mich nichts zu berichten. Ihr seht also, ich weiß kaum etwas über meine eigene Heimat.“

Während Lailas Erzählung dachte Quella voll Bitternis, dass die anmutige Ägypterin wohl deshalb aus dem Hause musste, weil die Frau des Hausherrn bestimmt befürchtete, ihr Gemahl könne ein Auge auf das hübsche Mädchen werfen. Wieder einmal fand sie ihre schlechte Meinung über die Römer bestätigt.

„Du vermisst sicherlich deine Eltern, nicht wahr?“ fragte Melina indessen mitleidig.

„Ja, Herrin, aber was soll ich machen? Ich bin nur eine Sklavin, das Kind von versklavten Ägyptern. Mir bleibt ebenso wie anderen meines Volkes nichts weiter übrig, als mich meinem Schicksal zu ergeben“, antwortete Laila. „Und mir geht es bei Euch, liebe Herrin, und Eurem Mann recht gut. Ihr beide seid gütig zu mir und dafür danke ich jeden Abend der Göttin Isis aufs Neue.“

„Ist Isis eine Göttin aus deiner Heimat?“ erkundigte sich Melina neugierig, und als Laila nickte, forderte sie sie auf: „Bitte, erzähl mir etwas von ihr.“

„Oh, es gibt einen Mythos über Isis und Osiris“, erklärte die dunkelhäutige Ägypterin. „Aber es ist eine sehr traurige Geschichte.“

„Ach, ich höre so gerne Geschichten!“ entfuhr es Divia. „Fang an!“

„Ich weiß nicht recht…“, meinte Laila unsicher.

„Erzähl uns von Isis und Osiris!“ bat Melina sie eindringlich. „Ich würde gerne diese Geschichte hören, auch wenn sie tragisch ist.“

„Also gut“, gab Laila nach und begann:

„Nach alter Überlieferung hieß es, dass sich Isis und Osiris, Kinder der Götter und daher selbst Götter, bereits vor ihrer Geburt geliebt hätten. Geb, der Gott der Erde, erkannte rasch die Vortrefflichkeit seines Sohnes Osiris und übertrug ihm die Herrschaft über ganz Ägypten.

Zu jener Zeit, so sagt man, führten die Menschen eine ärmliche, rohe Lebensweise, da sie nichts vom Anbau der Feldfrüchte verstanden und keinerlei Gesetze kannten. All dies lehrte sie der weise und gütige König Osiris, indem er durch das Land reiste und die Menschen entsprechend unterwies.

Während er unterwegs war, bewachte seine Gattin Isis, die weise, zauberkundige Königin, seinen Thron und achtete darauf, dass in der Hauptstadt kein Unheil geschah. Ein besonderes Augenmerk richtete sie dabei auf Seth, den Bruder des Osiris, der den Thron des Landes begehrte. Doch er verhielt sich ruhig. Weder sie noch ihr königlicher Gemahl ahnten, dass Seth bereits heimlich die Maße seines Bruders genommen hatte und danach eine prächtige, juwelenbesetzte Lade anfertigen ließ. Außerdem gelang es ihm, seine Freunde dazu zu bewegen, ihm beim Sturz des Osiris behilflich zu sein, indem er behauptete, sein Bruder hätte seine Gemahlin Nephthys verführt, was bei Seths Freunden helle Empörung hervorrief.

Als nun Osiris heimkehrte und ein großes Fest anlässlich seiner Rückkehr feierte, ließ Seth die prachtvolle Lade hereinbringen, die ob ihrer Schönheit von allen bewundert wurde. Scherzend versprach Seth die Truhe nun demjenigen, der sie völlig ausfülle, wenn er sich dort hineinlegte. Die Kiste war so wundervoll, dass jeder der Anwesenden sie gerne besessen hätte, und darum legte sich auch jeder hinein. Aber niemand passte richtig in sie außer Osiris, der sich als Letzter in die Lade legte. Doch kaum befand sich der edle König darinnen, warfen Seth und seine Freunde den Deckel über den Schrein, nagelten ihn zu und versiegelten ihn anschließend mit Blei. Ehe einer der Gäste erkannte, dass dies kein Scherz mehr war, ergriffen die Verschwörer die versiegelte Truhe, in der Osiris sich befand, trugen sie rasch aus dem Saal und warfen sie in den Fluss, wo sie sofort abtrieb.“

„Oh, wie schändlich!“ rief Divia mit bösem Blick aus. „Wie konnte Seth das nur seinem Bruder antun?“

„Ich habe ja gesagt, dass die Geschichte traurig ist“, erinnerte Laila sie.

„Erzähl weiter!“ forderte Melina ihre Sklavin auf.

„Hoffentlich wird der Verräter ordentlich bestraft!“ sagte Divia und spitzte dann die Ohren, denn die Ägypterin fuhr fort:

„Als Isis von diesem Verrat erfuhr, verlor sie keine Zeit, sondern machte sich sofort auf die Suche nach ihrem geliebten Mann und fand nach einiger Zeit, in der sie umherirrte, den prächtigen Schrein an einem Akazienbaum hängend. Weinend barg sie ihn an Land und schlief erschöpft neben der Truhe ein. Seth indessen war der Königin heimlich gefolgt und raubte, während sie schlief, den Kasten, um zu verhindern, dass Isis mit ihren Zauberkräften ihren toten Gemahl wieder zum Leben erweckte. Fernab von ihr öffnete Seth die versiegelte Lade, zerriss den Leichnam seines Bruders in vierzehn Stücke und verteilte diese über das ganze Land.“

„Himmel, was für eine grausame Geschichte“, entfuhr es Melina.

„Ja, das ist sie“, bestätigte Laila. „Deshalb wollte ich sie eigentlich auch nicht erzählen. Doch nun, wo ich begonnen habe, möchte ich sie zu Ende führen.“

Als Melina ihr zunickte, fuhr die Ägypterin fort:

„Wie man sich vorstellen kann, war Isis natürlich verzweifelt, als sie aus dem Schlaf erwachte und feststellte, dass der Schrein, in dem sich ihr toter Gatte befand, fort war. Sie stieß einen lauten Klageruf aus, worauf der Fluss Mitleid mit der Witwe empfand und ihr zuflüsterte, was Seth getan hatte. So machte sich denn Isis mit einem kleinen Papyrusboot auf die Suche, um die vierzehn Teile des toten Osiris zu finden. Sie war sehr lange unterwegs, bis sie sie alle eingesammelt hatte. Dann kehrte sie in die Heimat zurück und setzte mit Hilfe des Gottes Anubis den Leichnam wieder zusammen. Um Osiris aufzuerwecken, verwandelte sich Isis in ein Falkenweibchen und schwebte eifrig mit den Flügeln schlagend über dem Toten, der tatsächlich für kurze Zeit zum Leben erwachte, um mit ihr seinen Sohn Horus zu zeugen. Dann kehrte der edle König zurück in die Unterwelt, wo er als Herrscher über die Toten weilt. Horus jedoch würde eines Tages den Tod seines Vaters rächen.“

„Das heißt also, der Verräter Seth konnte lange Jahre unbehelligt leben?“ fragte Divia enttäuscht.

„Ja, so ist es. Er forderte sogar frech bei der Versammlung aller Götter den Thron seines Bruders. Isis jedoch widersprach dem, indem sie darauf hinweis, dass Osiris einen leiblichen Sohn besäße, dem der Thron rechtmäßig zustehe. Doch Seth verfügte zu dem Zeitpunkt über die größte Kraft unter den Göttern, so dass keiner es wagte, ihm Einhalt zu gebieten. Allerdings traf man auch keine Entscheidung, sondern schob sie immer wieder hinaus. Als Horus schließlich erwachsen war, forderte Seth seinen Neffen heraus, mit ihm um den Thron zu kämpfen. Bei diesem Kampf besiegte der Sohn von Isis und Osiris den Mörder seines Vaters. Seitdem fürchtet Seth die Sonne, die den Geist des Horus verkörpert, und flieht das Licht“, erklärte Laila. „Zwischen Horus und Seth herrscht ewige Feindschaft!“

„Warum hat Horus den Verräter nicht getötet?“ wunderte sich Divia.

„Seth ist ein Gott, genau wie sein Neffe – sie sind unsterblich“, antwortete die Ägypterin. „Aber vielleicht tröstet es Euch, Filia familias, dass Seth dem Horus immer unterliegt.“

„Pah! Er hat keine richtige Strafe erhalten!“ meinte das römische Mädchen missbilligend und zog seine Augenbrauen zusammen. „Stattdessen kann er immer wieder neue Intrigen gegen Horus planen, der sich nie vor dem Verrat seines Onkels sicher sein kann.“

„Seth fürchtet das Licht“, ermahnte Laila sie in eindringlichem Ton. „Er flieht es, wo er kann. Und der Mythos um Isis und Osiris macht doch wohl deutlich, dass letztendlich die guten Kräfte über die bösen siegen!“

„Ja, Divia, der Mythos enthält die hoffnungsvolle Botschaft, dass Liebe und Gerechtigkeit sogar Neid, Verrat und Bosheit überwindet“, sagte Melina. „Die Liebe von Isis konnte sogar für einen kurzen Zeitraum den geliebten Gatten zum Leben erwecken. Aber natürlich ist es auch traurig, dass sie nicht immer beisammen sein können.“

„Sie sind Götter“, erwiderte Laila daraufhin in tröstendem Ton und lächelte die junge Griechin aufmunternd an. „Ich bin sicher, dass das Ehepaar zusammen ist, wenn es zusammen sein will. Göttern ist alles möglich, was ihnen beliebt, Herrin! Besonders einer so großen Göttin wie Isis, die über alle Weisheit der Welt und Zauberkräfte verfügt. Deshalb verehren viele meiner Landsleute sie noch heute. Sie ist gütig, sie gibt uns Kraft und Trost und sie wird uns einst im Jenseits bei allen Prüfungen beistehen und zu unseren Gunsten sprechen, wenn wir vor dem Totengericht stehen.“

Divia erhob sich und meinte verärgert: „Wenn sie über so viel Kraft verfügt, warum verwandelt sie dann den Mörder ihres Mannes und den Feind ihres Sohnes nicht in Stein? Seth hat das mehr als verdient!“

„Rache ist keine Lösung“, entgegnete Laila. „Glaubt mir, Filia familias, Seth ist schon genug gestraft, dass er das Licht fliehen muss. Verachtet und gehasst von all seinen göttlichen Geschwistern wurde er für immer in die Wüste, den Ort des Todes, verbannt. Dort verbringt er, getrennt von seiner Gattin und seinen Freunden, seine Zeit in Einsamkeit. Darum auch ist es gefährlich, sich in der Wüste aufzuhalten. Vor allem nachts kann es dem Umherziehenden passieren, dass er von Seth heimgesucht wird, der versucht, ihn auf seine Seite zu ziehen…“

„Der Verräter verfügt also noch über so viel Macht?“ höhnte Divia. „Nein, Laila, das Ende deiner Geschichte gefällt mir überhaupt nicht! Du solltest sie ändern!“

„Das kann ich nicht, es ist ein Mythos“, erklärte die Ägypterin. „Es ist etwas, das nicht zum Vergnügen über viele Generationen hinweg weitergegeben wurde, sondern damit wir uns vor Seth, dem Herrn der Wüste und des Todes, in Acht nehmen. Er verwirrt die Sinne der Menschen, um sie für sich zu gewinnen. Ein gefährlicher Gott, vor dem einen nur der Beistand des Ra oder des Horus, die ein und derselbe sind, schützen kann.“

„Die Sonne, nicht wahr?“ fragte Divia nach, was Melina sofort aufhorchen ließ.

„Ja, Ra-Horus ist die Sonne“, antwortete Laila.

„Apollo ist ebenfalls der Gott der Sonne“, meinte Melina daraufhin. „Er ist überaus mächtig und beschützt seine Anhänger. In Delos, der Heimat meiner Mutter, wird er sehr verehrt.“

„Aber, Herrin“, sagte Quella nun kopfschüttelnd. „Was hat Apollo denn mit den ägyptischen Gottheiten zu tun?“

„Das liegt doch auf der Hand“, erwiderte die junge Frau. „Eine der Hauptaussagen in der Erzählung von Isis und Osiris lautet, dass die Kräfte des Lichtes die Macht des Bösen verscheuchen oder gar besiegen. Ich finde, das ist eine wichtige Erkenntnis. Wenn wir wieder in Rom sind, Quella, möchte ich in der Villa einen kleinen Hausaltar für Apollo errichten. Schließlich war es der Wunsch meiner Mutter, dass ich in seinen Kult eingeweiht werde.“

„Doch Euer Vater war strikt dagegen!“ protestierte Quella. „Er verbot es und Eure Mutter hielt sich daran – und Ihr solltet es auch tun, Herrin!“

„Schweig!“ gebot Melina in strengem Ton und erhob sich. „Du wirst mich nicht davon abhalten, einen Hausaltar für den Gott zu errichten, den ich schon immer verehrt habe!“

Mit diesen Worten drehte sich die junge Griechin um und stolzierte mit hoch erhobenem Haupt und in froher Gewissheit, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, ins Haus.

Betroffen schaute ihre Amme ihr nach.

„Sag mal, Quella“, hörte sie die Stimme Divias an ihr Ohr dringen. „Weshalb hat Melinas Vater eigentlich etwas dagegen, dass sie Apoll verehrt? In Rom hat man ihm sogar einen eigenen Tempel errichtet.“

„Theodoros Aigikoreus ist ein kluger Mann, der weiß, wie gefährlich Apollo sein kann“, erklärte die Alte. „Er ist einer der unberechenbarsten Söhne des Zeus. Von einem Moment auf den anderen kann er denjenigen, dem er einst gewogen war, mit tödlicher Feindschaft begegnen, sobald er meint, verraten worden zu sein. Dabei reicht nur eine Kleinigkeit, um Apollo zu verärgern… davor wollte mein Herr seine Tochter schützen.“

„Aber Melinas Mutter war doch eine Anhängerin Apollos“, wandte Divia ein. „Und wenn in ihrer Heimat ein großer Kult um diesen Gott herrscht, kann er so schlimm ja nicht sein.“

„Melina ist ihrer Mutter sehr ähnlich“, seufzte Quella und sah das römische Mädchen traurig an. „Gerade deshalb bin ich sehr besorgt um sie. Cora Aigikoreusa wollte nicht davon ablassen, Apollo zu verehren. Doch hat es ihr etwas genützt? Nein, sie starb nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes…“

Laila klatschte in die Hände und sagte: „Divia, Sidori, was haltet ihr davon, wenn wir in die Therme gehen?“

Die beiden Mädchen stießen einen begeisterten Laut aus und liefen sofort ins Haus. Kaum waren sie fort, wandte sich die Ägypterin an die alte Sklavin: „Hör mal, Quella, du kannst doch vor den beiden Kindern nicht damit anfangen, den Sonnengott zu kritisieren, oder ihnen von dem Tod deiner einstigen Herrin zu erzählen.“

„Divia hat mir eine Frage gestellt und ich wollte ihr eine ehrliche Antwort geben“, verteidigte sich die Angesprochene in heftigem Ton. „Außerdem habe ich wirklich Angst um Melina. Sie ist so jung, so zart. Wird sie es überstehen, wenn sie dem Legatus ein Kind gebiert?“

„Noch ist es nicht soweit und du solltest wirklich damit aufhören, dir das Schlimmste auszumalen!“

„Melina widersetzt sich den Wünschen ihres Vaters, der nicht nur dagegen ist, dass sie Apollo verehrt, sondern es gewiss auch missbilligt, dass sie dem Legatus als Konkubine dient. Sie verbringt jede Nacht in den Armen dieses römischen Offiziers und es dauert sicher nicht lange, bis sie schwanger sein wird“, erklärte Quella mit besorgter Miene. „Sag mir ehrlich, Laila, kann es einer jungen Frau wirklich Segen bringen, wenn sie sich den Wünschen ihres Vaters widersetzt? Kann es richtig sein, dass sie dazu beigetragen hat, eine gut funktionierende Ehe auseinanderzubringen? Wie kannst du es mir da verübeln, wenn ich befürchte, dass meine junge Herrin sich nicht nur den Zorn einer hintergangenen römischen Matrona zugezogen hat, sondern darüber hinaus auch deren Göttern? Glaubst du wirklich, meine kleine Melina kommt ohne Strafe davon?“

„Unsere Herrin ist freundlich und gütig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendjemandem etwas Böses getan haben soll“, entgegnete Laila. „Ich finde, du übertreibst es, Quella! Vermutlich ist dir die Erinnerung an den Tod von Melinas Mutter gekommen, als dir klar wurde, dass dein Zögling nun eine verheiratete Frau ist, und ich kann gut verstehen, dass du Angst um Melina hast. Dennoch bitte ich dich, zuversichtlicher in die Zukunft zu sehen; vor allem aber möchte ich, dass du deine Befürchtungen nicht mehr vor Divia und Sidori äußerst. Es ist nicht richtig, die beiden Mädchen zu ängstigen. Außerdem kannst du dir sicherlich vorstellen, dass der Patron sehr böse werden wird, sobald ihm zu Ohren kommt, was du seiner Tochter erzählst.“

„Was? Du würdest es wirklich über dich bringen, mich bei Lucius Marcellus zu verraten?!“

„Nein, aber Divia wird es bestimmt ausplappern!“

Quella schwieg betroffen und nickte nach einer Weile. Die Ägypterin hatte recht. Sie sollte wirklich ihre Zunge besser im Zaum halten. Die Drohung des Legatus galt sicherlich nicht nur dann, wenn sie Melina aufregte, sondern auch, wenn ihre Worte eine ähnliche Reaktion bei seiner Tochter auslösten. Womöglich musste sie mit einer baldigen Bestrafung rechnen, denn Divia sah ihren Vater spätestens beim gemeinsamen Abendessen wieder…

Die Cena am gleichen Abend in der Villa, an der auch Sidori, Laila und Quella teilnehmen durften, verlief überaus harmonisch. Anfangs war die alte Amme noch sehr angespannt, weil sie fürchtete, dass Divia ihren kurzen Dialog erwähnen würde, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen gab Lucius einige harmlose Anekdoten zum Besten, worüber seine junge Frau und alle übrigen außer Quella lachten. Doch keiner der Anwesenden achtete auf die Alte, sondern war damit beschäftigt, das Brautpaar zu beobachten, das sich während des Essens gegenseitig neckte.

Divia schien über das Verhalten ihres Vaters und seiner neuen Gefährtin sehr amüsiert zu sein, denn sie lächelte zufrieden und warf nach einer Weile ihrer Spielkameradin Sidori einen belustigten Blick zu, den das iberische Mädchen erwiderte.

Laila hingegen lächelte still vor sich hin und kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie Melina heimlich um die Liebe des Lucius Marcellus beneidete. Obwohl sie ihre neuen Herrschaften sehr mochte, weil sie sie gut behandelten, und auch fand, dass der römische Offizier und die junge Griechin ein hübsches Paar abgaben, dem sie von ganzem Herzen Glück wünschte, hätte Laila selbst ebenfalls gern einen solch stattlichen Gefährten, der ihr ein angenehmes Leben bot. Aber ihr schien dieser Weg versperrt zu sein. Welcher freie römische Bürger würde schon sie, eine einfache Sklavin, die Tochter einfacher Sklaven, ernsthaft als Konkubine ins Auge fassen? Da müsste sie schon sehr viel Glück haben… oder jemanden, der ihr dabei half…

Lailas Blick fiel auf Lucius, der seiner Geliebten gerade zärtlich über das Haar fuhr. Ohne Zweifel war er im Moment ein glücklich verliebter Mann. Warum eigentlich sollte sie diese Stimmung nicht für sich nutzen, solange sich der Patron in diesem Zustand befand? Bestimmt würde er nach seinem Ferienaufenthalt in Rom wieder eine größere Abendgesellschaft geben, in der er es sicherlich einrichten könnte, den einen oder anderen seiner ledigen, männlichen Bekannten einzuladen. Vielleicht sollte sie Melina einmal unter vier Augen erzählen, wie sehr sie eine solche Liebesbeziehung ersehnte, wie diese sie mit Lucius hätte? Bei der jungen Herrin fand sie sicherlich Verständnis für diesen Wunsch und sie bezweifelte auch nicht, dass Melina dann für entsprechende Bekanntschaften sorgen würde. Herr Lucius tat ja im Moment noch alles, was seine Konkubine sich wünschte…

„Ach, es wäre so schön, wenn wir etwas Musik hätten“, seufzte Melina gerade und schaute Lucius sehnsuchtsvoll an. „Erinnerst du dich noch an die Sängerin mit der Lyra, die uns sowohl im Hause von Senator Valerianus als auch bei unserer Hochzeit erfreute, Liebster?“

„Aber natürlich! Doch hier auf dem Lande leben wir ein wenig zurückgezogener und es ist sicherlich schwierig, im näheren Umkreis jemanden zu finden, der uns mit musikalischen Darbietungen erfreut, Liebling“, erwiderte ihr Mann.

„Wenn Ihr es wünscht, könnte ich Euch etwas vortragen!“ ließ sich daraufhin sogleich Laila vernehmen, was ihr verwunderte Blicke eintrug. „Mein früherer Herr ließ mich in Lyraspiel und Gesang ausbilden, weil er und seine Gemahlin die Musik überaus schätzten.“

„Mir scheint, dass ich mit dir einen sehr guten Fang gemacht habe“, sagte Lucius erfreut. „Leider steht im Moment keine Lyra zur Verfügung, aber du könntest uns dennoch etwas vorsingen.“

Laila lächelte und nickte. Sie erhob sich, stellte sich vor dem Tisch auf und hub dann an, ein ägyptisches Volkslied zu singen. Als sie damit fertig war, klatschten alle Beifall und Lucius meinte: „Eine überaus hübsche Weise, wenngleich wir kein Wort dieser Sprache verstanden haben. Doch deine Stimme klingt sehr schön, nicht wahr, Melina?“

„Ja, dein Vortrag war wundervoll“, bestätigte die junge Griechin und nickte der Ägypterin zu. „Könntest du mir ein wenig Gesang beibringen, Laila? Ich liebe Musik.“

„Es wäre mir eine große Freude, Herrin!“

„Ich werde gleich morgen jemanden schicken, um eine Lyra besorgen zu lassen“, versprach Lucius lächelnd und schenkte seiner jungen Konkubine einen liebevollen Blick. „Da du das Lyraspiel so liebst, Melina, wird Laila dich auch darin unterrichten.“

„Wie überaus großzügig von dir!“ rief die junge Griechin und fiel ihrem Geliebten freudestrahlend um den Hals. Dann wandte sie sich wieder der ägyptischen Sklavin zu und fragte: „Dir ist es doch hoffentlich recht, Laila?“

„Aber natürlich, Herrin!“

„Und was ist mit mir?!“ fragte Divia laut. Ihr schien es nicht zu passen, dass die Ägypterin solch große Aufmerksamkeit von ihrem Vater und seiner neuen Frau erhielt. „Ich möchte zusammen mit Melina das Lyraspiel erlernen!“

„Ich habe nichts dagegen!“ meinte Lucius gleichmütig. „Es ist für ein Mädchen nur von Vorteil, sich mit den schönen Künsten zu befassen.“

„Was ist mit dir, Sidori?“ wandte sich Lucius nun freundlich der kleinen Sklavin zu. „Möchtest du auch Lyraspielen lernen?“

„Ach nein, Herr“, erwiderte die Kleine schüchtern und senkte den Blick. „Ich glaube, das liegt mir nicht. Wisst Ihr, ich bin viel lieber in der Küche und arbeite dort mit.“

„Wenn du das wirklich möchtest, Sidori, dann steht dem nichts entgegen. Macht es dir denn so viel Freude, bei der Zubereitung der Speisen zu helfen?“

„Oh ja, Herr!“ gab die Kleine zu und ihre Augen leuchteten dabei.

„Nun ja, dann wäre das erstmal geklärt“, meinte Melina und drückte Lucius‘ Hand. „Lass uns noch ein wenig draußen im Garten spazieren gehen, Liebster, bevor wir uns zu Bett begeben.“

Der Hausherr nickte und erhob sich zum Zeichen dafür, dass das Abendessen nun beendet war. Nachdem er und Melina allen eine ‚Gute Nacht‘ gewünscht hatten, verließen sie das Speisezimmer.

„Endlich allein“, seufzte Lucius, als er sich mit Melina im Garten befand, schloss sie dann in seine Arme und küsste sie. „Weißt du, Honigmädchen, ich mag meine Tochter wirklich, aber manchmal wäre ich gern einfach nur ganz allein mit dir. Nur wir beide, mein Schatz!“

„Das sind wir doch jetzt“, sagte die junge Griechin leise und lächelte. „Und wir haben auch noch die ganze Nacht vor uns, Liebster.“

„Ja…, ja… genießen wir unser Zusammensein ausgiebig…“

Melina ließ es erneut zu, dass Lucius sie an sich drückte und ihr einen langen, intensiven Kuss gab. Als er endlich seine Lippen von ihren löste, wand sie sich ein wenig aus seinen Armen und schaute mit ernstem Blick zu ihm auf.

„Sag mir, Liebster, kann es sein, dass Divia ein wenig eifersüchtig ist?“

„Auf wen sollte sie denn eifersüchtig sein?“ lachte er. „Auf dich ist sie es jedenfalls nicht!“

„Nein, und ich bin auch froh darüber. Aber ist dir nicht aufgefallen, wie aufgebracht sie darüber zu sein schien, dass wir Lailas Gesang bewunderten?“

„Ach was!“

„Doch, ich bin mir fast sicher, Lucius! Bislang zeigte sie doch keinerlei Interesse an Musik! Weshalb will sie jetzt mit mir zusammen das Lyraspiel und den Gesang erlernen?“

„Sie bewundert dich halt, Honigmädchen! Und sie will alles können, was du auch kannst! Hast du das etwa vergessen?!“

„Meinst du, dass nichts anderes dahintersteckt?“ fragte Melina zweifelnd.

„Es steckt nichts anderes dahinter, glaub mir!“ antwortete Lucius. „Es ist mir auch ganz recht, dass Divia dich zum Vorbild nimmt. Du bist eine wundervolle Frau.“

„Ach, Lucius…“, hauchte die junge Griechin, umschlang mit den Armen seinen Nacken, während er sich zu ihr hinunter beugte und sie küsste. Dann hob er sie hoch und trug sie ins Haus zurück…

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Quella empfand es an diesem Abend als äußerst undankbare Aufgabe, Divia ins Bett zu begleiten, da sie über das Verhalten des römischen Mädchens innerlich empört war, es ihr gegenüber jedoch nicht zum Ausdruck zu bringen wagte. Immerhin war Divia die Tochter des Hauses, welche sich nur bei ihrem Vater über sie zu beschweren brauchte, damit dieser sie, eine alte Sklavin, auf die er ohnehin ein streng prüfendes Auge gerichtet hatte, hart bestrafte.

Nichtsdestotrotz fand Quella, der Divia bis vor kurzem noch ein gutherziges Kind zu sein schien, es äußerst ungehörig, dass die Tochter des Marcellus in lautem Ton gefordert hatte, wie die Gefährtin ihres Vaters Musikunterricht zu erhalten. Zum einen gehörte es sich nicht für ein wohlerzogenes Mädchen, in solch einem Ton Forderungen an seinen Vater zu stellen, zum anderen war es für Quella offensichtlich, dass dieses Kind nicht etwa aus Liebe zur Kunst das Lyraspiel und den dazugehörigen Gesang erlernen wollte, sondern nur, weil Laila sonst während des Musikunterrichts allein mit Melina wäre und Divia dies anscheinend nicht dulden mochte.

Dieses Kind nahm sich eindeutig zu viel heraus und es war eigentlich verwunderlich, dass Marcellus seine Tochter für diese Vermessenheit nicht tadelte, sondern sogar ihrer Forderung nachgab. Sah er denn nicht, dass dies ein Fehler war, der nur den Eigenwillen Divias stärkte? Aber was verstanden Männer denn schon von Kindererziehung? Nein, sie müsste mit Melina darüber sprechen, wenn es sich ergeben sollte. Sie war jetzt die neue Gefährtin an der Seite des Lucius Marcellus und damit die Herrin im Hause. Darüber hinaus schien sie die einzige Person zu sein, auf die Divia hörte. Man musste dieses ungezogene Kind in seine Schranken weisen – und das konnte nur Melina tun bzw. den Mann, der sie zu seiner Konkubine gemacht hatte, dazu veranlassen.

Im Augenblick jedoch sah Quella sich in der unangenehmen Lage, allein mit Divia in deren Schlafzimmer zu sein, da die Kleine niemand außer ihr in der Nähe haben wollte. Ihrer Spielkameradin Sidori hatte sie bereits im Esszimmer eine ‚Gute Nacht‘ gewünscht und sie dann der Obhut Lailas überlassen, der das römische Mädchen lediglich einen kühlen Blick schenkte, aber ihr mit keiner Silbe einen freundlichen Nachtgruß sagte. Auch dies war etwas, was in Quellas Augen sehr ungezogen war, denn Laila hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, was eine solch unfreundliche Behandlung verdiente.

Nachdem die alte Sklavin Divia schweigend gewaschen und ihr dann das Nachtgewand angezogen hatte, meinte sie in mahnendem Ton: „Ihr habt vorhin ganz vergessen, der ägyptischen Dienerin eine gute Nacht zu wünschen.“

„Nein, Quella, ich habe es nicht vergessen“, erklärte Divia ihr daraufhin mit mildem Lächeln, während sie sich nun in ihr Bett begab. „Die Ägypterin hat heute Abend bereits genug freundliche Aufmerksamkeit von meinen Eltern erhalten. Ich finde, dass Laila davon nicht zu viel bekommen sollte, sonst wird sie noch überheblich… und überhebliche Sklaven kann ich nicht leiden. Ich denke, dass sie sowieso schon recht eingebildet ist. Was meinst du, Quella?“

„Auf mich macht Laila einen sehr freundlichen Eindruck“, antwortete die Angesprochene vorsichtig.

„Ja, sie versteht es, sich beliebt zu machen“, meinte Divia höhnisch und begann dann, Laila nachzuäffen: „Wenn Ihr es wünscht, könnte ich Euch etwas vortragen. Mein früherer Herr ließ mich in Lyraspiel und Gesang ausbilden…“

„Aber, Divia!“ entfuhr es Quella empört. „Laila wollte doch nur Eurem Vater und Melina eine Freude machen!“

„Du irrst dich! Wenn das wirklich ihre Absicht gewesen wäre, dann hätte sie nur angeboten, für meine Eltern zu singen und kein Wort über ihre musikalische Ausbildung verloren. Aber weil sie sich wichtig machen wollte, konnte sie es nicht lassen, davon zu erzählen.“

„Was ist so schlimm daran, eine musikalische Ausbildung erhalten zu haben, Divia?“

„Nichts! Wenn man es nicht dazu benutzt, um sich selbst wichtig zu machen!“

„Das war ganz sicher nicht Lailas Absicht“, verteidigte Quella die Ägypterin. „Sie ist doch ein eher zurückhaltendes Mädchen und wollte gewiss nichts weiter, als Melina mit ihrem Gesang erfreuen.“

„Nun, wenn du das glauben möchtest, dann glaub es ruhig“, gab Divia gleichmütig zurück. „Mir kann diese Ägypterin jedenfalls nichts vormachen. Sie will etwas, das spüre ich – und deshalb lasse ich Melina auf keinen Fall mit ihr allein.“

Quella schüttelte verständnislos den Kopf über die kleine Römerin, die aufgrund dessen anfing zu lachen.

„Du kannst mir ruhig glauben“, sagte Divia dann und schlug mit ihrer rechten Hand auf den Bettrand, damit die alte Amme sich neben sie setzte. „Aber lassen wir das jetzt. Es gibt Dinge, die ich mit dir allein besprechen möchte. Nur darum habe ich Sidori heute ausnahmsweise einmal bei der Ägypterin gelassen.“

Neugierig geworden ließ Quella sich auf den Bettrand nieder und schaute das Kind gespannt an. Dieses fuhr nun im Flüsterton fort: „Weißt du, ich freue mich ja, dass Melina die Frau meines Vaters geworden ist, aber manchmal mache ich mir auch Sorgen.“

„Weshalb? Die beiden scheinen doch ganz glücklich miteinander zu sein.“

„Ja, schon, aber…“ Divia zögerte und schaute Quella eindringlich an. „Was… was tun Melina und Papa eigentlich, wenn sie nachts miteinander allein sind?“

„Wie könnt Ihr mir nur eine solche Frage stellen?!“ protestierte die Alte wütend.

„Tut mir leid, Quella, es ist nur… weißt du, gestern konnte ich nicht schlafen und da bin ich aufgestanden, um zu meinen Eltern zu gehen. Ich dachte, ich könnte zwischen ihnen liegen…“

„Und haben sie es gestattet?“

„Nun, ich… ich habe… ich habe mich nicht ins Zimmer hineinzugehen getraut, denn… nun…, ich war noch nicht einmal ganz bei der Tür, da habe ich es schon gehört… Papa und Melina haben beide gestöhnt… es machte mir Angst und ich lief wieder zurück in mein Zimmer…“, berichtete Divia leise, während sie ihren Blick unentwegt auf Quella gerichtet hielt. „Sag mir, weißt du wirklich nicht, was sich zwischen ihnen nachts abspielt?“

Die alte Amme, die aufgrund der Erzählung des Mädchens rot angelaufen war, murmelte verlegen: „Es… es wird das Übliche unter Eheleuten sein… etwas ganz Normales…“

„Was bedeutet das?“ fragte Divia sofort. „Warum stöhnen sie? Müssen Eheleute sich denn Schmerzen zufügen? Bitte, Quella, sag mir die Wahrheit? Tun sie sich gegenseitig weh?“

„Nein… nein….“, die Alte schluckte, denn das Sprechen fiel ihr schwer angesichts der Vorstellung, wie der römische Legatus ihr Lämmchen liebte. Ein Bild, das sie jetzt nicht mehr aus dem Kopf bekam, so sehr sie sich auch bemühte. „Nein, Divia… ich glaube, sie… sie bereiten sich… gegenseitig… Freude…“

„Was?“ entfuhr es dem Mädchen ungläubig. „Aber sie stöhnen doch… es muss ihnen doch weh tun!“

„Nein… ach, Kind, bitte… hör doch jetzt damit auf…“, flehte Quella.

„Du meinst, sie haben keine Schmerzen?“ drang Divia, ungeachtet der Bitte der alten Sklavin, weiter in diese.

Quella, unfähig, noch ein Wort herauszubringen, schüttelte den Kopf. Sie erhob sich abrupt und wandte ihr Gesicht ab. Sie wollte dieses Bild nicht sehen: Ihre Melina, entblößt vor dem verhassten Römer, der seine groben Hände über ihren zarten Körper gleiten ließ und seine Lippen auf ihre Brüste drückte, während ihr Lämmchen vor Wonne darüber stöhnte. – Oh weg, verhasstes Bild! Schlimm genug, dass es wohl tatsächlich der Realität entsprach, denn Divia sagte gewiss die Wahrheit.

„Du meinst wirklich, dass sie vor Freude stöhnen?“ hörte sie wie aus weiter Ferne die kindliche Stimme von Lucius‘ Tochter.

Oh, sie hielt es nicht aus! Dieses grässliche Bild vor Augen, das ihr zeigte, wie Melina sich dem Feind hingab, während sie selbst sich in der Gegenwart eines impertinenten Kindes befand, das einfach keine Rücksicht auf die Gefühle anderer nehmen wollte.

Ohne weiteres Wort verließ Quella die Kammer Divias und kümmerte sich nicht weiter darum, dass diese ihr hinterherrief, sie solle doch bei ihr bleiben…

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Entgegen seiner Absicht hatte Sorex sich von seinem Freund Drusus Fausto dazu überreden lassen, noch einige Tage in Alexandria zu verbringen. Megara war darüber mehr als ärgerlich, konnte aber nichts dagegen tun. Zwar versuchte sie, ihn mit schmeichlerischen Worten dazu zu überreden, das Haus seines Freundes so schnell wie möglich zu verlassen, aber Sorex meinte, ihre Reise müsse sorgfältig geplant und ein guter Führer sowie einige Diener gefunden werden. Dabei könne ihm sein Freund Drusus sicherlich behilflich sein.

„Du willst ihn einweihen?“ fragte die spitznasige Griechin entsetzt, denn sie wollte die Schätze, die sie im Grab des Frevlers fanden, mit niemandem außer ihrem Liebhaber teilen.

„Natürlich nicht in unseren Plan. Aber er weiß doch bereits, dass wir Ägyptens Nekropolen besichtigen wollen – und ich bin sicher, dass er uns ehrliche, zuverlässige Leute besorgt“, antwortete Sorex.

Das klang vernünftig und Megara fand kein Argument, das dagegen sprach. Dennoch fühlte sie sich unwohl in Gegenwart von Drusus, der sie fortwährend zu beobachten schien. Allerdings hatte sie dabei nicht mehr den Eindruck, dass er sich für sie als Frau interessiere. Doch was konnte Sorex‘ Freund sonst von ihr wollen?

Nun, die Antwort darauf erhielt sie schon bald. Einige Tage, nachdem sie das Museion besucht hatten, gab Drusus wieder einmal eine größere Abendgesellschaft und bestand diesmal darauf, dass sein Freund und Megara daran teilnahmen, da sie die Ehrengäste seien. Wie nicht anders zu erwarten, fühlte sich Sorex durch diese Einladung überaus geschmeichelt und so fand sich die Griechin abends in einer zahlreichen Gästeschar wieder. Anfangs dachte sie, ihr älterer Liebhaber würde sie offiziell als seine Begleiterin vorstellen, aber weit gefehlt. Drusus hatte Megara nämlich nicht an Sorex‘ Seite gesetzt, sondern ihm zwei andere Tischnachbarinnen zugesellt, während ihr selbst nichts anderes übrigblieb, als sich neben dem Gastgeber auf einem breiten Stuhl niederzulassen. Sie kam nicht dazu, ein Wort an Sorex zu richten, da dieser sich recht angeregt mit seinen Nachbarinnen unterhielt und kaum einen Blick an Megara verschwendete. Mit ohnmächtiger Wut musste sie mit ansehen, wie der römische Veteran dem Wein zusprach; und es dauerte nicht lange, bis er angeheitert war und kaum die Augen offenhalten konnte.

Mit zufriedenem Grinsen wandte sich nun Drusus, der die spitznasige Griechin bisher mit Nichtachtung bestraft hatte, an seine Nachbarin und forderte sie in leisem Ton auf: „Folgt mir!“

Im ersten Moment wollte Megara dagegen protestieren, doch ein Blick auf ihren Freund, der auf seiner Liege schlummerte, machte ihr schlagartig klar, dass von seiner Seite jetzt keine Hilfe zu erwarten war. Die übrigen Gäste, allesamt Freunde und Bekannte des Hausherrn, würden ihr wohl auch nicht helfen. Darum hielt die Griechin es für besser, der Aufforderung ihres Gastgebers nachzukommen und erhob sich.

Drusus führte sie in einen kleinen Raum, der weit entfernt von seinem Esszimmer lag, ließ sie als Erste eintreten und schloss die Tür, während davor zwei kräftige Sklaven postiert waren.

Mit zornfunkelnden Augen wandte sich Megara nun an den Hausherrn und fragte mit nur mäßig beherrschter Stimme: „Was wollt Ihr von mir?“

„Setzt Euch!“ befahl Drusus und deutete auf einen Schemel vor sich. Sie gehorchte und blickte ihn danach immer noch mit wutverzerrtem Gesicht an. Offensichtlich beeindruckte das den Hausherrn keineswegs. Er erwiderte ihren Blick mit ernster Miene, schwieg jedoch eine Weile, was hinwiederum Megara nervös werden ließ.

„Nun, wollt Ihr mir nicht endlich sagen, warum ich Euch in diesen Raum folgen musste?“ brach sie endlich das Schweigen. „Kann ich irgendetwas für Euch tun?“

Drusus, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte, fragte daraufhin unvermittelt: „Verratet mir, was Ihr von meinem Freund wollt!“

„Wie bitte?!“ entfuhr es Megara überrascht.

„Ihr habt schon richtig verstanden! Was wollt Ihr von Sorex?!“

„Nun, ich begleite ihn auf seiner Reise als Gesellschafterin.“

„Hm… wenn mich nicht alles täuscht, ist das lediglich eine andere Bezeichnung für eine Hure.“

„Was fällt Euch ein, mich zu beleidigen?!“ fuhr Megara auf. „Ich stamme aus einem edlen Geschlecht.“

„Ja, ja, ich weiß schon“, winkte Drusus ab und schenkte der spitzgesichtigen Griechin ein verächtliches Lächeln. „Fabius Maiorus hat mir eine entsprechende Nachricht zukommen lassen. Doch er bat mich, Euch im Auge zu behalten, da Euch nicht zu trauen sei.“

„Wie kommt er dazu, mich in einem so schlechten Licht darzustellen?“

„Stimmt es etwa nicht, dass Ihr Euer Volk verraten habt?!“ höhnte Drusus.

„Es ist eine Lüge! Ich habe mein Volk niemals verraten!“ verteidigte sich Megara in heftigem Ton. „Wie kommt Fabius Maiorus dazu, mich so zu verleumden?!“

„Warum hat Euer Gemahl sich von Euch geschieden?“

„Weil er ein alter Narr ist!“

„Laut der Aussage meines Freunde Fabius habt Ihr dafür gesorgt, dass alle Eure Stiefkinder in die Gewalt von Legatus Marcellus kamen“, fuhr Drusus in strengem Ton fort und blickte die Griechin vor ihm nun böse an. „Das nenne ich Verrat! – Verrat am eigenen Mann!“

„Seine Tochter trägt die Schuld am Tod meines Bruders!“ zischte Megara.

„Soviel ich weiß, plante dieser, Eure Stieftochter zu entführen und die beiden Söhne Eures Mannes zu töten“, entgegnete der Römer unbeirrt. „Bei der Ausführung dieses schändlichen Vorhabens verlor er sein Leben – und er hat nichts anderes verdient!“

„Ach, es gefällt meinem Gemahl und dem Statthalter von Attika, den guten Ruf meines Bruders in den Schmutz zu ziehen“, erklärte Megara. „Alles, was Ihr da gegen ihn anführt, sind unbewiesene Behauptungen, die lediglich auf der Aussage meiner Stieftochter beruhen, die mich aus tiefstem Herzen hasst!“

„Genug!“ donnerte Drusus. „Uns ist genügend bekannt, das gegen Euren Bruder und damit auch gegen Euch spricht. Denn natürlich geht man in Athen davon aus, dass Ihr in seine Pläne eingeweiht wart.“

„Wenn es diese Pläne tatsächlich gab, dann hatte ich keine Ahnung davon!“ erwiderte Megara, in nun demütigem Ton und mit gesenktem Kopf. „Aber ich kann nicht glauben, dass Alexandros so etwas vorhatte…“

„Wie dem auch sei!“ schnitt Drusus ihr das Wort ab. „Alles, was mich interessiert ist, was Ihr von meinem Freund Sorex wollt! Gewiss, er ist ein wohlhabender Mann, aber nicht aus vornehmem Geschlecht. Er diente sich von einem einfachen Soldaten zu einem niedrigen Offizier hoch. Mich wundert es, dass Ihr in seiner Gesellschaft seid, denn er ist sicherlich nicht das, was Ihr als adäquaten Gefährten für Euch seht. Was also habt Ihr mit Sorex vor?“

„Er hat mich aus einer Notlage gerettet und ich bin ihm dankbar“, antwortete die Griechin. „Da Ihr so gut informiert seid, wisst Ihr sicher, dass mein Gemahl mich ohne Geld aus dem Haus gejagt hat. Sorex war so freundlich, mir anzubieten, ihn auf seiner Reise zu begleiten. Wie könnte ich ihm da nicht dankbar sein? Und was Eure Unterstellung angeht, er sei mir als Gefährte nicht gut genug, so lasst Euch gesagt sein, dass ich aufrichtige Zuneigung zu Eurem Freund empfinde.“

Drusus lachte trocken auf und entgegnete: „Der Ruf über Euren Hochmut eilte Euch voraus!“

„Ihr tut mir wahrhaft Unrecht!“ verteidigte sich Megara. „Ich habe Sorex wirklich gern!“

„Das glaube ich nicht! Doch leider vermag ich es nicht, meinen Freund davon zu überzeugen, dass Ihr eine Person sei, der man nicht trauen kann“, sagte Drusus. „Er scheint ziemlich vernarrt in Euch zu sein, obwohl ich nicht verstehe, warum. Jedenfalls übt Ihr einen schlechten Einfluss auf ihn aus.“

„Wie kommt Ihr darauf?“

„Ich kennen Sorex seit meiner Jugend als gutmütigen, ehrlichen Mann. Doch nun belügt er mich und ich führe das auf Euren Einfluss zurück!“

„Er belügt Euch?“

„Ja, und ich kann den Grund dafür noch nicht recht erkennen“, erklärte Drusus. „Erinnert Ihr Euch, dass Ihr und Sorex euch noch am Abend eurer Ankunft angeblich in die Stadt begabt, um einen Eurer Bekannten zu besuchen?“

„Und?“

„Da ich ja durch Fabius Maiorus vorgewarnt war, schickte ich euch zwei Spione hinterher. Sie berichteten mir, wo Ihr und Sorex an jenem Abend hingegangen seid. Ich wusste gar nicht, dass man abends in das Museion hinein kann. Was hattet Ihr und Sorex dort zu suchen? Oder wollt Ihr mir allen Ernstes erzählen, dass Euer Bekannter dort wohnt?“

„Nein, wir hatten einen Termin mit einem Bibliothekar“, gab Megara, die einsah, dass Lügen hier nicht mehr halfen, zu. „Wie Ihr wisst, möchte Sorex doch einige Nekropolen Ägyptens aufsuchen. Der Bibliothekar nun beriet uns über die besten Routen dorthin.“

„Wenn es sich tatsächlich so verhielt, warum hat Sorex das dann nicht einfach gesagt?“ fragte Drusus, dem anzumerken war, dass er der Griechin nicht glaubte. „Warum hat mein Freund mich angelogen?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete Megara und sah dem Hausherrn nun wieder offen ins Gesicht. „Ihr solltet ihn das selbst fragen!“

„Mir gefällt nicht, wie Sorex sich unter Eurem Einfluss entwickelt“, knurrte Drusus. „Doch wie dem auch sei: Ich warne Euch! Wenn meinem Freund etwas geschieht, so ziehe ich Euch dafür zur Verantwortung!“

„Glaubt mir, ich will ebenso wie Ihr nur das Beste für Sorex!“ sagte die spitznasige Griechin in ernstem Ton. „Es gibt keinen Grund, an meinen aufrichtigen Gefühlen für Euren Freund zu zweifeln. Er ist mein Retter, er sorgt gut für mich und dafür stehe ich in seiner Schuld. Nie im Leben würde ich wollen, dass meinem Wohltäter etwas Schlimmes zustößt.“

„Oh ja, denn sonst werdet Ihr mit Eurem Leben dafür bezahlen!“ entgegnete Drusus in drohendem Ton. „Das ist ein Versprechen, Megara! Also seht zu, dass Sorex wohlbehalten nach Alexandria zurückkehrt!“

 

 

 

Am späten Vormittag trat Serpa-Thot in das Gästezimmer, in dem Sorex Nigellus untergebracht war und in dem er immer noch seinen Rausch von gestern ausschlief. Der schmächtige Ägypter war froh, dass die spitznasige Griechin diese Nacht nicht bei seinem Herrn verbracht hatte. Auf diese Weise bestand vielleicht die Möglichkeit, dass ihm Sorex unter vier Augen anvertraute, was der Priester des Ra ihm erzählt hatte. Serpa-Thot hoffte sehr, dass seinem Herrn dadurch die Lust genommen worden war, weiterhin nach der Grabstätte des Frevlers zu suchen.

Leise räusperte sich der ägyptische Sklave, aber Sorex schien es nicht gehört zu haben.

„Herr“, sprach Serpa-Thot ihn daraufhin leise an und trat näher. Doch noch immer rührte sich der alte Römer nicht. Vorsichtig begann der Ägypter, ihn zu schütteln. Nun endlich zeigte Sorex eine Reaktion.

„Hm?“ brummte er, blinzelte kurz und schlug dann die Augen auf. „Was ist los?“

„Wollt Ihr denn nicht langsam aufstehen, Herr? Es ist bereits später Vormittag.“

„Wozu soll ich denn aufstehen? Ich habe doch jetzt Zeit, nicht wahr?“

„Dann habt Ihr also von Eurem Plan abgelassen?“ fragte Serpa-Thot hoffnungsvoll. „Ihr bleibt eine Weile in Alexandria? Wenn Ihr es wünscht, zeige ich Euch gerne die Stadt, Herr!“

„Schön, aber im Moment passt es mir gerade nicht!“

„Gut, Herr, dann lasse ich Euch weiterschlafen“, beeilte sich der Ägypter zu sagen.

„Na ja, so lange will ich auch nicht mehr liegen bleiben“, murmelte Sorex. „Megara soll zu mir kommen und mir ein paar kalte Umschläge machen. Ich glaube, ich habe gestern wieder ein wenig zu viel getrunken. In nächster Zeit werde ich keinen Wein mehr zu mir nehmen. Ich brauche einen klaren Kopf.“

„Natürlich, Herr! Ich werde Eure Gesellschafterin sofort herbeiholen!“

Erfreut darüber, dass es dem Neffen des alten Bibliothekars anscheinend gelungen war, Sorex Nigellus von seinem unheilvollen Plan abzubringen, eilte Serpa-Thot in das Gemach der Griechin, um ihr die Wünsche des Herrn mitzuteilen. Megara schien bereits darauf gewartet zu haben, dass Sorex nach ihr verlangte, denn sie begab sich überaus schnell in das Zimmer ihres Liebhabers, während Serpa-Thot sich auf den Weg machte, eine Schüssel Wasser und einen Lappen für sie zu holen, damit sie seinem Herrn die Stirn kühlen konnte.

Er ahnte nicht, dass Megara die Zeit ihres Alleinseins mit Sorex nutzen wollte, um ihn endlich dazu zu bewegen, zu ihrer geplanten Reise aufzubrechen. Keinen Tag länger wollte die Griechin in dem Haus verweilen, in dem man sie ihrer Meinung nach beleidigt und bedroht hatte. Voller Zorn dachte sie an den Statthalter von Attika, den sie nun auch zu ihren Feinden zählte. Er musste sich gemeinsam mit Theodoros gegen sie verschworen haben und tat nun alles, um ihr auch im Ausland das Leben schwer zu machen. Darüber hinaus schien er mit der Hilfe dieses Drusus Fausto alles daransetzen zu wollen, sie von Sorex zu trennen. Doch sie war entschlossen, sich von ihnen nicht vertreiben zu lassen. Schließlich wollte sie am Ende dieser Reise die Ehefrau des römischen Veteranen werden, wenngleich das vermutlich bedeutete, dass sie ihre Identität ändern musste.

Verächtlich betrachtete Megara sich nach ihrem Eintritt in das Zimmer ihren älteren Liebhaber, der wieder eingeschlummert war. Mitleidlos trat sie neben ihn und sagte mit lauter Stimme: „Sorex! Wach auf! Du willst doch nicht den ganzen Tag verschlafen?!“

Unwillig brummte der Römer etwas vor sich hin, aber Megara ließ nicht locker, sondern rüttelte ihn jetzt ziemlich rüde auf.

„Komm, Sorex! Wach endlich auf! Hast du denn ganz vergessen, welche Pläne wir haben?“

„Oh, Schätzchen… bitte, nicht so laut…“, murmelte er verschlafen und blickte sie müde an. „Denk doch an meinen Schädel…“

„Selbst schuld“, gab Megara ungnädig zurück. Sie war immer noch wütend darüber, dass er gestern Abend die Gesellschaft zweier fremder Frauen der ihren vorgezogen und sie dabei kaum beachtet hatte. „Warum trinkst du auch so viel, da du genau weißt, wie schlecht du das verträgst? Und nenn mich nicht Schätzchen. Gestern war ich Luft für dich…“

„Ach komm, Megara, gönn einem alten Mann wie mir doch auch einmal etwas Abwechslung“, brummte Sorex. „Du weißt, wie sehr ich dich mag… hättest dich ja auch ein wenig amüsieren können…“

Die spitznasige Griechin schnaubte, worauf der ältere Römer in ein leichtes Kichern ausbrach.

„Das hätte ich nie gedacht“, meinte er dabei. „Wie kann eine fabelhafte Frau wie du nur eifersüchtig auf irgendwelche anderen Weiber sein, weil ich mal einen Abend mit ihnen verbrachte? Ich fühle mich zwar geschmeichelt, aber sieh mal, Megara, du bist immer noch bei mir, während ich schon vergessen habe, wie meine Tischnachbarinnen von gestern Abend hießen oder wie sie aussahen. Glaub mir, du bist die Einzige, die mir wichtig ist!“

„Tatsächlich?“ fragte sie ungläubig.

„Natürlich, Liebes, du bist meine Beste“, murmelte Sorex und schenkte ihr ein leichtes Lächeln. „Ich werde… ich würde… dich vermissen, wenn du nicht mehr bei mir bist…“

„Schön, das aus deinem Mund zu hören“, erwiderte Megara nun in etwas sanfterem Ton. „Aber bitte, Sorex, behandele mich nie wieder so wie gestern Abend. Es hat mich überaus verletzt…“

„Gut, Schätzchen, ich werde dich in Zukunft behandeln, als ob du meine Frau seist. Zufrieden?“

„Du… du könntest…“, begann Megara, doch sie wurde durch den eintretenden Serpa-Thot unterbrochen, der ihr eine Schüssel voll Wasser und einen Lappen brachte.

„Ah… endlich bekomme ich meine Umschläge“, seufzte Sorex erleichtert.

Megara nickte dem ägyptischen Sklaven zu, worauf dieser sich entfernte. Dann machte sie sich daran, ihrem Liebhaber die Stirn zu kühlen. Sie schwieg eine Weile, bis sie meinte, dass es Sorex etwas besser ging.

„Gedenkst du, noch länger in Alexandria zu bleiben?“ fragte sie dann.

„Vielleicht noch zwei, drei Tage“, murmelte er.

„Ist das denn wirklich notwendig, Liebster? Könnten wir nicht schon morgen früh zu unserer Reise aufbrechen? Immerhin wissen wir ja ungefähr, wo sich das uralte Memphis befindet“, meinte Megara, wenngleich sie immer noch Zweifel daran hegte, dass Hatum-Ra ihnen die Wahrheit gesagt hatte. Doch damit könnte sie sich befassen, wenn sie nicht mehr im Haus von Drusus Fausto weilte.

„Aber, Megara, wir brauchen doch zumindest einen zuverlässigen Führer, der vertrauenswürdig ist“, wandte Sorex ein. „Drusus hat da einen an der Hand…“

„Dann sieh dir diesen Mann noch heute an!“

„Oh, Schätzchen, mein Schädel brummt wirklich gewaltig…“

„Nun, mit dieser Einstellung werden wir wohl nie den Tempel erreichen, in dem sich die Schätze des Ah-Hotep befinden“, spottete Megara und erhob sich.

„Was ist los?“ wunderte sich der alte Römer.

„Ich habe keine Lust, meine Zeit mit einem Mann zu verschwenden, der seine Pläne nicht ernsthaft verfolgt“, erklärte sie. „Darum verzeih mir bitte, Liebster, dass ich mich noch heute auf die Suche nach einem Gefährten mache, der mir ein komfortables Leben bieten kann.“

„Aber, Megara, das könnte ich dir jetzt schon bieten!“

„Möglich, doch bisher waren wir nur unterwegs, haben in fremden Betten geschlafen und von der Gastfreundschaft deiner Freunde gezehrt, Sorex. Ich wünsche mir jedoch ein eigenes Heim, dass ich für meinen Mann behaglich einrichten würde – und ich habe mir wirklich gewünscht, dass du dieser Mann seist. Aber du triffst keine Anstalten, dein Ziel zu erreichen, auf dass wir beide tatsächlich ein überaus angenehmes Leben führen könnten. Deshalb lebe wohl, Sorex!“

Mit diesen Worten drehte sich die Griechin um und ging langsam in Richtung Tür.

„Nicht doch, Megara! Warte!“ rief Sorex und setzte sich ruckartig im Bett auf. „Bitte, bleib!“

Mit unendlicher Langsamkeit drehte die Angesprochene ihren Kopf in seine Richtung, zog die Augenbrauen hoch und fragte hochmütig: „Warum sollte ich?“

„Ich brauche dich, Megara! Ohne dich hat mein ganzes Vorhaben keinen Sinn!“ erklärte er aufgeregt und streckte die Hand nach ihr aus. „Bitte, bleib bei mir, Liebste! Ich verspreche dir, dass ich mir auch heute noch den von Drusus empfohlenen Führer ansehen werde; und wenn er meinen Anforderungen entspricht, dann treffe ich Vorbereitungen für unsere Abreise!“

„Wann reisen wir ab?“ fragte Megara lauernd.

„Nun, es dauert sicherlich noch zwei Tage, da wir Bedienstete benötigen!“ antwortete Sorex.

„Entweder reisen wir morgen ab oder ich gehe!“ erklärte die Griechin und wandte sich wieder der Tür zu.

„Sei doch vernünftig, Megara! Wir brauchen Bedienstete!“

„Wir haben doch Serpa-Thot und deine zwei germanischen Sklaven. Das wird fürs Erste reichen. Wenn also der von Drusus empfohlene Führer in Ordnung ist, könnten wir morgen schon abreisen und strapazieren nicht länger die Gastfreundschaft deines Freundes.“

„Aber, Megara…“

„Falls wir wirklich noch Bedienstete benötigen sollten, wird es ein Leichtes sein, unterwegs Leute einzustellen. Immerhin können Serpa-Thot und der ägyptische Landesführer uns in dieser Hinsicht beraten, oder nicht?“

„Hm, vermutlich hast du recht“, gab Sorex nach. „Also schön, Megara, wenn der empfohlene Ägypter in Ordnung ist, brechen wir bereits morgen zum alten Memphis auf.“

„So ist es richtig, Liebster!“ lobte die Griechin ihn und drehte sich nun mit lieblichem Lächeln zu ihm um. „Dann sag mir doch bitte heute Abend Bescheid, wie du dich entschieden hast. Einen schönen Tag, Sorex.“

Megara, äußerst zufrieden, dass sie den alten Römer dahin bekommen hatte, wo sie ihn haben wollte, wandte sich nun wieder der Tür zu, öffnete sie und verließ gut gelaunt das Zimmer…

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Divia, unzufrieden damit, dass sie von Quella keine umfassende Antwort auf ihre Frage darüber erhalten hatte, was ihr Vater und Melina nachts miteinander taten, sprach seit einigen Tagen nur noch das Nötigste mit der Alten. Doch ihre Neugier war geweckt. Offensichtlich verbarg sich in dem nächtlichen Treiben von Erwachsenen ein Geheimnis, das ihnen peinlich war. Grund genug für das römische Mädchen, es enthüllen zu wollen.

In der Zwischenzeit war die von Lucius bestellte Lyra für Melina eingetroffen und Laila hatte damit begonnen, ihrer jungen Herrin die Grundlagen für das Spiel dieses Instruments zu erklären. Natürlich fand sich zu diesen Unterrichtsstunden auch Divia ein, die die ägyptische Sklavin genau beobachtete. Aber sie konnte an deren Verhalten nichts Auffälliges bemerken, das sich gegen Melina richtete, und beruhigte sich ein wenig. Es gelang Laila sogar, in Divia ein Interesse für das Lyraspiel zu wecken. Singen allerdings mochte das Kind nicht lernen, ließ jedoch auch hier Melina nicht allein mit der Ägypterin, der sie misstraute. Die Freundlichkeit, mit der Laila der Tochter des Hauses begegnete, änderte nichts daran. Divia blieb, so oft es ging, in Melinas Nähe und ärgerte sich nur darüber, dass sie nicht immer bei der neuen Frau ihres Vaters sein konnte. Beispielsweise konnte Divia nichts dagegen tun, dass die Ägypterin, da sie die persönliche Bedienstete Melinas war, ihrer Herrin morgens und abends beim Waschen, Frisieren und Ankleiden half. Zeiten, in denen Laila mit Melina allein war und alles Mögliche mit ihr besprechen konnte, ohne dass Divia Zeugin davon wurde. Sie war immer noch davon überzeugt, dass Laila etwas von Melina haben wollte, und nahm sich vor, die Ägypterin nicht aus den Augen zu lassen. Leider fand ihr Vater ebenso wie Melina Gefallen an Laila, so dass es wohl aussichtslos sein würde, ihn gegen sie einzunehmen, so lange die ägyptische Sklavin sich nichts zuschulden kommen ließ. Doch Divia fasste den Vorsatz, nach den Schwächen der Dienerin zu suchen; und sobald sie sie herausgefunden hatte, würde sie diese dazu nutzen, Laila aus dem Haus zu vertreiben. Das römische Mädchen war sich sicher, dass ihr dies eines Tages gelang. Sie musste nur ein wenig Geduld haben. Denn niemals durfte jemand ihrer Melina etwas antun… niemals…

Divia dachte voller Zärtlichkeit an die junge Gefährtin ihres Vaters. Sie war der erste Mensch gewesen, der sie ernst nahm und von dem sie sich verstanden fühlte. Es war so schön, dass Vater sie geheiratet und damit dafür gesorgt hatte, dass sie nun für immer bei ihnen blieb.

Das römische Mädchen, das an diesem Morgen mit dem ersten Hahnenschrei aufgestanden war, konnte es kaum erwarten, zu Melina zu gehen. Vater war bestimmt wie immer schon längst wach und nahm ein Frühstück zu sich, während seine neue Frau noch schlummerte. Divia nutzte seit einigen Tagen diese frühe Morgenstunde, um Melina aufzusuchen, sie zu betrachten und darauf zu warten, bis sie erwachte. Manchmal durfte sie dann für eine Weile zu der jungen Griechin unter die Decke schlüpfen, bis Melina aufstand. Divia genoss diese Zeit des Alleinseins mit der jungen Frau, die sie insgeheim bereits Mama nannte.

Vorsichtig öffnete die kleine Römerin die Tür des Schlafzimmers, in dem ihr Vater und seine neue Frau die Nacht verbrachten. Wie sie vermutet hatte, lag Melina allein im Bett und schlief. Divia trat zaghaft ein und schloss leise die Tür hinter sich. Dann schlich sie zum Nachtlager ihrer Eltern und ließ sich auf die Bettkante nieder. Mit sanftem Blick schaute sie auf die junge Griechin hinab und konnte nicht umhin, ihre Hand auszustrecken und behutsam deren Wange zu streicheln. Wie schön Melina doch war! Das schönste Mädchen, das sie je gesehen hatte… und nun war sie die Gefährtin ihres Vaters und damit so etwas wie ihre neue Mutter…

Langsam beugte sich Divia zu Melina hinunter und berührte mit ihren Lippen leicht den rosigen Mund der Schlafenden.

„Nicht doch, Lucius…“, flüsterte Melina im Halbschlaf. „Ich bin so müde…“

Lächelnd blickte Divia sie an und murmelte: „Papa ist schon längst beim Frühstück, Meli. Aber ich würde dir gern noch ein wenig Gesellschaft leisten.“

Erstaunt schlug die junge Frau die Augen auf.

„Divia?“

„Ja, Meli. Darf ich ein bisschen zu dir unter die Decke kommen?“

„Ach… natürlich…“

Melina hob ihre Decke etwas an und Divia verlor keine Zeit, um darunter zu schlüpfen und sich an die junge Frau zu schmiegen. Dabei schaute sie sie fortwährend an und lächelte.

„Es ist so schön, morgens noch ein wenig neben dir zu liegen“, sagte Divia leise.

„Ja, es ist fast so, als ob ich eine Schwester hätte“, meinte Melina und seufzte. Sie strich dem Kind zärtlich über die Wange und das Haar. „Weißt du, ich habe nie eine Schwester gehabt, sondern immer nur Brüder.“

„Da bist du besser dran als ich“, erwiderte das römische Mädchen. „Ich war immer allein. Aber jetzt habe ich dich und das ist schön. Ich bin so gerne mit dir zusammen.“

„Das Gleiche könnte ich von dir behaupten. Du bist wie eine kleine Schwester für mich, Divia.“

Das Kind lächelte verschmitzt und entgegnete: „Nein, keine Schwester… du bist jetzt meine neue Mutter. Darf ich Mama zu dir sagen?“

Das Lächeln verschwand aus Melinas Antlitz und machte einer besorgten Miene Platz.

„Ach, ich weiß nicht recht“, meinte die junge Griechin. „Natürlich ist es lieb von dir und ich freue mich darüber, dass du mir so viel Zuneigung entgegenbringst…“

Sie unterbrach sich und schaute das Kind eindringlich an, ehe sie weitersprach: „Du hast doch eine richtige Mutter, Divia. Vermisst du sie denn gar nicht?“

„Pah! Ich habe nicht mehr an sie gedacht, seit Papa sich von ihr getrennt hat“, erklärte das Mädchen in patzigem Ton und schob ihre Unterlippe trotzig vor. „Ich bin froh, dass sie fort ist.“

„Aber, Divia, wie kannst du denn so von deiner Mutter sprechen?“

„Von Selene“, verbesserte die kleine Römerin sie. „Nenne sie ruhig bei ihrem Vornamen, Melina, denn für mich ist sie nie eine Mutter gewesen. Ich glaube sogar, dass sie mich nie geliebt hat…“

„Nein, das darfst du nicht denken“, meinte Melina und sah sie bestürzt an. „Selene ist deine Mutter und ich bin davon überzeugt, dass sie dich liebt.“

Divia schüttelte den Kopf und erwiderte: „Das tut sie nicht, denn ich bin nicht der Sohn, den sie sich wünschte!“

„Oh, Divia, rede dir doch so etwas nicht ein! Deine Mutter liebt dich bestimmt!“

Das Kind lachte laut auf und erwiderte in ironischem Ton: „Du glaubst immer nur das Beste von den Menschen, nicht wahr, Melina? Deswegen nennt Quella dich doch auch Lämmchen?“

Die junge Frau starrte Divia an, als würde sie sie das erste Mal richtig wahrnehmen. Dann drehte sie sich zur Seite, vergrub ihr Gesicht in die Kissen und weinte. Dieses Verhalten schien das römische Mädchen wieder zur Besinnung zu bringen. Es legte seine Hand beschwichtigend auf die Schulter Melinas und sagte leise: „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken.“

„Oh, Divia…“, schluchzte die junge Frau, das Gesicht immer noch in ihren Kissen. „Wie kann ich dich nur zur Einsicht bringen, dass man die Menschen nicht in gut und böse einteilen kann? So einfach ist das nicht…“

Das Kind verzog missbilligend den Mund, erwiderte aber nichts darauf. Es starrte eine Weile nachdenklich auf Melina, dann endlich begann es, den Rücken des griechischen Mädchens zu streicheln, wobei es murmelte: „Bitte, vergib mir meine Worte, Melina. Ich hab dich so lieb.“

Die junge Frau wandte sich nun wieder der Tochter ihres Gefährten zu. Divia strich ihr behutsam die Tränen von den Wangen und blickte sie mit treuherzigen Augen an.

„Melina, ich wollte dich wirklich nicht kränken“, entschuldigte sie sich erneut. „Es tut mir so leid. Vergibst du mir?“

Das griechische Mädchen zog Divia in seine Arme und erwiderte: „Natürlich! Wie könnte ich dir böse sein?“

„Hast du mich auch noch lieb?“ fragte die kleine Römerin im Flüsterton.

„Aber ja, Divia. Ich hab dich lieb und werde dich immer liebhaben“, antwortete Melina und drückte das Kind fest an sich, für das sie tiefes Mitleid empfand.

Divia genoss die Umarmung ihrer neuen Mutter und wünschte sich, immer mit ihr zusammenzubleiben. Sie brauchte Melinas Liebe, Verständnis und die Geborgenheit, die sie ihr vermittelte. Wie hatte sie nur jemals ohne sie existieren können? Ach, warum war sie nicht die Tochter der jungen Griechin, sondern diejenige Selenes, die weder etwas für sie noch für ihren Vater übrig hatte?

„Nicht wahr, Melina, du liebst Papa?“ fragte Divia unvermittelt.

„Ja, das tue ich“, gab die Angesprochene zu und lächelte etwas.

„Papa liebt dich sehr“, behauptete das römische Mädchen. „Und wenn Menschen sich lieben, bleiben sie doch für immer zusammen, nicht wahr?“

„Ich glaube, dass es so ist“, erwiderte Melina ein wenig unsicher. Sie musste unwillkürlich an ihren Vater und ihre Brüder denken, von denen sie jetzt getrennt war. Und dann gab es da noch Selene, die Lucius bestimmt noch liebte. Wäre sie sonst so eifersüchtig auf sie gewesen oder so böse, nachdem ihr Ehemann die Scheidung ausgesprochen hatte?

„Du bleibst doch bei uns, Melina?“ unterbrach Divia ihre Gedanken.

„Ja, das würde ich sehr gern.“

„Warum sagst du das so zögerlich, Melina?“

„Manchmal kann man nicht tun, was man möchte, weil das Schicksal es anders will“, erklärte die junge Griechin und schien wieder den Tränen nah.

„Ich weiß, du bist als Geisel nach Rom verschleppt worden“, meinte Divia in tröstendem Ton und strich ihr behutsam über den Arm. „Aber es hat sich doch alles zum Guten für dich gefügt, oder nicht? Jeder hat dich gern, Melina, und Papa wird es nicht zulassen, dass dir etwas geschieht – und ich auch nicht.“

„Du bist so süß“, entfuhr es Melina lachend. Dabei kullerten ihr Tränen über die Wangen. Verlegen wischte sie sie weg.

„Wie war eigentlich die Zeit allein mit Papa?“ wollte Divia wissen. „Bist du glücklich mit ihm?“

„Ja, sehr glücklich. Dein Vater ist ein wunderbarer Mann.“

„Und es ist gut für dich, mit ihm nachts in einem Bett zu schlafen?“ bohrte das Kind weiter.

„Na ja… ja…“, kam es zögerlich von Melina, wobei ihre Wangen eine leicht rötliche Farbe annahmen. „Warum fragst du?“

„Normalerweise hat Papa immer ein Zimmer für sich allein gehabt. Jedenfalls war das noch so, als er mit… mit seiner ersten Frau… verheiratet war“, erklärte Divia, wobei sie das Gesicht leicht verzog, als sie von ihrer Mutter sprach. Dann jedoch fing sie sich rasch und strahlte Melina an. „Aber bei dir ist das etwas anderes, nicht wahr? Werdet ihr auch ein gemeinsames Nachtlager haben, wenn wir wieder in Rom sind?“

„Oh, ich weiß noch nicht“, meinte die junge Griechin. „Darüber habe ich mir bis jetzt keine Gedanken gemacht.“

„Wie ist es denn so, wenn man nicht mehr allein schläft? Was tut ihr, wenn ihr beisammen seid?“ fragte Divia und schaute Melina nun eindringlich an. Diese senkte ihren Blick, wobei ihre Wangen sich noch röter färbten.

„Was ist?“ ließ das Kind nicht locker. „Ist es denn etwas so Schreckliches, dass du es mir nicht verraten willst?“

„Ach, nein… nein...“, wisperte Melina. „Dein Vater und ich… wir haben uns lieb…“

„Und es ist wirklich schön für dich?“

„Ja… ja, es ist schön…“

„Dann ist es gut“, meinte Divia daraufhin und schien erleichtert. „Ich habe mir nur Sorgen darüber gemacht, dass du vielleicht nicht glücklich bist. Weißt du, ich möchte, dass du bei uns bleibst…“

„Du musst dir keine Sorgen machen. Zwischen deinem Vater und mir ist alles in Ordnung und ich habe nicht die Absicht, euch zu verlassen.“

Nachdem Melina diese Worte ausgesprochen hatte, strahlte das Kind sie an. Nachdenklich betrachtete die junge Griechin ihre kleine Stieftochter und strich ihr dann zärtlich über den Kopf. Sie fragte sich gerade, was sie tun konnte, um dieses unglückliche Mädchen wieder mit der eigenen Mutter zu versöhnen und ihm dadurch vielleicht zu helfen, die Welt und die Menschen darinnen etwas freundlicher zu betrachten, als es an die Tür klopfte.

„Herein!“ rief Melina.

„Guten Morgen, Herrin!“ erwiderte Laila, als sie daraufhin das Zimmer betrat. „Möchtet Ihr aufstehen?“

„Ja, ich denke, es ist an der Zeit“, meinte die junge Frau und wollte sich aus dem Bett erheben, als Divia sie umarmte.

„Bitte, lass uns noch ein Weilchen liegen bleiben“, bettelte das Mädchen.

„Nein, ich will aufstehen“, erklärte Melina. „Draußen ist bestimmt herrliches Wetter und wir können ein bisschen spazieren gehen, ehe es zu heiß dafür wird. Also komm, Divia!“

„Außerdem sucht Quella Euch schon, Filia“, mischte Laila sich ein. „Darum solltet Ihr besser in Euer Zimmer zurückkehren.“

„Du hast mir nichts zu sagen, Sklavin!“ fuhr Divia die Ägypterin an und schenkte ihr einen bösen Blick.

„Bitte, Divia, sei freundlich!“ ermahnte Melina das Kind. „Laila hat es sicher nicht böse gemeint und wollte lediglich darauf hinweisen, dass die gute Quella sich Sorgen darüber macht, wo du bist.“

„Ja, Herrin, nichts anderes hatte ich beabsichtigt“, pflichtete die Ägypterin schnell bei, was ihr einen erneuten Zornesblick Divias eintrug.

„Bitte, geh nun auf dein Zimmer zurück, damit Quella dich anziehen kann“, sagte Melina in freundlichem Ton zu ihrer kleinen Stieftochter. „Danach frühstücken wir zusammen und gehen ein wenig hinaus. Einverstanden?“

Das Kind wandte sich nun wieder der jungen Griechin zu, lächelte sie freundlich an und erwiderte: „Natürlich, Meli! Ich tue gern alles, was   d u   wünscht!“

„Das ist schön! Dann sehen wir uns also gleich wieder“, stellte Melina klar, worauf Divia nickte und rasch das Zimmer verließ. Kaum war sie draußen, trat Laila mit besorgtem Gesicht näher an die Griechin heran und murmelte: „Das Kind ist sehr verzogen, Herrin, und Ihr solltet Euch nicht alle seine Launen bieten lassen.“

„Die Kleine ist so unglücklich“, meinte Melina daraufhin in mitleidigem Ton.

„Divia hat Euer Mitgefühl nicht verdient“, widersprach Laila. „Und es gibt auch keinen Grund, weshalb sie unglücklich sein sollte. Sie hat einen Vater, der sie liebt, und Euch, liebe Herrin. Außerdem bekommt sie fast alles, was sie sich wünscht.“

„Jahrelang hat sich niemand richtig um das Mädchen gekümmert“, verteidigte Melina ihre Stieftochter. „Ich glaube, sie bekam nicht genug Liebe.“

„Sie ist eigensüchtig, Herrin!“

„Ach nein, das glaube ich nicht! Ein wenig eigenwillig vielleicht, aber doch mit einem guten Herzen. Ich werde versuchen, ihr eine gute Freundin zu sein.“

„Ihr meint es sicher gut, Herrin, aber Ihr solltet Euch von Divia nicht völlig vereinnahmen lassen“, erwiderte Laila mit warnendem Unterton. „Sie ist nicht mehr so klein, dass sie jeden Morgen mit Euch im Bett herumschmusen muss. Ich glaube, dem Herrn wäre das gar nicht recht.“

„Er kann nichts dagegen haben, wenn ich mich um seine Tochter kümmere! Schließlich bin ich ja nun so etwas wie Divias Mutter, oder?“

„Ihr seid gut zu dem Kind – vielleicht mehr, als Ihr solltet, Herrin. Wäre es nicht besser, wenn Divia Freundinnen in ihrem Alter hätte?“

„Hm… möglicherweise…, meinte Melina nachdenklich. „Wir könnten Bekannte von Lucius einladen, die Töchter im gleichen Altern haben, sobald wir wieder in Rom sind. Divia würde sicherlich Freude daran haben, diese Mädchen kennenzulernen.“

Laila lächelte erfreut. Wenn die Herrin diese Idee so gut aufnahm, dann würde sie ihr in naher Zukunft vielleicht auch die Bekanntschaft mit wohlsituierten Römern ermöglichen. Doch im Moment war es noch zu früh, um ein solches Anliegen vorzubringen…

 

 

 

Niedergeschlagen folgte Serpa-Thot dem ägyptischen Fremdenführer, der seinem Herrn von Drusus Fausto empfohlen worden war. Hinter ihm befand sich eine von zwei kräftigen Eseln getragene Sänfte, in der sich die ihm mittlerweile verhasste Griechin befand, in die Sorex Nigellus völlig vernarrt war. Auf ihren Einfluss führte der schmächtige Ägypter es zurück, dass sein Herr sich zu jener Reise entschlossen hatte, die die ganze Welt ins Chaos zu stürzen drohte.

Serpa-Thot hatte natürlich versucht, seinen Herrn von diesem gefährlichen Unternehmen abzubringen, aber es war vergebens gewesen. In seiner Verzweiflung suchte der ägyptische Sklave sogar noch einmal Schest-Aron auf und hoffte, von diesem einen Rat zu bekommen. Doch der alte Bibliothekar berichtete ihm, dass nichts Sorex von seiner Suche nach dem Grab des Frevlers abzubringen vermochte. Allerdings wisperte er ihm zu, dass er sich nicht so viele Sorgen machen solle. Sein Neffe hätte dafür gesorgt, dass der alte Römer niemals diesen verfluchten Ort finden würde. Schließlich besäße Sorex nur eine volkstümliche Variante der Erzählung um den Verfluchten, in der sich keinerlei Hinweis auf die alte Hauptstadt befände.

„Aber Euer Neffe machte meinem Herrn genaue Angaben darüber“, widersprach Serpa-Thot.

„Nein, mein Freund, das tat er nicht“, wisperte Schest-Aron und lächelte süffisant. „Glaubt Ihr wirklich, ein Priester des Ra würde einem unwissenden Fremden dabei helfen, Tod und Zerstörung über die Welt zu bringen? Nein, nein, sorgt Euch nicht! Euer Herr glaubt nur, dass er auf dem richtigen Wege sei. Lasst ihn ruhig ein wenig durch die Wüste ziehen! Irgendwann wird er genug davon haben und aufgeben! Schließlich ist er nicht mehr der Jüngste!“

„Seine Gefährtin wird ihm keine Ruhe lassen“, meinte Serpa-Thot zweifelnd.

„Auch darüber würde ich mich an Eurer Stelle nicht sorgen“, erwiderte der alte Bibliothekar. „Sie sieht nicht so aus, als ob sie lange Strapazen gewohnt sei. Bestimmt setzt sie sich bald von eurer Reisegesellschaft ab, um bei einem wohlhabenden Mann zu bleiben, der ihr ein luxuriöses Leben bietet. Ich bin sicher, dass Euer Herr wieder zur Vernunft kommt, sobald diese Frau ihn verlässt!“

„Ach, wenn sie doch nur schon fort wäre“, seufzte Serpa-Thot.

In Erinnerung an dieses Gespräch mit dem alten Bibliothekar wünschte der schmächtige Ägypter erneut, Megara endlich los zu sein. Er empfand keinerlei Mitleid mit dieser Frau, obwohl ihm Schest-Aron unter dem Siegel der Verschwiegenheit verriet, dass sein Neffe über dem Haupte der Griechin eine schwarze Sonne schweben sah, was auf einen frühen Tod hinwies. Nach Ansicht von Serpa-Thot hatte diese durchtriebene, geldgierige Frau dies mehr als verdient. Sie schien vor allem ihren eigenen Vorteil im Blick zu haben und nutzte die Zuneigung, die der alte Sorex für sie empfand, weidlich aus, denn obwohl sie keinerlei finanzielle Mittel besaß, spielte sie sich wie die Herrin auf. Natürlich blieb Serpa-Thot und den anderen Sklaven nichts weiter übrig, als sich den Launen der hochmütigen Griechin zu fügen, da Sorex sie als seine Gefährtin ansah. Mittlerweile hatte sie sogar gegenüber dem Herrn einen frechen Ton am Leibe. Serpa-Thot war überzeugt davon, dass Megara die Schuld daran trug, dass sie sich jetzt doch auf der Suche nach dem Grab des Ah-Hotep befanden. Denn er selbst hatte gestern den Eindruck gewonnen, dass Sorex keinerlei Lust mehr auf diese Reise gehabt hatte. Und auch, wenn ihm Schest-Aron versicherte, dass der Römer niemals den verfluchten Ort finden würde, beruhigte das den schmächtigen Ägypter keineswegs. Schließlich war Sorex auch in den Besitz eines Schriftstücks der alten Legende um Ah-Hotep gelangt, obwohl Fremde davon eigentlich nichts wissen sollten. Dämonen verfügten über metaphysische Kräfte und konnten sicherlich den Geist eines Menschen für ihre Zwecke manipulieren. Womöglich war Sorex Nigellus nur ein Opfer Qaras?

Serpa-Thot warf einen Blick hinter sich, um sich zu vergewissern, wie es seinem Herrn ging.

Der alte Römer saß auf einem der beiden Kamele, die hinter der Sänfte seiner Geliebten hertrotteten, und machte den Eindruck, als ginge es ihm nicht gut. Sicherlich bereute er diese Reise schon, konnte jetzt aber nicht mehr zurück, wollte er sich nicht der Lächerlichkeit seiner römischen Freunde preisgeben. Ganz zu schweigen von der Verachtung, die ihm dann gewiss von Seiten der unverschämten Griechin entgegenschlug.

Kopfschüttelnd richtete Serpa-Thot jetzt wieder seinen Blick nach vorn. Wie konnte ein Mann nur einem derart grässlichen Weibsbild verfallen, das weder über ein angenehmes Wesen noch über gutes Aussehen verfügte?

Am meisten störte es den ägyptischen Sklaven, dass Sorex ihm das Wohlergehen Megaras anvertraut hatte. Warum ausgerechnet ihm und nicht einem der germanischen Kraftpakete, die sich sicherlich viel besser dazu eigneten, eine Person zu schützen? Aber stattdessen führte einer der Germanen das Kamel am Zaum, auf dem Sorex saß, während sich der zweite um das andere Tier kümmerte, welches die Vorräte trug, mit denen sie bis zur Erreichung der nächsten Oase auskommen mussten. Ihm selbst hingegen blieb nur, den vorderen Esel zu führen, der die Sänfte Megaras trug, und sich seinen trüben Gedanken hinzugeben. Doch allmählich spürte Serpa-Thot, wie müde er wurde.

Sie waren mit den ersten Strahlen der Sonne von Alexandria aus aufgebrochen und hatten seitdem keine Rast gemacht, obwohl das Tagesgestirn bereits längere Zeit weit hoch am Himmel stand und die Luft mit flirrender Hitze erfüllte. Serpa-Thot erinnerte sich daran, dass Seth und seine Kinder die Herrscher der Wüste waren, die für Reisende auch am Tage gefährlich sein konnten. Sie führten Menschen gern in die Irre, indem sie ihnen vorgaukelten, dass sich Oasen oder anderweitige Wasserstellen in der Nähe befänden. Doch folgte man dem Bild, das diese Dinge versprach, dann schienen sie in immer weitere Ferne zu rücken, so dass man sich, wenn man es nicht merkte, in einer gefährlichen Todeszone der Wüste verlor und schließlich nicht mehr herausfand. Auf diese Weise hatten viele Leichtsinnige ihr Leben verloren.

„Ihr kennt Euch auch wirklich hier aus?“ fragte Serpa-Thot den Führer, nachdem ihm diese erschreckende Erkenntnis mit voller Wucht ins Bewusstsein getreten war

„Ja!“ gab der andere Ägypter zurück. „Ihr könnt mir völlig vertrauen.“

„Wie weit ist es noch bis zur nächsten Oase?“

„Wenn wir so weitergehen wie bisher, dann könnten wir vor Anbruch der Dämmerung dort sein.“

„Was haltet Ihr von einer kleinen Pause?“ fragte Serpa-Thot. „Mir scheint, die Tiere haben es nötig.“

Der ägyptische Führer lachte kurz auf, blieb stehen und drehte sich zu dem schmächtigen Sklaven um.

„Also schön, warum nicht? Doch es wäre besser, wenn diese Rast nicht zu lange dauert. Deshalb rate ich dazu, dass ihr alle eine Kleinigkeit zu euch nehmt und etwas trinkt, nachdem ihr die Tiere versorgt habt. Danach sollten wir aber sofort weitergehen.“

„Gut, ich verstehe. Ihr wollt nicht unbedingt des Nachts Bekanntschaft mit den Wüstendämonen machen“, vermutete Serpa-Thot. Dann rief er laut: „Halt!“, worauf die kleine Reisegesellschaft sofort stoppte.

„Was ist los?!“ fragte Sorex stirnrunzelnd.

„Eine kleine Rast, Herr“, erklärte Serpa-Thot und registrierte, dass der alte Römer erleichtert darüber schien. Er verlor auch keine Zeit, sondern ließ sich sogleich von einem der germanischen Sklaven dabei helfen, vom Kamel abzusteigen. Als er endlich wieder Boden unter seinen Füßen spürte, machte er einen zufriedenen Eindruck. Dann schüttelte er kurz seine Beine aus und ging einen Augenblick später an die Sänfte, um Megara mitzuteilen, dass sie eine Pause einlegten. Als die Griechin ihrer Sänfte entstieg, zeigte sie ein sehr missmutiges Gesicht und wandte sich ärgerlich an Sorex: „Weshalb rasten wir?“

„Verzeiht, Herrin“, mischte sich daraufhin Serpa-Thot in freundlichem Ton ein, um dem alten Römer beizustehen. „Wir sind schon sehr lange unterwegs und die Tiere brauchen etwas Futter und Wasser.“

„Genau wie die Menschen“, ergänzte Sorex und lachte. Dann klopfte er seinem ägyptischen Sklaven auf die Schulter und winkte auch die beiden Germanen heran.

 

Etwa fünf Minuten später hatte man die Tiere versorgt und begann, sich gleichfalls zu stärken. Zu diesem Zweck hatte einer der Sklaven eine große Decke auf dem Boden ausgebreitet, wo man nun zusammensaß, aß und trank. Megara ließ äußerst misstrauisch ihre Blicke umherschweifen, ohne mit einem der Männer ein Wort zu wechseln, aber Sorex begann eine Unterhaltung mit dem ägyptischen Fremdenführer.

„Ich kann es kaum erwarten, das alte Memphis zu sehen“, meinte der Römer.

„Warum interessiert es Euch so sehr?“ fragte der Fremdenführer. „Dort gibt es kaum etwas außer alten Gräbern.“

„Gräbern?“ wunderte sich Sorex. „Ich bin auf der Suche nach einem alten Tempel.“

„Ihr meint Pyramiden?“

„Nein, nein. Ich suche einen bestimmten Tempel – den des Ra. Um ihn herum soll sich eine hohe Mauer befinden.“

Der ägyptische Fremdenführer musterte den alten Römer eine Weile schweigend, dann meinte er zögernd: „Ihr habt vermutlich die Geschichte des Frevlers gehört und glaubt, der Tempel, in den man ihn gebannt hat, befindet sich innerhalb des alten Memphis?“

„Aber ja“, gab Sorex zu. „Diese Geschichte hat mich überaus fasziniert und ich wollte mir einmal den Ort des Geschehens selbst betrachten. Deshalb sind wir jetzt unterwegs zum alten Memphis. Ich habe sogar einen ägyptischen Priester konsultiert, der mir sagte, dass das Grab des Frevlers sich in der Nähe der alten Hauptstadt befinde.“

Der Fremdenführer lachte und schüttelte dann den Kopf.

„Dieser Priester hat Euch etwas Falsches erzählt. Niemand weiß mehr, wo sich der entweihte Tempel befindet. Unsere Vorfahren haben das uralte Memphis damals verlassen und das Wissen, wo es sich einst befand, ist mit ihnen gestorben, da sie nicht wollten, dass sich auch nur ein Mensch in die Nähe des verfluchten Ortes wagt.“

„Aber…, aber… er muss doch in der Nähe der alten Hauptstadt sein“, meinte Sorex verwirrt. „Und wir sind doch auf dem richtigen Weg nach Memphis, nicht wahr?“

„Das schon, aber die ursprüngliche Hauptstadt, die den gleichen Namen trug, befand sich nicht an dem Ort, zu dem wir nun unterwegs sind“, klärte der Fremdenführer ihn auf. „Wenn Ihr während der Erzählung um den Frevler aufmerksamer gewesen wärt, dann könntet Ihr Euch denken, dass sich die ursprüngliche Hauptstadt höchstwahrscheinlich weit entfernt von dem Ort befunden haben muss, der heute als das alte Memphis bekannt ist. Denn unsere Vorfahren wollten möglichst fern von der entweihten heiligen Stätte leben, was durchaus verständlich ist, da dort ein eingeschlossener Dämon wohnt. Und von uns hat niemand ein Interesse daran, sich diesem verfluchten Ort zu nähern. Es wäre auch kaum möglich, da wie gesagt, kein Mensch mehr weiß, wo er zu finden ist.“

„Oh doch, die Priester wissen es bestimmt noch!“ rief Megara aufgebracht aus.

„Nein, das glaube ich nicht“, gab der Fremdenführer gleichmütig zurück. „Man hat damals alles getan, um die Spuren zur ersten Hauptstadt Ägyptens auszulöschen. Lediglich die Geschichte um den Frevler wird seit Generationen zur Warnung weitergegeben. Denn sollte aus Zufall doch einmal ein Ägypter auf seiner Reise durch die Wüste eine hohe Mauer sehen, so weiß er, dass er darum besser einen großen Bogen macht.“

„Verdammt!“ entfuhr es Sorex. „Dann war der ganze Weg hierher umsonst!“

„Aber warum denn?“ fragte der Fremdenführer. „Ich zeige Euch andere Stätten meines Landes, die ebenso interessant und sehr viel ungefährlicher sind als der entweihte Ort.“

Der römische Veteran blickte ratlos zu Megara.

„Was sollen wir jetzt tun?“

Die spitznasige Griechin sah ihn von oben herab an und meinte: „Reisen wir zur nächsten Oase. Dort können wir uns dann überlegen, wie es weitergeht.“

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Divia, müde vom Herumwandern, dem Unterricht im Lyraspiel und vom Zuschauen, wie die Köchin der Landvilla kleine Pasteten nach der Anweisung Melinas zubereitete, hatte sich gleich nach dem Mittagessen hingelegt. So erhielten Lucius und Melina Zeit für sich, um händchenhaltend gemütlich im Garten herumzuschlendern und sich unter vier Augen zu unterhalten.

„Es ist gut, dass du dich um meine Tochter kümmerst“, sagte Lucius.

„Ich mag Divia sehr gern“, erwiderte die junge Griechin. „Gerade deshalb mache ich mir aber auch Sorgen um sie, Liebster.“

„Tatsächlich? Warum?“

„Weißt du, sie hat mir unlängst erzählt, dass sie glaubt, ihre Mutter hätte sie nie geliebt. Findest du das nicht auch schrecklich?“

„Nun, es klingt nicht gut“, gab Lucius zu und schien bestürzt zu sein. „Wie kommt sie denn nur auf die Idee, dass ihre Mutter sie nicht mag? Als Divia geboren wurde, war Selene überaus glücklich und sehr besorgt um die Kleine. Später dann… nun ja, lassen wir das…“

„Divia meinte, dass ihre Mutter sie ablehnte, weil sie kein Knabe sei.“

„Ich bin doch sehr erstaunt darüber, wie viel Wahres meine Tochter aufnimmt. Zwar finde ich ihren Vorwurf gegen Selene etwas übertrieben, aber ich verstehe, wie Divia zu dieser Annahme gekommen ist. Weißt du, Honigmädchen, Selene wünschte sich einen Sohn. Natürlich teilte ich diesen Wunsch, aber mir wurde nach einiger Zeit klar, dass meine erste Frau ihn mir nicht erfüllen konnte. Deshalb erwog ich, einen Knaben zu adoptieren. Doch Selene lehnte dies ab, da sich bei ihr im Laufe der Jahre der Gedanke an einen eigenen Sohn zu einer fixen Idee entwickelt hatte. Kein Wunder, dass Divia glaubt, ihre Mutter könne nur einen Knaben lieben.“

„Das arme Mädchen“, meinte Melina voller Mitleid und sah dann zu ihrem Mann auf. „Aber ich glaube einfach nicht, dass Selene Divia nicht liebt.“

„Warum schaust du mich so an?“ fragte Lucius. „Ich weiß nicht, was in Selene vorging oder vorgeht. Sie hat Divia geliebt, als sie zur Welt kam, und ich hatte bis vor kurzem auch noch den Eindruck, dass sie ihr nicht gleichgültig ist. Aber es ist auch eine Tatsache, dass sie sich nicht so um das Kind gekümmert hat, wie eine Mutter es eigentlich tun sollte.“

„Sicherlich war Selene durch ihre dauernden Fehlgeburten nicht in der Lage dazu“, gab Melina zu bedenken. „Du solltest ihr das nachsehen, Liebster. Sie leidet gewiss darunter, ihre Tochter nicht mehr sehen zu können. Vielleicht sollten wir ihr ermöglichen, Divia zu besuchen.“

„Nein!“ entgegnete Lucius in einem solch harten Ton, dass Melina ihn erschrocken anstarrte. Als er das bemerkte, drückte er leicht ihre Hand und schenkte ihr die Andeutung eines Lächelns. „Du meinst es sicherlich nur gut, Honigmädchen, aber ich will Selene nicht mehr in meinem Haus haben.“

„Es ist nicht gut, wenn Divia ihre eigene Mutter hasst“, sagte Melina eindringlich. „Wir sollten alles tun, um die Kleine mit Selene zu versöhnen. Und es wäre ein Anfang, wenn die beiden sich ab und zu sehen würden.“

„Gut, ich überlege es mir“, brummte Lucius. „Allerdings werden diese Treffen nicht in meinem Haus stattfinden!“

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Pavo hatte seine Mutter und seine Schwester dazu eingeladen, die Sommermonate mit ihm und seiner Familie in seinem Landhaus zu verbringen. Diese Einladung wurde von den beiden Frauen sehr gern angenommen. Aemilia, die wieder gesund war, freute sich darauf, mit ihren beiden Kindern, ihrer Schwiegertochter und ihrem kleinen Enkel Pavo Claudius Zeit zu verbringen, während Selene hoffte, auf dem Land endlich einmal zur Ruhe zu kommen.

Sie saß an diesem Nachmittag auf einer Bank im Garten des Landhauses ihres Bruders, beaufsichtigte ihren fünfjährigen Neffen, der selbstvergessen mit seinen Murmeln spielte, und gab sich ihren Gedanken hin.

Selene war erleichtert über die Einladung ihres Bruders gewesen, da sie auf diese Weise dem Werben des unermüdlichen Crassus Heraclius entfliehen konnte, der ihr jeden Tag durch einen seiner Sklaven eine Rose schickte. Beim ersten Mal fand sie es ja noch recht schmeichelhaft, doch durch den täglichen Blumengruß fühlte sie sich zunehmend bedrängt. Selene fragte ihre Mutter, was sie dagegen tun könne, erhielt aber zur Antwort, sie solle sich freuen, dass ihr ein vornehmer Mann auf eine so nette Art den Hof mache.

Natürlich hatte Aemilia Antonia durch ihre Schwiegertochter Claudia von Crassus Heraclius und seinem ernsthaften Interesse an Selene erfahren. Seitdem wollte die alte Dame den Verehrer ihrer Tochter unbedingt kennenlernen, doch bis zu ihrer Abreise hatte sich dafür keinerlei Gelegenheit mehr gefunden. Selene war darüber sehr froh, denn auf diese Weise wurde ihre Mutter von dem potenziellen Schwiegersohn abgelenkt und Crassus hatte vorerst keine Gelegenheit mehr, sie zu umwerben.

Wenn Selene an den gutaussehenden Offizier dachte, plagte sie ein schlechtes Gewissen. Jede andere Frau würde sich über einen so angenehmen Bewerber freuen, und wenn sie selbst nicht immer noch von dem Gedanken daran besessen wäre, Lucius zurückzugewinnen, käme Crassus als zukünftiger Partner bestimmt in Frage. Aber sie hatte ihm am Abend ihrer ersten Begegnung klar zu verstehen gegeben, dass sie keinerlei Beziehungen aufzunehmen wünschte, und er versprach, sie nicht zu bedrängen. Die tägliche Zusendung einer Rose deutete jedoch darauf hin, dass er sich heftig in sie verliebt hatte und nicht gewillt war, ihre Abweisung ohne weiteres hinzunehmen.

Selene seufzte. Sie hasste es, einem so netten Mann wie Crassus Schmerz zufügen zu müssen; und den hatte er ohne Zweifel gehabt, als sein Sklave am Tag ihrer Abreise unverrichteter Dinge mit der Rose wieder zu seinem Herrn zurückkehrte. Hoffentlich hatte Crassus nun endlich verstanden, dass sie keinerlei Kontakt mit ihm wünschte.

Aber warum verschwendete sie überhaupt so viele Gedanken an einen Mann, der ihr im Grund noch fremd war?

Selene wandte ihre Aufmerksamkeit nun wieder ihrem Neffen Claudius zu. Dieser hatte eine kleine Kuhle in die Erde gegraben, dann einige Steine von der Größe seiner Hand als Hindernisse um diese Vertiefung herum aufgestellt, und war nun damit beschäftigt, bunte Murmeln zwischen diese Steine hindurch in die Kuhle rollen zu lassen.

Der in sein Spiel vertiefte Knabe erinnerte Selene unwillkürlich an ihre Tochter, die auch gerne mit Murmeln spielte. Warum eigentlich hatte sie ihr nie ihren kleinen Vetter vorgestellt? Divia hätte es sicherlich Vergnügen bereitet, mit Claudius zu spielen.

Lächelnd betrachtete Selene ihren Neffen. Wie schön wäre es gewesen, solch ein kleines Kerlchen mit Lucius zu haben. Dann hätte ihr ein so junges Ding wie diese Melina niemals gefährlich werden können und sie wäre immer noch die geachtete Gattin von Lucius Marcellus.

‚Du könntest die geachtete Ehefrau von Crassus Heraclius werden‘ wisperte eine Stimme in ihrem Inneren. ‚Du könntest einen Mann haben, der dich aufrichtig liebt. Vergiss Lucius!‘

„Nein!“ dachte sie trotzig. „Lucius ist mein Mann!“

‚Warum willst du unbedingt an einem Mann festhalten, der eine andere liebt?‘

„Er kann mich nicht einfach so abschieben wie ein Möbelstück!“

‚Lucius hat erkannt, dass eure Beziehung zerbrochen ist und Konsequenzen daraus gezogen. Und wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass er richtig handelte.‘

„Er hat mich gedemütigt! Er hat behauptet, sich nur deshalb von mir geschieden zu haben, weil er einen Sohn will…“

‚Sei froh, dass er den wahren Scheidungsgrund nicht öffentlich gemacht hat. Das erst wäre die wahre Demütigung und dein gesellschaftlicher Untergang gewesen.‘

„Der wahre Scheidungsgrund?“ dachte Selene empört. „Seine Vernarrtheit in die kleine Griechin sollte mein gesellschaftlicher Untergang sein?“

‚Nein, sondern die Vernachlässigung deiner Tochter.‘

Schlagartig wichen Selenes trotzige Gedanken gegenüber ihrem früheren Gemahl dem Bild einer eigenwilligen, kleinen Person: DIVIA!

Himmel, bei all ihren Überlegungen hatte sie Divia so gut wie gar nicht mit einbezogen. Es ging immer nur darum, Lucius nicht einfach der jungen Griechin zu überlassen.

Voller Scham vergrub Selene ihr Gesicht in die Hände. Lucius‘ Vorwurf, dass sie ihre Tochter vernachlässigte, entsprach der Wahrheit. Selbst jetzt noch verschwendete sie kaum einen Gedanken an das Mädchen, dem sie die letzten Jahre keine gute Mutter gewesen war.

Kein Wunder, dass sich das Kind einer jungen Fremden zuwandte, die ihr außer Freundlichkeit nicht viel entgegenbringen konnte. Nur darum war es Melina gelungen, das Herz Divias zu gewinnen.

‚Melina hat sich um Divia gekümmert – du nicht!‘ meldete sich wieder Selenes innere Stimme und rief erneut ein starkes Schamgefühl in ihr hervor.

„Ich will mich bessern und Divia in Zukunft eine gute Mutter sein“, versprach sie gedanklich dem Ankläger in ihrem Inneren. „Sie ist doch mein Kind und nicht dasjenige dieser jungen Fremden! Ich bin es also auch meiner eigenen Tochter schuldig, Lucius zurückzugewinnen.“

„Tante Selene, schau, ich habe es endlich geschafft, alle Murmeln ins Ziel zu bringen!“ jauchzte Claudius in diesem Moment vergnügt auf und klatschte in die Hände.

„Gut gemacht!“ lobte die Angesprochene den Kleinen und lächelte. Wie einfach es doch war, Kinder glücklich zu machen. Sie brauchten nur ein wenig Zuwendung und Aufmerksamkeit. Warum war sie nicht in der Lage gewesen, dies ihrer Tochter entgegenzubringen?

„Spielst du jetzt zusammen mit mir?“ wollte Claudius wissen und blickte seine Tante erwartungsvoll an.

„Nein, ich fürchte, ich bin dafür schon zu alt“, antwortete sie freundlich.

„Ach bitte!“ bettelte der Kleine. „Ich leihe dir auch die Hälfte meiner Murmeln.“

„Nun, junger Mann, wenn deine Tante nicht will, würdest du dann vielleicht mit mir als Spielkamerad vorlieb nehmen?“ ließ sich plötzlich eine freundliche Männerstimme vernehmen.

Überrascht schauten Claudius und Selene in die Richtung, aus der die Stimme kam, und als Selene ihren Besitzer erkannte, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen.

„Crassus Heraclius!“ entfuhr es ihr.

„Guten Tag, Selene Antonia“, begrüßte der Offizier sie und verneigte sich ein wenig. Dann kniete er sich neben dem kleinen Jungen nieder, der im Gegensatz zu seiner Tante keinerlei Hemmungen im Umgang mit dem unerwarteten Gast zeigte und ihm sogleich erklärte, in welcher Weise er das Murmelspiel abgewandelt hatte. Crassus hörte dem Fünfjährigen aufmerksam zu und schenkte Selene noch einen freundlichen Blick, ehe er mit dem Knaben zu spielen begann.

Viel zu überrascht von seinem Erscheinen, blieb Selene einfach sitzen und beobachtete ihn. Dabei wurde ihr wieder einmal bewusst, wie attraktiv dieser Crassus doch war; und wie gut er mit ihrem kleinen Neffen umzugehen verstand. Ob der Offizier vielleicht auch Kinder besaß? Aber was machte er eigentlich hier?

Zwei Minuten später bekam sie Antwort auf diese Frage, denn ihre Schwägerin erschien im Garten und begrüßte Crassus voller Freude.

„Wir haben Euch zwar erst morgen Abend erwartet, aber natürlich seid Ihr uns jederzeit willkommen“, sagte Claudia.

„Nun, die Sehnsucht trieb mich her“, erwiderte der Offizier, wobei er Selene einen Seitenblick schenkte. Dann meinte er in entschuldigendem Ton: „Wir müssen unser Spiel noch beenden“ und wandte sich wieder Claudius zu. Dessen Mutter lachte und setzte sich dann neben die Schwester ihres Mannes.

„Nun, ist uns die Überraschung nicht gut gelungen?“ wisperte Claudia ihr zu.

„Ja, das kann man wohl sagen“, erwiderte Selene ebenso leise. „Ich wusste gar nicht, dass ihr Gäste erwartet.“

„Nur ein paar gute Freunde für einige Tage“, erklärte ihre Schwägerin.

„Gute Freunde… so, so…“, murmelte Selene und schwieg dann, während sie ihren Blick wieder auf Crassus richtete und bewunderte, welche Geduld dieser Mann im Umgang mit ihrem kleinen Neffen bewies. Sicherlich würde er auch mit der eigenwilligen Divia fertigwerden. Das Mädchen mochte ihn bestimmt… aber was dachte sie denn da schon wieder…?

Lucius war der Mann, den sie wollte – nicht Crassus!

 

An jenem Abend saß Selene während der Cena, die ihr Bruder in seinem Landhaus gab und zu der außer Crassus noch einige andere Gäste eingeladen worden waren, mit ihren beiden Freundinnen Cinna und Gordia zusammen und beobachtete unter deren Schutz argwöhnisch, wie angeregt sich Crassus mit ihrer Mutter unterhielt. Aemilia schien die Gesellschaft des Offiziers zu genießen, denn das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde immer breiter.

„Sieht so aus, als hätte dieses Schmuckstück von einem Mann das Herz deiner Mutter erobert“, wisperte Cinna Selene zu und grinste. „Warum eigentlich machst du es ihm so schwer, meine Liebe?“

„Wie sollte ich ihm sonst klarmachen, dass ich an einer Bindung nicht interessiert bin?“ gab die Angesprochene in leicht ärgerlichem Ton leise zurück.

„Warum eigentlich nicht? Er ist ein so gutaussehender Kerl“, murmelte Cinna und ließ ihren Blick wohlgefällig zu dem Offizier hinüberschweifen.

„Selene leidet sicherlich noch unter dem Schmerz, den Lucius ihr zugefügt hat“, nahm Gordia ihre Freundin in Schutz. „Es braucht eine Weile, um über eine solche Demütigung hinwegzukommen.“

„Demütigung – ach was!“ tat Cinna dieses Argument ab. „Lucius will einen Sohn und Selene war nicht dazu in der Lage, ihm diesen zu schenken, worauf er sich die kleine Fürstentochter schnappt, die ihm der Imperator als Geschenk anbietet, um mit ihr den ersehnten Erben zu zeugen. Ein völlig normales Verhalten bei einem so reichen Patrizier.“

Cinna wandte sich nun direkt an Selene: „Glaub mir, das griechische Mädchen ist nicht zu beneiden. Wenn sie ihm keinen Sohn schenkt, wird sich die Zuneigung deines launischen Lucius‘ zu ihr sehr schnell abkühlen und wer weiß, wie er sie dann behandelt. Diese Melina kann ihn noch nicht einmal verlassen, denn wohin sollte sie auch gehen? Der Weg zurück nach Athen ist ihr versperrt, da sie die Konkubine eines Römers war und dadurch in den Augen ihrer Landsleute entehrt ist.“

„Was? Verhält es sich tatsächlich so?“ entfuhr es Selene überrascht.

„Ja, das tut es“, antwortete Cinna mit süffisantem Grinsen. „Da bist du als freie Römerin doch sehr viel besser dran, meine Liebe. Dein Ruf ist tadellos, du verfügst selbst über genügend Geld und kannst es dir erlauben, bei der Wahl deines zukünftigen Partners hohe Maßstäbe anzulegen. Denn du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, für den Rest deines Lebens allein bleiben zu wollen?“

„Nein, natürlich nicht“, entgegnete Selene.

„Warum also nimmst du nicht Crassus?“ wollte Cinna daraufhin wissen. „Ihn scheint es nicht zu kümmern, dass du Schwierigkeiten mit dem Kinderkriegen hast, obwohl auch er Patrizier ist.“

„Jetzt, da du es erwähnst, finde ich es überaus merkwürdig, weshalb er mir trotzdem den Hof macht“, meinte Selene, die nach einer Antwort suchte, damit ihre verwitwete Freundin mit ihren neugierigen Fragen aufhörte. „Vielleicht will er einfach nur sein Vergnügen?“

„Rede keinen Unsinn!“ mischte sich daraufhin Gordia wieder ein. „Crassus steht im Ruf, ein tugendhafter Mann zu sein, da er seit Jahren allein lebt und nicht einmal eine Geliebte in Germanien gehabt haben soll.“

„Sehr merkwürdig“, murmelte Cinna und bedachte den Offizier wieder mit einem wohlgefälligen Blick. „So einem schönen Mann müssen doch viele Frauen zu Füßen liegen – selbst Barbarinnen…“

„Er gilt als sehr zurückhaltend“, klärte Gordia sie in strengem Ton auf und wandte sich dann wieder mit einem Lächeln ihrer Freundin Selene zu: „Wenn Crassus dir den Hof macht, dann hegt er ernsthafte Absichten in Bezug auf dich. Mir ist ja schon damals in Rom aufgefallen, wie oft er dich heimlich angesehen hat. Du scheinst ihm wirklich zu gefallen, meine Liebe, und solltest daher euch beiden Gelegenheit zu einem näheren Kennenlernen geben. Crassus wird dir sicherlich Zeit lassen, bis du für eine neue Partnerschaft wieder bereit bist.“

„Er wird bestimmt nicht jahrelang warten!“ widersprach Cinna spöttisch. „Wie ich hörte, hegt er den Wunsch, eine Bindung mit einer adäquaten Partnerin einzugehen. Man munkelt auch, dass er eine Verwandtschaft mit dem Hause Antonius für überaus erstrebenswert hält. Was glaubst du wohl, wie ein derartiges Gerücht in die Welt kam, Selene?“

„Woher soll ich das wissen?“ gab die Angesprochene ärgerlich zurück.

„Ich kann es dir sagen, denn ich war dabei, wie Crassus während einer Cena bei einem gemeinsamen Bekannten, bei der auch dein lieber Bruder und seine Gattin zugegen waren, auf seine Freundschaft mit Pavo anstieß und ein Loblied auf Eure Familie sang“, erzählte Cinna.

„Er muss sehr verliebt in dich sein“, mutmaßte Gordia und lächelte Selene aufmunternd an. Sie legte eine Hand auf den Unterarm ihrer Freundin und meinte: „Du solltest dir Crassus wirklich näher anschauen – und du kannst dir ruhig Zeit lassen.“

„Ja, so etwa zwei Monate“, kam es in gedehntem Ton von Cinna. „Das erscheint mir ein angemessener Zeitraum für eine geschiedene Frau, bevor sie sich wieder mit einem Mann einlässt. Angesichts der Tatsache jedoch, dass Lucius Marcellus keine Zeit verlor, die kleine Griechin zu seiner Geliebten zu machen, sobald du sein Haus verlassen hattest, solltest du keinerlei Skrupel haben, dem Werben eines solch attraktiven Mannes wie Crassus Heraclius nachzugeben, Selene. Ich an deiner Stelle hätte ihn sicherlich längst erhört.“

„Dann nimm du ihn doch!“ zischte Selene ihre verwitwete Freundin leise an.

Cinna lächelte spöttisch und entgegnete: „Das würde ich gerne tun, aber er ist nun einmal nur an dir interessiert, meine Liebe. Du siehst, welch einen aufrichtigen Verehrer du in ihm hast. Solch ein Glück würde ich nicht mit Füßen treten, wenn ich du wäre, Selene.“

Die Angesprochene starrte ihre Freundin mit offenem Mund an und konnte nicht fassen, dass diese ihr gerade eben freimütig ins Gesicht gesagt hatte, wie sehr sie sie darum beneidete, dass Crassus in sie verliebt war. Als sie eben zu einer Antwort ansetzen wollte, hörte sie die Stimme ihres Bruders: „Selene, ich erzählte meinem Freund Crassus gerade von den Rosenbüschen im hinteren Teil des Gartens, die du vor einigen Tagen so hübsch zurechtgeschnitten hast. Er äußerte den Wunsch, sie sehen zu wollen, weil Rosen seine Lieblingsblumen sind. Wärst du wohl so freundlich, sie ihm zu zeigen?“

„Aber natürlich!“ erwiderte sie und erhob sich, um in den Garten zu gehen. Crassus folgte ihr schnell und befand sich bereits an ihrer Seite, als sie nach draußen traten. Mit unangenehmem Gefühl nahm Selene dies zur Kenntnis, schwieg jedoch, während sie sich langsam in Richtung der Rosenbüsche bewegten.

„Wie geht es Euch, Selene?“ richtete Crassus endlich das Wort an seine Begleiterin.

„Danke, ausgezeichnet!“ erwiderte sie knapp.

„Ich habe Euch vermisst“, gestand der Offizier. „Deshalb war ich Eurem Bruder auch so dankbar für diese Einladung, die mir erneut Gelegenheit gibt, mich an Eurer Gesellschaft zu erfreuen. Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie sehr mich der Anblick rührte, Euch mit Eurem kleinen Neffen im Garten zu sehen, Selene. Ihr seid bestimmt eine wundervolle Mutter.“

Peinlich berührt, stotterte sie: „Danke, aber… ach, ich glaube…  ich… ich vermisse meine Tochter so sehr…“

Sie blieb abrupt stehen und er tat es ihr gleich, während sie ihn anschaute und erklärte: „Ich fühle mich von Euch bedrängt, Crassus! Wie Ihr wisst, liegt es noch nicht lange zurück, da ich die Ehefrau eines anderen Mannes war… es fällt mir schwer, diesen Mann zu vergessen… und ich denke auch an meine Tochter, die bei ihm lebt… seit mein Mann mich aus dem Haus gewiesen hat, habe ich sie nicht mehr gesehen…“

„Ich verstehe durchaus, wie schwer es Euch fällt, die Vergangenheit loszulassen“, meinte der Offizier in tröstendem Ton und ergriff ihre Hände. „Ihr vermisst Euer Kind und hegt noch Gefühle für den Mann, der sich von Euch trennte. Das kann ich sehr gut verstehen.“

Crassus führte ihre Hände nun an seine Lippen und küsste sie, während er Selene offen in die Augen sah.

„Es lag nicht in meiner Absicht, Euch zu bedrängen, meine Liebe“, fuhr er dann fort. „Ich hätte nie gedacht, dass mein täglicher Blumengruß so von Euch aufgefasst werden könnte. Alles, was ich wollte, war, Euch eine Freude zu machen und Euch damit zu zeigen, wie viel Ihr mir bedeutet und wie sehr ich Euch verehre.“

„Aber Ihr kennt mich doch kaum!“ rief Selene aus. Wieder einmal hatte sie Mühe, ihre aufsteigenden Tränen hinunterzuschlucken. Crassus schien wirklich sehr verliebt in sie zu sein.

„Jeder findet nur lobende Worte über Euch“, erwiderte der Offizier. „Und niemand, der Euch kennenlernt, wird bestreiten, dass Ihr eine bewunderungswürdige Frau seid.“

„Dennoch hat mir mein Mann den Scheidungsbrief überreicht und mich aus seinem Haus gewiesen, weil… nun ja… Ihr habt sicherlich gehört, weshalb…“

„Es interessiert mich nicht, Selene, denn mir ist es nicht wichtig, einen leiblichen Erben zu haben. Aber ich würde gerne mit dem Menschen mein Leben teilen, der mir etwas bedeutet – und das seid Ihr, Selene.“

„Aber…“

„Nein, sagt jetzt nichts“, bat Crassus sie. „Es ist durchaus verständlich, dass Ihr Zeit braucht, um mich kennenzulernen, und ich werde Euch diese Zeit lassen, denn es liegt mir am Herzen, dass Ihr Euch wohlfühlt.“

Selene schüttelte nur den Kopf und murmelte: „Ich verstehe es nicht… ich verstehe es einfach nicht… wie könnt Ihr Euch nur so sicher sein, dass ich die Richtige für Euch bin? Warum nehmt Ihr so viel Rücksicht auf mich, obgleich Ihr unter einer Vielzahl wesentlich jüngerer Damen eine andere wählen könntet?“

„Mein Gefühl sagt mir, dass Ihr die richtige Frau für mich seid“, erwiderte Crassus und lächelte sie an. „Als ich Euch das erste Mal sah, war mir, als ginge die Sonne auf, und ich muss seitdem unentwegt an Euch denken. Neben Eurer Schönheit verblassen alle anderen Damen.“

Verlegen schaute Selene zu Boden. Solche Komplimente hatte sie schon lange nicht mehr gehört und sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass so etwas jemals wieder ihre Ohren umschmeicheln würde – schon gar nicht aus dem Mund eines so attraktiven Mannes wie Crassus. Schließlich war sie keine siebzehn mehr…

„Wie kommt es, dass ein vornehmer Mann wie Ihr nicht verheiratet seid?“ fragte Selene und sah wieder zu ihrem Verehrer auf. Ein schmerzlicher Ausdruck trat in sein Gesicht. Er senkte seinen Blick und flüsterte: „Ich konnte die Frau, die ich einst liebte, einfach nicht vergessen.“

Selene horchte auf.

„Die Frau, die Ihr einst liebtet?“

„Ja…“

„Wer war sie und warum habt Ihr sie nicht geheiratet?“ wollte Selene wissen.

„Felicia war meine Verlobte“, klärte Crassus sie auf und schaute seine Begleiterin jetzt wieder an. In seinen Augen schimmerte es feucht. „Wir haben uns sehr geliebt, aber dann wurde sie von einer schweren Krankheit befallen und starb…“

„Das tut mir leid“, sagte Selene betroffen. „Und seitdem gab es keine andere Frau mehr…?“

„Nein, obwohl Felicia seit mehr als zwanzig Jahren tot ist“, antwortete der Offizier. „Ich habe sie so sehr geliebt… Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich noch einmal jemanden treffen würde, für den ich solcherart Gefühle aufbringen könnte… bis ich Euch begegnet bin…“

„Ich… ich weiß nicht… kann… kann ich etwas für Euch tun, Crassus?“

„Wenn Ihr mir nur erlaubt, in Eurer Nähe sein zu dürfen, wäre ich überaus glücklich.“

„Also… nun…“, fassungslos rang Selene nach Worten. Sie konnte ihm doch nicht diesen kleinen Wunsch versagen, obwohl sie sich durch sein Liebesgeständnis noch mehr bedrängt fühlte, als durch seinen Blumengruß. „Ich kann Euch nicht versprechen, dass… Hört, Crassus, ich will Euch nicht weh tun, aber… aber ich habe das Gefühl, dass ich Euren Erwartungen nicht entsprechen kann, so leid es mir auch tut…“

„Bitte, macht Euch keine Gedanken darüber, Selene“, erwiderte der Offizier. „Da ich selbst ein Liebender bin, weiß ich, wie schwer es ist, den Menschen loszulassen, für den man immer noch starke Gefühle hegt. Da Euer früherer Ehemann also noch immer Euer Herz besetzt, nehmt Euch ruhig so viel Zeit, wie Ihr braucht, um Euch von ihm zu lösen. Ich warte gerne…“

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Mit pochendem Schädel trat Sorex aus dem Zelt in der Hoffnung, die kühle Nachtluft würde seine Kopfschmerzen lindern. Nachdem sie vor einigen Stunden endlich in der Oase ankamen und dort ihre beiden Zelte aufschlugen, um zu übernachten, erwartete ihn statt der ersehnten Nachtruhe eine streitlustige Megara, die ihm Vorwürfe darüber machte, auf das Geschwätz von Hatum-Ra hereingefallen zu sein. Sie forderte von ihm allen Ernstes, nach Alexandria zurückzukehren und den Priester dazu zu zwingen, sie zum entweihten Tempel zu führen. Der Einwand, dass auch römische Soldaten nicht einfach einen geachteten Ra-Priester aus dem Tempel abführen konnten, ohne einen mittelschweren Aufstand der ägyptischen Bevölkerung auszulösen, fand keinerlei Verständnis bei Megara. Sie erinnerte Sorex in aufgebrachtem Ton daran, dass sie sich einen neuen Liebhaber suchen würde, wenn er sein Versprechen, mit ihr die Schätze des Ah-Hotep zu heben, nicht einhalten sollte. Danach legte sie sich hin und schlief sofort ein, während er wieder einmal das Gefühl hatte, sein Schädel würde jeden Augenblick platzen. Nun stand er also vor seinem Zelt und fragte sich, was um alles in der Welt er jetzt machen sollte. Keinesfalls wollte er einfach seinen Plan, die Unsterblichkeit zu erlangen, aufgeben, aber er wusste nicht, wo genau er mit der Suche nach dem Ort beginnen sollte, an dem sich der Verfluchte befand. Ohne ihn würde er niemals ewiges Leben erlangen.

„Verdammt!“ murmelte er und starrte wütend in den Nachthimmel. „Wo bist du, Ah-Hotep?!“

„Habe ich eben richtig gehört?“ vernahm er plötzlich eine leise, überaus angenehme Stimme, die sein Ohr umschmeichelte. „Wagt es da tatsächlich ein Mensch, den Namen des alten, verfluchten Priesters auszusprechen?“

Verwundert schaute Sorex vor sich und sah aus dem Dunkeln eine Gestalt langsam auf sich zukommen.

„Wer seid Ihr?“ fragte der alte Römer und versuchte, diese Person trotz der spärlichen Lichtverhältnisse genauer in Augenschein zu nehmen. Es war ein etwa mittelgroßer, muskulöser Mann, der endlich vor ihm stehen blieb und ihm zulächelte. Der Unbekannte hatte einen schmalen Mund und schaute ihn aus schlitzartigen, dunklen Augen an, deren schwarze, dichte Brauen sich direkt darüber befanden. Sein ovales Gesicht zierte eine lange, gerade Nase und eine Art goldenes Diadem bildete zusammen mit einem blauen Tuch seine Kopfbedeckung. Die Vorderseite des Schmuckes war gut sichtbar mit einem Paar Stierhörnern versehen. Das Gewand des Fremden schien leicht gelblich zu sein und wurde von einem bunten, mit Quasten besetzten Gürtel zusammengehalten. In der rechten Hand des Mannes befand sich ein langer, goldfarbener Stab und Sorex fragte sich unwillkürlich, ob es sich bei seinem Gegenüber um einen reichen Nomaden handelte.

„Wer seid Ihr?“ fragte der Römer erneut.

„Ich bin Setech“, stellte sich der andere nun vor und verneigte sich leicht, wobei er sein Lächeln beibehielt. „Habt Ihr nun die Güte, mir Euren Namen zu verraten? Denn mich interessiert doch sehr, welcher Mensch die Kühnheit besitzt, den Namen von Ah-Hotep, dem Verfluchten, der die Majestät des höchsten Gottes beleidigte, ohne einen Funken von Angst auszusprechen.“

„Mein Name ist Sorex Nigellus“, stellte sich der Veteran daraufhin ohne Umschweife vor. Die Gegenwart des Fremden mit der dunklen, wohlklingenden Stimme lullte ihn auf eine überaus angenehme Weise ein und vermittelte ihm dadurch das Gefühl, mit einem guten Freund zu sprechen; und nach allem, was er sah, schien von seinem Gegenüber keine Gefahr auszugehen.

„Ihr seid nicht von hier“, stellte Setech in sachlichem Ton fest. „Woher kommt Ihr und was ist der Grund Eurer Suche nach Ah-Hotep oder Qara, wie sein richtiger Name lautet?“

„Ihr seid recht neugierig“, erwiderte Sorex. „Verratet mir doch erst einmal, wie Ihr hierher kommt!“

Setech lachte und nickte dann.

„Es ist zwar nicht üblich, dass ein Fremder in einem solchen Ton Fragen an mich richtet, aber Ihr gefallt mir“, erklärte er dann. „Nun, so wisst denn, dass ich der Herrscher über diesen Ort hier bin.“

„Was?!“ entfuhr es Sorex überrascht. „Aber in dieser Oase lebt doch niemand mehr und als wir hier ankamen, war sie wie ausgestorben.“

„Ja, leider“, seufzte Setech. „Die Bewohner dieser Oase sind bedauerlicherweise alle tot, so dass ich seit langer Zeit allein hier leben muss. Als Ihr ankamt, habe ich sicherlich noch geschlafen.“

„Verzeiht, aber Ihr seht nicht sehr alt aus“, meinte der Römer.

„Lasst Euch nicht täuschen, Fremder“, entgegnete sein Gesprächspartner. „Ich bin sehr viel älter als ich aussehe. Doch nun verratet mir bitte, woher Ihr seid und weshalb Ihr unbedingt Qara finden wollt.“

„Ich bin aus Rom hierher gekommen, um den alten Tempel zu besichtigen…“, begann Sorex mit seiner üblichen Geschichte, doch das breite Grinsen, mit dem ihn Setech nach diesen Worten bedachte, ließ ihn umgehend verstummen.

„Ihr braucht mir nicht dieses Lügenmärchen aufzutischen, Fremder, denn wenn jemand auf der Suche nach einem Mann wie Qara ist, dann will er genau wie jener Frevler die Grenze der Sterblichkeit überschreiten“, entgegnete der Ägypter. Als der alte Römer ihn daraufhin entsetzt anstarrte, schenkte er ihm einen sanften Blick aus seinen schlitzartigen Augen und ließ wieder seine überaus schmeichlerische Stimme vernehmen: „Keine Sorge, mein Freund, ich verstehe Euren Wunsch durchaus und werde Euch helfen, ihn zu verwirklichen.“

„Ach, tatsächlich?!“ entfuhr es Sorex überrascht und, als Setech daraufhin nickte, fragte er sofort: „Warum wollt Ihr das tun? Was verlangt Ihr als Gegenleistung dafür?“

„Nun…“, begann Setech mit honigsüßer Stimme. „Alles, was ich will, ist Qara.“

„Den Frevler?! Aber… nein, das geht nicht! Ich benötige ihn!“

„Natürlich, Sorex, aber nur für die Verwandlung. Wenn es Euch tatsächlich gelingt, mit Qaras Hilfe unsterblich zu werden, treffen wir uns alle an einem von mir vereinbarten Ort…“

„Wenn es mir gelingt…“, echote der alte Römer und starrte den Ägypter wieder an. Dann fasste er sich und meinte: „Natürlich wird es mir gelingen, denn ich weiß, wie ich Qara beschwören kann. Doch um das zu tun, müsste ich ihn erstmal finden, nicht wahr?“

„Nichts leichter als das“, behauptete Setech selbstsicher. „Der entweihte Tempel befindet sich genau in entgegengesetzter Richtung der alten Stadt, in die Euer Führer Euch bringen will. Ihr müsst ihm also nur befehlen, diesen anderen Weg zu gehen.“

„Hm, ich fürchte, er wird sich dem verweigern, weil er genau wie alle übrigen Ägypter Angst vor dem Geist des frevlerischen Priesters hat“, gab Sorex zu bedenken. „Wenn ich es mir recht überlege, seid Ihr der erste Eurer Landsleute, der sich nicht vor Qara fürchtet.“

„Weil ich ihn nicht fürchten muss, denn ich weiß, wie man mit ihm umgeht“, erklärte Setech. „Doch seid unbesorgt, mein Freund, ich sorge dafür, dass Euer einheimischer Führer Euch den richtigen Weg weist. Aber er ist sehr weit. Wollt Ihr ihn wirklich gehen?“

„Alles, was ich mir wünsche, ist die Unsterblichkeit“, antwortete Sorex, während er spürte, dass sein Herz vor lauter Aufregung heftiger zu schlagen begann.

„Wisst Ihr, dass Ihr dafür ein großes Opfer bringen müsst?“ fragte Setech in lauerndem Ton.

„Ja, obwohl es mir in der Seele weh tut, Megara zu opfern“, murmelte der alte Römer.

„Sieh an, diese Frau bedeutet Euch also viel? Dann ist es fürwahr ein großes Opfer, das Ihr Qara darbringen wollt. Rechnet aber nicht damit, dass er es zu schätzen weiß.“

„Soviel mir bekannt ist, braucht der Geist des Frevlers doch Blut, um seine Kräfte wiederzuerlangen. Wie könnte er da den Lebenssaft meiner Geliebten nicht zu schätzen wissen?“

„Oh, er ist von recht undankbarer Natur“, flüsterte Setech. „Und merkt Euch eins, mein Freund: Qara ist kein Geist, sondern ein sehr materielles Geschöpf, das nur deshalb nicht aktiv werden kann, weil es durch Zauberbanne in seinem dunklen Verließ gefangen gehalten wird. Sein Wesen ist dünkelhaft und er kann sehr unangenehm werden. Deshalb seht Euch vor ihm vor.“

„Dann ratet Ihr mir also, Megara nicht zu opfern?“ fragte Sorex unsicher.

„Ihr müsst selbst entscheiden, was Ihr wollt und was Ihr für Euer Ziel hinzugeben bereit seid“, antwortete Setech. „Wählt selbst, mein Freund: Vergänglichkeit oder ewiges Leben?“

„Ich will ewig leben“, sagte der Römer sofort.

„Dann überlegt, was Ihr dafür zum Tausch anbieten könnt. Denn alles, was man bekommt, hat seinen Preis.“

„Dann wird Megara also sterben müssen?“ flüsterte der alte Soldat und es klang ein wenig traurig.

„Überlegt in Ruhe, ob Ihr Qara nichts Besseres anbieten könnt als das Leben Eurer Geliebten“, riet ihm Setech und lächelte. „Vielleicht fällt Euch ja etwas anderes, viel nahe Liegenderes, ein und Eure Freundin muss den Tod nicht erleiden.“

„Ihr scheint so viel zu wissen“, meinte Sorex. „Wie kommt es, dass noch kein anderer Mensch versucht hat, Qara wieder aufzuerwecken? Die Aussicht, niemals zu altern und zu sterben, muss doch sehr viele dazu verlocken.“

„Wer sagt denn, dass es vor Euch noch niemand probiert hat?“

„Ihr selbst?“ fragte der Römer erschrocken. Als Setech den Kopf schüttelte, meinte Sorex verwundert: „Aber erzähltet Ihr mir denn nicht, dass Ihr schon sehr lange hier lebt und sogar Eure Untertanen überlebt habt? Demnach müsst Ihr sehr alt sein, doch Ihr erscheint wie ein Mann in den besten Jahren. Zudem erwähntet Ihr, dass Ihr wisst, wie man mit Qara umgehen muss. Bestimmt seid Ihr selbst auch unsterblich.“

„Möglich…“, antwortete der Ägypter vage und lächelte. „Aber hier geht es nicht um mich, sondern um Euch und Euer Ziel, bei dessen Erreichung ich Euch gerne ein wenig helfe.“

„Warum tut Ihr das für mich? Ihr kennt mich doch kaum.“

„Nun, ich glaube, dass Ihr das Geschenk des ewigen Lebens zu schätzen wissen werdet“, erwiderte Setech in sanftem Ton. „Und außerdem habe ich es zu einer meiner Aufgaben gemacht, Fremden behilflich zu sein. Denn ich selbst wurde einst aus meiner Familie ausgestoßen und dadurch zu einem Fremden im eigenen Land.“

„Aber was ist mit Euren Untertanen?“

„Sie gaben mir eine neue Heimat, sie verehrten mich als ihren weisen Führer und ich habe sie gut geschützt und ihnen Reichtum gebracht. Doch sie waren nicht meine Familie. Und weil mir Fremde ein Obdach gaben und mir Zuneigung entgegenbrachten, helfe ich meinerseits gerne einem Fremden wie Euch.“

„Es ist sehr verwirrend, Setech“, meinte Sorex und schüttelte den Kopf. Dann blickte er nachdenklich zu Boden und murmelte: „Aber wenn Ihr selbst einer jener Unsterblichen seid, könntet Ihr mich dann nicht auch zu einem Wesen Eurer Art machen, so dass ich mir den langen Weg zu dem entweihten Ort, in dem Qara gefangen sitzt, ersparen kann und meine Geliebte nicht opfern muss?“

Da er keine Antwort erhielt, blickte der Römer wieder auf… doch der Ägypter war verschwunden. Wie konnte das sein? Er hatte nicht gehört, dass jener sich entfernte.

„Setech?“ rief der alte Soldat. Niemand meldete sich.

„Setech, wo seid Ihr?“ wiederholte Sorex noch einmal. Aber statt des ersehnten Gesprächspartners, steckte Megara ihren Kopf aus dem Zelt heraus und sagte in müdem, mürrischem Ton: „Was schreist du hier herum? Es ist mitten in der Nacht und ich brauche meinen Schlaf!“

„Dann geh wieder ins Zelt und leg dich hin“, meinte der Römer in leiserem Ton. „Ich muss noch etwas Wichtiges mit einem Freund bereden.“

„Hier draußen ist doch niemand!“ brummte Megara ärgerlich.

In eben diesem Augenblick kroch in raschem Tempo eine große Kobra an ihrem Zelteingang vorbei und ließ ein lautes Zischeln hören. Dann umkreiste sie noch einmal Sorex und verschwand gleich darauf in der Dunkelheit, ehe die beiden Menschen begriffen, welches Glück sie gehabt hatten, dass diese giftige Schlange sie nicht angegriffen und getötet hatte.

„Was war das?“ keuchte Sorex, dem sich im Nachhinein die Nackenhaare aufstellten, als ihm klar wurde, dass er nur knapp dem Tod entronnen war.

„Eine Kobra, Liebster“, antwortete Megara, der das Gleiche durch den Kopf zu gehen schien, in äußerst sanftem Ton. Durch die Begegnung mit der gefährlichen Schlange wurde ihr mit einem Mal schlagartig klar, dass sie völlig abhängig vom Wohlwollen des alten Römers war, der sie bisher gut behandelt hatte. Sie konnte weder riskieren, ihn mit ihren Launen zu verärgern, noch, dass ihm etwas geschah. Daher sagte sie in besorgtem Ton: „Bitte, Sorex, komm ins Zelt! Draußen ist es kalt und gefährlich – und du weißt doch, dass ich nicht ohne dich leben kann.“

„Nanu?“ wunderte sich der Römer. „Ich dachte, du wolltest dir einen anderen Liebhaber suchen, mein Schatz?“

„Ach, vorhin war ich etwas nervös“, meinte die Griechin, deren Stimme leicht zitterte. „Verzeih mir, wenn ich dich dabei unabsichtlich gekränkt habe. Du weißt, wie dankbar ich dir für alles bin, was du für mich getan hast. Und nun komm ins Zelt, Liebster, damit ich dich mit meinem Körper wärme…“

 

Als Sorex am nächsten Morgen neben Megara, mit der er eine zärtliche Liebesnacht verbracht hatte, erwachte, erinnerte er sich sofort wieder an das Gespräch mit dem geheimnisvollen Setech, der plötzlich verschwunden war, und fragte sich, ob es wirklich stattgefunden oder ob es sich nur um einen Traum gehandelt hatte. Er warf einen Blick auf seine Geliebte und spürte, wie ihm das Herz schwer wurde bei dem Gedanken, sie opfern zu müssen. Aber hatte Setech ihm nicht gesagt, er könne Megara vielleicht verschonen?

< Überlegt in Ruhe, ob Ihr Qara nichts Besseres anbieten könnt als das Leben Eurer Geliebten. Vielleicht fällt Euch ja etwas anderes, viel nahe Liegenderes, ein…>

Genau das waren die Worte des geheimnisvollen Ägypters gewesen, aber Sorex konnte nichts mit dieser Aussage anfangen. Den Blick auf die schlafende Griechin neben ihn gerichtet, überlegte der alte Römer angestrengt, was Setech ihm mit diesen Worten eigentlich sagen wollte. Warum nur hatte er ihm nicht konkret verraten, wie man Megara vor dem Opfertod bewahren konnte?

Wieder betrachtete Sorex die Griechin mit aufrichtigem Bedauern. Damals, als sie bei seinem Freund Fabius um Hilfe ersuchte, war sie ihm fremd gewesen und er hatte keinerlei Skrupel bei dem Gedanken gehabt, sie für seine Zwecke zu benutzen, doch mittlerweile verspürte er starke Gefühle für sie. Nichtsdestotrotz war sie immer noch das perfekte Opfer, um den alten Dämon heraufzubeschwören.

Sorex seufzte. Solange er nicht den entweihten Tempel gefunden hatte, waren diese Gedankengänge müßig. Aber… halt! Setech hatte ihm ja den Weg zu dem verfluchten Ort gewiesen. Sie mussten nur in entgegengesetzter Richtung ihrer ursprünglich geplanten Route weiterreisen, dann würden sie ihn ganz sicher finden.

Voller Erregung erhob sich der alte Soldat nun und trat aus dem Zelt heraus. Die Sonne musste gerade erst aufgegangen sein, denn draußen war es noch angenehm kühl. Umso erstaunlicher fand der Römer es, seinen einheimischen Fremdenführer und seine Sklaven dabei vorzufinden, wie sie ihr Zelt einpackten. Die übrigen Sachen schienen bereits verstaut zu sein.

„Guten Morgen!“ rief Sorex, worauf sein Gruß von den Männern erwidert wurde. „Wie kommt es, dass ihr schon wach seid?“

„Es ist besser, die Reise frühmorgens fortzusetzen“, antwortete ihm der Fremdenführer, der dem alten Soldaten nun direkt ins Gesicht sah. Sorex, der ihn sich bisher nicht genau betrachtet hatte, wurde von seinen Augen plötzlich in Bann gezogen, die ihm auf merkwürdige Weise vertraut vorkamen. „Solange es nicht so heiß ist, können wir schneller gehen, Herr.“

Irritiert löste der Römer seinen Blick von dem Ägypter und befahl in rauem Ton: „Führe uns in entgegengesetzter Richtung des heutigen Memphis!“

„Aber, Herr!“ wagte Serpa-Thot zu widersprechen. „Unsere Vorräte reichen gerade für die vorgesehene Reise. Wer weiß, was uns auf dem anderen Weg erwartet?!“

„Der alte Tempel des Ra“, antwortete Sorex mit selbstsicherer Stimme. „Und mich interessiert nichts weiter, als dorthin zu gelangen!“

„Wie kommt Ihr denn nur auf die Idee, dass sich der entweihte Tempel dort befinden könnte?“ fragte der ägyptische Sklave verzweifelt. Er dachte daran, wie gefährlich es war, sich in der Unendlichkeit der Wüste zu verlieren und dabei den Tod zu finden. „Was, wenn wir uns verirren, Herr?“

„Das werden wir schon nicht!“ gab Sorex zurück und wunderte sich selbst darüber, wie gewiss er sich seiner Sache war. „Wir haben schließlich einen hervorragenden Kenner, der uns den richtigen Weg führen wird.“

Der alte Römer schaute nun den Fremdenführer an, der sich leicht vor ihm verneigte und lächelte.

Entgeistert war Serpa-Thot dem Blick seines Herrn gefolgt und richtete nun das Wort an seinen Landsmann: „Stimmt das? Ihr kennt tatsächlich den Weg, der zum verfluchten Tempel führt?“

Der Fremdenführer schenkte ihm einen vielsagenden Blick und meinte in spöttischem Ton: „Aber natürlich! Die Wüste ist meine Heimat!“

Anders als Sorex wich Serpa-Thot erschrocken ein wenig vor dem anderen Ägypter zurück. Ihm schien, als habe sich dieser Mann seit gestern Abend verändert. Statt seines offenen, freundlichen Blicks starrten ihm nun zwei verschlagen dreinblickende Augen entgegen – und Serpa-Thot gewann die schreckliche Gewissheit, dass einer der Wüstendämonen den Körper des einheimischen Fremdenführers in Besitz genommen hatte. Doch wie konnte er seinen Herrn davon in Kenntnis setzen, ohne dass der böse Geist es bemerkte?

„Es ist zu gefährlich, Herr! Was, wenn unser Führer sich irrt?“ wandte Serpa-Thot sich erneut in besorgtem Ton an Sorex. „Wir sollten das Risiko nicht eingehen!“

„Nur keine Angst, mein Freund!“ entgegnete ihm der andere Ägypter. „Ich kenne den Weg ganz genau – und unsere Vorräte reichen bis dahin, glaubt mir!“

„Aber was dann? Befindet sich in der Nähe ein Ort, an dem wir unsere Vorräte auffrischen können?“ wollte Serpa-Thot wissen.

„Eure Sorgen sind völlig überflüssig“, meinte der Führer und lächelte mild. Dann wandte er sich wieder an Sorex. „Es wäre vielleicht gut, wenn Ihr nun Eure Gefährtin wecken würdet, Herr, damit wir auch Euer Zelt abbauen und die übrigen Sachen verstauen können. Die edle Dame wird gewiss nichts dagegen haben, sich in ihre Sänfte zu begeben.“

Der alte Römer nickte und ging ins Zelt zurück, um Megara zu wecken. Sobald er verschwunden war, drehte sich der einheimische Fremdenführer wieder zu Serpa-Thot um und murmelte: „Ihr solltet Euch dem Willen Eures HERRN fügen!“

„Sorex Nigellus ist mein Herr“, flüsterte der schmächtige Sklave.

„Und Sorex Nigellus will in den alten Ra-Tempel“, stellte sein Gegenüber fest. „Nichts und niemand wird ihn davon abhalten.“

„Ihr führt uns in den Tod…“, fast unhörbar waren diese Worte über die Lippen des kleinen Ägypters gekommen.

„Das steht noch nicht fest“, wisperte sein Landsmann mit überaus sanfter Stimme. „Aber wenn Ihr mir nicht folgen wollt, so habt Ihr jetzt Gelegenheit, uns zu verlassen und allein in der Wüste zurechtzukommen. Vielleicht habt Ihr sogar Glück und schafft es zurück nach Alexandria.“

Serpa-Thot sah sich um. Wohin er auch blickte, außer Sand war nichts zu sehen. Wie sollte er sich ohne Führer in der Wüste zurechtfinden? Resigniert schüttelte er den Kopf.

„Ich wusste, dass Ihr vernünftig seid“, meinte daraufhin der Fremdenführer. „Es bringt nichts, gegen sein Schicksal anzukämpfen. Diesen Kampf verliert man ohnehin.“

„Wir alle werden unser Leben verlieren“, murmelte der Sklave und blickte zu den beiden Germanen, die kein Wort von der Unterhaltung zwischen ihm und seinem Landsmann verstanden. „Warum führt Ihr Sorex Nigellus in den Tod? Er hat Euch nichts getan.“

„Wie ich bereits sagte, steht noch nicht fest, ob ihr alle sterbt“, wies der andere Ägypter ihn daraufhin streng zurecht. „Wenn Sorex Nigellus vorsichtig ist, dann kann gar nichts passieren und er erfährt sogar die Erfüllung all seiner Wünsche.“

„Das ist völliger Wahnsinn!“

„Euer Herr wird erst dann aufgeben, wenn er gefunden hat, was er will. Also ist es doch besser, dass ich ihn zu dem verfluchten Ort führe, als dass ihr alle ziellos in der Wüste herumirrt und schließlich darin umkommt. Wenn Euer Herr Erfolg hat, dann kehrt er lebendig wieder nach Hause zurück und mein HERR wird das bekommen, was er begehrt…“

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 „Warum ist Crassus bereits wieder abgereist?“ waren die ersten Worte, die Selene von ihrem Bruder vernahm, als sie am anderen Morgen zum Frühstück ins Esszimmer kam.

„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn mit unbewegter Miene und setzte sich ihm gegenüber. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen?“

„Was ist gestern Abend im Garten vorgefallen?“ richtete Pavo erneut eine Frage an seine Schwester, die nun mit gesenkten Lidern einen Becher frischen Wassers trank. Diese dachte jedoch nicht daran, zu antworten, sondern begann schweigend, sich ihre Schüssel mit dem Kräutersalat zu füllen, der auf dem Tisch stand. Ein Verhalten, das ihren Bruder noch wütender machte.

„Crassus wollte einige Tage hier bei uns verbringen“, sagte er mit vorwurfsvoller Stimme. „Er war gut gelaunt, bevor er mit dir in unserem Garten verschwand. Danach kehrte er ziemlich bedrückt zurück und erklärte, morgen früh wieder nach Rom zu wollen. Ergo muss zwischen euch etwas vorgefallen sein, dass ihn zu seiner sofortigen Abreise veranlasst hat. Willst du mir nicht verraten, was das gewesen ist?“

Als Selene daraufhin immer noch schwieg, mischte sich Aemilia ein.

„Bitte, mein Kind, wir fragen uns alle, was passiert ist.“

„Nichts ist passiert“, antwortete Selene, nachdem sie die Blicke von Mutter, Bruder und Schwägerin eindringlich auf sich gerichtet sah. „Während unseres Spaziergangs gestern Abend erinnerte er sich an die Frau, mit der er vor etwa zwanzig Jahren verlobt gewesen war. Vermutlich machte ihn das traurig und er möchte sicherlich für eine Weile allein sein.“

„Das war alles?“ entfuhr es Pavo überrascht.

„Ja“, log Selene. Ihrer Meinung nach ging es ihre Familie nichts an, dass sie Crassus nach seinem gestrigen Liebesgeständnis gebeten hatte, sich für eine Weile von ihr zurückzuziehen, da sie Zeit brauche, um zur Ruhe zu kommen. Natürlich war das nur ein Vorwand gewesen, um ihren Verehrer für eine Weile loszuwerden, denn sie konnte es einfach nicht ertragen, dass Crassus sie für einen ebensolch liebevollen Charakter hielt, wie er selbst einer war. Dieser wunderbare Mann hatte seine verstorbene Verlobte einst so sehr geliebt, dass er danach viele Jahre keine Frau mehr an sich heranließ, und jetzt liebte er sie.

Sie fragte sich, womit sie die Liebe eines solchen Mannes verdient hatte, da sie selbst doch niemals solch ein starkes Gefühl für Lucius empfunden hatte. Umso schmachvoller kam sie sich vor, als Crassus ihr unterstellte, dass sie sich aufgrund ihrer Liebe zu ihrem früheren Gemahl damit schwertat, ihr Herz für einen anderen Mann zu öffnen. Wenn ihr Verehrer ahnen würde, dass sie Lucius nur deshalb nicht loslassen, sondern vielmehr zurückhaben wollte, um zu demonstrieren, dass sie einer Fremden nicht einfach kampflos ihren Ehemann überließ, würde sich seine jetzige Bewunderung für sie gewiss schnell in Verachtung verwandeln. Und obwohl ihr klar war, wie kindisch sich ihr Wunsch ausnahm, Lucius zurückhaben zu wollen, konnte nicht einmal die Aussicht, in Crassus einen Gatten zu bekommen, der sie aufrichtig liebte, sie davon abbringen.

„Nun, versuchen wir es mit Fassung zu tragen“, hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimme ihres Bruders an ihr Ohr drängen und kehrte in die Gegenwart zurück. Ihr Blick begegnete dem Pavos, der sie nun mitleidig ansah und meinte: „Er fängt sich schon wieder.“

„Wollen wir es hoffen“, stimmte Aemilia ihrem Sohn zu. „Dieser Crassus Heraclius ist wirklich ein überaus reizender Mann. Findest du nicht auch, Selene?“

Die Angesprochene nickte und widmete sich nun dem Essen ihres Salats, was die übrigen als Zeichen deuteten, kein Wort mehr über ihren Verehrer zu verlieren und sich anderen Gesprächsthemen widmeten. Einerseits war Selene darüber froh, andererseits ärgerte es sie ein wenig, dass ihre Familie den Eindruck gewonnen zu haben schien, dass Crassus‘ frühere Braut ihm wichtiger sei als sie. Dabei hatte sie den Offizier eindringlich bitten müssen, sie für eine Weile in Ruhe zu lassen… doch wahrscheinlich konnten sich das ihr Bruder und ihre Mutter nicht vorstellen. Selene wusste, dass Pavo sie am liebsten wieder als Gattin eines geachteten Mannes sehen würde. Mutter teilte diesen Wunsch zwar, aber sie machte sich lediglich Sorgen um sie und wollte sie glücklich wissen, während ihr Bruder es als persönlichen Ehrverlust empfand, dass sie geschieden war. Seit jenem Abend, als er sie aus Lucius‘ Haus begleitet und zu ihrer Mutter gebracht hatte, verhielt Pavo sich so, als ob sie nie verheiratet gewesen war, und vermied es, von ihrem früheren Gemahl oder Divia zu sprechen. Stattdessen bemerkte sie, dass er und seine Gattin sie manchmal mit mitleidigen Blicken bedachten. Natürlich ahnte Selene, dass die beiden glaubten, sie sei schwer zu verheiraten, da sie mit dem Makel behaftet war, keine Kinder mehr gebären zu können. Pavo und Claudia wussten ja nicht, dass dieser Umstand Crassus überhaupt nicht störte…

Selene stutzte bei dem Gedanken. Sie hatte gegenüber ihren Freundinnen gestern zwar behauptet, dass sie es merkwürdig fand, aber es war nur so dahingesagt gewesen… doch jetzt, nachdem Crassus ihr seine Liebe gestanden und sie innerlich berührt hatte, fragte sie sich ernsthaft, warum es einem wohlhabenden Patrizier wie ihm gleichgültig sein sollte, keinen Sohn zu haben. Konnte sie ihm dies wirklich ohne weiteres abnehmen?

Sie hob ihren Blick und schaute zu ihrem Bruder.

„Pavo, man erzählte mir, dass Crassus lange Zeit in Germanien war“, begann Selene. „Warum befindet er sich nun wieder in Rom?“

„Nun, er hat seine Pflichtjahre hinter sich und hegte den Wunsch, in die Heimat zurückzukehren“, erwiderte ihr Bruder.

„Und er hat auch keinerlei Gefährtin in Germanien?“ fragte Selene.

„Crassus Heraclius ist ein ehrenwerter Mann“, antwortete Pavo mit fester Stimme und schaute seine Schwester mit leichter Missbilligung an.

„Das ist Lucius Marcellus auch!“ gab sie daraufhin zurück.

„Wer ist Lucius Marcellus?“ meinte ihr Bruder in spöttischem Ton, küsste seine Frau leicht auf die Wange, erhob sich und meinte: „Ich sehe mal nach unseren Gästen.“

Dann verließ er das Esszimmer. Kaum war er draußen, wandte sich Claudia an ihre Schwägerin: „Du darfst nicht glauben, dass jeder Mann sich auf eine Beziehung mit einer Ausländerin einlässt, nur weil Lucius mit der griechischen Geisel, die der Kaiser ihm überließ, im Konkubinat lebt.“

„Ja, mein Kind“, bekräftigte nun auch Aemilia. „Crassus erzählte mir gestern Abend, wie sehr er sich eine tugendhafte Gefährtin wünscht, mit der er glücklich wird. Außerdem gestand er mir, dass er dich überaus bewundert und dich näher kennenlernen will.“

„Nun, Mutter, Crassus und ich werden uns gewiss öfter begegnen, sobald wir wieder nach Rom zurückgekehrt sind“, erwiderte Selene in kühlem Ton.

„Du solltest ihn ernsthaft in Erwägung ziehen, mein Kind. Er ist ein feiner Mann und wird dich den erlittenen Kummer sicherlich vergessen machen.“

„Es ist besser, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen“, meinte Selene ausweichend und dachte nur bei sich, dass es keinem Menschen gelingen konnte, die Erinnerung aus ihrem Gedächtnis zu löschen, dass Lucius sich wegen einer jüngeren Frau, die noch nicht einmal Römerin war, von ihr getrennt hatte…

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Es war bereits später Nachmittag in Rom, als Philine zusammen mit der Köchin im Garten saß und mit ihr ein Glas kalten Zitronenwassers zu sich nahm.

„Meinst du, unsere neue Herrin wird in das Zimmer der ehemaligen Matrona ziehen?“ fragte die Köchin.

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete die griechische Sklavin. „Es wäre wohl auch kaum angemessen.“

„Na ja, aber ihr jetziges Gemach ist zu weit entfernt von dem des Patrons, Philine, und unser Herr möchte seine junge Geliebte doch gewiss auch nachts in seiner Nähe haben.“

„Darüber sollten wir uns wirklich nicht den Kopf zerbrechen, Festia.“

„Ach, man macht sich halt so seine Gedanken“, meinte die runde Köchin. „Manchmal denke ich auch an unsere frühere Herrin und frage mich, wie es ihr wohl so geht.“

„Vermisst du sie etwa?“

„Nun, sie hat mir eigentlich nichts getan. Aber natürlich war sie nicht so freundlich wie unsere neue Herrin. Dennoch… mir hat sie ein wenig leid getan, als sie gehen musste. Ich habe sie von meinem Küchenfenster aus beobachtet und sie schien mir wirklich sehr traurig zu sein.“

„Es ist nicht unsere Sache, uns in die Belange der Herrschaften einzumischen“, meinte Philine in sachlichem Ton. Sie empfand keinerlei Mitleid mit Selene, denn sie erinnerte sich sowohl an deren Hochmütigkeit als auch an die Gleichgültigkeit, mit der sie ihre kleine Tochter behandelt hatte. Dennoch wäre es vielleicht nicht zu einer Scheidung gekommen, wenn Selene nicht aus lauter Eifersucht auf Melina den Fehler begangen hätte, die vornehme Griechin zu beleidigen, indem sie sie als Sklavin bezeichnete und ihr sogar eine Affäre mit Lucius unterstellte. Natürlich erfuhr er davon und war nicht gewillt, ein solch unverschämtes Verhalten von Seiten seiner Gemahlin hinzunehmen.

Philine seufzte. Ihr Herr hatte ihr all dies aufgebracht unter vier Augen in seinem Arbeitszimmer erzählt, um es sich von der Seele zu reden. Er wusste, dass sie es für sich behalten würde, und es erfüllte sie mit Stolz, dass sie eine seiner Vertrauenspersonen war.

„War es nicht abzusehen, dass es einmal so kommen musste?“ ließ sich die Köchin wieder vernehmen und blickte Philine ernst an. „Die Matrona versuchte seit Jahren, ihrem Mann einen Sohn zu schenken, aber die Götter waren ihr in dieser Hinsicht nicht gewogen. Dann lernt unser Herr in Athen Melina Aigikoreusa kennen und bringt sie mit ins Haus. Sie ist jung und könnte vielleicht die Mutter eines kleinen Lucius werden.“

„Du glaubst also, unser Patron hätte sie nur zu diesem Zweck zu seiner neuen Gefährtin gemacht?“ fragte Philine spöttisch.

„Nein, natürlich nicht!“ widersprach Festia heftig. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich in dieses schöne Mädchen verliebt hat, was wohl mit ein Grund für die Scheidung von seiner Frau war. Aber sicherlich hat unser Herr dabei auch den Hintergedanken im Kopf, seine junge Konkubine könne ihm den ersehnten Sohn schenken.“

„Wahrscheinlich“, räumte die griechische Sklavin ein. „Aber was ist, wenn Melina ein Mädchen zur Welt bringt?“

„Der Herr wäre bestimmt überaus enttäuscht“, meinte die Köchin nachdenklich, doch ihre ernste Miene erhellte sich einen Augenblick später und sie fuhr fort: „Aber er liebt Melina sehr und würde sich sogar über die Geburt einer Tochter freuen, solange sie nur gesund ist. Außerdem ist seine neue Gefährtin jung, so dass er mehrere Kinder mit ihr zeugen kann.“

„Melinas Konstitution ist sehr zart“, gab Philine zu bedenken und machte sich zum ersten Mal Sorgen darüber, ob das Mädchen wirklich in der Lage war, unbeschadet ein Kind auszutragen.

In diesem Augenblick erschien auf der Terrasse ein anderer Sklave und überreichte Philine eine Papyrusrolle. Als die Griechin ihn fragend ansah, sagte er: „Ein Bote des Decimus brachte diese Nachricht gerade mit der ausdrücklichen Anweisung, sie Euch sofort auszuhändigen.“

„Gut! Du kannst dich entfernen“, entgegnete Philine und entrollte in freudiger Erwartung das Papier. Sollte es dem Sklavenhändler tatsächlich gelungen sei, den Aufenthaltsort Liubas herauszufinden? Doch als sie die Nachricht überflog, verzogen sich ihre Mundwinkel immer mehr nach unten.

Festia, die sie beobachtet hatte, fragte endlich: „Schlechte Neuigkeiten?“

„Nun… ich weiß noch nicht…“, meinte Philine zögerlich. „Es ist… tja… unerwartet…“

„Sag mal, was hast du eigentlich mit Decimus zu schaffen? Hat der Herr dich beauftragt, neue Sklaven zu kaufen?“ wollte die Köchin wissen.

„Nein… Melina sucht jemanden…“

„Melina? Aber hat sie denn nicht genügend Bedienstete?“

„Wer weiß?“ Philine hatte sich wieder gefangen und war zu ihrer kühlen Selbstbeherrschung zurückgekehrt. „Jedenfalls bat mich unsere neue Herrin, jemanden für sie zu suchen, und du weißt ja, dass der Patron mich beauftragt hat, alle ihre Wünsche zu erfüllen, soweit das möglich ist.“

„Und dazu gehört auch der Kauf von neuen Sklaven, wenn die junge Herrin dies wünscht?“

„In diesem besonderen Fall schon… jedenfalls war es so, bevor ich diese Botschaft von Decimus erhielt…“

„Was schreibt er denn?“ fragte Festia und schaute Philine gespannt an.

„Selbst wenn ich es wollte, dürfte ich es nicht sagen“, antwortete die griechische Sklavin und lächelte ein wenig, obwohl ihr nicht danach zumute war. Die Angelegenheit erwies sich als ziemlich heikel und sie wusste im Moment wirklich nicht, wie sie die Neuigkeit Melina beibringen sollte. Eigentlich würde sie sie damit am liebsten verschonen, aber die junge Frau hatte sie schließlich mit der Suche nach Liuba beauftragt und fragte gewiss, wie es damit voranging. Sie konnte Melina doch nicht belügen. Aber das, was sie eben erfahren hatte, war genauso wenig geeignet für deren Ohren.

Zum Glück blieb ihr noch ein wenig Zeit, um über eine Lösung nachzudenken, denn die Herrschaften würden erst Anfang September nach Rom zurückkommen…

 

 

 

Die Zeit im Sommerhaus verflog schnell und ehe man es sich versah, war es Anfang August.

An diesem Tag, dem dritten August, stand Melina noch vor Sonnenaufgang auf und fing sich den verwunderten Blick ihres Geliebten ein, der sie verschlafen anblinzelte.

„Nanu, Honigmädchen, so früh schon wach?“ fragte Lucius.

„Ausnahmsweise“, sagte sie leise, beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf den Mund.

Er umschlang ihren Nacken und brummte: „Komm noch ein wenig zu mir unter die Decke, Liebling, damit ich dich verwöhnen kann.“

„Nicht jetzt, Lucius, ich muss hinunter in die Küche“, flüsterte sie und entwand sich seiner Umarmung.

„Was willst du denn so früh da unten?“

„Lass dich überraschen, Liebster“, raunte sie ihm zu, zog sich dann rasch ein einfaches Kleid an, band ihre Haare locker zu einem Pferdeschwand zusammen und verschwand aus dem Zimmer.

 

Als Lucius eine Stunde später aufstand und sich hinunter zum Esszimmer begab, nahm er bereits auf dem Weg den köstlichen Geruch von süßem Gebäck wahr. Als er eintrat, erwartete ihn eine reichlich gedeckte Tafel mit Schüsseln voll von Früchten und Salaten sowie Tellern voller Honigkuchen, Weizenbrot und kleinen Pasteten, die frisch gebacken zu sein schienen. Als Getränke standen jeweils eine Karaffe mit Milch, mit Wasser und mit Wein bereit.

„Es sieht nach einem richtigen Festessen aus“, meinte Lucius erfreut und trat zu Melina, die gerade mit Sidori den Tisch für drei gedeckt hatte. „Darf ich den Grund hierfür erfahren?“

„Aber, Liebster, weißt du denn nicht, dass deine Tochter heute Geburtstag hat?“ fragte Melina und schaute ihn erstaunt an.

„Es ist bei uns in der Familie nicht üblich, Geburtstage zu feiern“, erklärte Lucius lächelnd. „Selene hat das auch nie getan.“

„Nun, dann wird sich das ab heute ändern“, erwiderte Melina. „Schließlich wird man nur einmal im Jahr älter.“

„Na schön, wenn du das unbedingt möchtest, mein Honigmädchen. Aber wo steckt denn Divia?“

„Sie ahnt nichts davon, was sie hier unten erwartet. Ich habe Quella vor einigen Minuten erst hinaufgeschickt, um sie zu wecken, zu waschen und anzukleiden. Und da ich beschlossen habe, dass wir erst mit dem Frühstück anfangen, wenn Divia hier ist, musst du dich noch ein wenig gedulden, bevor du etwas zu dir nehmen kannst“, sagte Melina lächelnd und warf Lucius einen koketten Blick zu. „Du hast doch nichts dagegen, Liebster?“

„Aber nein“, antwortete er sanft und ergriff ihre Hand. Wieder einmal merkte er, wie Melina es verstand, eine harmonische Familienatmosphäre zu verbreiten und wie wohl er sich dabei fühlte. Es war so ganz anders als mit Selene, und er wünschte seiner ehemaligen Gattin, ein ebensolches Glück mit ihrem neuen Partner zu haben wie er es mit seiner jungen Gefährtin hatte. Sein schlechtes Gewissen gegenüber Selene beschlich ihn hin und wieder, aber er tat es dann sofort als Unsinn ab. Schließlich hatte sie sich als schlechte Mutter erwiesen und somit dazu beigetragen, dass ihnen kein weiteres lebendiges Kind mehr geschenkt wurde. Sie konnte es ihm darum also nicht übelnehmen, dass er sich von ihr getrennt und eine neue Frau genommen hatte. Sein Glück wäre vollkommen, wenn Melina bald guter Hoffnung wäre und er tat alles in seinen Kräften Stehende, um diesen Wunsch wahrwerden zu lassen.

Von weitem hörte man nun die ärgerliche Stimme Divias.

„Was soll ich denn schon so früh hier unten, Quella? Außer Papa ist sicher noch niemand aufgestanden.“

„Melina Aigikoreusa hat eine Überraschung für Euch vorbereitet“, entgegnete die alte Sklavin in leicht tadelndem Ton.

„Oh, das ist natürlich etwas anderes!“ meinte Divia etwas freundlicher und man hörte, wie sie begann zu laufen. Gleich darauf stand sie an der Schwelle des Esszimmers und betrachtete  sich einen langen Moment mit leuchtenden Augen den reichlich gedeckten Tisch, bevor sie erstaunt fragte: „Für mich?“

„Ja!“ antwortete Melina und kam freudestrahlend auf sie zu, reichte ihr beide Hände und meinte: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Divia!“

„Oh… danke…“, murmelte das Mädchen und schien völlig überrascht. Dann sah es irritiert zu seinem Vater.

„Ich wünsche dir das Beste für dein neues Lebensjahr, mein Kind“, sagte Lucius lächelnd und nickte, als seine Tochter ihn immer noch verwundert anstarrte. „Ja, ja, unsere Melina hat sich viel Mühe gemacht, um dich heute zu verwöhnen, Herzchen. Und da wir unsere liebe Melina nicht enttäuschen wollen, wäre es jetzt angebracht, uns zu setzen und die Köstlichkeiten zu genießen, die sie zubereitet hat.“

„Hast du das wirklich alles nur für mich gemacht?“ fragte Divia und blickte nun wieder zu der jungen Griechin.

„Na ja, die Köchin und Sidori haben mir tatkräftig dabei geholfen“, erwiderte Melina. „Und nun komm, Liebes, lass uns endlich zusammen frühstücken. Deinem Vater knurrt sicher schon der Magen.“

„Stimmt, ich kann das leise Grummeln aus seinem Bauch hören“, bestätigte Divia und lachte, als ihr Vater, der sich bereits gesetzt hatte, ihr grinsend mit dem Zeigefinger drohte.

Gemeinsam mit Melina setzte sie sich nun ebenfalls an den Tisch, während Sidori sich anschickte, den Raum zu verlassen.

„Wo willst du hin?“ rief Divia ihr zu.

„In die Küche zurück“, antwortete die kleine Sklavin.

„Ach was! Komm, iss doch mit uns!“ forderte Divia sie auf.

„Nein, Sidori wird in der Küche frühstücken“, mischte Melina sich nun in einem freundlichen, aber dennoch bestimmten Tonfall ein. Divia drehte ihren Kopf zu der jungen Griechin und starrte sie verwundert an, worauf Melina erklärte: „Heute Abend gibt es eine kleine Feier für alle, aber jetzt bleiben du, dein Vater und ich erstmal unter uns.“

Die junge Frau nickte der kleinen Sklavin zu, die sich daraufhin rasch hinausbegab, wo Quella bereits auf sie wartete, um mit ihr in die Küche zu verschwinden.

„Ich verstehe nicht, warum Sidori nicht mit uns zusammen frühstücken darf“, quengelte Divia. „Sie ist doch meine Freundin, und ich weiß, dass du sie auch gern hast, Melina.“

„Natürlich mag ich Sidori“, gab die Angesprochene zu. „Aber jetzt möchte ich, dass nur wir drei zusammen sind.“

„Außerdem bist du inzwischen alt genug, um einzusehen, dass es sich eigentlich nicht schickt, zusammen mit Sklaven an einem Tisch zu essen“, mischte sich Lucius nun in strengem Ton ein. „Es wird allmählich Zeit, dass du lernst, dich wie eine junge Dame der gehobenen Schicht zu benehmen.“

„Was soll das heißen, Vater?!“

„Du bist meine Tochter, ein Mädchen aus vornehmem Haus, das einen größeren Abstand zu Dienstboten halten sollte!“

„Aber bisher hat es dich doch auch nicht gestört, wenn Sidori, Quella und Laila mit uns zusammen am Tisch gegessen haben“, wandte Divia ein.

„Das ist richtig“, gab Lucius zu. „Allerdings hatten wir da auch keine Gäste; und mittlerweile verstärkt sich in mir der Eindruck, dass es ein großer Fehler von mir war, zu dulden, dass Sklavinnen uns während der Mahlzeit Gesellschaft leisten. In Zukunft wird so etwas nicht mehr geschehen. Du musst verstehen, dass Sklaven weit unter uns stehen!“

„Wie kommt es dann, dass du Philine die Verantwortung für den Haushalt in Rom überlässt? Sie ist schließlich auch nur eine Sklavin!“

„Philine ist zwar eine Sklavin, aber sie hat sich über lange Jahre als mir treu ergeben und äußerst zuverlässig erwiesen, weshalb ich sie sehr schätze. Nichtsdestotrotz halte ich gebührenden Abstand zu ihr…“

„Als wir deine Verlobung mit Melina feierten, hat dich der Abstand zu unseren Sklaven auch nicht besonders interessiert“, fiel Divia ihm frech ins Wort.

„Das war eine Ausnahme“, wies ihr Vater sie in herrischem Ton zurecht, während er sie mit bedrohlich zusammengezogenen Augenbrauen musterte. Melina bemerkte dies mit zunehmender Beunruhigung und überlegte verzweifelt, wie sie den sich anbahnenden Zornesausbruch ihres Mannes verhindern konnte.

„Dein Vater meint es nur gut mit dir, Divia“, wandte sie sich sanft an das Mädchen. „Und er hat recht: Auch wenn wir einige unserer Bediensteten mögen, so sind sie uns nicht gleich.“

Das Kind warf Melina einen wütenden Blick zu und entgegnete dann spöttisch: „Das musst ausgerechnet du sagen! Soviel ich weiß, hast du sogar mit Quella zusammen im Bett geschlafen!“

Ehe die junge Frau es verhindern konnte, hatte Lucius sich erhoben und seiner Tochter eine schallende Ohrfeige gegeben.

„Es steht dir nicht zu, in einem solchen Ton mit deinen Eltern zu sprechen!“ schrie er sie an.

Divia hielt sich ihre tiefrote Wange, während sie ihren Vater erschrocken anstarrte und dabei leicht zitterte. Einige Tränen liefen ihr übers Gesicht.

„Tut… tut mir leid… Vater… entschuldige… bitte…“, murmelte sie dabei.

„Das will ich auch meinen!“ schrie Lucius, selbst rot vor Zorn im Gesicht. „Und jetzt entschuldigst du dich bei Melina für deine Unverschämtheit!“

Mit tränennassem Gesicht erhob sich Divia von ihrem Sitz, nur um sich eine Sekunde später mit gesenktem Kopf vor Melina niederzuknien und zu murmeln: „Es tut mir leid, so frech zu dir gewesen zu sein. Bitte, verzeih mir! Es wird nie wieder vorkommen.“

Melina blickte erschüttert auf das rothaarige Mädchen zu ihren Füßen und setzte gerade dazu an, ihr übers Haar zu streicheln, als Lucius sie am Handgelenk festhielt und den Kopf schüttelte. Er blickte immer noch grimmig auf seine Tochter hinab, während er erneut das Wort an sie richtete: „Jetzt geh auf dein Zimmer! Ich will dich heute nicht mehr sehen!“

„Aber, Lucius!“ protestierte Melina und sah erschrocken zu ihm auf. „Divia hat doch Geburtstag und ich wollte…“

„Egal, was du wolltest!“ entgegnete er in aufgebrachtem Ton. „Du siehst ja, wie undankbar dieses Kind für all deine Mühe ist!“

„Aber nein, Papa! Ich habe mich sehr darüber gefreut!“ widersprach Divia, die immer noch vor der jungen Griechin kniete, aber nun zu ihrem Vater aufblickte. Dann schaute sie sofort zu Melina und sagte: „Ich danke dir für all das Gute, das du mir bis jetzt getan hast! Umso schlimmer war es, dass ich mich dir gegenüber im Ton vergriffen habe. Es gibt niemanden, der freundlicher zu mir war als du, Meli. Darum bitte ich dich nochmals: Verzeih mir, bitte!“

„Ich bin dir nicht böse“, meinte die junge Frau, aber Lucius unterbrach sie sofort, indem er sich in schneidendem Ton an seine Tochter wandte: „Verschwinde jetzt! Geh mir aus den Augen!“

Divia nickte, erhob sich und setzte sich langsam in Richtung Ausgang in Bewegung, als Melina sich nun ebenfalls erhob und das Wort flehend an ihren Mann richtete: „Bitte, Lucius, schick sie nicht fort! Divia hat es doch nicht so gemeint! Bitte, Lucius, sei nachsichtig mit ihr!“

„Nein! Ich dulde nicht, dass meine Tochter sich Frechheiten uns gegenüber erlaubt! So etwas muss umgehend bestraft werden!“ sagte er in hartem Ton, während er Divia, die sich bei Melinas Bitte hoffnungsvoll umgewandt hatte, nicht aus den Augen ließ. Als sie stehen blieb, hob er den rechten Arm und winkte Richtung Ausgang. Enttäuscht ließ das Mädchen seinen Kopf sinken und ging weiter.

„Ach, bitte, Lucius… nicht… sei nicht so streng zu ihr“, murmelte Melina, die ihren Kopf an seine Brust gelegt und ihre Arme um ihn geschlungen hatte. „Sie ist doch noch klein.“

„Soweit ich mich erinnere, dürfte sie jetzt elf Jahre alt sein“, antwortete er ärgerlich. „Man kann sie also schwerlich noch als  klein  bezeichnen. Und glaub mir, Melina, meine ungezogene Tochter weiß genau, was ungehörig ist und was nicht! Ihre Strafe hat sie sich selbst zuzuschreiben!“

„Bitte, Lucius… ich will keinen Streit…“, flehte die junge Frau nochmals in leisem Ton. „Divia hat sich doch für ihr Verhalten entschuldigt… bitte, Lucius, vergib ihr jetzt und lass sie mit uns zusammen ihren Geburtstag feiern… bitte!“

„Nein, sie hat es nicht verdient!“ schlug der Hausherr die Bitte seiner Geliebten ab.

Melina schaute erstaunt zu ihm hoch, aber er hielt immer noch seinen zornigen Blick auf seine Tochter gerichtet, die es nicht mehr gewagt hatte, zurückzusehen und gerade eben aus dem Zimmer verschwand. Enttäuscht über Lucius‘ Unerbittlichkeit löste Melina ihre Arme von ihm, wandte sich dann nach Divia um und erkannte, dass das Kind sich nicht mehr im Raum befand. Besorgt eilte sie ihm nach, ohne sich weiter um Lucius zu kümmern, der ihr in ärgerlichem Ton befahl, bei ihm zu bleiben.

„Divia!“ rief Melina, doch das Mädchen musste bereits in seinem Zimmer verschwunden sein.

Rasch stieg die junge Griechin die Treppe hinauf. Nein, so hatte sie sich den heutigen Tag nicht vorgestellt. Wie war es nur zu diesem dummen Streit zwischen Lucius und Divia gekommen, wo doch alles so harmonisch angefangen hatte? Ach, hätte sie Sidori doch nur erlaubt, mit ihnen zusammen zu frühstücken! Warum hatte sie unbedingt mit Lucius und seiner Tochter allein sein wollen?!

Melina war im ersten Stock angekommen und hielt kurz inne. Sie fühlte sich ein wenig erschöpft und auch etwas schwindelig. Nun ja, sie war schließlich sehr früh aufgestanden und jetzt wahrscheinlich viel zu schnell die Treppe hinaufgeeilt.

„MELINA! – Lass das närrische Kind und komm wieder runter!“ hörte sie Lucius rufen.

Natürlich würde sie ihm nicht gehorchen! Ihr Mann war viel zu streng zu Divia gewesen. Er erwartete doch wohl nicht wirklich, dass sie die Kleine einfach sich selbst überließ? Hatte das arme Kind nicht schon genug erlitten?

Von Sorge und Mitleid getrieben, eilte Melina jetzt in Divias Zimmer. Aber als sie eintrat, musste sie feststellen, dass sich ihre Stieftochter nicht dort befand.

Wohin konnte Divia gegangen sein?

Himmel, warum drehte sich denn alles vor ihren Augen?

Sich rasch nähernde feste, harte Schritte waren deutlich zu hören, dann die vorwurfsvolle Stimme ihres Mannes: „Was soll dieser Unsinn, Melina? Es hilft niemanden, wenn du den Launen dieses ungezogenen Kindes nachgibst!“

„Sie… sie… sie ist…“, sagte sie stockend. Oh, ihr war auf einmal so schlecht. Ihr Magen rumorte. Wie konnte das sein? Sie hatte doch kaum etwas zu sich genommen, nur ein wenig von der süßen Fruchtfüllung für die kleinen Pastetchen probiert, die sie heute früh zubereitet hatte. Oh nein! Der Gedanke daran beschleunigte ihre Übelkeit… tief durchatmen…

„Was ist los, Melina?“

Lucius‘ Stimme klang so ungeduldig. Konnte er sie denn nicht für einen kurzen Moment in Ruhe lassen? Und warum drehte sich schon wieder alles vor ihr?

Die junge Frau schloss ihre Augen und hatte nun das Gefühl, dass sie sich rasend schnell um sich selbst drehte… plötzlich schien ihr Magen sich seinen Weg nach draußen zu bahnen…

„Melina! – Um Himmels willen!“ waren die letzten Worte, die sie hörte, bevor sie Lucius‘ starke Arme spürte, die sie festhielten, und Dunkelheit sie umfing…

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Divia war sofort, nachdem sie das Esszimmer verlassen hatte, in den Garten gerannt und hatte sich hinter den hohen Rosenhecken versteckt. Hier legte sie sich auf den Bauch, vergrub ihr Gesicht in ihren verschränkten Armen und ließ nun hemmungslos den Tränen freien Lauf. Sie schämte sich sehr, Melina gegenüber so frech gewesen zu sein, die sich solche Mühe gegeben hatte, um ihr eine Freude zu machen.

Die arme Melina! Sie hatte sich diesen Tag gewiss ganz anders vorgestellt.

Divia schämte sich wieder, als sie sich erneut bewusst machte, wie viel Arbeit Melina wohl darin gesteckt haben mochte, für sie zu kochen und zu backen. Das Frühstück war gewiss nur ein kleiner Vorgeschmack auf all die Köstlichkeiten, die sie für das Fest am Abend zu Ehren ihres Geburtstages geplant hatte. Und sie hatte sich so gemein Melina gegenüber verhalten!

Divias Scham verstärkte sich. Vater hatte recht damit, sie als undankbares Geschöpf zu bezeichnen und sie zu ohrfeigen, und sie hatte es sicherlich auch verdient, den Tag in ihrem Zimmer zu verbringen.

Warum nur hatte sie nicht einfach ihren Mund halten und mit Melina und Vater das Frühstück einnehmen können? Dann säßen sie jetzt bestimmt immer noch harmonisch beisammen…

„Divia!“

Die kleine Römerin horchte auf. Seltsam! So früh hatte man bisher noch nie ihre Abwesenheit aus ihrem Gemach bemerkt.

„Divia!“

Das Mädchen wagte nicht, sich zu rühren.

„Divia! Komm schnell ins Haus!“

Jetzt hatte die Gerufene die Stimme Sidoris erkannt. Dennoch, sie fürchtete zu sehr den Zorn ihres Vaters, als dass sie sich zurück in die Villa traute. Womöglich folgten auf die Ohrfeige von vorhin nun weitere Schläge, weil sie Vater nicht gehorcht hatte…

„Divia, es ist etwas Schlimmes passiert!“ rief Sidori und ihr Tonfall klang ängstlich.

Das Mädchen richtete sich halb auf und lugte ein wenig hinter den Rosenbüschen hervor. Sidori stand noch zu weit entfernt, als dass sie sich wispernd mit ihr unterhalten könnte. Was mochte wohl passiert sein?

„Divia!“ rief das iberische Mädchen ein letztes Mal, dann ließ es die Schultern hängen und kehrte ins Haus zurück.

Die Neugier der kleinen Römerin war jetzt geweckt. Obwohl sie immer noch Angst vor ihrem zornigen Vater hatte, wollte sie wissen, was passiert war und kam langsam aus ihrem Versteck hervor. Vorsichtig schlich sie sich wieder in die Villa hinein, versteckte sich hinter einer Säule und beobachtete von dort heimlich, was sich tat. Zuerst war es unheimlich still, doch dann kam von oben eine Sklavin hinuntergerannt und rief: „Trailus! Trailus! Du musst sofort nach Rom zur Villa des Herrn reiten und den Medicus holen! Schnell! Schnell!“

Divia sah, wie der große, kräftige Sklave namens Trailus, der den Großteil der Hof- und Gartenarbeiten bestritt, herbeigerannt kam und den Auftrag erhielt, dem Medicus folgendes mitzuteilen: „Die Herrin ist ohnmächtig zusammengebrochen und hat bis jetzt das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Der Herr ist äußerst besorgt und will den Medicus so schnell wie möglich hier haben! – Jetzt mach, dass du wegkommst!“

Trailus rannte hinaus und die Sklavin machte sich jammernd auf den Weg in die Küche. Divia, die zutiefst erschrocken war über das, was sie soeben mit angehört hatte, folgte der Dienerin, ohne sich nochmals zu verstecken. Als sie die Küche betrat, richteten sich die Augen der dort Anwesenden auf sie. Auch Quella war da, und als sie das Mädchen erblickte, zogen sich ihre Augenbrauen sofort zusammen.

„Du bist an allem schuld!“ fuhr sie das Mädchen an. „Nur wegen dir verzogenem Gör hat meine Herrin einen Schwächeanfall erlitten! Bist du jetzt zufrieden?!“

„Das hab ich nicht gewollt!“ verteidigte sich Divia und sah die Alte ängstlich an. „Kann ich etwas für Melina tun? Kann ich helfen?!“

Quella starrte das Kind böse an, dann meinte sie: „Ja, wisch den Boden in deinem Zimmer sauber! Meine kleine Melina hat dich dort nämlich gesucht und vor lauter Sorge, dass du nicht da warst, hat ihr Magen rebelliert und sich entleert, bevor sie ohnmächtig zusammenbrach!“

„Ich hab das alles nicht gewollt!“ sagte Divia erneut und blickte hilfesuchend zu der Köchin, die ihr aber einen genauso grimmigen Blick schenkte wie Quella, ansonsten jedoch schwieg.

„Am Besten, wir machen jetzt erstmal dein Zimmer sauber“, ließ sich Sidori nun wieder vernehmen. Divia schaute hinter sich und erblickte die kleine Sklavin, die einen Eimer Wasser und zwei größere Lappen trug. „Komm mit. Zusammen sind wir schnell damit fertig.“

Divia folgte Sidori nach oben in ihr Gemach, kniete sich neben ihre Spielgefährtin nieder, nahm den einen Lappen, den diese ihr hinhielt, und begann ebenso wie die kleine Ibererin, den Boden aufzuwischen. Dabei liefen dem römischen Mädchen immer wieder Tränen übers Gesicht. Sie machte sich große Sorgen um Melina, an deren Zustand sie sich die alleinige Schuld gab. Natürlich würde sie gerne wissen, wie es ihrer Mama mittlerweile ging, aber sie wagte es nicht, in das Schlafgemach der Eltern zu gehen, wo Melina jetzt gewiss im Bett lag, während Vater neben ihr saß und besorgt ihre Hand hielt. Hoffentlich geschah Mama nichts… sie wollte sie nicht verlieren… ihre Mama war doch die Einzige, die sie liebte… oh, warum nur gerieten all diejenigen, denen ihr Herz gehörte, in Gefahr…?

Divia weinte laut.

„Es wird bestimmt alles wieder gut“, hörte sie Sidoris tröstende Stimme. „In der Küche beten jetzt alle zusammen für das Leben der Herrin. Alle mögen Melina.“

„Und wir putzen hier, statt auch zu beten“, rief Divia schluchzend aus.

„Die Arbeit muss erledigt werden“, erklärte die kleine Sklavin in ruhigem Ton. „Und während ich den Dreck hier wegmache, bete ich unablässig für meine liebe Herrin – genau, wie du es tust, Divia.“

„Ich… ich… bete nicht…“

„Doch, aber du merkst nichts davon. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nichts anderes im Kopf hast als Melina und dass es ihr wieder gut gehen möge…“

Divia nickte und schluchzte.

„Könntest du…. könntest du vielleicht…?“ fragte sie dann.

„Ja, ich möchte auch wissen, wie es meiner lieben Herrin geht“, antwortete Sidori, erhob sich und verschwand für eine Weile. In dieser Zeit widmete sich Divia wieder dem Saubermachen des Bodens, während sie unablässig dachte: „Oh, ihr Götter, bitte, lasst mir meine Mama!“

 

Als Sidori einige Minuten später in Divias Zimmer zurückkehrte, blickte Lucius‘ Tochter sie gespannt an.

„Wie geht es Melina?“ fragte Divia ängstlich.

„Unverändert“, antwortete Sidori leise. „Der Herr macht sich große Sorgen um sie.“

„Meinst du, ich könnte nur einmal kurz nach Melina sehen?“

„Ich… ich weiß nicht…“, meinte die kleine Sklavin unsicher. „Vielleicht ist es dem Herrn nicht recht. Er lässt kaum jemanden zu der Herrin. Wir dürfen nur Wasser, Lappen oder Handtücher bringen und müssen dann so schnell wie möglich verschwinden. Die Einzige, die er neben sich im Zimmer duldet, ist Laila.“

„Laila?“ entfuhr es Divia ungläubig.

„Na ja, sie ist schließlich die persönliche Bedienstete der Herrin.“

„Und… und was… was genau tut sie jetzt dort? Sie kann Melina doch nicht helfen.“

„Sie macht ihr feuchte Umschläge um Beine und Handgelenke und kühlt ihre Stirn“, erklärte Sidori. „Und dein Vater hält die Hand seiner neuen Gefährtin dabei, aber er sagt kaum ein Wort. Ich glaube sogar, dass er ein bisschen weint…“

„Vater? Vater weint?“ fragte Divia und starrte Sidori fassungslos an.

„Ich möchte es nicht beschwören, denn ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seine Schultern zuckten etwas“, antwortete die kleine Sklavin leise, dann begann auch sie zu weinen.

Divia, die am liebsten laut losgeheult und geschrien hätte, schwieg indessen und starrte wie gebannt auf ihre Spielgefährtin. Dabei fühlte sie, wie ihr das Herz schwer wurde vor Trauer und Schuld. Wenn ein so harter Mann wie ihr Vater schon weinte, musste es sehr schlimm um Melina stehen. Was war sie nur für ein ungezogenes und böses Mädchen, dass sie der jungen Frau, die sie liebte und verehrte, so etwas zufügen konnte? Dabei spielte es keine Rolle, ob dies ohne Absicht geschehen war. Sie hatte sich gegenüber ihrer Melina, ihrer Mama, die sie doch immer beschützen wollte, wie eine Wölfin verhalten. Was, wenn ihre liebste Melina nie wieder aufwachte, was, wenn sie… Oh nein, daran wollte sie gar nicht denken! Wenn dies tatsächlich geschehen würde, könnte sie es sich selbst nie verzeihen… und diese Schuld könnte sie auch niemals wieder abtragen!

Divia erhob sich abrupt vom Boden. Sie war ein böses Mädchen und gehörte hart bestraft! Vielleicht käme Melina wieder zu sich, wenn sie diese Strafe sofort auf sich nahm…?

„Wo willst du hin?“ fragte Sidori, als Divia sich anschickte, den Raum zu verlassen.

„Zu Vater“, antwortete das römische Mädchen ohne weitere Erklärung und war fort, ehe Sidori es recht begriff.

Tatsächlich hatte Divia sich entschlossen, ins Schlafgemach ihrer Eltern zu gehen, um einerseits nach Melina zu sehen und sich andererseits der Strafe ihres Vaters zu stellen. Sie würde klaglos jede Strafe hinnehmen, die er über sie verhängte. Sie würde alles tun, damit Melina wieder zu sich kam. Es durfte nicht sein, dass ihre neue Mutter sie verließ…

Mit klopfendem Herzen öffnete Divia leise die Tür und lugte ins Zimmer. Da sah sie ihren Vater auf dem Rand des Nachtlagers sitzen, eine Hand umschloss die schmale Melinas. Die junge Frau selbst lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett und rührte sich nicht, während Laila ihr die Stirn mit einem Lappen kühlte.

Weder Lucius noch die dunkelhäutige Sklavin hatten bemerkt, dass jemand an der Tür stand. Ihre Aufmerksamkeit gehörte einzig und allein Melina, die sie unentwegt ansahen.

Divia trat vorsichtig ins Zimmer und näherte sich langsam dem Bett. Dabei hörte sie jetzt, wie ihr Vater leise murmelte: „Melina, meine kleine Melina, bitte, wach doch auf!“

Das Mädchen schaute schuldbewusst auf die junge Griechin, die auf die Ansprache ihres Mannes nicht reagierte. Die Blässe ihres Antlitzes erschreckte das Kind und unwillkürlich traten ihm wieder Tränen in die Augen.

„Melina“, wisperte Divia. „Melina, es tut mir so leid!“

Lucius drehte sich überrascht um. Als er seine Tochter erkannte, warf er ihr einen hasserfüllten Blick zu.

„Du abscheuliches Kind“, flüsterte er zornig. „Was willst du hier?“

„Ich… ich…“, stotterte Divia leise. „Ach… ich wollte das nicht… du weißt, wie gern ich Melina habe… es tut mir alles so leid…“

„Das hilft ihr jetzt auch nicht!“ zischte er. „Verschwinde!“

„Du musst mich bestrafen, Vater!“ murmelte Divia in bittendem Ton, worauf Lucius sie überrascht anstarrte. „Ich habe es verdient und ich will, dass du mich hart bestrafst!“

„Verschwinde endlich!“ zischte er sie erneut an.

„Bitte, Vater, bestrafe mich!“ Divias leise Stimme klang verzweifelt, während ihr Vater seinen Blick von ihr abwandte und sich wieder seiner bewusstlosen Frau widmete.

„Wo bleibt der Medicus nur?“ flüsterte er ungeduldig.

„Ich schaue mal nach, Herr“, erwiderte Laila, die gerade über Melina gebeugt gestanden und ihr Gesicht mit einem kühlen Lappen abgetupft hatte. Sie richtete sich auf, ging in Richtung Tür, ergriff auf dem Weg dahin Divia fest am Arm und zog sie mit sich aus dem Zimmer. Das schuldbewusste Kind wehrte sich nicht und hörte mit bewegungsloser Miene zu, als die dunkelhäutige Sklavin in vorwurfsvollem Ton sagte: „Du hast schon genug angerichtet! Dein Vater wünscht, dass du dich von der Herrin fernhältst und in deinem Gemach bleibst, bis er dich rufen lässt!“

„Wird Melina wieder gesund?“ fragte Divia ängstlich.

Laila zuckte nur die Schultern und ließ das Mädchen dann stehen, welches ihr wie betäubt nachblickte. Dafür trat nun Sidori, die Divia bis zur Tür des Schlafzimmers der Herrschaften gefolgt war, neben sie, nahm ihre Hand und meinte leise: „Komm, es ist wohl besser, wenn wir bei dir darauf warten, bis dein Vater dich wieder sehen will.“

Widerstandlos ließ Divia sich von der kleinen Sklavin zurück in ihr Gemach führen…

 

Bevor der Medicus aus Rom am Spätnachmittag im Landhaus des Marcellus eintraf, erwachte Melina endlich aus ihrer tiefen Ohnmacht. Sie lächelte, als sie bemerkte, dass ihr Mann neben ihr saß und ihre Hand umklammert hielt. Sie fühlte sich bei ihm so wohl und geborgen. Aber warum lag sie im Bett? Wollten sie heute nicht eigentlich Divias Geburtstag feiern?

„Lucius“, sagte sie leise und drückte seine Hand. Er lächelte sie an. Seine Augen schienen feucht zu sein. War denn irgendetwas passiert? „Was ist los, mein Liebster? Warum bin ich nicht mit dir und Divia unten im Esszimmer? Wollten wir nicht frühstücken?“

„Erinnerst du dich nicht mehr daran, was heute Morgen los war?“ fragte Lucius erstaunt.

„Ich bin früh aufgestanden, um frische Frucht-Pastetchen zu backen“, meinte Melina. „Danach habe ich mit Sidori den Tisch im Esszimmer gedeckt und dann bist du gekommen und danach Divia… wir wollten frühstücken…“

Die junge Frau hielt inne. Die Erinnerungen an einen dummen Streit zwischen ihrem Mann und seiner Tochter traten allmählich wieder in ihr Bewusstsein. Sie war in Divias Gemach gelaufen und dann… es wurde dunkel…

„Wo ist Divia?“ fragte Melina besorgt. „Ihr ist doch hoffentlich nichts passiert?“

„Das Mädchen ist wohlauf“, antwortete Lucius in ruhigem Ton. „Aber du, mein kleiner Liebling, bist plötzlich ohnmächtig geworden und eine lange Zeit nicht mehr erwacht. Ich mache mir Sorgen um dich. Wie fühlst du dich, Honigmädchen?“

„Ein wenig benommen… Ach, Lucius, mir war plötzlich so schwindelig… vermutlich habe ich nicht genügend geschlafen…“

„Der Medicus wird sicherlich bald eintreffen und kann uns nach einer gründlichen Untersuchung gewiss sagen, was mit dir los ist, Melina. – Ich bin so froh, dass du wieder wach bist.“

„Mein liebster Lucius“, flüsterte die junge Frau und streichelte seine Hand. „Wie gut und freundlich du bist. Hab ich dir eigentlich schon gesagt, wie glücklich du mich machst?“

Er drückte ihre Hand und lächelte. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und eine ältere Sklavin meldete: „Der Medicus ist soeben eingetroffen, Herr!“

„Gut, dann lasse ich dich jetzt mit Laila und dem Arzt allein, Liebling“, sagte Lucius, strich mit seiner Hand noch einmal zärtlich über die Wange seiner Frau, stand dann auf und verließ das Zimmer, während Stephanos, der griechische Medicus, der seit vielen Jahren in seinen Diensten stand, draußen wartete. Lucius bedeutete ihm mit einer Geste, in das Gemach einzutreten, und suchte dann den Raum des Erdgeschosses auf, in dem er den Verwalter seines Landgutes zu empfangen pflegte, wenn er hier war. Jetzt allerdings gedachte er, mit jemand anderem ein ernstes Gespräch unter vier Augen zu führen und betätigte zu diesem Zweck die kleine Glocke, die auf seinem Schreibtisch stand. Sofort erschien einer seiner Sklaven und er befahl: „Bring meine Tochter zu mir!“

Während der Sklave verschwand, um Divia herbeizuholen, ließ Lucius sich seufzend hinter seinem Schreibtisch nieder und fragte sich, was er nur mit diesem ungezogenen Kind tun sollte. Dabei schien es sich bisher gut entwickelt zu haben und er hatte angenommen, dass Divias vernachlässigte Erziehung durch seine strengen Maßnahmen und das Vorbild seiner jungen Frau, die sich so liebevoll um das Mädchen kümmerte, aufgeholt werden konnten. Doch der Vorfall heute Morgen sagte etwas anderes aus.

Kein gut erzogenes römisches Kind würde es wagen, in einem dermaßen frechen Ton mit seinen Eltern zu sprechen, wie Divia es getan hatte. Das durfte er auf keinen Fall einfach auf sich beruhen lassen, zumal seine junge Frau, die das Kind liebte, als wäre es ihr eigenes, sich über das Verhalten Divias so aufgeregt hatte, dass sie einen Schwächeanfall erlitt. Anders konnte er sich nicht erklären, weshalb Melina plötzlich bewusstlos geworden war.

Der Sklave kehrte zurück und meldete: „Eure Tochter, Herr!“

Dann verschwand der Bedienstete, während Divia an der Türschwelle stand und ihren Vater schuldbewusst ansah.

„Komm näher!“ befahl Lucius, der sitzen blieb, und seine Tochter folgte dem Befehl. Als sie vor dem Schreibtisch stand, schenkte er ihr einen eindringlichen Blick und fragte dann in strengem Ton: „Nun, was soll ich mit dir tun, Divia?“

Die Kleine senkte den Blick und sagte: „Bitte, bestrafe mich, Vater, denn ich habe es verdient. Ich bin ein böses Mädchen und allein daran schuld, dass Melina jetzt krank ist. Wenn du mich bestrafst, erfreut das vielleicht die Götter und sie lassen meine Mama wieder wach werden!“

„Deine Mama?!“ fragte Lucius verständnislos und zog die Augenbrauen hoch.

„Melina ist meine Mama“, erklärte Divia zerknirscht. „Ich hab sie lieb und ich wollte sie niemals kränken, Vater, bitte glaub mir! Und nur ein böses Mädchen fügt seiner Mama einen solchen Schmerz zu, wie ich ihn Melina zugefügt habe. Deshalb bestrafe mich ruhig hart, Vater!“

Lucius war verwirrt. Einerseits hatte dieses garstige Kind zwar Strafe verdient, aber andererseits sah es seinen Fehler ein und schien ihn aufrichtig zu bereuen. Hinzu kam Divias rührendes Geständnis, dass sie Melina als Mutter anerkannte und liebte. Sollte dieser Vorfall am Ende das ungezogene Mädchen läutern?

Sein Vaterherz freute sich und war dazu geneigt, der Tochter zu vergeben. Doch sein Verstand riet ihm, nicht allzu nachsichtig mit der Elfjährigen zu sein. Wenn er sie jetzt nicht bestrafte, würde sie womöglich glauben, immer mit einer so milden Behandlung davonzukommen. Vielleicht war gar ihre Entschuldigung und ihre Forderung nach einer Bestrafung nur eine Strategie, um den strengen Vater weich zu bekommen.

„So, du möchtest also, dass ich dich bestrafe?“ fragte er in hartem Ton.

„Ja, Vater! Ich tue alles für Melina“, antwortete Divia sofort.

„Und wie, glaubst du, sollte ich dich bestrafen, mein Kind?“

„Du könntest mich schlagen oder auspeitschen“, schlug das Mädchen vor.

„Und du glaubst also, dass so etwas Melina helfen wird?“

„Vielleicht, Vater. Es wäre eine Art Sühne für meine Frechheit!“

Lucius sah seine Tochter nachdenklich an und dabei wurde ihm klar, dass die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen keine wirklichen Strafen für sie wären, sondern etwas, womit sie ihr ungehöriges Verhalten abgelten und es dann vergessen wollte. Aber es würde wohl kaum die Art von Umdenken im Kopf seiner Tochter auslösen, die sie benötigte, um einzusehen, dass sie sich bestimmten Regeln fügen musste – ob sie ihr nun passten oder nicht. Appius hatte völlig recht gehabt: Divia war kein kleines Mädchen mehr, dem man alles nachsehen konnte! Vielleicht wäre es ganz heilsam für das verwöhnte Kind, wenn es erlebte, wie es sein konnte, als Sklavin zu leben! Appius würde bei dieser Erziehungsmaßnahme bestimmt mitmachen – auf diese Weise würde seine Tochter sicherlich die Läuterung erfahren, die sie nötig hatte.

„Nun, Divia, ich überlege mir eine angemessene Strafe für dich“, erklärte er dann in ruhigem Ton. „Aber du kannst schon einmal damit beginnen, deine Sachen zusammenzupacken. Morgen wirst du zusammen mit deinem Kindermädchen nach Rom zurückfahren, und zwar nicht in mein Haus, sondern zu deinem Onkel.“

„Was?! Aber, Vater…!“

„Keine Widerrede! Geh jetzt auf dein Zimmer und pack deine Sachen! Ich werde Quella Bescheid geben!“

Lucius winkte mit seiner Hand und gab Divia auf diese Weise deutlich zu verstehen, dass sie jetzt den Raum verlassen musste. Dann nahm er ein Stück dünnes Holzpapier und begann, einen Brief an seinen Bruder zu verfassen…

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Nachdem Lucius den Brief an Appius fertig geschrieben hatte, ließ er Quella zu sich rufen und teilte ihr mit, dass sie morgen mit seiner Tochter zu seinem Bruder nach Rom fahren würde. Dem Gesichtsausdruck der alten Sklavin entnahm er, wie wenig erbaut sie von dieser Mitteilung war. Ein Umstand, der ihn trotz all der traurigen Ereignisse, die der heutige Tag mit sich gebracht hatte, erfreute. Auf diese Weise war er für eine Weile die unangenehme Alte los und Melina würde sich ohne die Anwesenheit ihrer starrsinnigen Amme und seiner ungezogenen Tochter bestimmt gut erholen, da endlich wieder Ruhe in seinem Landhaus einkehrte.

Von der Sehnsucht nach seiner jungen Frau getrieben, verließ Lucius endlich das Arbeitszimmer, ging in den ersten Stock hinauf, blieb vor dem ehelichen Schlafgemach stehen und klopfte an die Tür. Einen Moment später öffnete ihm Laila und war erfreut, ihn zu erblicken.

„Oh, Herr, Ihr kommt gerade im rechten Augenblick, um die frohe Neuigkeit zu hören“, erklärte die Ägypterin und strahlte ihn an.

„Frohe Neuigkeit? Das bedeutet wohl, Melina fehlt nichts – die Götter seien gepriesen, dass sie meiner Frau so wohlgesonnen sind!“ entfuhr es Lucius erleichtert. „Kann ich zu Melina?“

„Selbstverständlich, Herr!“

Laila trat beiseite und Lucius eilte sogleich an das Bett seiner Geliebten, die ihn mit ebenso strahlenden Augen wie ihre Leibsklavin anblickte, während der Medicus gerade seine Tasche schloss und sich dann vor dem Hausherrn verbeugte. Dieser warf ihm einen neugierigen Blick zu, während er die Hände seiner Frau ergriff, und fragte: „Nun?“

„Die Herrin ist wohlauf!“ verkündete der Arzt. „Sie hat Euch etwas Erfreuliches mitzuteilen.“

Lucius lächelte und wandte sich wieder Melina zu.

„Dann erzähl mir, was es denn so Erfreuliches gibt, Honigmädchen.“

„Ach, Liebster, ich kann es selbst noch gar nicht glauben“, seufzte die junge Griechin. „Ich bin so glücklich, denn ich bekomme ein Kind.“

Lucius glaubte, sich verhört zu haben. Er starrte das Mädchen ungläubig an, doch sie lachte laut und wiederholte: „Ja, Liebster, ich erwarte ein Kind von dir!“

„Ist das auch wirklich wahr?“ fragte er und schaute nun wieder zu Stephanos. Dieser nickte und lächelte.

„Ja, Herr, Eure Gefährtin ist guter Hoffnung, wozu ich Euch beglückwünsche“, sagte der Medicus. „Allerdings wäre es besser, wenn sich die Herrin einige Tage lang ausruht. Sie war völlig erschöpft, weshalb sie wohl ohnmächtig geworden ist. Ansonsten erfreut sich die Herrin bester Gesundheit.“

„Oh, Melina, das ist wundervoll...“, hauchte Lucius, sah seine Geliebte jetzt wieder an und fühlte, wie ihn ein inneres Glücksgefühl zu übermannen drohte. Wieder wurden seine Augen ein wenig feucht, aber das kümmerte ihn nicht. Er schloss die junge Griechin in die Arme und drückte sie fest an sich. „Ach, Melina, ich freue mich so… wir werden ein gemeinsames Kind haben… Danken wir den Göttern für den Segen, den sie so überreich über uns ausschütten.“

„Lass uns Divia rufen und ihr auch von unserem Glück erzählen“, bat Melina ihn leise. „Sie freut sich bestimmt, ein Geschwisterchen zu bekommen.“

„Vermutlich, mein Liebling“, erwiderte Lucius, entließ sie aus seinen Armen und betrachtete seine junge Frau voller Stolz. „Aber weißt du, Divia ist noch sehr aufgeregt wegen des Vorfalls heute Morgen. Deshalb sollten wir sie erstmal in Ruhe lassen. Sie erfährt es zu gegebener Zeit. Und nun ruh dich aus, mein Schätzchen!“

„Oh, Lucius, ich habe vorhin lange genug geschlafen“, lachte Melina. „Jetzt würde ich gerne eine Kleinigkeit essen. Leistest du mir dabei Gesellschaft?“

„Aber natürlich, mein Liebling!“ sagte Lucius. Dann wandte er sich an den Medicus, bei dem er sich bedankte und ihm gleich darauf winkte zu gehen. Kaum war der Arzt verschwunden, schaute er zu Laila, die abwartend an der Tür stand, und befahl: „Du hast den Wunsch deiner Herrin gehört. Also sorg dafür, dass er so rasch wie möglich erfüllt wird!“

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Verzweifelt saß Serpa-Thot vor dem Zelt, das ihm und den zwei germanischen Sklaven als Nachtlager diente, und starrte hinauf in den Himmel. Dabei wünschte er sich mit aller Stärke seines Herzens Rettung herbei.

Seit wer weiß wie vielen Tagen oder Wochen waren sie nun schon in der Wüste unterwegs und hatten dabei jegliches Zeitgefühl verloren. Jeden Tag machten sie sich bereits nach Sonnenaufgang auf den Weg in Richtung des verfluchten Tempels und der einheimische Fremdenführer brachte sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit immer in eine Oase. Doch stets war diese unbewohnt und Serpa-Thot empfand sie als unheimlich. Ihm war auch völlig unverständlich, weshalb weder sein Herr noch dessen Gefährtin oder gar die beiden Germanen die Gefahr spürten, in die sie sich begaben. Sie bemerkten nicht einmal die Kälte, die von dem ägyptischen Fremdenführer ausging, und sie würden ihm niemals glauben, dass dieser Mann tot war.

Mit Grauen erinnerte sich Serpa-Thot jenes ersten Abends, nachdem sein Herr befohlen hatte, in die entgegengesetzte Richtung zu reisen, obwohl er versuchte, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Aber der einheimische Fremdenführer, der einen Tag zuvor noch erklärte, dass niemand mehr wisse, wo sich der entweihte Ort befände, behauptete nun selbstsicher, den richtigen Weg zu kennen und die Reisegesellschaft dorthin zu führen. Ein Blick in seine Augen verriet Serpa-Thot hingegen, dass der Fremdenführer von einem Wüstendämon besessen war. Genau dies bestätigte sich am gleichen Abend, als sie die Zelte aufschlugen, eine gemeinsame Mahlzeit einnahmen und sich dann in ihre jeweiligen Quartiere zurückzogen. Serpa-Thot übernahm die erste Nachtwache und eine halbe Stunde später, als die meisten schon schliefen, kam der Fremdenführer zu ihm hinaus. Damals war Serpa-Thot ein Stück vor ihm wich zurückgewichen, doch dann fragte sein Landsmann, was eigentlich los sei und warum sie sich an einem so ungemütlichen Ort befänden.

„Ihr habt uns hierher geführt“, hatte er ihm seinerzeit geantwortet.

„Ich? Wie käme ich dazu? Mir fehlt jegliche Erinnerung daran, wohin ich euch führte“, erwiderte der Fremdenführer. Und an diesen Worten erkannte Serpa-Thot, dass der Mann wieder er selbst war.

„Nun, wenn dem so ist, seid Ihr wahrscheinlich von einem der Kinder des Seth besessen“, klärte Serpa-Thot ihn auf. „Heute früh verspracht Ihr meinem Herrn, ihn zu dem entweihten Tempel des Allerhöchsten zu führen. Ihr wisst schon, dorthin, wo der Frevler gebannt worden ist.“

„Unmöglich! Ich habe keine Ahnung, wo dieser Ort sich befindet! Und selbst, wenn ich es wüsste, würde ich mich weigern, den Römer und seine Begleiter dorthin zu führen.“

„Aber am Tage spracht Ihr anders zu meinem Herrn und zu mir. – Glaubt mir, mein Freund, ein Wüstendämon hat in dieser Zeit von Euch Besitz ergriffen.“

Der ägyptische Fremdenführer erschauerte. Dann blickte er sich ängstlich nach allen Seiten um und flüsterte schließlich: „Könnt Ihr Euren Herrn denn nicht von seinem unheilvollen Vorhaben abbringen?“

„Was glaubt Ihr, was ich seit unserer Abreise versuche? Aber es ist umsonst. Herr Sorex ist von der Idee besessen, das Grab des Frevlers zu finden. Natürlich erahne ich, aus welchem Grunde er das will… es ist ja offensichtlich, auch wenn er es nicht zugibt…“

„Ewiges Leben…? Er will den Frevler heraufbeschwören…?“

Serpa-Thot erinnerte sich genau, wie entsetzt ihn der Fremdenführer anstarrte, als er auf seine leisen Fragen nur genickt hatte.

„Damit will ich nichts zu tun haben“, war seinem Landsmann dann entfahren und er hatte am ganzen Leib zu zittern begonnen. Plötzlich ergriff er ihn und wisperte ängstlich: „Lasst uns von hier entfliehen, Freund!“

„Nichts lieber als das, aber wir können doch nicht zulassen, dass ein Fremder die Welt möglicherweise ins Chaos stürzt. Wir sollten versuchen, ihn daran zu hindern, sonst sind wir alle verloren.“

„Ach, wer sagt denn, dass es diesem Römer gelingt, den Frevler zu befreien? Die Zauberbanne der damaligen Priesterschaft sind überaus stark.“

„Aber mein Herr ist im Besitz alter Texte… vermutlich auch eines Textes, in dem die Beschwörungsformel enthalten ist, die den Bann für Blutdämonen aufhebt. Wäre Sorex sonst so selbstsicher?“

„Was willst du denn tun, um den Fremden an seinem Vorhaben zu hindern? Ein Ägypter, der einem Römer als Sklave dienen muss… du kannst nichts tun, Freund. Drum komm, lass uns abhauen.“

„Ein Priester könnte bestimmt helfen!“

„Wo ist hier ein Priester? Der Ort ist menschenleer… komm, gehen wir!“

„Wir können nicht einfach gehen!“

„Mach, was du willst, Bruder, ich bleibe nicht länger hier!“ hatte der Fremdenführer daraufhin erklärt und sich erhoben, wobei man gut erkennen konnte, dass sein ganzer Leib immer noch zitterte.

„Du kannst uns doch nicht einfach im Stich lassen!“ hatte Serpa-Thot eingewandt, aber sein Landsmann schüttelte den Kopf und erklärte mit heiserer Stimme: „Ich sehe zu, dass ich von hier fortkomme! Wenn du bleiben willst, dann tu‘s! Ich kann es nicht!“

Und damit hatte sich der Fremdenführer umgewandt und lief davon. Aber wie abzusehen war, kam er nicht weit. Nach einigen Schritten schoss aus dem Sand plötzlich eine große Kobra hervor, die sich blitzschnell um seine Beine ringelte. Der Mann fiel aufgrund dessen mit dem Gesicht in den Sand und das Tier verlor keine Zeit, sich schnell über den Rücken des Ägypters hochzuschlängeln. Eine Sekunde später hatte es sich um dessen Hals gewunden und würgte ihn. Serpa-Thot, der sofort aufgesprungen war und zu seinem Landsmann eilte, um ihm zu helfen, sah, wie jener verzweifelt versuchte, sich aus der tödlichen Umarmung der Schlange zu befreien. Der ägyptische Sklave ergriff einen der Äste des vertrockneten Baumes, in dessen Nähe er sich befand, und brach ihn ab. Doch als er damit gerade auf die Kobra einschlagen wollte, sah er, dass der Fremdenführer sich nicht mehr bewegte. Das gefährliche Tier löste sich in diesem Augenblick von ihm und schlängelte mit rasender Geschwindigkeit davon.

Serpa-Thot ließ sich neben seinem Landsmann niedersinken und beugte sich vorsichtig über ihn. Der andere rührte sich nicht. Der schmächtige Sklave tippte ihn leicht an der Schulter an. Nichts geschah.

„Die… die Kobra ist weg“, raunte er. „Du kannst wieder aufstehen.“

Doch der Fremdenführer reagierte in keiner Weise darauf. Endlich wagte Serpa-Thot es, ihn umzudrehen. Ihm bot sich der Anblick einer grässlichen Fratze mit offenem Mund und starrem Blick. Als Serpa-Thot ihm seine Hand vor Nase und Mund hielt, drang kein Atem mehr aus dem Leib seines Landsmannes. Auch dessen Brust bewegte sich nicht. Ohne Zweifel war der Mann tot.

„Oh, die Majestät des Allerhöchsten bewahre uns vor den Kindern des Seth“, wisperte Serpa-Thot erschrocken und konnte nicht verhindern, dass ihm unwillkürlich Tränen in die Augen schossen. Gleichzeitig setzte ein lautes Geheul ein, das die Angst des ägyptischen Sklaven vergrößerte. Er blickte entsetzt auf den Leichnam des Fremdenführers. Auf keinen Fall wollte er ihn draußen liegen lassen, wo er leicht zur Mahlzeit dämonischen Getiers werden könnte. Aber er war viel zu schmächtig, um den Körper seines Landsmannes, der um einiges größer war als er selbst, allein wegzuschaffen. Aus diesem Grunde hatte er sich in Richtung des Zeltes umgewandt, in dem die beiden germanischen Sklaven schliefen, und gerufen: „He da! Kommt raus! Ich brauche Hilfe!“

Natürlich hatte er mehrmals rufen müssen, da die beiden kräftigen Männer bereits tief schliefen. Endlich kam einer brummend aus dem Zelt heraus und näherte sich mit missmutigem Gesicht dem schmächtigen Ägypter.

„Was gibt’s denn?“ fragte der Germane mürrisch.

„Tut mir leid, dass ich euren Schlaf gestört habe“, entgegnete Serpa-Thot in entschuldigendem Ton und deutete dann auf den Toten vor ihm. „Aber ich bin nun einmal nicht in der Lage, diesen Mann allein ins Zelt zu bringen.“

Der Germane stieß ein verächtliches „Ha!“ aus, hob den Leichnam auf, als ob es eine Leichtigkeit wäre, und trug ihn dann rasch ins Zelt zurück. Es geschah so schnell, dass Serpa-Thot noch nicht einmal dazu kam zu erklären, dass es sich hierbei um einen Toten handelte, den man morgen wohl tief im Boden der Oase begraben musste. Der germanische Sklave schien einfach nur weiterschlafen zu wollen. So war Serpa-Thot nichts anderes übrig geblieben, als ohne Erklärung seine Nachtwache bis Mitternacht fortzusetzen. Und als ihn schließlich einer der beiden germanischen Sklaven ablöste und er sich ins Zelt begab, um dort zu schlafen, sah er den leblosen Körper des bemitleidenswerten Fremdenführers und es hatte ihn gegraust, in der Nähe eines Toten zu liegen. Aber schließlich übermannte ihn endlich der Schlaf.

Doch als er am anderen Morgen geweckt wurde, erlebte er eine der furchtbarsten Überraschungen, die einem Sterblichen zuteil werden konnten: Der Fremdenführer, der gestern unzweifelhaft tot gewesen war, stand grinsend vor ihm und wünschte ihm einen guten Morgen.

Dies war für Serpa-Thot der endgültige Beweis, dass der Körper seines Landsmannes zum Werkzeug eines bösen Geistes geworden war.

Bei der Erinnerung an jenes Erlebnis durchfuhr den schmächtigen Sklaven ein erneutes Grauen. Zwar hatte er Sorex mehrmals angedeutet, dass mit ihrem Fremdenführer etwas nicht stimmte, aber natürlich schenkte sein Herr ihm keinerlei Glauben. Vielmehr lachte er ihn aus und verspottete ihn, dass er nicht besser sei als die meisten anderen Ägypter, die sich vor eingebildeten Phantomen fürchteten, und es nur nicht fassen könne, dass einer seiner Landsleute diese Ängste überwunden hätte. Natürlich teilte die grässliche Griechin, die nicht ahnte, auf welch gefährliches Unternehmen sie sich eingelassen hatte, Sorex‘ Auffassung und machte sich ebenfalls darüber lustig, wie viele der Ägypter sich von alten Legenden einschüchtern ließen. Daraufhin hatte Serpa-Thot endlich eingesehen, dass es sinnlos war, seinen Herrn zu warnen. Er würde sich niemals von dem Vorhaben abbringen lassen und scheute dabei auch nicht, sich der Hilfe von Dämonen anzuvertrauen. Schließlich hatte Sorex ja vor, einen dieser bösen Geister zu beschwören, auch wenn er das niemals offen zugab.

Resigniert blickte Serpa-Thot in den dunklen Nachthimmel hinauf und betete leise: „Oh große Nut, bitte, hab doch Mitleid. Ich flehe dich an, deinen Bruder, vor dessen Majestät sich alle Welt verbeugen muss, zu bitten, es zu verhindern, dass mein Herr - ein Fremder, der das Ausmaß der Gefahr nicht erkennt, in die er sich begibt - die ganze Welt in Chaos und Verderben stürzt! Bitte, große Göttin der Nacht, errette uns! Erflehe Hilfe von deinem Bruder, dem Allerhöchsten, dessen schützendes Licht uns alle umfangen möge.“ [1]

„Nun, mein Freund, warum sitzt du so einsam hier herum, statt dich ein wenig zu uns ans Feuer zu gesellen  und etwas zu essen?“ drang die Stimme des Fremdenführers sanft an sein Ohr. Erschrocken fuhr der kleine Ägypter herum und starrte den Dämon entsetzt an. Dieser lächelte etwas und fuhr fort: „Deine Angst vor mir ist unbegründet, mein Freund. Es imponiert mir, dass du der Einzige von all diesen Menschen hier bist, der meine wahre Natur erkannt hat. Warum betrachtest du mich als Feind? Wir könnten doch Freunde sein, wenn du nur willst.“

„Freunde?“ wisperte Serpa-Thot ungläubig.

„Aber natürlich“, erwiderte der Dämon in freundlichem Ton. „Sieh mal, wenn es deinem Herrn gelingt, Qara zu beschwören, dann käme es auch dir zugute. Hat Sorex dir in dem Fall nicht die Freiheit versprochen?“

„Ja… ja, das ist wahr. Doch er sagte eigentlich nichts davon, dass er den Frevler beschwören wolle, sondern nur…“

„Nicht doch, Serpa-Thot“, unterbrach ihn sein Gesprächspartner in leicht spöttischem Ton. Er strich ihm zart mit seinen kalten Fingern über die Wange und flüsterte: „Du bist kein Dummkopf, auch wenn der Römer dies glaubt. Solche Leute wie du sind meinem HERRN überaus willkommen. Warum wehrst du dich gegen das Schicksal? Komm auf die dunkle Seite und du wirst es nicht bereuen. Unser HERR pflegt seine treuen Kinder gut zu belohnen…“

„Weiche von mir, böser Geist!“ zischte Serpa-Thot seinen Gesprächspartner an und sprang auf. „Ich werde niemals auf die dunkle Seite kommen!“

Der Dämon in Gestalt des Fremdenführers lachte leise. Dann bedachte er den schmächtigen Ägypter mit einem eindringlichen Blick und fragte: „So, so? Du willst also niemals auf die dunkle Seite kommen? Wenn das tatsächlich der Wahrheit entspricht, warum starrst du dann den Nachthimmel an, der in seiner Schwärze überaus schön ist…?“

„Er ist nicht dunkel, sondern wird vom Licht des Mondes und seiner Sternengeschwister erhellt. Oh, möge mich Nut in ihrer großen Güte vor deinesgleichen beschützen“, entgegnete Serpa-Thot, wandte sich dann um und suchte hinter dem Stamm einer großen Tamarinde Schutz. Sein Herz klopfte laut, denn er hatte es tatsächlich gewagt, einem gefährlichen Dämon zu trotzen. Dabei konnte er ihm kaum etwas entgegensetzen, außer seinem Glauben an die gütigen Götter Ägyptens, in deren Hände er sein Leben befahl.

Das laute Lachen des Dämons erreichte sein Ohr. Dieser schien keineswegs böse auf ihn zu sein, sondern sich vielmehr über seinen Widerstandsgeist zu amüsieren.

„Was gibt es denn zu lachen, Führer?“ fragte Sorex nun laut.

„Oh, Euer ägyptischer Sklave hat mir gerade etwas überaus Komisches erzählt“, antwortete der Dämon und gesellte sich nun wieder zu dem Römer, seiner Begleiterin und den beiden germanischen Sklaven, wie Serpa-Thot von seinem Versteck aus beobachten konnte.

„So soll er uns auch mit dieser Geschichte die Zeit verkürzen“, meinte Sorex und rief dann laut: „Serpa! Serpa!“

„Lasst ihn, Herr“, entgegnete daraufhin der Dämon. „Euer ägyptischer Sklave, der Euch überaus treu ergeben ist, leidet unter starker Erschöpfung. Wir sollten ihn zur Ruhe kommen lassen.“

„Aber ich will unbedingt auch die lustige Geschichte hören, die er Euch erzählte!“

„Ihr werdet sie kaum verstehen, Herr, denn es ist etwas typisch Ägyptisches. Nur ein Landsmann Eures treuen Serpa-Thot findet sie komisch. Lasst ihn zur Ruhe kommen, Herr. Wenn Ihr es wünscht, werde ich Euch einige Anekdoten berichten.“

Der schmächtige Ägypter sah, wie Sorex daraufhin nickte. Er atmete auf, dass er nicht gezwungen war, auf Befehl seines Herrn in die Nähe des Dämons kommen zu müssen. Dass dieser ihn vor dem Römer in Schutz nahm, war allerdings kein gutes Zeichen. Offensichtlich beabsichtigte dieser Sohn des Seth, ihn auf die dunkle Seite zu ziehen. Er musste sehr auf der Hut vor seinen Verführungskünsten sein. Denn dieses freundliche Gespräch vorhin war sicherlich nur der Anfang davon.

Wieder blickte Serpa-Thot in den Nachthimmel hinauf, wobei ihm Tränen in den Augen standen. Leise betete er: „Oh, große Nut – Oh, Isis – Oh, Hathor – bitte, beschützt mich vor der Macht des Bösen…“

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[1] Nut = Die alten Ägypter stellten sich die Nacht als eine Göttin vor, deren dunkler Leib das nächtliche Firmament bildete.

 

Melina erwachte am späten Vormittag des nächsten Tages, fühlte sich aber immer noch schwindelig und wagte es daher nicht aufzustehen.

„Laila?!“ rief sie, worauf die dunkelhäutige Ägypterin sofort in dem Schlafgemach erschien.

„Was kann ich für Euch tun, Herrin?“

„Die Sonne steht zwar schon hoch am Himmel, aber ich glaube, ich sollte lieber liegen bleiben“, meinte Melina.

„Ja, das hält der Medicus auch für das Beste, Herrin“, bestätigte die Sklavin. „Der Herr lässt Euch übrigens herzliche Grüße ausrichten und bestellen, dass er allerlei Dinge mit dem Verwalter seines Landgutes zu besprechen habe und wahrscheinlich erst gegen Abend wieder bei Euch sein kann. Er wünscht, dass ihr Euch gut erholen möget, Herrin.“

„Danke, Laila.“

„Ihr solltet eine Kleinigkeit zu Euch nehmen, Herrin. Habt Ihr einen besonderen Wunsch?“

„Nein, ich bin eigentlich nicht hungrig.“

„Aber Ihr müsst etwas essen, Herrin“, beschwor die Ägypterin sie eindringlich. „Bedenkt doch, dass Ihr nun ein Kindlein unter Eurem Herzen tragt.“

Melina lächelte und murmelte: „Du hast gewiss recht. Also schön, die Köchin soll mir eine Kleinigkeit zubereiten – und ich hätte gerne ein Schale heiße Milch.“

„Selbstverständlich, Herrin“, erwiderte Laila. „Ich sage sofort in der Küche Bescheid und bin gleich wieder bei Euch.“

„Bitte, bring doch Divia mit, wenn du wiederkommst“, bat Melina. „Ich habe sie seit gestern Morgen nicht mehr gesehen.“

„Oh, Herrin, das ist leider unmöglich“, antwortete die Sklavin mit Bedauern in der Stimme.

„Warum ist das unmöglich?“ fragte die junge Frau erstaunt. „Fehlt Divia etwas?“

„Nein, nein, sie ist wohlauf – ganz wie der Herr es Euch sagte“, versuchte Laila die Griechin zu beruhigen. „Es besteht kein Grund zur Besorgnis.“

„Warum kannst du sie dann nicht zu mir bringen?“ wollte Melina erneut wissen, bedachte ihre Leibsklavin jetzt jedoch mit einem eindringlichen Blick, und als diese schwieg, forderte sie in strengem Ton: „Antworte mir!“

„Divia ist auf dem Weg zu ihrem Onkel Appius nach Rom“, erklärte Laila daraufhin und senkte ihren Blick.

„Was? Aber warum denn? Wir wollten doch bis Ende August hier bleiben.“

„Bitte, Herrin, das müsst Ihr schon Euren Mann selbst fragen. Ich weiß nur, dass der Herr sie heute Morgen zusammen mit Quella fortschickte.“

„Merkwürdig“, murmelte Melina zu sich selbst. Dann wandte sie sich wieder Laila zu. „Gut, du kannst jetzt gehen. Der Herr wird mir sicherlich später sagen, was los ist.“

Sie winkte ab und die Sklavin verließ rasch das Zimmer, froh darüber, nicht mehr mit unangenehmen Fragen von Seiten ihrer Herrin bedrängt zu werden. Schließlich ging es sie nichts an, was Lucius Marcellus mit seiner Tochter anstellte. Sie war nur froh, endlich dieses unbequeme Kind los zu sein…

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Divia kam in Begleitung Quellas am Spätnachmittag im Hause ihres Onkels an, der erstaunt das Schreiben entgegennahm, das ihm der Fahrer der Rheda mit den besten Grüßen von Lucius Marcellus überreichte und sich dann verabschiedete.

Appius rief eine seiner Haussklavinnen herbei und wies sie an, seine Nichte und ihre Kinderfrau in eines der Gästezimmer zu bringen. Er selbst zog sich danach sofort in sein Arbeitszimmer zurück, um ungestört die Nachricht seines Bruders zu lesen. Er konnte kaum glauben, worum Lucius ihn bat, und überflog den Brief mehrmals, bevor er ihn endlich aus der Hand legte und sich nachdenklich gegen seinen Stuhl lehnte. Schließlich griff er nach dem Glöckchen auf seinem Schreibtisch und betätigte es. Kurz darauf erschien ein Sklave und fragte: „Ja, Herr?“

„Bestell meiner Nichte, sie soll in mein Arbeitszimmer kommen, sobald sie sich ein wenig frischgemacht hat“, befahl Appius.

Der Sklave verneigte sich und verschwand.

Appius‘ Blick fiel auf den Brief seines Bruders, welcher auf dem Tisch lag, und er schüttelte den Kopf. Zwar vertrat er auch die Meinung, dass man die Frechheiten eines Kindes nicht einfach hinnehmen durfte, aber nie hätte er gedacht, dass Lucius über Divia, die doch stets sein Liebling gewesen war, eine derartige Strafe verhängen würde. Die Kleine musste sich besonders abscheulich verhalten haben.

Während er darüber nachdachte, was um alles in der Welt das Mädchen verbrochen haben könnte, wurde Divia zusammen mit Quella von dem ausgeschickten Sklaven zum Arbeitszimmer ihres Onkels geführt. Bevor sie eintraten, meldete der Bedienstete: „Eure Nichte und ihre Kinderfrau sind jetzt da, Herr.“

Appius nickte, worauf der Sklave sich entfernte und Divia, der Quella in kurzem Abstand folgte, im Zimmer erschien. Ihr Onkel winkte ihr, näherzukommen, was sie auch tat, während die alte Amme an der Türschwelle stehen blieb. Der Hausherr musterte seine Nichte eingehend und fragte dann in strengem Ton: „Was hast du angestellt?“

Überrascht blickte das Mädchen ihn an, schwieg jedoch.

„Nun, Divia, willst du mir nicht verraten, warum dein Vater dich bestraft?“

„Ich… ich dachte…“, stotterte das Kind. Dann fing es sich und fuhr zaghaft fort: „Hat Vater das in seinem Schreiben an dich denn nicht erwähnt?“

„Er berichtet mir lediglich davon, dass du dich respektlos aufgeführt hättest“, antwortete Appius, den es sehr verwunderte, seine Nichte so schüchtern zu sehen. „Bevor ich der Bitte deines Vaters entspreche, möchte ich aber doch gern erfahren, was vorgefallen ist.“

Schuldbewusst senkte Divia ihren Blick und sagte leise: „Ich war frech zu Melina und sie hat sich darüber so aufgeregt, dass sie krank geworden ist.“

„Was?“ Appius schaute von dem Mädchen besorgt zu Quella. „Melina ist krank? Ist es etwas Ernsthaftes?“

„Nein, meiner Herrin geht es schon etwas besser“, erwiderte die Alte. „Allerdings bedarf sie noch ein wenig der Bettruhe, und der Medicus ist im Landhaus Eures Bruders geblieben, um meiner Herrin beizustehen, falls sie der Hilfe bedarf.“

Appius atmete erleichtert auf. Dann wandte er sich wieder an seine Nichte: „Warum warst du denn so ungezogen zu Melina? Ich dachte, du hättest sie sehr gern?“

„Es gibt niemanden auf der Welt, den ich lieber mag“, entgegnete Divia heftig und blickte ihren Onkel nun wieder an. In ihren Augen schimmerte es feucht und Appius wurde klar, dass der Kleinen ihr Fehlverhalten schrecklich leid tat. „Glaub mir, ich wollte Melina niemals kränken. Nur wegen mir hat sie diesen Schwächeanfall erlitten. Ich bin ein böses Mädchen und habe jede Strafe verdient, die Vater mir auferlegt.“

„So, so? Du wolltest Melina also nicht kränken“, meinte Appius. „Nun, wie ist es denn dazu gekommen, dass du dich ihr gegenüber so respektlos benommen hast?“

„Ach… es ist… ich möchte eigentlich nicht…“, murmelte das Mädchen und senkte wieder seine Augen zu Boden. „Es… es ist so dumm…“

„Ja, ja, ich kann mir vorstellen, dass es für dich sehr peinlich ist, mein Kind“, sagte ihr Onkel mit leicht ironischem Tonfall. „Nichtsdestotrotz wirst du mir erzählen, was passiert ist!“

„Kann ich mich setzen?“ bat Divia.

„Der Angeklagte steht immer!“ entgegnete Appius mit fester Stimme. „Also, ich höre!“

Reumütig berichtete ihm seine Nichte daraufhin von dem Geburtstagsfrühstück, das nur deshalb in einen Streit und dem Schwächeanfall Melinas mündete, weil Sidori nicht mit am Tisch essen sollte. Als Divia dann mit leiser Stimme wiederholte, was sie zu Melina gesagt hatte, konnte Quella sich nicht mehr beherrschen.

„Du undankbares, grässliches Kind!“ entfuhr es der Alten.

„Schweig!“ fuhr Appius die Sklavin an. „Es steht dir nicht zu, dir ein Urteil über meine Nichte anzumaßen!“

Dann wandte sich der Hausherr in ernstem Ton wieder an Divia: „Du hast dich sehr respektlos benommen, sowohl gegenüber deinem Vater als auch gegenüber Melina. Das ist schlimm, mein Kind, überaus schlimm – und ich verstehe jetzt auch, warum dein Vater eine äußerst demütigende Bestrafung für dich vorgesehen hat.“

„Ich habe sie mehr als verdient!“ bekräftigte das Kind.

„Nun, wenigstens siehst du dein Unrecht ein“, meinte Appius nun ein wenig milder. „Es besteht also noch Hoffnung, dass du dich besserst.“

„Ja, das will ich, Onkel Appius! Ich will alles tun, um ein braves Mädchen zu werden“, versprach Divia. Hoffnungsvoll schaute sie den Hausherrn nun wieder an und fragte: „Wird Melina wieder gesund?“

„Dein Vater hat sich darüber in seinem Brief nicht geäußert“, antwortete Appius und blickte dann erneut zu Quella. „Weißt du etwas über Melinas Zustand, Sklavin?“

„Euer Bruder hat mich nicht befugt, Euch darüber etwas zu sagen“, erwiderte die Alte unfreundlich. „Wie ich bereits sagte, geht es meiner Herrin etwas besser. Lucius Marcellus hätte auch gewiss nichts dagegen, wenn Ihr erfahrt, dass meine Herrin nicht in Lebensgefahr schwebt.“

„Das ist eine gute Nachricht“, meinte Appius. „Dafür bringe ich gleich morgen den Göttern im Tempel ein Dankesopfer. Wenn Melina etwas zugestoßen wäre… nicht auszudenken. Sie ist ein Segen für uns alle.“

Er wandte sich in tröstendem Ton wieder seiner Nichte zu: „Bitte, beruhige dich, Divia. Du hast jetzt gehört, dass Melina wieder genesen wird. Und bis deine Eltern nach Rom zurückkommen, wirst du bei mir bleiben und deine Strafe erhalten. Aber zuerst werden wir eine Kleinigkeit zu Abend essen und dann gehst du sofort schlafen. Morgen wartet nämlich eine Menge Arbeit auf dich.“

„Ich werde mich jeder Strafe unterziehen, die Vater mir auferlegt“, versprach das Mädchen erneut. „Was hat er für mich vorgesehen?“

„Nun, liebes Kind, du wirst mit dem ersten Hahnenschrei aufstehen, dich anziehen und sofort in die Küche begeben. Dort teilt die Köchin dir deine Arbeit zu“, erklärte Appius.

„Was?!“ entfuhr es Divia entsetzt und sie starrte ihren Onkel mit aufgerissenen Augen an. „Ich soll in der Küche arbeiten?!“

„Ja, Mädchen! Dies hat dein Vater als Strafe für dich bestimmt“, antwortete der Hausherr. „Da du dich so gern in Gesellschaft von Sklaven aufhältst, sollst du lernen, was es heißt, wie eine Sklavin zu leben und für jemand anderen zu arbeiten. – Und wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig deute, ist die Küchenarbeit für dich wirklich eine Strafe.“

Divia nickte, ließ dann den Kopf hängen und murmelte: „Ich werde alles tun, was deine Köchin mir aufträgt und mich bemühen, dich zufriedenzustellen.“

„Gut, Divia, aber deine Strafe beginnt erst morgen. Geh schon mal ins Esszimmer vor, ich habe noch mit deiner Kinderfrau zu reden.“

Kaum war die Elfjährige aus dem Raum verschwunden, richtete Appius seinen Blick auf Quella, über deren Antlitz ein zufriedenes Lächeln geglitten war, als sie hörte, welche Strafe Lucius seiner Tochter zugedacht hatte. Der Hausherr kniff seine Augen zusammen, erhob sich von seinem Stuhl und ging dann langsam auf die Sklavin zu, die seinem Blick standhielt.

„Nun, Alte, dich scheint das alles ja sehr zu erfreuen“, meinte Appius mit lauerndem Unterton.

„Was die Strafe für dieses ungezogene Kind betrifft, kann ich dies durchaus bejahen“, erwiderte Quella ohne zu zögern. „Doch um meine kleine Melina mache ich mir Sorgen.“

Der Anwalt runzelte verständnislos die Stirn.

„Was soll das heißen, Alte? Sagtest du nicht gerade, Melina schwebe nicht in Lebensgefahr?“

„Im Augenblick nicht, aber das kann sich ändern, wenn…“

„Wenn was?!“

„Melina ist ein überaus zartes Geschöpf und man darf ihr nicht zu viel zumuten.“

„Mein Bruder wird schon darauf achten, dass dem hübschen Mädchen nichts passiert. Wie dir sicher nicht entgangen ist, liebt er sie“, sagte Appius ungeduldig. Er starrte Quella immer noch eindringlich an. „Du hast Melina aufgezogen, nicht wahr?“

„Ja, Herr, sie ist wie eine Tochter für mich“, gab die Alte zu.

„Schön, schön – aber du solltest dir immer darüber im Klaren sein, dass Melina  nicht  deine Tochter ist, sondern deine HERRIN!“ ermahnte der Hausherr sie barsch. „Und noch eins: Dein Ton mir und meiner Nichte gegenüber missfällt mir sehr! Du bist nichts weiter als eine Sklavin und niemand gibt dir das Recht, dich deinen Herrschaften gegenüber respektlos zu verhalten!“

Quella wollte gerade erwidern, dass sie weder ihn noch Divia als ihre Herrschaften ansah, als ihr einfiel, dass der junge Herr Leandros sie eindringlich darum gebeten hatte, sich den Römern zu fügen, um Melina keinen Schmerz zu bereiten – und so schwieg die Alte. Auf keinen Fall wollte sie etwas tun, was ihrer kleinen Herrin schadete. Es war schon schlimm genug, dass das unschuldige Mädchen die Konkubine eines Feindes ihres Volkes geworden war und überdies jetzt von diesem ein Kind erwartete. Wer wusste, ob Melina den Strapazen einer Schwangerschaft und Geburt gewachsen war? Aber darüber machten sich diese rücksichtslosen römischen Barbaren natürlich keine Gedanken! Ihr armes Lämmchen…

„Ich hoffe, ich habe dir klar gemacht, wo dein Platz ist!“ sagte Appius nun laut und warf der Alten einen strengen Blick zu. „Und nun merke dir noch eines gut, Sklavin: Über die Strafe, die Divia hier verrichten muss, wirst du zu niemandem je ein Wort verlieren, verstanden?!“

„Gut, ich schweige“, versprach Quella. „Aber was sage ich, wenn mich jemand fragt, warum Eure Nichte in Eurem Hause weilt?“

„Sie ist zu Besuch“, kam Appius‘ knappe Antwort. „Und jetzt geh in die Küche und iss zu Abend. Danach wirst du deinen Aufgaben als Divias Kinderfrau wie immer nachkommen.“

„Aber was ist mit ihrer Strafe?“

„Meine Nichte wird diese natürlich ausführen, wie ihr Vater es wünscht. Das heißt, dass sie ab morgen zwar mit den anderen Haussklaven in der Küche essen wird, doch du achtest darauf, dass sie auch genügend Nahrung zu sich nimmt. Sobald Divia abends jedoch mit den ihr übertragenen Arbeiten fertig ist und gegessen hat, wirst du sie wie üblich zu Bett bringen und morgens wieder pünktlich wecken. Während das Mädchen ihren Aufgaben nachkommt, bringst du ihr Zimmer in Ordnung und kannst dich dann auch anderweitig im Haus nützlich machen. Ich bin sicher, dass meine Haushälterin dir auch kleinere Arbeiten zuteilen kann“, führte Appius aus. Dann winkte er ab und meinte: „Das wäre erstmal alles. Du kannst jetzt gehen!“

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Nachdem Melina etwas gegessen hatte, war sie bald darauf wieder eingeschlafen und erwachte erst, als sie fühlte, dass jemand ihr zärtlich über die Wangen strich. Sie öffnete ihre Augen und erblickte Lucius, der sie mit liebevollem Blick und einem glücklichen Lächeln bedachte. Sie lächelte zurück und dachte daran, wie schön es doch war, mit ihm zusammen zu sein.

„Nun, mein Honigmädchen, hast du dich ausgeruht?“ fragte Lucius leise.

„Ja, wobei ich mir ein wenig seltsam vorkomme“, gab sie zurück. „Ich kann mich nicht erinnern, jemals so lange geschlafen zu haben… Fast den ganzen Tage habe ich im Bett gelegen…“

„Das macht doch nichts, Liebling. Die Aufregungen des gestrigen Tages waren einfach zu viel für dich. Außerdem meinte der Medicus, dass du dich etwas schonen solltest. Immerhin bist du schwanger, Liebes.“

„Darüber freue ich mich auch sehr, Liebster“, sagte Melina, lächelte und griff nach seiner Hand. Er führte ihre zum Munde und küsste sie zärtlich.

„Honigmädchen, du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt“, flüsterte er dabei und schenkte ihr einen überaus warmen Blick. „Eine werdende Mutter muss sich ein bisschen schonen.“

„Du bist so lieb zu mir und so fürsorglich“, murmelte die junge Frau freudestrahlend und drückte seine Hand.

„Das versteht sich doch von selbst“, brummte er freundlich, liebkoste wieder ihre Hand, die er immer noch in seiner hielt, und lächelte. „Du wohnst tief in meinem Herzen, mein süßer Liebling, und du bekommst mein Kind, wirst seine Mutter sein… Ach, Melina…!“

„Ja, ich trage unser Kind unter dem Herzen, Geliebter. Aber ich bin bereits jetzt so etwas wie eine Mutter für dein Kind…“

Erstaunt blickte Lucius die junge Frau an, dann lächelte er wieder.

„Das stimmt! Du bist für Divia wie eine Mutter, mein Schatz, und ich freue mich, dir berichten zu können, dass sie dir große Zuneigung entgegenbringt, dich respektiert und sich für ihr freches Verhalten dir gegenüber sehr schämt“, erklärte er dann.

„Ich habe ihr gestern bereits verziehen“, meinte Melina. „Es war doch unverkennbar, dass Divia ihr Verhalten leid tat – und über deinen Zornesausbruch schien sie richtig erschrocken zu sein. Als ich deswegen heute Morgen mit ihr sprechen wollte, musste ich von Laila erfahren, dass du Divia weggeschickt hast.“

„Das ist richtig!“ gab Lucius zu, wobei sein Gesicht einen ernsten Ausdruck annahm. Er strich erneut sanft über die Wange seiner Gefährtin und erklärte: „Ich habe sie zu Appius geschickt, damit du ein wenig Ruhe vor ihr hast. Schließlich weiß ich selbst, wie anstrengend meine Tochter sein kann.“

„Ich habe Divia gern um mich und empfinde sie überhaupt nicht als anstrengend“, widersprach Melina. „Sie ist doch ein liebes Mädchen. Ich hätte sehr gerne mit ihr über den gestrigen Vorfall gesprochen. Warum warst du denn nur so streng zu ihr, Liebster?“

„Das war leider notwendig, denn ich darf ein solch ungehorsames Verhalten ihrerseits nicht dulden!“ sagte Lucius mit unerbittlicher Stimme. Dann schwieg er und sah die junge Griechin mit ernster Miene an, bevor er in milderem Ton fortfuhr: „Sieh mal, Liebes, wenn ich jetzt nicht streng zu meiner Tochter bin, dann wird Divia sich zu einer eigensüchtigen, launischen Frau ohne jede Selbstdisziplin entwickeln. Glaubst du, die römische Oberschicht wird so etwas lange dulden? Nein, Melina, eine solche Dame wird sehr schnell ins gesellschaftliche Abseits geraten, wertvolle Verbindungen durch ihr unmögliches Verhalten zerstören und schließlich trotz vornehmer Herkunft ins Elend geraten. Das kann ich doch nicht zulassen! Was wäre ich für ein Vater? Divia ist meine Tochter und ich will nur das Beste für sie.“

„Natürlich, das glaube ich dir“, erwiderte die junge Frau. „Aber meinst du nicht, dass du etwas übertreibst? So eigenwillig ist Divia nun auch wieder nicht.“

„Doch, Melina! Sie ist eigenwillig, sie will immer ihren Willen durchsetzen! Sie muss lernen, dass das nicht möglich ist! Gerade darum braucht sie jemanden, der ihr Grenzen setzt!“

„Nun, vielleicht hast du recht“, räumte Melina ein.

„Natürlich habe ich recht“, bekräftigte er seinen Standpunkt nochmals deutlich. Dann wandte er sich wieder in freundlicherem Ton der jungen Frau zu. „Ich weiß, dass du es gut mit Divia meinst und das ist auch recht so. Bitte, Melina, vertrau mir! Ich tue das Richtige, wenn ich mit meiner Tochter so streng bin – wenngleich es aussehen mag, als sei ich grausam…“

„Verzeih mir, Liebster“, bat die junge Griechin. „Ich wollte deine Autorität niemals in Frage stellen. Es erscheint mir nur so übertrieben, weil der Auslöser für all dies lediglich der kleine Wunsch Divias war, dass ihre Freundin Sidori mit uns zusammen frühstückt.“

„Auch etwas, dass ich mir selbst als Fehler ankreiden muss“, brummte Lucius unzufrieden und zog seine Augenbrauen zusammen. „Ich hätte es niemals erlauben sollen, dass Sklaven mit uns am Tisch essen.“

„Aber, Liebster, du magst doch Sidori und Laila“, wandte Melina ein.

„Das ist richtig! Dennoch habe ich nie vergessen, dass es sich bei ihnen um Sklavinnen handelt, während Divia tut, als wären sie uns gleichgestellt. Wir beide wissen selbst, das dem nicht so ist – schließlich entstammst du selbst ja auch einer noblen Familie, die gewiss ebenfalls über eine Menge Sklaven verfügte, nicht wahr?“

„Ja, Lucius…“

„Divia muss begreifen, dass sie ein vornehmes Mädchen ist, das zwar einen gewissen freundschaftlichen Umgang mit ihren Sklavinnen pflegen kann, aber dennoch den nötigen Abstand zu ihnen einhalten muss. Sonst kann es passieren, dass die Dienstboten ihr auf der Nase herumtanzen…“

„Ach, Lucius“, sagte Melina nun traurig und senkte ihren Blick. „Verhält es sich denn nicht so, dass du selbst einige deiner Sklaven überaus schätzt?“

„Ich halte Abstand zu ihnen und sie wissen genau, dass ich der Herr im Hause bin. Keiner von ihnen würde es wagen, sich mir zu widersetzen!“

Die junge Griechin entzog ihm ihre Hand und wandte ihr Antlitz von ihm ab. Lucius runzelte verständnislos die Stirn.

„Was ist los, Melina?“

Sie schluchzte.

„Aber, mein Liebling, es besteht doch kein Grund, sich darüber aufzuregen, dass ich einen gewissen Abstand zu Sklaven für angebracht halte“, meinte er in ruhigem Ton.

„Ich selbst…“, kam es weinerlich von ihrer Seite. „Ich selbst…, Lucius, ich selbst…“

„Was ist mir dir, Honigmädchen?“ fragte er besorgt.

„Ich selbst… ich war deine Sklavin, bevor… bevor du mich freigelassen und zu deiner Konkubine gemacht hast“, erklärte sie stockend, ohne ihn anzusehen. „Wie… wie kannst du nur… nur davon sprechen… du hast keinen Abstand gehalten zu… zu mir… deiner Sklavin!“

Lucius drehte ihr Gesicht wieder zu sich herum und schaute sie eindringlich an. Dann erklärte er: „Du bist niemals eine Sklavin gewesen… niemals…. weder für mich noch für irgendjemanden sonst… Melina, deine edle Herkunft kann und will niemand bestreiten. Wie kommst du nur auf die Idee, dass ich dich jemals als Sklavin betrachtet habe?“

„Deine Frau… Selene… für sie war ich nichts weiter als… als eine Sklavin…“

„Vergiss sie! Du siehst ja, wohin ihr Unverstand sie gebracht hat!“ erwiderte er ironisch.

Melina starrte ihn erschrocken an, doch er ignorierte es und küsste sie auf den Mund.

„Du solltest dir einfach nicht so viele Gedanken machen“, meinte er dann und lächelte.

Sie schüttelte den Kopf und murmelte: „Ich… ich bin so verwirrt…“

„Aber warum denn, Honigmädchen?“

„Du kritisierst Divia einerseits dafür, dass sie in Sidori eine gleichberechtigte Freundin sieht, andererseits ziehst du selbst Philine sehr oft ins Vertrauen, Lucius.“

„Das ist wahr! Philine hat dies mehr als verdient, denn sie hat mir jahrelang treu gedient und sich als überaus vertrauenswürdig erwiesen“, erklärte er. „Dennoch halte ich gebührenden Abstand zu ihr, so dass für jedermann klar ist, dass ich sie zwar schätze, aber dennoch nicht mehr als eine Sklavin in ihr sehe. Und genau so soll Divia Sidori auch betrachten – und sie wird es lernen, darauf kannst du dich verlassen!“

„Oh, Lucius, machst du dir in Bezug auf Philine denn nicht selbst etwas vor?“ fragte Melina und sah wieder so aus, als würde sie jeden Augenblick nochmals in Tränen ausbrechen. „Für dich ist Philine nicht einfach eine Sklavin, sondern eine Vertraute, eine Freundin…“

„Was für ein Unsinn!“ entgegnete er heftig.

„Warum nur hast du Divia fortgeschickt?“ schluchzte die junge Frau. „Glaubst du wirklich, sie hat verstanden, weswegen Sidori nicht mit uns am Tisch sitzen durfte?“

„Nun, wenn sie es jetzt nicht verstanden hat, dann wird sie den Grund dafür bald begreifen“, erklärte Lucius grimmig. „Appius wird dafür sorgen, glaube mir.“

Melina wandte wieder ihr Gesicht von ihm ab und weinte.

„Liebling“, begann er in sanftem Ton und strich ihr mit der Hand über das Haar. „Ich habe Divia fortgeschickt, damit du noch eine Zeitlang Ruhe hast. Und all deine Aufregung um diese Angelegenheit zeigt mir, dass es richtig war, das Kind zu meinem Bruder zu schicken. Divia wird es dort gut ergehen, nicht zuletzt, weil sich deine ehemalige Kinderfrau bei ihr befindet. Meine Tochter muss auch ein wenig zur Ruhe kommen. Ende August fahren wir ja wieder nach Hause und bis dahin wird Divia sich auch wieder gefangen haben.“

Da Melina immer noch schluchzte, beugte er sich zu ihr hinunter und flüsterte: „Bitte, Liebling, hör doch auf zu weinen.“

Seine Worte hatten nicht die erwünschte Wirkung. Melina heulte weiter, obwohl er sie in den Arm nahm, sie zärtlich liebkoste und küsste. Trotzdem schien sie sich nicht beruhigen zu können. Er seufzte, entließ sie aus seinen Armen und deckte sie behutsam zu. Dann erhob er sich und verließ das Zimmer. Vor der Tür stand Laila und er bat sie, den Medicus zu holen, da seine Frau offenbar ein Beruhigungsmittel brauchte. Die Ägypterin lief sofort los, um seinen Auftrag auszuführen, während er auf ihre Rückkehr wartete und über die Worte nachgrübelte, die die junge Griechin zu ihm gesagt hatte: „Für dich ist Philine eine Vertraute, eine Freundin.“  - Melina konnte ja nicht ahnen, wie nahe sie der Wahrheit damit gekommen war, und sie sollte auch niemals erfahren, dass er mit der griechischen Sklavin vor vielen Jahren, noch vor seiner Ehe mit Selene, etwas gehabt hatte… aber, verdammt! Philine war seine Sklavin! Und es war nichts Ungewöhnliches, dass eine Sklavin ihrem Herrn auch Liebesdienste leistete. Das hatte doch nichts zu bedeuten…

 

Seit fast vierzehn Tagen versah Divia ihren Dienst in der Küche ihres Onkels. Zwar machte ihr die Arbeit als Küchenhilfe keinen Spaß, aber sie klagte nicht darüber, sondern nahm es als wohlverdiente Strafe hin. Zugleich wurden ihr durch die Gespräche, die die Bediensteten in der Küche oft miteinander führten, klar, wie gut sie es als Tochter eines reichen Römers eigentlich getroffen hatte, und allmählich dämmerte ihr, was ihr Vater ihr mit seinen Worten, sie solle Abstand zu den Sklaven halten, eigentlich hatte sagen wollen. Papa hatte es nur gut gemeint und sie war so frech zu ihm gewesen. Dabei wollte er nichts weiter, als sie zu beschützen. Wenn er nach Rom zurückgekehrt wäre und die Güte besäße, sie wieder als seine Tochter in seinem Haus aufzunehmen, würde sie ihm Abbitte leisten und in Zukunft alles tun, was er ihr gebot. Dem Pater familias, so hatte ihr Onkel ihr mehrmals während ihres jetzigen Aufenthaltes eindringlich erklärt, müsse man immer gehorchen.

Mittlerweile hatte sich ihr Verhältnis zu Quella wieder ein wenig gebessert, denn Divia gab gegenüber der alten Amme zu, dass sie Melina ein großes Unrecht zugefügt habe und es ihr von Herzen leid tue. Seitdem war Quella wieder ein wenig freundlicher zu ihr, hielt jedoch von sich aus einen gewissen Abstand. Divia konnte es der Alten nicht verdenken.

Der einzige Lichtblick in dieser Situation war der Umstand, dass es Melina laut Aussage ihres Onkels wohl wieder ganz gut gehe. Vater hatte Onkel Appius erneut eine Nachricht überbringen lassen, in dem er ihn davon in Kenntnis setzte, dass sie Ende August wieder nach Rom zurückkehrten und man Divia auf dem Weg nach Hause bei ihm abholen wolle. Außerdem gäbe es auch etwas zu feiern, weshalb Papa bald ein kleines Fest in seiner Stadtvilla geben wolle.

Nachdem Onkel Appius ihr eröffnet hatte, dass sie bald wieder nach Hause zurückkehren würde, ging es ihr bedeutend besser und sie konnte kaum erwarten, dass der Monat sich dem Ende zuneigte. Endlich würde sie Melina wiedersehen und sie hoffentlich auch wieder umarmen dürfen. Und Papa wäre gewiss milder gestimmt, wenn er erfuhr, dass sie klaglos ihre Strafe verrichtet hatte.

Nachdenklich saß sie nun am Küchentisch und rieb geschälte, frische Äpfel in eine Schüssel hinein, denn die Köchin plante als eine der Süßspeisen der heutigen Cena, Apfelpfannkuchen zu backen.

„Ach, Divia, ich glaube, ich habe das Tablett mit dem Frühstück für den Herrn im Speisezimmer vergessen“, wandte sich die Köchin in freundlichem Ton an das Mädchen. Dieses sprang sogleich auf, rief: „Ich hole es schon!“ und machte sich auf den Weg in Richtung des Esszimmers. Doch kaum war sie aus der Küche getreten, als sie mitbekam, dass Philine gerade derselben Richtung zustrebte, sie jedoch nicht bemerkt hatte.

Ob die Sklavin gekommen war, um sie endlich wieder nach Hause zu holen?

Voller Freude folgte das Mädchen Philine, die tatsächlich das Esszimmer betrat, in dem Onkel Appius immer noch saß. Er begrüßte sie freundlich und forderte sie auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

Philine setzte sich ihm gegenüber auf einem Stuhl, doch ihr Kopf war demütig gesenkt.

Divia, die neugierig war, was die Sklavin wohl zu berichten hatte, schlich sich näher zum Eingang, wobei sie darauf achtete, nicht von Appius oder Philine bemerkt zu werden, und hoffte, etwas Interessantes zu erfahren. Etwas, das die Erwachsenen ihr nicht freiwillig erzählen würden.

 „Nun, warum wolltest du mich sprechen?“ fragte Appius, ohne Philine etwas anzubieten, während er weiter aß.

„Wie Ihr wisst, werden meine Herrschaften bald nach Rom zurückkehren“, antwortete die Griechin ihm. „Nun verhält es sich so, dass Melina Aigikoreusa mir vor ihrer Abreise aufs Land einen Auftrag erteilte, den ich auch ausführte. Ich sollte mich auf die Suche nach einer Person machen und erhielt vor etwa zwei Wochen Nachricht über diese Person.“

„Ja, und? Wo ist das Problem?“ wunderte sich Appius.

„Ach, Herr, es ist eine äußerst heikle Angelegenheit“, murmelte Philine, wobei sich ihre Wangen rötlich verfärbten. „Ich weiß gar nicht, wie ich es erklären soll…“

„Am Besten, du fängst an!“ forderte der Rechtsgelehrte sie auf, lehnte sich etwas in seinem bequemen Stuhl zurück und schaute sie erwartungsvoll an.

„Nun…“, begann Philine zögerlich. „Eure Nichte erzählte unserer neuen Herrin von der kleinen Sklavin, die sie einst besaß, und die von ihrer Mutter damals wieder verkauft worden war…“

„Ach ja, ich erinnere mich, dass mein Bruder mir davon berichtete“, sinnierte Appius. „Divia hatte ihm seinerzeit in den Ohren gelegen, ihr das Sklavenmädchen wieder zu beschaffen. Aber das war natürlich unmöglich...“

Der Anwalt runzelte die Stirn und fragte dann ungläubig: „Melina hat dich beauftragt, diese kleine Sklavin zu suchen?“

Die Griechin nickte betrübt.

„Mit welchem Ergebnis?“

„Der Händler Decimus ließ mir eine Nachricht zukommen, dass Liuba verkauft worden ist…“

„Wie nicht anders zu erwarten war“, spottete Appius.

„…an Sabina Veneria“, vollendete Philine ihren Satz, wobei ihre Wangen eine stärkere Rötung annahmen als zuvor. „Ihr wisst, Herr, was für ein Haus sie betreibt?“

„Ein Bordell!“ entfuhr es dem Anwalt und er starrte sie bestürzt an.

„Seht Ihr, Herr. Wie soll ich dies Melina Aigikoreusa beibringen?“ erklärte die Griechin. „Als junge Dame, die sehr behütet aufwuchs, weiß sie sicherlich nichts von diesen Dingen; und Eurem Bruder wäre es gewiss nicht recht, wenn ich seine Gefährtin mit so etwas behellige.“

„Natürlich nicht…“, gab der Hausherr zu. Er schien einen Augenblick zu überlegen, dann meinte er: „Am Besten, du verlierst über die ganze Angelegenheit zu niemandem ein Wort!“

„Unsere junge Herrin wird von mir bestimmt erfahren wollen, ob ich im Falle dieser Liuba etwas unternommen habe. Was soll ich ihr darauf antworten?“

„Dass die Suche nach diesem Mädchen nichts erbracht hat!“ entgegnete Appius in ungeduldigem Ton. „Bei Merkur! Wegen solch einer Lappalie stiehlst du mir die Zeit?“

„Verzeiht, Herr! Aber ich bin nur eine einfache Sklavin, die natürlich des Rats eines klugen Mannes, wie Ihr es seid, bedarf.“

„Schon gut! – Doch verrate mir noch eins, Philine: Aus welchem Grund solltest du das Sklavenmädchen suchen? Was genau gedachte Melina mit ihr zu tun?“

„Sie wollte sie für Divia zurückkaufen!“

Appius wirkte einen Augenblick überrascht, denn begann er laut zu lachen und schüttelte den Kopf. Es brauchte eine Weile, ehe er sich wieder beruhigte. Dann sagte er: „Dir hätte doch klar sein müssen, Philine, dass mein Bruder dies nie und nimmer zulassen würde! Lucius erzählte mir, Selene hätte die kleine Sklavin aus dem Haus schaffen lassen, weil sie ungehorsam gewesen sei und deshalb einen schlechten Einfluss auf Divia ausübte. Deswegen ist mir auch schleierhaft, wie Melina nur auf die Idee kommt, eine solche Sklavin wieder ins Haus zu holen.“

„Ach, Herr, die junge Dame empfindet starkes Mitgefühl für Divia“, erklärte die Griechin. „Eure Nichte leidet immer noch sehr unter dem Verlust jener Liuba, denn sie glaubt, das Mädchen wäre gestorben und ihre Mutter sei schuld daran. Genau das hat Eure Nichte auch der jungen Herrin erzählt. Natürlich klärte ich Melina Aigikoreusa darüber auf, wie es sich damals wirklich zutrug. Als die junge Herrin hörte, dass Liuba möglicherweise noch am Leben sei, beauftragte sie mich sofort, dieses Mädchen zu suchen und wieder ins Haus zu bringen. Sie findet, dass dies notwendig sei, um Divia mit ihrer Mutter zu versöhnen.“

„Wirklich konfuses Zeug, was du mir da berichtest“, murmelte Appius und schüttelte den Kopf. „Divia kann nicht wirklich glauben, dass die kleine Sklavin tot ist, sonst hätte sie doch nicht darauf bestanden, dass Lucius sie ihr wiederbeschafft.“

„Eure Nichte war damals überaus verzweifelt und sie leidet noch heute daran, dass man ihr Liuba genommen hat.“

„Richtig, sie ist damals ein Kind gewesen, dem man solche Albernheiten nachsehen kann. – Nun ja, Melinas Motive verraten eine edle Gesinnung. Deshalb bin ich sicher, dass ihr die Versöhnung zwischen Divia und Selene auch gelingen wird, ohne dieses Sklavenmädchen zurückzuholen.“

„Aber, Herr“, wandte Philine in vorsichtigem Ton ein. „Sollte man Liuba nicht helfen, aus einem Hause wie dem der Sabina Veneria herauszukommen, indem man sie freikauft? Bedenkt bitte, dass das Mädchen nicht sehr viel älter ist als Eure Nichte.“

Appius bedachte die Griechin mit einem Blick, als hätte sie den Verstand verloren. Höhnisch fragte er: „Und wer sollte dieses Mädchen freikaufen?“

Philine schenkte dem Rechtsanwalt einen bittenden Blick, bevor sie zögernd und in leisem Ton antwortete: „Wenn… wenn Ihr… so gut… sein wolltet… Herr?“

„Schlag dir das aus dem Kopf!“ fuhr Appius sie daraufhin an. „Wie kannst du nur annehmen, dass ich eine Sklavin unter meiner Dienerschaft dulden würde, die seit Jahren in einem Lusthaus lebt?!“

„Bitte, verzeiht, Herr, aber… aber das Mädchen… es ist nicht gesagt, dass sie als Dirne arbeitet! Vielleicht räumt sie nur auf, putzt oder ist dort Küchenmädchen?“ wagte Philine vorsichtig einzuwenden.

Der unheilvolle Blick, den Appius ihr zuwarf, ließ allerdings nichts Gutes ahnen. Deshalb war es für die Sklavin keine Überraschung, dass in seiner Stimme ein drohender Unterton mitschwang, als er antwortete: „Selbst wenn – ich betone: wenn! – dieses Mädchen dort nur als Haussklavin arbeitet, werden weder ich noch mein Bruder irgendetwas unternehmen, um sie dort freizukaufen. An einer Sklavin, die in einem Lusthaus tätig war, bleibt immer ein zweifelhafter Ruf haften!“

„Aber Liuba kann doch nichts dafür!“ wisperte Philine.

„Schluss! Ich will kein Wort mehr darüber hören!“ befahl Appius in barschem Ton. „Und du wirst weder meinen Bruder noch seine neuen Gefährtin damit belästigen, hörst du?!“

„Aber meine Herrin wird mich fragen…“

„Sag ihr, dass das Mädchen tot ist!“

„Oh, Herr…“

„Ich warne dich, Sklavin! Melina hat ein gutes Herz und ihr ist zuzutrauen, die junge Sklavin gegen den Willen meines Bruders freikaufen zu wollen. Wenn ich erfahre, dass sie Lucius einen derartigen Wunsch vorträgt, dann berichte ich deinem Herrn, dass du die Urheberin desselben warst. Was glaubst du, wie lange du dann noch seine Gunst genießt?!“

„Ich werde schweigen, Herr“, versprach Philine daraufhin und senkte ihren Kopf.

„Gut, dass du vernünftig bist“, brummte Appius, der äußerst verärgert wirkte. „Das fehlte noch, dass wegen einer Sklavin Unfrieden im Hause meines Bruders einkehrt. Du wirst also kein Wort über dieses Mädchen verlieren und wenn deine junge Herrin dich nach ihr fragt, dann sagst du, dass Decimus‘ Suche erfolglos gewesen sei, verstanden?!“

„Ja, Herr!“

„Und nun geh! Du hast sicher genug damit zu tun, alles für die bevorstehende Ankunft deiner Herrschaften vorzubereiten!“

Philine verneigte sich und ging rasch aus dem Zimmer.

Divia, die jedes Wort der Unterhaltung verstanden hatte, entfernte sich sofort, als sie hörte, dass ihr Onkel die griechische Sklavin entließ, und verschwand um die Ecke. Sie lehnte sich gegen die Wand und versuchte, all das, was sie soeben mit angehört hatte, zu ordnen, um es zu begreifen.

Wenn sie es richtig verstanden hatte, so war ihre Annahme, dass Liuba tot sei, ein Irrtum gewesen. Eigentlich freute sie sich darüber, aber es ärgerte sie auch, dass kein Mensch außer Melina sie ernst zu nehmen schien. Meli war die Einzige, die ihr vorbehaltlos geglaubt und Mitleid mit ihr und Liuba gehabt hatte. Es sprach auch für sie, dass sie – nachdem Philine ihr erzählte, dass Liuba  noch am Leben sein könnte – versuchte, die damalige Freundin wiederzufinden, um ihr eine Freude zu machen. Und jetzt, da Philine den Verbleib Liubas herausgefunden hatte, verbot Onkel Appius ihr, jemandem davon zu erzählen…

Divia spürte, wie der Zorn sich in ihrem Inneren ausbreitete. Eigentlich war sie zunächst auch wütend auf Philine gewesen, aber nachdem sie bemerkte, dass diese Liuba ebenfalls gerne helfen würde, wenn sie könnte, und ihren Onkel darum gebeten hatte, die junge Sklavin freizukaufen, verflog diese Wut rasch. Schließlich war Philine nur eine Dienerin, die tun musste, was man ihr befahl. Aber für Onkel Appius wäre es ein Leichtes, Liuba von dieser Sabina Veneria freizukaufen. Bei dem Bordell oder Lusthaus musste es sich um etwas sehr Schlimmes handeln und man sollte alles tun, um jemandem dort herauszuhelfen. Deshalb war völlig unverständlich, warum Onkel Appius ihrer Freundin Liuba seine Hilfe verweigerte. Wenn sie nur wüsste, was ein Bordell wäre. Doch ihr Vater, den sie einmal danach fragte, hatte ihr verboten, darüber zu sprechen; und nach dem Verhalten und der Redeweise ihres Onkels würde er wohl ähnlich wie Papa auf die Frage, was ein Bordell sei, reagieren. Nein, sie musste es auf andere Weise in Erfahrung bringen…

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Melina stand im Garten und wartete auf Lucius, der sich noch in einem Gespräch mit seinem Verwalter befand. Dabei schaute sie hinaus auf die weite Landschaft und fühlte, wie wehmütig ihr bei dem Gedanken ums Herz wurde, diese Gegend in ein paar Tagen verlassen zu müssen, um zurück nach Rom zu fahren.

Die junge Frau seufzte. Ein ruhiges Leben auf dem Land würde ihr viel besser gefallen als in der Stadt, wo es üblich war, jeden Abend an einer Cena teilzunehmen oder selbst eine zu geben. Das bedeutete, dass sie nicht mehr so viel Zeit allein mit Lucius verbringen könnte wie hier. Hinzu kam, dass ihr Mann bald nach seiner Rückkehr wieder seinen Dienst antreten würde. Das hieß zwar nicht unbedingt, dass er wegmusste, aber ausschließen konnte man es auch nicht. Sie musste sich nun ernsthaft mit dem Gedanken auseinandersetzen, was es für sie hieß, dass Lucius eventuell auf einem Feldzug war oder im Auftrag des Kaisers irgendwelche Verhandlungen in einer der Provinzen führen musste. Sie würde voller Sehnsucht in seiner Villa in Rom auf ihren Liebsten warten und wahrscheinlich jeden Tag, den er nicht bei ihr war, um sein Leben bangen. Ja, diesen Preis musste man als Gefährtin eines Offiziers bezahlen.

Einen der wenigen Lichtblicke in dieser Einsamkeit würde Divia bilden, um die sie sich kümmern und ihr ein paar Sachen beibringen wollte, die eine junge Frau beherrschen sollte. Außerdem könnten sie neben dem Weben und dem Garnspinnen zusammen Texte lesen, darüber diskutieren und sich von Laila weiter in der Kunst des Lyraspiels unterrichten lassen.

Ach, sie vermisste Divia sehr und freute sich darauf, sie bald wiederzusehen. Wenigstens ging es dem Kind bei Appius sehr gut, wie Lucius ihr berichtete. Vielleicht hatte er doch recht damit gehabt, das aufgeregte Mädchen für eine Weile zu seinem Onkel zu schicken, damit sie alle ein wenig zur Ruhe kamen nach diesem dummen Streit, der in Melinas Augen immer noch unnötig gewesen war.

Melina erinnerte sich auch daran, dass sie Philine den Auftrag erteilt hatte, nach Liuba zu suchen. Vielleicht hatte die Sklavin mittlerweile etwas über dieses Mädchen in Erfahrung gebracht.

Die junge Frau lächelte, als ihr dieser Gedanke kam. Womöglich warteten in Rom einige Aufgaben auf sie, die es ihr ermöglichten, einerseits einem ins Unglück geratenen Menschen zu helfen sowie andererseits ein Missverständnis zwischen einer Mutter und ihrer Tochter aus der Welt zu schaffen und die beiden miteinander zu versöhnen. Vielleicht sah Selene dann endlich ein, dass sie nicht ihre Feindin war.

Melina hoffte sehr, dass Selene mit ihr Frieden schloss, da sie sich ein gutes Einvernehmen mit ihr wünschte, vor allem wegen Divia, die nicht darunter leiden sollte, dass ihre Eltern geschieden waren. Lucius war damit einverstanden, dass seine Tochter ihre Mutter ab und zu sah, solange Selene nur seinem Haus fernblieb. Es war schon merkwürdig, dass er es so vehement ablehnte, sie in der Stadtvilla zu empfangen. Irgendwann würden sie Selene ja doch bei einer der zahlreichen Abendgesellschaften begegnen, zu denen man sie einlud. Aber Lucius wollte davon im Augenblick nichts wissen. Stattdessen lenkte er das Gespräch auf ihr gemeinsames Kind, auf das er sich sehr freute.

Die junge Griechin strich nachdenklich über ihren Bauch, dem man noch nicht ansah, dass er neues Leben in sich barg. Sie freute sich auch auf das Kind, das in ihrem Leib heranwuchs, aber gleichzeitig sorgte sie sich darum, wie Lucius wohl reagierte, wenn es kein Knabe wäre. Zwar hatte er darüber bisher kein Wort verloren, aber es war ein offenes Geheimnis, dass sich Legatus Marcellus einen Sohn wünschte. Was, wenn ihr gemeinsames Kind nun ein Mädchen war? Würde er es aussetzen und damit einem ungewissen Schicksal überlassen, wie die Männer in ihrer Heimat dies manchmal taten? Sie wusste, dass es in Rom ebenfalls Brauch war, dass das Familienoberhaupt darüber entschied, ob das Kind in die Familie aufgenommen wurde oder nicht. Ungerechte Gesetze, die die Väter zu den alleinigen Herren über Leben und Tod der ihnen Anvertrauten machten. Und sie wusste nicht, was sie tun würde, sollte Lucius ihre gemeinsame Tochter aussetzen…

Dieser Gedanke bedrückte ihr Herz und trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wollte nicht, dass dem Kind, das in ihr heranreifte, ein Unheil geschah.

„Honigmädchen!“ hörte sie hinter sich Lucius liebevoll rufen, doch sie drehte sich nicht nach ihm um, sondern versuchte, sich zusammenzureißen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Mittlerweile war er neben sie getreten und legte behutsam einen Arm um sie.

„Nun, Melina, was hast du für einen Kummer?“ fragte er nachsichtig.

„Ach… nichts“, erwiderte sie traurig. „Manchmal… manchmal überkommt es mich eben und ich muss weinen…“

„Das hängt mit deiner Schwangerschaft zusammen“, erklärte er in ruhigem Ton und lächelte. „Frauen, die ein Kind erwarten, werden oft von Launen geplagt. Ein langer Spaziergang wird deine Stimmung gewiss wieder heben, liebes Kind.“

„Das hoffe ich sehr, Lucius“, sagte sie, zwang sich zu einem Lächeln und hängte sich in den ihr dargebotenen Arm ein. Dann meinte sie: „Vielleicht bin ich ja auch nur traurig, weil wir bald abreisen müssen, obwohl es mir hier so gut gefällt.“

„Ja, es ist wirklich schön hier“, gab Lucius zu. „Aber dies ist nur ein Ferienhaus und mit der Villa in Rom nicht zu vergleichen. Du solltest dich auch darauf freuen, bald wieder Divia, deine Freundin Silvia und meinen Bruder Appius wiederzusehen. Er hat sich eingehend danach erkundigt, ob es dir inzwischen besser geht.“

„Hast du ihm schon berichtet, dass er nächstes Jahr wieder Onkel wird?“

„Nein, mein Liebling, diese glückliche Nachricht verkünde ich erst, wenn ich nach unserer Rückkehr nach Rom meine erste Abendgesellschaft gebe.“

„Mir wäre es lieber, du würdest nicht so ein großes Aufhebens um meine Schwangerschaft machen“, seufzte Melina und sah ihn eindringlich an. „Ich weiß ja, dass du dir einen Sohn wünscht, Liebster, aber…“

„Mein süßer Liebling, mir ist völlig egal, welches Geschlecht unser gemeinsames Kind hat“, fiel Lucius ihr sofort ins Wort. „Ich werde dieses Kind lieben, weil es das Kind ist, das  du  mir geschenkt hast.“

„Aber alle reden davon, dass du dir einen Sohn wünscht“, sagte Melina.

„Wenn das Kind meines Honigmädchens ein Knäblein ist, wäre ich überglücklich“, erklärte er lächelnd, küsste sie unversehens auf die Stirn und blickte ihr dann tief in die Augen. „Wenn es hingegen ein Mädchen sein sollte, so wünsche ich mir, dass es genauso hübsch ist wie du, und ich werde es nach dir benennen. Zwei süße Honigmädchen um mich herum sind doch auch etwas Schönes.“

Die junge Griechin lachte befreit auf und umarmte ihn dann fest.

„Siehst du, mein Schatz“, meinte Lucius daraufhin. „Du hast dir völlig unnötige Sorgen gemacht.“

„Ja, es war dumm von mir“, gab Melina zu. „Jetzt bleibt mir nur zu hoffen, dass Divia die Nachricht, dass sie ein Geschwisterchen bekommt, gut aufnimmt.“

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Unbarmherzig schien die Sonne auf Sorex und seine Begleiter herab und machte ihnen zu schaffen.

„Wann werden wir endlich diese verdammte Wüste durchquert haben und am alten Tempel des Ra ankommen?“ murrte der alte Römer, der sich immer noch nicht an den schaukelnden Gang des Kamels gewöhnt hatte, auf dem er seit Beginn ihrer Reise ritt, während ihm die Schweißtropfen von der Stirn perlten. „Mir kommt es vor, als hätte dieses Sandmeer nie ein Ende.“

„Nur Geduld, Herr“, meinte der Reiseführer mit ruhiger Stimme. „Wir müssen noch ein Stück gehen. Behaltet nur Euer Ziel im Auge, dann ist diese mühsame Reise erträglich.“

Serpa-Thot, der direkt hinter dem Kamel von Sorex herging, rief: „Wer weiß, ob der Reiseleiter uns nicht zum Narren hält und uns die ganze Zeit immer im Kreis herumgeführt hat!“

Der Führer drehte sich zu dem ägyptischen Sklaven um und antwortete in ärgerlichem Ton: „Selbstverständlich habe ich das nicht getan! Es liegt mir viel daran, Herrn Sorex so schnell wie möglich an sein Ziel zu bringen. Schließlich werden unsere Vorräte nicht ewig reichen!“

„Ihr könnt viel erzählen!“ griff Serpa-Thot den Dämon an. Dann wandte er sich hoffnungsvoll an den alten Römer und flehte: „Bitte, Herr, lasst uns in die nächste Stadt gehen, die sich auf unserem Weg befindet! Wie unser Reiseleiter soeben treffend bemerkte, sind unsere Vorräte bald aufgebraucht!“

„Der Vorschlag klingt vernünftig“, brummte Sorex, der äußerst unzufrieden aussah. „Wir sollten unsere Vorräte wirklich auffüllen. Außerdem hätte ich nichts dagegen, mal wieder in einem anständigen Bett zu schlafen, ausreichend zu speisen und ein Bad zu nehmen.“

„Unsere Vorräte reichen völlig aus!“ widersprach der Reiseführer. „Wenn wir die nächste Stadt aufsuchen, um einzukaufen, dann verlieren wir Zeit!“

„Der alte Tempel läuft uns nicht davon“, gab Sorex ironisch zurück.

„Aber ich nahm an, Ihr wolltet so schnell wie möglich Euer Ziel erreichen“, gab der Ägypter zurück und musterte den alten Römer erstaunt.

„Schnell wäre in Ordnung, aber ich habe den Eindruck, dass wir überhaupt nicht vorankommen. Nichts als Sand, wohin man auch blickt…“

„Nun, mein Herr, so ist die Wüste nun einmal beschaffen. Lasst Euch nicht beirren, wir nähern uns unserem Ziel mit großen Schritten. Es dauert nicht mehr lange, bis wir den alten Tempel erreicht haben werden“, versprach der Reiseführer. „Denkt an die Worte Setechs, der Euch darauf hinwies, dass der Weg zum entweihten Ort ein sehr weiter wäre. Damals seid Ihr bereit gewesen, ihn zu gehen…“

Bei Erwähnung des geheimnisvollen Mannes, mit dem er vor sehr vielen Nächten gesprochen hatte, horchte Sorex auf.

„Ihr kennt Setech?!“ fragte er überrascht und starrte den Ägypter an. „Und woher wisst Ihr, was ich mit Setech besprochen habe?“

„Ihr habt mit Setech gesprochen?!“ entfuhr es nun auch Serpa-Thot, der erschrocken seinen Herrn ansah. Jener jedoch beachtete den Sklaven nicht, sondern blickte gespannt auf den Reiseführer hinab. Dieser grinste ihn an.

„Nun, Sorex, Ihr habt es Setech zu verdanken, dass ich Euch auf den richtigen Weg zu dem entweihten Tempel des Ra führe“, erklärte der Ägypter. „Setech ist der Herr, dem ich diene, und er beauftragte mich, mich Eurer anzunehmen und Euch zu helfen. Das habe ich bisher getan und werde es weiterhin tun, wenn Ihr Euch nur meiner Führung anvertraut.“

„Dann muss Setech noch in jener Nacht mit Euch gesprochen haben, als er mir begegnet ist“, mutmaßte der Römer, worauf sein Gesprächspartner nickte.

„Oh, Herr!“ mischte sich nun Serpa-Thot in aufgeregtem Ton ein. „Bitte, lasst uns in die nächste Stadt gehen!“

„Das könnt Ihr natürlich tun“, meinte der Reiseführer und verneigte sich leicht vor Sorex, der sich kurz nach seinem Sklaven umgeschaut hatte. „Doch wenn Ihr das tut, dann seht Ihr mich nicht wieder – und wer weiß, ob Euch Setech dann noch einmal Hilfe schicken wird. Wie Ihr gemerkt habt, findet Ihr nicht so schnell einen Führer, der bereit ist, Euch zu dem alten Ra-Tempel zu bringen, in dem Qara gefangen sitzt.“

„Würde Euch denn ein kleiner Umweg in die nächste Stadt so stören?“ fragte Sorex verwundert. „Wir wollen doch nur neue Vorräte kaufen und uns ein wenig erfrischen. Mehr als einen oder zwei Tage werden wir dazu nicht brauchen.“

„Entscheidet Euch“, antwortete der Führer daraufhin mit ruhiger Stimme. „Entweder gehen wir jetzt weiter zu dem alten Tempel des Ra oder ich bringe Euch bis vor die Tore der nächsten Stadt und verabschiede mich dann von Euch. Wählt eine der beiden Möglichkeiten und lebt mit den Konsequenzen, die daraus folgen!“

Der alte Römer schien mit sich zu kämpfen, dann meinte er: „Und Ihr glaubt wirklich, dass unsere Vorräte reichen werden?“

„Das versichere ich Euch, Herr. Vertraut mir!“

„Also schön, dann bringt uns zu dem entweihten Tempel!“

„Aber, Herr!“ protestierte Serpa-Thot, der die Müdigkeit von Sorex bemerkt hatte und nichts unversucht lassen wollte, ihn von seinem wahnsinnigen Vorhaben abzubringen. „Wir sollten wirklich in die nächste Stadt…“

„Schweig!“ donnerte der alte Römer. „Ich habe doch gerade entschieden, dass wir das nicht tun werden! Also schweig und finde dich damit ab!“

Resigniert ließ Serpa-Thot den Kopf zu Boden sinken, während er förmlich spüren konnte, wie der Dämon, der den Leib des Reiseführers besetzt hielt, über ihn triumphierte…

 

 

 

 

 

Als am frühen Morgen des 30. August der Hahn den Sonnenaufgang begrüßte, erhob sich Quella sogleich von ihrem Lager und eilte in Divias Zimmer, um das Mädchen zu wecken.

„Komm, mein Kind, es wird Zeit aufzustehen!“ sagte sie und rüttelte sie sanft.

„Hm… noch ein bisschen…“, murmelte Divia verschlafen.

„Na komm, die Arbeit ruft“, ermahnte Quella liebevoll.

„Ach, ich hab keine Lust“, maulte das Mädchen, erhob sich halb und rieb die Augen. „Eigentlich müsste die Strafe doch schon vorbei sein, oder? Papa wollte doch Ende August kommen und uns abholen.“

„Das mag schon sein, aber bis jetzt hat dein Onkel nichts davon gesagt, dass dir die Strafe erlassen worden ist“, erwiderte die Alte. „Also komm, Kind, steh auf!“

„Also gut“, gab Divia nach. „Ich stehe gleich auf. Du kannst derweil schon einmal eine Schüssel Wasser holen.“

Quella nickte und begab sich in die Küche, um Wasser zu holen. Kaum hatte sie den Raum betreten, begrüßte die Köchin sie und meinte: „Du kannst die Kleine heute schlafen lassen. Der Herr sagte mir gestern Abend noch, dass sie sich ausruhen solle. Im Laufe des Tages wird ihr Vater kommen und sie abholen.“

„Schön, dass man das auch mal erfährt“, brummte die Alte unwillig. „Warum hat dein Herr mir gestern nicht auch Bescheid gegeben?“

„Herr Appius hat viel zu tun und kann nicht an jede Kleinigkeit denken“, nahm die Köchin ihn in Schutz. „Er hat es bestimmt nur vergessen. Kann ja mal vorkommen. – Jetzt freu dich lieber, dass du bald wieder im Hause deiner Herrschaften sein kannst.“

„Ja, du hast recht“, erwiderte Quella und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Endlich würde sie Melina wiedersehen. Wie sehr hatte sie sie vermisst und konnte es kaum erwarten, sich selbst davon zu überzeugen, dass sich ihr Lämmchen gut erholt hatte. In Rom fand sie sicherlich auch öfter mal eine Gelegenheit, um sich allein mit Melina zu unterhalten, ohne dass Lucius Marcellus es mitbekam.

Mit dieser Hoffnung im Herzen trug Quella die Wasserschüssel zurück in Divias Zimmer. Entgegen ihrem Versprechen lag das Mädchen immer noch im Bett und schlummerte bereits wieder. Die Alte stellte die Schüssel auf der Kommode ab und ließ sich auf einen der Stühle im Zimmer nieder. Da Divias Strafdienst also jetzt vorbei war, konnte sie sich auch noch ein Weilchen ausruhen, bis ihr Zögling ausgeschlafen war. Es würde sicher auch nicht mehr allzu lange dauern, bis Legatus Marcellus auftauchte, um seine Tochter abzuholen. Ob Melina ihn begleiten würde? Ach, sie konnte es kaum erwarten, ihr Lämmchen in die Arme zu schließen…

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Am Spätnachmittag traf die Rheda mit Lucius, seiner Geliebten und den beiden Bediensteten Laila und Sidori vor der Stadtvilla in Rom ein. Da der Hausherr seine Rückkehr für diesen Tag angekündigt hatte, standen schon Bedienstete am Eingang bereit, um sie zu empfangen. Kaum hatte einer der Sklaven die Tür des Wagens geöffnet, als auch schon Sidori heraussprang und vorauslief, um Philine zu holen. Danach entstieg Lucius der Rheda und half dann zusammen mit Laila seiner Frau aus dem Gefährt. Melina war sehr blass und sah so aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Deshalb hob Lucius sie auf seine Arme und trug sie eilig ins Haus, gefolgt von Laila.

Mittlerweile erschien auch Philine, die Sidori im Garten beim Schneiden von Rosen getroffen hatte, im Atrium und fragte mit besorgter Miene: „Was ist geschehen, Herr? Sidori meldete mir, dass die Herrin unpässlich sei.“

„Es ist völlig normal, mach dir keine Sorgen“, entgegnete Lucius. „Hast du für Melina das neue Gemach herrichten lassen?“

„Selbstverständlich, Herr, es ist alles bereit – so wie Ihr es wünschtet!“

Lucius nickte ihr knapp zu und brachte dann seine junge Frau dorthin. Während er – gefolgt von der dunkelhäutigen Ägypterin – mit Melina auf den Armen in diesen Raum eilte, starrte Philine ihm verständnislos hinterher. Dann wandte sie sich an Sidori und fragte: „Weshalb findet unser Herr es völlig normal, wenn seiner Gefährtin unwohl ist?“

„Du wirst es bald erfahren“, antwortete das Mädchen und lächelte. „Es ist eine Neuigkeit, die der Herr selbst verkünden will. Deshalb sage ich auch nichts.“

„Aha“, meinte Philine und musste dann schmunzeln. Vermutlich war Melina schwanger, aber sie würde keinesfalls diejenige sein, die ihrem Herrn den Spaß daran verdarb, es allen zu erzählen. Dann jedoch änderte sich schlagartig ihre Miene, denn ihr fiel wieder ein, wie zerbrechlich die junge Griechin war. Womöglich litt sie mehr unter dieser Schwangerschaft als andere, kräftigere Frauen. Nun, sie würde ein Auge auf Melina haben und dafür sorgen, dass diese sich nicht überanstrengte, und Quella stand ihr dabei bestimmt hilfreich zur Seite. Aber wo war die Alte eigentlich? Und warum war Divia noch nicht im Haus?

Philine ging vor das Gebäude, doch der Fahrer fuhr die Rheda gerade in die Hofeinfahrt hinein.

„He!“ rief die griechische Sklavin laut. „Warte, bis die Tochter des Herrn und ihre Kinderfrau ausgestiegen sind!“

„Es befindet sich niemand mehr im Wagen!“ antwortete ihr der Fahrer.

Philine runzelte die Stirn. Konnte es sein, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Divia und Quella ins Haus gekommen waren? Nun ja, womöglich. Schließlich hatte der Patron ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Zufrieden mit dieser Erklärung kehrte die Griechin ins Haus zurück und machte sich auf den Weg in die Küche. Dabei kam ihr Lucius entgegen.

„Nun, Herr, geht es Eurer Frau besser?“ erkundigte sich Philine.

„Ein wenig“, erwiderte er knapp, ging dann in die Küche und begrüßte den Lar familiaris. Danach wandte er sich der runden Köchin zu, sagte ihr leise etwas ins Ohr, worauf Festia nickte, und wollte den Raum gerade wieder verlassen, als sein Blick auf die griechische Sklavin fiel, die ihm besorgt gefolgt war und sich in seiner Nähe befand.

„Komm mit, Philine!“ befahl er und sie folgte ihm. Er ging schnurstracks in sein Arbeitszimmer, wartete, bis die Griechin den Raum betreten hatte, und schloss die Tür. Danach ließ er sich hinter seinem Schreibtisch nieder und forderte die Sklavin mit einer Handgeste auf, sich auf einem Stuhl davor niederzulassen. Diese setzte sich und blickte ihren Herrn gespannt an.

„Meine liebe Philine“, begann Lucius in ernstem Ton und sah sie eindringlich an. „Du warst mir all die Jahre eine treue und verschwiegene Dienerin und sicherlich weißt du, wie sehr ich dich schätze. Natürlich habe ich auch nicht vergessen, dass du mir vor vielen Jahren die Nächte versüßtest. Deswegen wollte ich dich sprechen…“

„Deswegen?“ fragte die Sklavin überrascht und runzelte die Stirn.

„Ja“, er nickte, ohne sie aus den Augen zu lassen. Dann fuhr er fort: „Du weißt, dass ich Melina Aigikoreusa zu meiner Konkubine gemacht habe, weil ich sie liebe. Sie ist ein unerfahrenes, junges Mädchen, das von solchen Dingen wie Liebesaffären und dergleichen nichts zu wissen braucht. Ich möchte, dass sie in meinem Haus genauso behütet wird wie im Hause ihres Vaters. Deshalb darf sie auch niemals erfahren, dass ich dir einst als Liebhaber beiwohnte. Ist das klar, Philine?“

„Natürlich, Herr“, sagte die Angesprochene sofort und errötete etwas. Dann wagte sie hinzuzufügen: „Glaubt mir, lieber Herr, das hätte ich Melina Aigikoreusa ohnehin niemals erzählt!“

Über Lucius‘ Antlitz glitt ein Lächeln, dann nickte er und meinte in freundlichem Ton: „Ich hätte mir eigentlich denken können, dass dieses Gespräch unnötig ist. Schließlich hast du darüber stets Stillschweigen bewahrt. Trotzdem wollte ich es nochmals klarstellen. Und außerdem habe ich so endlich einmal die Gelegenheit, dir für deine Treue und all deine Dienste zu danken, Philine. Eines Tages, meine Liebe, werde ich dich dafür belohnen!“

„Das müsst Ihr nicht, Herr“; entgegnete die Sklavin und lächelte schüchtern. „Ich diene Euch gerne.“

„Das freut mich zu hören!“

Philine verneigte sich etwas und fragte dann: „Wie geht es eigentlich Eurer Tochter, Herr? Ich habe während Eurer Ankunft nicht auf sie geachtet.“

Lucius zog verwundert seine Augenbrauen hoch, dann grinste er und meinte: „Divia weilt seit einiger Zeit bei meinem Bruder. Aber es ist gut, dass du mich an sie erinnerst. Ich wollte das Kind heute noch abholen.“

„Wünscht Ihr vorher noch etwas zu speisen, Herr?“

„Nein, danke! Ich bin sicher, dass mein Bruder mich und Melina bereits zum Essen erwartet. Nun, der Herrin geht es nicht besonders gut. Aber natürlich muss sie eine Kleinigkeit zu sich nehmen. Festia wird sich darum kümmern. Sei so gut, ein Auge auf meine Frau zu haben, während ich bei Appius bin.“

„Natürlich, Herr!“ versprach Philine. „Ich werde auf die junge Herrin achten und alles in meinen Kräften Stehende tun, damit sie sich wieder besser fühlt.“

„Gut, gut, dann wäre dies also geregelt“, meinte Lucius und erhob sich.

Auch Philine stand von ihrem Platz auf, wobei sie sich leicht räusperte und dann begann: „Herr…?“

„Ja? Was gibt es noch?“

„Dürfte ich eine Frage an Euch richten?“

„Selbstverständlich! Worum geht es?“

„Ist die junge Herrin… guter Hoffnung?“

Überrascht starrte Lucius die griechische Sklavin an, dann fragte er tonlos: „Wie kommst du darauf?“

„Nun, Ihr verbrachtet eine lange Zeit auf dem Lande und jetzt ist die Herrin unpässlich. Da ist es doch naheliegend, dass sie vielleicht ein Kindlein erwartet.“

Der Hausherr lächelte etwas und murmelte: „Du bist eine kluge Frau, Philine. Bei Jupiter, es ist ein Jammer, dass du nicht von edlem Geblüt bist, wenngleich deine Gesinnung überaus nobel ist. Welch eine prachtvolle Gefährtin würdest du einem Manne sein!“

„Danke, Herr!“ wisperte die Griechin und senkte verlegen die Augen. Solch ein Lob aus dem Munde des Mannes, den sie verehrte und liebte, ohne dass ihr diese Gefühle in gleicher Weise entgegengebracht wurden, hätte sie niemals erwartet. Besagte es doch, dass er eine gewisse freundschaftliche Zuneigung und sogar Achtung für sie empfand. Irgendwie rührte es sie. Die Liebe der jungen Melina musste das Herz des kühlen, selbstbeherrschten Lucius Marcellus sehr erwärmt haben, denn sie konnte sich nicht erinnern, dass dieser arrogante Mann jemals solch anerkennende Worte an sie oder einen anderen seiner Sklaven gerichtet hatte. Melina schien die Sonne zu sein, die ihm bisher in seinem Leben fehlte.

„Bitte, Philine, behalte dieses Wissen noch für dich. Ich selbst will es in einigen Tagen aller Welt mitteilen“, murmelte Lucius. „Ahnst du, wir glücklich ich bin, meine Liebe?“

„Ja, Herr, und ich wünsche Euch von ganzem Herzen, dass Ihr und die junge Herrin für alle Zeiten glücklich seid!“ sagte die Sklavin, fiel vor ihm auf die Knie, ergriff seine Hände und küsste sie demütig. Dann sah sie zu ihm auf. „Ich verspreche Euch, Herr, dass ich immer gut auf Melina und all die Kinder achtgeben werde, die sie Euch schenkt.“

„Du gute Seele“, raunte Lucius und strich ihr sanft über den Kopf. „Ich danke dir, Philine. Und nun geh und kümmere dich um meinen Liebling!“

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Appius war überaus erfreut, als sein Sklave ihm die Ankunft seines Bruders meldete und Lucius einen Augenblick später in sein Arbeitszimmer trat.

„Bruderherz!“ rief der Anwalt aus, erhob sich und umarmte ihn. „Schön, dich wiederzusehen.“

Appius trat ein wenig zurück und betrachtete sich Lucius eingehend.

„Der Aufenthalt auf dem Lande ist dir anscheinend gut bekommen“, meinte er zufrieden. Dann jedoch blickte er fragend zur Eingangstür. „Wo ist Melina?“

„Sie ist unpässlich und lässt sich entschuldigen“, erklärte Lucius.

„Es ist doch hoffentlich nichts Ernstes? Oder ist es eine Nachwirkung ihres Schwächeanfalls, von dem du mir geschrieben hast?“

„Oh, es hängt miteinander zusammen… ich werde wieder Vater.“

Appius stutzte kurz, dann lächelte er und sagte: „Ich gratuliere, Bruderherz.“

„Danke, aber ich bitte dich, darüber Stillschweigen zu bewahren. Ich selbst will es in ein paar Tagen auf einer kleinen Feier in meinem Hause bekanntgeben, zu der du selbstverständlich herzlich eingeladen bist“, erwiderte Lucius. „Nun zu etwas anderem: Wie hat sich Divia hier angestellt? Hat sie ihre Strafe ohne zu murren abgeleistet oder zeigte sie erneut Anzeichen von Trotz?“

„Nichts von alledem, mein Lieber. Meine Nichte bereut ihr Verhalten aufrichtig und hat Besserung gelobt. Alle Arbeiten, die meine Köchin ihr aufgab, verrichtete sie anstandslos. Du solltest Nachsicht mit der Kleinen walten lassen, Lucius. Ich glaube, sie wird sich in Zukunft respektvoll und wohlerzogen benehmen.“

„Freut mich zu hören. Ich muss gestehen, dass mir das Verhalten meiner Tochter große Sorgen bereitete. Du weißt, dass ich Divia liebe, Appius.“

„Ja, und die Strafe war sicherlich heilsam für die Kleine“, gab der Anwalt zu.

Lucius nickte nachdenklich, dann fragte er unvermittelt: „Hast du eigentlich etwas von Selene gehört?“

Überrascht starrte Appius seinen Bruder an.

„Weshalb fragst du nach ihr? Dich plagt doch nicht etwa die Sehnsucht nach deiner früheren Gemahlin?“

„Nein, natürlich nicht!“ gab Lucius unwirsch zurück. „Aber sie stand mir einmal nahe und es interessiert mich eben, wie es ihr geht. - Also, weißt du etwas über sie?“

„Nach allem, was man mir zutrug, lebt Selene sehr zurückgezogen im Hause ihrer Mutter“, berichtete Appius. „Allerdings munkelt man, dass sie einen Verehrer hat. Doch sie scheint nicht die geringste Neigung zu verspüren, sich erneut zu verheiraten.“

„Nun ja, das wundert mich nicht“, murmelte Lucius. „Dass ich mich von ihr trennte, hat sie wohl sehr getroffen und sie wird einige Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen.“

„Du solltest keinen Gedanken mehr an Selene verschwenden!“ meinte Appius. „Sie verfügt dank der Mitgift ihres Vaters und eines kleinen Vermögens, das ihr erster Mann ihr hinterließ, über genügend finanzielle Mittel, um ein gutes Leben führen zu können. Weshalb sollte sie erneut heiraten?“

„Sie ist bestimmt nicht gerne allein, Appius.“

„Das muss sie auch nicht sein, Bruderherz, denn sie hat einige Freunde und Bekannte, mit denen sie Kontakte pflegt. Außerdem kümmert sich Selenes Bruder ebenfalls um sie. Wie ich aus gut unterrichteten Quellen weiß, würde er es sehr begrüßen, wenn sie dem Werben ihres Verehrers nachgäbe.“

„Wer ist dieser Verehrer?“

„Was kümmert es dich, wer deiner früheren Gemahlin den Hof macht?“

„Wer ist es?!“ fragte Lucius mit etwas lauterer Stimme, die seine Ungeduld verriet.

„Ein gewisser Crassus Heraclius“, gab Appius erstaunt zurück.

„Der Name sagt mir nichts. Was ist das für ein Mann?“

„Er ist Offizier, war lange in Germanien stationiert und stammt aus guter Familie. Aber was kümmert dich das, Lucius? Du bist nicht mehr mit Selene zusammen!“

„Ich will nur, dass es Selene gut geht. Sie soll sich mit keinem Unwürdigen abgeben!“

Appius schüttelte den Kopf und meinte: „Wenn man dich so hört, könnte man den Eindruck gewinnen, Selene bedeute dir noch etwas.“

„Sie war viele Jahre lang meine Ehefrau und sie ist die Mutter meiner Tochter! Sie hat meinen Haushalt zu meiner Zufriedenheit bewirtschaftet und vieles wegen mir auf sich genommen. Wie kannst du nur glauben, dass mir ihr weiteres Schicksal gleichgültig ist?“ entgegnete sein Bruder. „Bei Jupiter, ich wünsche Selene einen guten Partner, mit dem sie ein glückliches Leben führt. Sie ist kein schlechter Mensch, Appius!“

„Wollen wir uns wirklich darüber unterhalten, Lucius? Du hattest doch einen Grund, weshalb du die Scheidung aussprachst. Ist er dir entfallen?“

„Natürlich nicht! – Dennoch: Ich wünsche jedem ein solches Glück, wie ich es habe!“

„Richtig! Du solltest deinen Blick darauf richten, dass du eine hübsche, junge Frau als Gefährtin gewonnen hast, die ein Kind von dir erwartet. Wollen wir beten, dass sie dir einen Sohn schenkt!“ sagte Appius, um seinen Bruder von dem Thema Selene abzubringen. Er verspürte keinerlei Lust, über seine frühere Schwägerin zu sprechen. Für ihn war und blieb sie eine unsympathische, kalte Frau und er konnte überhaupt nicht nachvollziehen, dass es Männer gab, deren Wohlgefallen sie erregte. Zwar kannte er selbst diesen Crassus Heraclius nicht, aber er bedauerte ihn schon jetzt. Nach allem, was ihm über diesen Offizier zu Ohren gekommen war, schien er ein sehr anständiger Mann zu sein. Warum um alles in der Welt umwarb er ausgerechnet Selene, die nicht das geringste Interesse an ihm zeigte? Sie würde ihm gewiss über kurz oder lang ihre Zurückweisung deutlich machen. Doch das sollte nicht seine Sorge sein. Mochte Selene treiben, was immer sie wollte, solange sie seinem Bruder, dessen neuer Gefährtin und Divia fernblieb.

„Apropos, Appius“, ließ Lucius sich gerade vernehmen. „Bitte, erwähne weder gegenüber Melina noch sonstwem etwas über meinen Wunsch nach einem Sohn.“

„Und weshalb nicht?“

„Melina ist schon etwas Derartiges zu Ohren gekommen und sie machte sich deswegen die größten Sorgen. Selbstverständlich ist mir jedes Kind, das sie mir schenkt, willkommen.“

„Ja, natürlich, Lucius! Es liegt mir fern, deine kleine Konkubine zu beunruhigen“, erwiderte Appius lächelnd. Er betätigte die Klingel auf seinem Schreibtisch, worauf sofort ein Sklave erschien.

„Bring meine Nichte zu uns!“ befahl der Anwalt seinem Bediensteten. Nachdem dieser verschwunden war, wandte er sich wieder seinem Bruder zu. „Divia wird überglücklich sein, dich zu sehen, Lucius!“

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Gegen Abend kehrte Lucius mitsamt Divia und Quella in seine Stadtvilla zurück. Kaum angekommen, begab er sich zu Melina, um sich zu erkundigen, wie es ihr ginge. Er fand seine Geliebte im Bett liegend vor, umgeben von Laila und Sidori, die auf Stühlen neben der Schlafstatt saßen. Auch Philine befand sich im Zimmer, saß jedoch auf dem Bettrand und hielt die Hand Melinas, deren Augen strahlten, als Lucius in ihr Zimmer trat. Sie streckte ihm sofort die andere Hand entgegen und sagte leise: „Liebster, endlich bist du wieder da!“

Kaum hatte Philine ihren Herrn wahrgenommen, war sie von ihrem Platz aufgesprungen, damit Lucius sich dorthin setzen konnte. Er tat dies sogleich und küsste Melina, ohne sich um die ihn umgebenden Sklavinnen zu kümmern. Dann strich er ihr übers Haar und fragte besorgt: „Wie geht es dir, mein Honigmädchen?“

„Schon ein wenig besser, Lucius. Ach, ich wünschte, die Schwangerschaft würde mir nicht so ein Unwohlsein bereiten. Es ist mir ein wenig peinlich…“

„Sch… sch… ist schon gut“, sprach er mit sanfter Stimme auf sie ein und streichelte ihre Wangen. „Die Reise hat dich gewiss sehr angestrengt und du musst dich ausruhen. Hast du wenigstens eine Kleinigkeit gegessen, Liebling?“

„Aber ja, Festia bestand darauf.“

„So ist es brav, Melina. Nun schlaf und träum was Schönes. Morgen geht es dir bestimmt wieder so gut, dass du mit mir und Divia gemeinsam das Frühstück im Esszimmer einnehmen kannst.“

„Divia ist wieder hier?“ fragte die junge Frau erfreut und richtete sich ein wenig auf. „Ach bitte, Lucius, sie soll zu mir kommen. Ich will sie sehen!“

„Hm, also gut, aber nur für ein paar Minuten“, gab der Hausherr nach, wandte sich dann an Sidori und befahl: „Hol Divia her!“

Die kleine Sklavin sprang sofort vom Stuhl und eilte hinaus. Ein wenig später erschien Divia an der Schwelle des Zimmers und blieb dort stehen. Beinahe scheu schaute sie zu dem Bett hin, wo sich ihr Vater und Melina befanden.

„Bitte, komm herein!“ forderte die junge Griechin sie auf.

Zaghaft betrat Divia den Raum und näherte sich langsam der Schlafstatt.

„Wie geht es dir, Melina?“ fragte sie leise, als sie kurz davor stand.

„Ganz gut, und dir? Ich hoffe, der Aufenthalt bei Onkel Appius hat dir gefallen?“

„Ja, er hat mir gut getan“, behauptete das Mädchen und zwang sich zu einem Lächeln. „Dort ist mir sehr vieles klargeworden. Deshalb bitte ich dich auch nochmals um Verzeihung für mein unmögliches Verhalten, Melina.“

„Ich habe es bereits vergessen“, antworte die Angesprochene lächelnd. „Ach, wie sehr ich dich vermisste, Divia! Umso glücklicher bin ich jetzt, dich endlich wiederzusehen. Komm her und lass dich umarmen!“

Über das Gesicht der Elfjährigen huschte ein Lächeln der Erleichterung und sie folgte umgehend der Bitte Melinas, die sich mittlerweile im Bett aufgesetzt hatte und das Kind nun an sich drückte. Dann wandte sie sich an Laila und bat: „Bitte, bring mir das Kästchen!“

„Aber, Herrin, hat das denn nicht Zeit?!“ widersprach die dunkelhäutige Ägypterin.

„Du hast doch gehört, was meine Frau befohlen hat!“ herrschte Lucius die Sklavin daraufhin an. Erschrocken erhob sich diese, ging zur Reisetruhe und holte aus dieser ein kleines Kästchen hervor, das sie umgehend Melina übergab.

„Hier, Divia, das wollte ich dir eigentlich schon zu deinem Geburtstag schenken“, sagte die junge Griechin und reichte das Kästchen an ihre Stieftochter weiter, die es freudestrahlend entgegennahm.

„Danke, Meli!“ hauchte das Mädchen und sah die neue Gefährtin ihres Vaters mit leuchtenden Augen an. „Eigentlich habe ich es nicht verdient, dass du mir etwas schenkst, weil ich so ungezogen war. Dennoch würde ich dein Geschenk sehr gerne annehmen.“

Fragend warf Divia einen Blick zu ihrem Vater, der ihr freundlich zunickte, während Melina sagte: „Natürlich darfst du es annehmen. Willst du es nicht endlich öffnen?“

Mit freudiger Erregung begann das Mädchen nun, den Deckel des Kästchens langsam anzuheben und rief kurz darauf aus: „Oh, was für ein schöner Schmuck!“

Neugierig schielte Laila von ihrem Standort neben dem Bett ihrer Herrin in das geöffnete Kästchen hinein und erblickte darinnen ein Paar goldene Ohrringe in Form zweier Delphine.

„Aus deiner Heimat?“ fragte Divia aufgeregt, worauf Melina nickte. Die Elfjährige schloss das Kästchen fast andächtig, legte es auf den kleinen Tisch neben dem Bett und fiel der jungen Griechin plötzlich heftig um den Hals.

„Ach, ich danke dir, Melina!“ rief das Kind aus. „Das ist wirklich sehr lieb von dir!“

„Schon gut“, lachte die junge Frau. „Es freut mich, dass dir die Ohrringe gefallen.“

„Nun ist es aber genug!“ mischte sich Lucius jetzt ein. „Melina muss sich noch ein wenig von der langen Fahrt erholen, Divia. Also verabschiede dich jetzt und geh auch zu Bett. Morgen seht ihr euch ja wieder.“

„Halt, Lucius, wir wollten ihr doch etwas sagen“, meinte Melina.

„Das hat noch Zeit, Liebes“, wehrte er ab.

„Nein, ich möchte, dass sie es weiß!“ widersprach ihm die junge Frau.

Divia schaute neugierig von ihr zu ihrem Vater. Dieser lächelte nun, worauf Melina sich wieder an die Elfjährige wandte, die ihr sofort ihre Aufmerksamkeit schenkte.

„Würde es dir gefallen, ein Geschwisterchen zu haben, Divia?“

„Ja…, ja…, natürlich…“, sagte das Kind zögerlich und warf erneut einen Blick auf seinen Vater. „Aber… ich verstehe nicht…“

„Die Sache ist ganz einfach“, begann Lucius daraufhin. „Wie du weißt, ist Melina nun meine Frau und wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Aufgrund dessen wird sie in ein paar Monaten deinem Geschwisterchen das Leben schenken.“

„Aha…“, meinte das Mädchen gedehnt. „Dann bekommt sie wohl einen dicken Bauch, so wie Mutter…?“

„Ja, ganz recht!“ bestätigte ihr Vater.

Die Elfjährige wandte sich wieder Melina zu und fragte: „Wirst du dann auch manchmal schlechte Laune haben?“

„Oh, ich hoffe nicht“, antwortete die junge Frau freundlich. „Allerdings ist mir manchmal ein wenig übel…“

„Und… und… wenn das neue Kind da ist…? Was wird dann aus mir?“

„Du bist die große Schwester“, erklärte Melina und strich ihrer Stieftochter leicht über die Wange. „Ich hoffe, dass du mir ein wenig zur Seite stehst, wenn dein Geschwisterchen auf der Welt ist. Du könntest dich mit mir zusammen um das Kind kümmern.“

„Zusammen…?“ fragte Divia ungläubig. „Du meinst, du… du schickst mich nicht weg?“

„Aber nein, wie kommst du denn darauf? Ich bin froh, dass ich dich habe!“ erwiderte Melina. „Und dein Geschwisterchen wird dich sicher ebenso sehr lieben, wie dein Vater und ich es tun! Wir wollen doch nicht auf unsere süße Divia verzichten!“

Über das Gesicht des Mädchens verbreitete sich ein strahlendes Lächeln und es erklärte: „Natürlich helfe ich dir, Meli – ich werde immer für dich da sein…“

 

Drei Tage nach ihrer Ankunft in Rom sollte die Cena im Hause von Lucius Marcellus stattfinden, da es Melina schon wieder besser ging und der Legatus es kaum erwarten konnte, seinen Freunden und Bekannten zu erzählen, dass er wieder Vater wurde.

An jenem Morgen stand er wie üblich sehr früh auf und suchte, nachdem er sich gewaschen und angekleidet hatte, das Gemach seiner Geliebten auf, das sich neben seinem befand. Melina schlief noch, als er eintrat und sich leise an ihr Bett begab. Liebevoll schaute er die junge Frau an, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich auf die Stirn. Lächelnd erinnerte er sich wieder einmal daran, dass sie ihn gefragt hatte, warum sie beide in Rom nicht auch ein Schlafgemach miteinander teilten. Seine Antwort, dass sie sich nun nicht mehr in den Ferien befänden, er deshalb früh aufstehen und seinen Pflichten nachkommen müsse, aber sie nicht stören wolle, hatte der Kleinen überhaupt nicht gefallen. Ebenso wenig, als er hinzufügte, dass sie jetzt schwanger sei und viel Ruhe brauche. Nun ja, werdende Mütter hatten nun mal ihre Launen, das gab sich auch wieder…

Ihre Schwangerschaft war auch der Grund für seinen Befehl, dass nachts immer eine Sklavin bei Melina wachte, während eine andere in der Nähe der Tür schlief und im Notfall sofort geweckt werden sollte, um schnellstens Hilfe zu holen. Heute Nacht war es Laila gewesen, die am Bett ihrer Herrin gewacht hatte, während die andere Sklavin noch schlummerte.

Lucius warf einen Blick zu der dunkelhäutigen Ägypterin und fragte leise: „Hat meine Frau heute Nacht friedlich geschlafen?“

„Ja, Herr, es scheint ihr wieder ganz gut zu gehen“, gab Laila im Flüsterton zurück und lächelte. „Die Herrin ist glücklich mit einem so wunderbaren Mann wie Euch an ihrer Seite, das ist offensichtlich.“

Lucius‘ Lippen verzogen sich leicht verächtlich. Er schätzte es gar nicht, wenn eine Sklavin sich solcherlei Freiheiten ihm gegenüber herausnahm. Doch abgesehen von dieser kleinen, verbalen Unangemessenheit versah die Ägypterin ihre Aufgaben tadellos. Er war sich sicher, dass ihr nicht noch einmal solch ein Fehler wie eben passieren würde, wenn man sie darauf hinwies, wie unerwünscht er war.

Zufrieden mit dieser Erkenntnis sah der Hausherr sich endlich wieder in der Lage, Laila, die seine Missbilligung nicht bemerkt hatte, freundlich anzulächeln.

„Pass gut auf deine Herrin auf!“ ermahnte er sie und verließ dann das Zimmer.

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Nach dem Frühstück kleidete Lucius sich mit Hilfe seines Leibsklaven in seine Uniform und begab sich direkt auf den Weg in die Kaserne, um seinen Dienst wieder aufzunehmen. Es war sicherlich wieder jede Menge Verwaltungskram zu erledigen, der den Vormittag ausfüllen würde.

Die Erwartungen des Legatus wurden nicht enttäuscht. Nachdem er in der Kaserne angekommen und sofort sein Dienstzimmer aufsuchte, erblickte er neben einigen Papieren und beschriebenen Rollen verschiedener Größe auf einem Tisch auch seinen Mitarbeiter, der die Post holte und wegbrachte, sie sortierte und ihm ansonsten als Schreiber diente. Dieser sprang bei seinem Eintritt sofort auf und meldete, dass eine Sendung aus Athen angekommen sei.

„Eine Sendung aus Athen?“ wunderte sich Lucius. „Etwa von Fabius Maiorus Graeccus?“

„Nein, Legatus“, erwiderte der Schreiber. „Es handelt sich bei dieser Sendung eigentlich um ein Paket des Theodoros Aigikoreus an seine Tochter, die der Imperator doch in Eure Obhut gab.“

„Ach so“, tat Lucius es leicht verächtlich ab. „Hast du es schon geöffnet?“

„Nein, Legatus. Ich dachte, es sei Euch vielleicht nicht recht. Es ist auch nur ein kleines Paket. Ich habe es auf Euren Schreibtisch gelegt.“

Lucius ging nun auf einen etwas größeren Tisch zu, sah sofort das Paket und griff danach. Während er es voller Neugier öffnete, fragte er sich, ob es vielleicht ein Hochzeitsgeschenk des alten Griechen sei. Dunkel erinnerte er sich daran, dass Melina ihrem Vater einen Brief geschrieben hatte, um Theodoros davon in Kenntnis zu setzen, dass sie sich mit ihm verbinden werde. Eigentlich erstaunlich, dass der Rebellenführer seiner Tochter überhaupt noch etwas zusandte. Er hatte angenommen, dass der alte Narr den Kontakt zu Melina ganz abbrach…

Mittlerweile hatte Lucius die Hülle des in dem Paket befindlichen Gegenstandes entfernt und hielt nun ein kleines Holzkästchen in Händen. Kaum zu glauben: Der alte Theodoros schien seiner Tochter tatsächlich ein Geschenk übersandt zu haben.

Der Legatus öffnete das Kästchen und schaute hinein. Darinnen lag eine goldene Kette mit einem Anhänger, auf dem das Abbild des Zeus prangte. Ein Briefchen war beigelegt und Lucius nahm es sofort an sich, um es zu lesen:

 

„Melina, meine geliebte Tochter,

ich war überaus erfreut, mit deinem Brief endlich ein Lebenszeichen von dir zu erhalten. Sei versichert, mein Augenstern, dass ich wohlauf bin, wenngleich ich dich und deine Brüder schmerzlich vermisse. Doch mein Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem Unglück, dass euch getroffen hat.

Ich muss gestehen, liebes Kind, dass deine Nachricht – wenngleich sie mich beglückte – die tiefste Sorge um dich in mir hervorrief.

Du hast also eingewilligt, einen Feind Athens zu heiraten, obwohl du davon ausgehen konntest, dass ich gegen eine solche Verbindung sein würde.

Eigentlich müsste ich dich dafür verstoßen, doch das kann ich nicht! Dafür trage ich dich zu tief in meinem Herzen, geliebte Tochter. Außerdem bin ich davon überzeugt, mein armes Täubchen, dass Legatus Marcellus dir keine andere Wahl ließ. Ganz Athen wurde ja Zeuge seiner Skrupellosigkeit, mit der er uns dazu zwang, dem römischen Reich die Treue zu schwören. Deshalb nehme ich an, dass er auf ganz ähnliche Weise dein Ja-Wort zu dieser Verbindung erpresste, die im höchsten Maße verabscheuungswürdig ist.

Du schreibst, dass Lucius Marcellus dich gut behandelt, aber ich bitte dich, sieh dich vor, mein Kind! Dieser Mann ist ein Wolf im Schafspelz und überaus listig. Bitte, vertrau ihm nicht, Melina! Falls Marcellus dich seiner Zuneigung versicherte, so ist dies gewiss nichts anderes als eine Täuschung, die nur dazu dient, deine Entehrung noch zu vergrößern, indem du dich diesem Barbar als liebevolle Gattin hingibst!

Ich bitte dich, nicht zu vergessen, dass Marcellus unser Feind ist  – und ich hasse ihn aus tiefstem Herzen! Deswegen ist es mir auch unmöglich, deiner Bitte zu entsprechen und meinen Segen zu eurer Verbindung zu geben. Doch verzweifle nicht deswegen!

Sei versichert, mein kleiner Augenstern, dass ich dich liebe und immer lieben werde, denn es ist allein meine Schuld, dass du so eine Schmach ertragen musst. Deshalb tue ich alles, was mir noch möglich ist, um dein Unglück zu lindern.

So segne ich denn dich und nur dich allein, meine geliebte Tochter, und sende dir als Geschenk ein von den Priestern des Zeus geweihtes Amulett. Bitte, Melina, trage es stets bei dir, auf dass es dich vor allem Unbill schütze.

Ich bete täglich zu den Göttern, dass ich dich bald wieder unversehrt in meine Arme schließen kann. Denn ich vermisse dich ebenso sehr wie du mich.

Du wirst stets in meinem Herzen sein, Melina. Möge Zeus dich immer beschützen.

Dein Vater“

 

Mit verächtlichem Lächeln warf Lucius das Brieflein auf seinen Tisch. Er hatte nichts anderes erwartet, als dass Theodoros seine Missbilligung zu Melinas Entscheidung deutlich zum Ausdruck brachte. Allerdings empfand er es als große Beleidigung, dass der alte Narr ihm unterstellte, die junge Frau dazu gezwungen zu haben, seinen Antrag anzunehmen, und dass er die Liebesbeziehung zwischen ihr und ihm als eine verabscheuungswürdige Schmach bezeichnete. Beleidigte Theodoros damit letztendlich nicht auch seine Tochter, die er doch zu lieben vorgab?

Der Gedanke daran, wie dieses Schreiben auf seine junge Frau wirken musste, betrübte Lucius. Arme, kleine Melina! Sie liebte ihn aufrichtig, sonst hätte sie ihren Vater nicht um seinen Segen für ihre Verbindung gebeten. Dessen Antwort musste für sie wie ein Schlag ins Gesicht sein. Aber er würde seinem Honigmädchen diesen Schmerz ersparen. Sollte sie ruhig glauben, dass ihr Vater sich von ihr abgewandt hatte. Es wäre für sie leichter zu ertragen als die Beleidigungen, die dessen Schreiben enthielt.

Was bildete Theodoros sich eigentlich ein? Betete darum, sie bald wiedersehen zu können! Wie hochmütig konnte ein Mann eigentlich sein? Der alte Narr schien immer noch nicht begriffen zu haben, dass er besiegt worden war. Nun, es wurde Zeit, ihm das in aller Deutlichkeit klarzumachen.

Lucius teilte seinem Mitarbeiter mit lauter Stimme mit, dass er sofort einen Brief aufsetzen müsse, worauf einen Augenblick später jener mit dem nötigen Schreibwerkzeug versehen ihm gegenüber saß und eifrig aufschrieb, was ihm sein Vorgesetzter diktierte:

 

„An Theodoros Aigikoreus:

Sei gegrüßt, alter Mann,

ich habe deinen Brief erhalten und danke vielmals für die Komplimente, die du mir und deiner lieblichen Tochter darin machtest. Um Melina nicht unnötig aufzuregen, habe ich darauf verzichtet, ihr deinen Brief und das zugedachte Geschenk zu überbringen.

Ich freue mich sehr, dir mitteilen zu können, dass wir auch ohne deinen Segen zu unserer Verbindung, die entgegen deiner Meinung in völligem Einverständnis zwischen Melina und mir geschlossen wurde, glücklich miteinander sind.

Aus diesem Grund sende ich dir das Zeus-Amulett zurück und danke im Namen meiner geliebten Frau für die gut gemeinte Absicht, die dahintersteckt.

Selbstverständlich begrüße ich deine Einsicht, dass du allein dafür verantwortlich bist, dass Melina in meine Gewalt geriet, ihre Heimat verlassen musste und nun in Rom lebt. Aber dies als Unglück zu betrachten wäre ein Irrtum deinerseits, wenngleich eine Niederlage niemals ein Grund zur Freude ist und ich durchaus verstehe, dass du es als Unglück betrachtest, deine Tochter an mich verloren zu haben.

Ja, alter Mann, du hast Melina an mich verloren, denn sie liebt mich aufrichtig. Vielleicht ist es dir ein Trost zu erfahren, dass meine Gefühle für deinen Augenstern alles andere als geheuchelt sind. Wer könnte ein solch wunderbares Mädchen wie Melina denn nicht lieben?

Es ist mir ein besonderes Vergnügen, dir in Erinnerung zu rufen, dass du es warst, der mich dazu zwang, dich und die anderen Athener zu einem Treueschwur gegenüber Rom zu nötigen, obwohl euer Land bereits seit langem eine römische Provinz ist. Finde dich also endlich damit ab, dass ich dich besiegt habe, alter Mann, und dass aufgrund dessen deine liebliche Tochter jetzt mein Eigen ist. Im Übrigen darfst du dich dazu beglückwünschen, bald Großvater zu werden, denn Melina erwartet ein Kind von mir.

Du siehst, alter Mann, dass die Götter es mit deinem Augenstern überaus gut meinen. Sie ist glücklich an meiner Seite und ich werde alles tun, um dich aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Es ist leider notwendig, da du in deinem Altersstarrsinn niemals zur Versöhnung bereit sein wirst, sondern mich auch jetzt noch – da ich dein Schwiegersohn bin – als hassenswerten Feind sehen willst, der nichts weiter im Sinn hat, als dich und deine Familie zu entehren. Wie erbärmlich du doch bist, Theodoros Aigikoreus! Glaubst du wirklich, ich lasse es zu, dass Melina jemals zu lesen bekommt, wie sehr du sie beleidigst?

So verharre denn weiter in deiner Uneinsichtigkeit und verbringe deinen Lebensabend in Einsamkeit und Verzweiflung – du hast es nicht anders gewollt.

Im Namen der Wölfin Lupa, der Schutzpatronin Roms und Säugamme von Romulus und Remus, entbietet dir dein Schwiegersohn und Vater deines zukünftigen Enkels ein Lebewohl. Im Übrigen trage ich keinen Schafspelz. Er passt so gar nicht zu meinem Wolfskleid.

Ich hoffe, nie wieder von dir zu hören.

Gezeichnet:

Lucius Marcellus“

 

Voller Abscheu ergriff der Legatus das Kästchen, in welchem sich das Zeus-Amulett befand, und reichte es dem Schreiber.

„Hier, dies geht zusammen mit dem Brief zurück an Theodoros Aigikoreus“, sagte er in hartem Ton. „Sieh zu, dass es noch heute abgeschickt wird!“

=<>=<>=<>=

Als Melina erwachte, fand sie Divia auf dem Bettrand und Quella neben ihr auf einem Hocker sitzend vor. Die kleine Römerin hielt eine der Hände ihrer ‚Mama‘ und streichelte immer wieder zart darüber.

Die junge Frau lächelte und murmelte: „Guten Morgen, Divia.“

„Guten Morgen, Meli“, erwiderte die Kleine. „Wie fühlst du dich heute?“

„Eigentlich ganz gut“, erwiderte die Angesprochene und setzte sich auf. Doch sofort befiel sie wieder Schwindel und Übelkeit und sie hielt die Hand vor den Mund.

„Legt Euch lieber wieder hin!“ rief die besorgte Quella, die sogleich von ihrem Hocker aufgesprungen und zu Melina geeilte war, die sie jetzt behutsam in ihre Kissen zurückdrängte.

„Oh, diese Übelkeit ist wirklich schlimm!“ jammerte die junge Frau. „Hört das denn niemals auf, Quella?“

„Doch, doch, mein Lämmchen“, versicherte die Alte ihr sofort. Dann wandte sie sich an Divia und bat sie: „Hol doch bitte das Frühstück für Melina.“

Das Mädchen erhob sich vom Bettrand und eilte davon, während nun Quella ihren Platz einnahm und ihrer Herrin mit einem feuchten Lappen vorsichtig das Gesicht abtupfte.

„Hoffentlich geht es mir bald wieder besser“, seufzte Melina. „Schließlich muss ich noch Vorbereitungen für die heutige Cena treffen und ich freue mich schon so sehr darauf, Silvia wiederzusehen.“

„Ihr solltet Euch darüber keine Gedanken machen“, meinte Quella.

„Aber das muss ich doch“, widersprach die junge Griechin. „Schließlich bin ich jetzt die Herrin des Hauses und Lucius verlässt sich darauf, dass ich alles für unsere heutige Abendgesellschaft in die Hand nehme. Er kann sich nicht um alles selbst kümmern.“

„Nun, Euer… Gefährte…“, sagte die Alte giftig und leicht verächtlich. „Euer  Gefährte  hätte auch noch eine Weile damit warten können, zur Cena einzuladen - auch aus Rücksicht auf Euren Zustand.“

„Ach, nein“, wehrte Melina ab und lächelte ein wenig. „Er ist doch so glücklich darüber, dass er Vater wird, und will es seinen Freunden gerne mitteilen. Ich kann ihn verstehen, wenngleich mir sein Gehabe um meine Schwangerschaft ein wenig peinlich ist. Aber ich möchte alles tun, um ihm eine Freude zu bereiten…“

Quella ärgerte sich über diese Worte, die ihr allzu deutlich verrieten, wie sehr ihre junge Herrin diesem Römer zugetan war. Ganz gleich, was er ihr auch zumutete, sie nahm ihn immer noch in Schutz. Dabei verdiente Marcellus die Zuneigung Melinas überhaupt nicht. Wie konnte er ihr in ihrem Zustand nur zumuten, eine Abendgesellschaft zu organisieren und dann auch noch daran teilzunehmen, obwohl es sicherlich aufreibend und anstrengend für Melina war? Aber es passte mal wieder in das Bild, das sie von dem Legatus hatte, seitdem sie ihn kannte: Er war ein rücksichtsloser, egoistischer Barbar, der Melina nur benutzte. Er machte sich nicht einmal Gedanken darüber, ob das zarte Mädchen eine Schwangerschaft oder gar die Geburt eines Kindes überstand.

Quella nahm Marcellus nicht ab, dass er ihre junge Herrin liebte, auch wenn alle Welt einschließlich ihres Lämmchens es glaubte. Seitdem sie wusste, dass er sich von seiner Ehefrau Selene getrennt hatte, weil diese ihm bisher keinen männlichen Nachkommen schenken konnte, war sie davon überzeugt, dass Marcellus die Verliebtheit Melinas nur dazu benutzte, um mit ihr den ersehnten Sohn zeugen zu können. Warum sonst hatte er sie so rasch nach seiner Scheidung von Selene zu seiner offiziellen Konkubine erklärt?

Melinas Schwangerschaft musste für den Legatus ein wahrer Triumpf sein, etwas, das seinen Sieg über die Familie des Aigikoreus noch krönte. Nur gut, dass Herr Theodoros nicht wusste, was hier geschehen war. Seine Tochter, die er über alles liebte und auf die er stets so stolz gewesen war, ausgerechnet von dem Römer entehrt und mit dessen Samen besudelt zu wissen, der ihm am meisten verhasst sein musste. Theodoros würde diese Schmach kaum verkraften. Ihr selbst war es ja unerträglich – das Mädchen, das sie genährt und großgezogen hatte nun in einem solchen Zustand der Verblendung zu sehen, der ihr vorgaukelte, der Feind sei liebenswert und gut.

Oh, ihr armes Lämmchen! Wie schrecklich würde ihr Erwachen sein, wenn sie dem Legatus tatsächlich den ersehnten Sohn gebar und dieser gesund und kräftig war. Nein, sie konnte Melina, sollte sie die Geburt dieses Kindes unbeschadet überstehen, nicht allein ihrem elenden Schicksal überlassen. Denn Marcellus würde sich kaum mehr für das Wohlergehen seiner Konkubine interessieren, sobald sie ihre Schuldigkeit getan hatte. Allein, wie er mit seiner anständigen Ehefrau umgegangen war, sprach für sich.

„Melina, ich werde immer für Euch da sein“, sagte Quella, nachdem sie diesen Gedankengang abgeschlossen hatte und strich der jungen Frau liebevoll über die Schultern.

„Das weiß ich doch, meine liebe, gute Quella“, murmelte sie und lächelte sie dankbar an.

In eben diesem Augenblick kehrte Divia in Begleitung der Köchin selbst zurück, die ein üppig beladenes Tablett in den Händen hielt, das sie Melina ans Bett trug. Diese starrte ungläubig darauf und wandte sich dann an Festia: „Wer soll das alles essen? Mir wird schon schlecht, wenn ich die vielen Speisen sehe!“

„Aber, Herrin!“ rief die Köchin aus und machte ein überaus besorgtes Gesicht. „Ihr braucht jetzt Kraft für Euch und das Kindlein, das Ihr tragt! Schließlich isst der Kleine mit.“

„Das ist sicherlich gut gemeint, Festia, aber ich möchte im Moment nichts weiter als eine Schale warmer Milch“, erwiderte Melina in freundlichem Ton.

„Also schön“, seufzte die Köchin. „Ich werde sofort etwas Milch für Euch warm machen.“

Mit diesen Worten verschwand Festia mitsamt des Tabletts schnell aus dem Zimmer.

Mittlerweile hatte sich Divia wieder auf den Bettrand neben Melina gesetzt und fragte: „Ist dir denn immer noch schlecht?“

„Bevor Festia mit ihrem Frühstück kam, wovon besonders der Geruch dieser Eierspeise mir in die Nase stach und erneut leichte Übelkeit verursachte, fühlte ich mich eigentlich ein wenig besser“, antwortete Melina. Dann wandte sie sich an Quella. „Eigentlich wollte ich aufstehen… ich muss doch die Cena vorbereiten…“

„Ihr solltet wirklich liegen bleiben, Herrin“, ermahnte die Alte sie.

„Ja, das finde ich auch“, bekräftigte Divia, die sich Sorgen um ihre neue Mama zu machen schien. Dann fuhr sie fort: „Überlass doch einfach Philine die Vorbereitungen. Selene hat das auch häufig so gemacht!“

„Wie sprichst du über deine Mutter?“ fuhr Quella sie streng an.

Melina horchte auf. Wie kam es, dass ihre alte Amme es wagte, mit der Tochter des Hauses in einem solch respektlosen Ton zu reden?

„Ach bitte, Divia, hol mir doch Philine her“, wandte sich die junge Griechin in freundlichem Ton an ihre Stieftochter, die sofort aufsprang, um diese Bitte zu erfüllen. Dann richtete Melina ihre Augen wieder forschend auf ihre Sklavin. „Divia ist die Tochter meines Mannes und damit eine junge Dame. Sprich also nicht respektlos zu ihr, Quella!“

„Aber, Herrin, sie…“, setzte die Alte gerade zu ihrer Verteidigung an, doch dann fiel ihr ein, dass sowohl Appius Marcellus als auch der Legatus ihr verboten hatten, irgendjemandem etwas darüber zu verraten, zu welcher Strafarbeit das ungezogene Mädchen gezwungen worden war. Daher erwiderte sie nur: „Ich kann einfach nicht vergessen, wie abscheulich sie sich Euch gegenüber an dem Tag verhalten hat, an dem Ihr für dieses undankbare Geschöpf eine kleine Geburtstagsfeier ausrichten wolltet. Worte können nicht beschreiben, wie tief ich erschrak, als Ihr an jenem Tage zusammenbracht, Herrin.“

„Das habe ich längst schon vergessen“, sagte Melina. „Außerdem weißt du ganz genau, dass dieser Zusammenbruch auf meine Schwangerschaft zurückzuführen war und nicht auf Divias Verhalten. Überdies tut es der Kleinen leid und sie hat sich dafür entschuldigt. Und ich will nie wieder ein Wort davon hören! Du wirst Divia genauso respektvoll behandeln, wie dies einer jungen Dame zukommt, hörst du?!“

„Wie Ihr wünscht, Herrin“, gab Quella missmutig nach.

Einen Moment später brachte Divia Philine mit ins Zimmer. Die griechische Sklavin musterte Melina besorgt und fragte: „Ich hörte, Ihr seid nicht wohlauf, Herrin?“

„Noch nicht so ganz, Philine, aber ich hoffe, dass es mir bis heute Mittag wieder besser geht. Dennoch muss die Cena vorbereitet werden.“

„Befehlt nur, Herrin, und ich richte alles so her, wie Ihr es wünscht!“

Durch das Durcharbeiten des Verwaltungskrams verging der Vormittag für Lucius schnell. Danach empfing er die ihm unterstellten Offiziere, welche ihm Bericht über die Vorkommnisse während seiner Abwesenheit erstatteten. So erfuhr er auch, dass die fünf jungen Griechen ihren Grunddienst erfolgreich abgeschlossen hatten.

„Wie sollen wir weiter mit ihnen verfahren, Legatus?“ fragte Flavius. „Da sie Geiseln sind, können wir sie nicht einer Einheit zuteilen, die ins Ausland geht.“

„Dann belassen wir sie doch hier“, meinte Lucius. „Sie können ihren Dienst in der Kaserne verrichten. Es gibt schließlich genügend zu tun, oder? Wir sollten sie aber niemals zusammen einteilen, damit sie nicht etwa auf die Idee kommen, zu fliehen. Habt immer ein wachsames Auge auf sie!“

„Jawohl, Legatus!“ antworteten die Männer gehorsam.

 

Nach der Besprechung suchte Lucius die Therme auf, um ein erfrischendes Bad zu nehmen. Der Zufall wollte es, dass sich zu diesem Zeitpunkt auch sein Freund Flavius Senior dort befand, der überaus erfreut zu sein schien, ihn hier zu treffen.

„Grüß dich, Lucius!“

„Flavius, alter Junge! Wie geht es dir?“

„Es ist auszuhalten. Übrigens vielen Dank. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass du so bald nach deiner Rückkehr aus den Ferien schon zu einer Cena einlädst. Und ich werde ganz bestimmt da sein, Lucius, zumal ich mich darauf freue, eine bestimmte Frau wiederzusehen.“

„Flavius, ich hatte gar keine Ahnung, dass du Melina so vermisst.“

„Nun, mein Freund, deine kleine Melina in allen Ehren – aber ich habe jemand anderen im Sinn.“

„Wen?“ fragte Lucius verwundert.

„Deine üppige Küchensklavin aus Germanien “, antwortete der alte Flavius in schwärmerischem Ton. „Sie hat es mir angetan, seit ich sie das erste Mal auf dem Sklavenmarkt sah.“

„Warum kauftest du sie dann nicht selbst für dich?“

„An jenem Tage hatte ich nicht vor, Sklaven zu kaufen. Außerdem warst du schneller als ich, Lucius, und ich musste akzeptieren, dass Odalind dir gehört. Allerdings gestehe ich, dass mir diese Germanin nicht mehr aus dem Kopf geht. – Würdest du sie mir verkaufen, Lucius? Ich zahle dir auch einen guten Preis für sie.“

„Nun, das kommt etwas überraschend“, meinte der Legatus etwas perplex. „Außerdem müsste ich mir dann eine neue Sklavin anschaffen…“

„Bitte, Lucius, ich bin ganz verrückt nach dieser Odalind“, sagte Flavius Senior in gespielt flehendem Ton. „Du findest bei Decimus bestimmt wieder eine Sklavin, mit der du zufrieden sein wirst.“

„Wenn dir so viel daran liegt, werde ich es mir durch den Kopf gehen lassen“, versprach Lucius, nun leicht grinsend. „Weiß Odalind eigentlich von deiner Schwärmerei für sie?“

„Woher sollte sie es wissen, mein Lieber?“ lachte der alte Flavius. „Sie kennt mich doch kaum. Aber dieses Prachtweib soll es gut bei mir haben.“

„Nun, was hältst du davon, wenn die Germanin dich heute Abend persönlich bedient? Auf diese Weise könnt ihr ins Gespräch kommen. Vielleicht bist du danach nicht mehr so erpicht darauf, mir Odalind abzukaufen.“

„Oh, das kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich werde ich danach noch verrückter nach ihr sein. Ist dir schon einmal aufgefallen, welch hübsche, rote Wangen sie hat?“

Lucius lachte und erwiderte: „Nein, Flavius, ich habe sie kaum beachtet. Wie du weißt, gibt es nur eine Frau, die mich interessiert: Meine süße Melina.“

„Aber natürlich!“ rief Flavius amüsiert aus. „Sie sei dir von Herzen gegönnt, Lucius! Wie ist euch beiden Turteltäubchen der Aufenthalt in deinem Landhaus bekommen?“

„Es war wunderbar und Melina wollte gar nicht mehr nach Rom zurück. Doch was soll man machen? Die Pflicht ruft.“

„Nun, gewiss werden die Abendgesellschaften Roms deine kleine Griechin wieder aufmuntern. Übrigens erwarte ich euch Übermorgen als Gäste auf meiner Cena. Ihr werdet doch beide kommen, Lucius?“

„Aber gern, alter Junge.“

Inzwischen hatten die Sklaven sie entkleidet und machten sich nun daran, sie einzuölen.

„Weißt du übrigens schon den neuesten Klatsch, Lucius?“

„Worum geht es?“

„Um Selene. Sie soll einen Verehrer haben…“

„Ja, ja, Appius sprach davon“, schnitt der Legatus seinem Freund sofort das Wort ab. Er wollte nicht zu viel über seine frühere Ehefrau hören, da ihn ein seltsames Gefühl beschlich, das er nicht recht einordnen konnte, wenn man von ihrem Verehrer sprach.

„Allerdings verhält Selene sich ihm gegenüber sehr zurückhaltend“, fuhr Flavius Senior fort. „Es ist fast so wie damals, bevor sie deinen Antrag angenommen hat.“

„Was?!“ entfuhr es Lucius und er starrte seinen Freund stirnrunzelnd an. „Inwiefern?“

„Vielleicht mag es dir entfallen sein, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass die junge Senatorenwitwe Selene eigentlich nicht mehr heiraten wollte. Es ist bestimmt dem Einfluss ihres Vaters und ihres Bruders zu verdanken, dass sie schließlich doch zustimmte, deine Frau zu werden. Nötig hätte sie es eigentlich nicht mehr gehabt“, sinnierte Flavius. Sein Blick schweifte traumverloren ins Leere. „Selene war seit zwei Jahren Witwe, fünfundzwanzig Jahre alt und bildschön…“

„Ja, sie war tatsächlich eine Augenweide“, räumte Lucius ein. „Sie sieht immer noch recht hübsch aus...“

„In der Tat, das tut sie“, gab Flavius ihm recht und nickte heftig. „Ich weiß noch, dass Selenes erster Gemahl sehr viel älter war und ganz vernarrt in sie. Dennoch blieb ihre Verbindung kinderlos, was vermutlich mit dem Alter des Mannes zusammenhing. In dieser Ehe hat sich wohl nichts abgespielt…“

Flavius kicherte ein wenig und raunte seinem Freund ins Ohr: „Sie war doch noch Jungfrau, als du sie geheiratet hast, oder?“

Lucius beugte sich seinerseits zum Ohr des alten Flavius und flüsterte: „Nein!“

„Nein?“ wunderte sich der alte Offizier. Dann schüttelte er den Kopf und murmelte: „Kaum zu glauben…“

Die Sklaven waren mittlerweile mit dem Abschaben der eingeölten Körper fertig und sagten dies ihren Herren, worauf jene sich ins Wasser begaben.

Nach einem Seitenblick auf die Sklaven wandte sich Flavius mit leiser Stimme wieder seinem Freund zu: „Verrate mir endlich, Lucius, warum der alte Antonius seine Tochter eigentlich unbedingt mit dir verheiraten wollte.“

„Unsere Mütter waren befreundet, unsere Familien sind beide einflussreich – eine Verbindung zwischen unseren Häusern also überaus wünschenswert“, wich Lucius der Frage des alten Flavius aus.

„Du hättest leicht eine andere junge Dame wählen können“, meinte sein Freund.

„Unsere Elternpaare wünschten die Verbindung – und mir war es gleich. Eigentlich wollte ich noch nicht heiraten, aber mein Vater drang darauf, dass ich mich endlich band und eine Familie gründete. Der Name Marcellus sollte weitergetragen werden… Nun ja, er erlebte noch, dass seine Schwiegertochter schwanger wurde, Divias Geburt hingegen nicht mehr… und zum Glück auch nicht das, was danach kam…“

Lucius verstummte. All diese Erinnerungen an Selenes Fehlgeburten, ihre Depressionen, ihre Launenhaftigkeit, ihr zunehmender Erwartungsdruck an sich selbst und an ihn, ihre wachsende Gleichgültigkeit… er wollte sich nicht mehr daran erinnern, es betrübte ihn zu sehr.

„Was würde dein Vater wohl dazu sagen, wenn er wüsste, dass du dich inzwischen von Selene getrennt hast und mit einer Griechin im Konkubinat zusammenlebst?“

„Mit einer adligen Griechin, wohlgemerkt!“ wies Lucius seinen Freund in leicht ironischem Ton auf diese Tatsache hin. „Nun, mein lieber Flavius, da selbst unser Kaiser in einer derartigen Verbindung lebt, hätte mein Vater sich gewiss damit abgefunden…“

Der Legatus verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Sein alter Herr würde es nicht gutgeheißen haben, wenn er noch lebte. Er war ein strenger Patrizier gewesen, der stets auf seinen Ruf geachtet hatte. Schon dass Appius nicht die Offizierslaufbahn einschlug, sondern es vorzog, Rechtsgelehrter zu werden, bereitete ihm das größte Missbehagen. Umso mehr Trost suchte er darin, dass wenigstens sein ältester Sohn ein erfolgreicher Offizier war und eine reiche Patrizierin zur Frau nahm. Doch der jetzige Zustand wäre für den alten Lucius ein Schlag ins Gesicht gewesen. Allein der Gedanke, dass eine Nichtrömerin die Mutter seines ersten Enkelsohnes werden könnte, hätte in ihm die hellste Empörung ausgelöst. Nun ja, er war in gewisser Weise genauso uneinsichtig gewesen wie der alte Aigikoreus. Zum Glück hatten sich die Zeiten geändert und die Standesgrenzen wurden schon lange nicht mehr so eng gezogen. Trotzdem würde es äußerst schwierig werden, die römische Staatsbürgerschaft für Melina zu erwirken. Doch Appius, den Lucius damit beauftragt hatte, wollte alles tun, damit seine Geliebte sie erhielt. Für ihn selbst war die junge Griechin seine Ehefrau und er wünschte, dass ihre gemeinsamen Kinder als seine legitimen Nachkommen ins Familienregister eingetragen werden konnten und damit erbberechtigt waren. Es wäre auch äußerst lästig, jedes Kind immer wieder aufs Neue zu adoptieren. Allerdings würde er es bei ihrem ersten, gemeinsamen Sprössling wahrscheinlich noch tun müssen. Oh, er hoffte so sehr, dass Melina ihm einen Sohn schenkte. Ob die Götter ihnen diesen Wunsch erfüllten?

„So, wie ich deinen Vater in Erinnerung habe, wäre ihm deine jetzige Verbindung ein Dorn im Auge“, sagte Flavius gerade.

„Nun, alter Junge“, erwiderte Lucius, davon wieder in die Gegenwart zurückgeholt. „Wenn mein Vater noch lebte, würde er sich gewiss damit abfinden, da allem Anschein nach der Segen der Götter auf meiner Verbindung mit Melina ruht. Diese junge Frau bedeutet mir mehr als alles andere auf der Welt… ich will und werde mich niemals von ihr trennen!“

„Ach, ich kann dich schon verstehen, Lucius“, seufzte sein Freund. „Für eine Frau, die man liebt, ist man bereit, alles zu tun, alles zu ertragen… und jeden Preis zu zahlen…“

„Was?“

„Odalind soll mir den Lebensabend versüßen… und ich bin bereit, jeden Preis für sie zu zahlen, den du verlangst, Lucius.“

„Was redest du da von deinem Lebensabend, Flavius? Du bist doch kaum älter als ich!“

„Schon richtig, alter Junge, aber die Schmerzen in meinem Bein werden immer schlimmer. Und da ich meine Pflichtjahre schon längst hinter mir habe, ist der Kaiser bereit, mich in den Ruhestand zu schicken. Ich muss nur noch wählen zwischen einer finanziellen Abfindung oder einem Grundstück mit Haus in Pompeji – und ich erwäge, das Letztere anzunehmen. Odalind soll mich dann pflegen, verwöhnen und so weiter… du weißt schon…“

„Du willst Rom wirklich verlassen?“

„Ja, Lucius, aber ihr könnt mich jederzeit besuchen.“

„Was sagen deine beiden Söhne dazu?“

„Sie finden es vernünftig. Mein Ältester behält selbstverständlich seinen Wohnsitz in Rom, da ja seine Braut und zukünftige Frau hier lebt, und mein Jüngster beginnt demnächst seinen Grunddienst. Danach möchte er an einem Auslandseinsatz teilnehmen. Du siehst, ich brauche einen Menschen an meiner Seite, der sich um mich kümmert“, berichtete Flavius im Plauderton. „Übrigens ist es im Gespräch, Fabius Maiorus Graeccus in den Ruhestand zu schicken, sobald man einen geeigneten Nachfolger für seinen Posten in Attika gefunden hat. Aber das kann dauern…“

„Tja, da wird sich der alte Aigikoreus wohl demnächst mit einem neuen Statthalter arrangieren müssen. Aber ob der so milde sein wird wie Fabius…?“

„Nicht gerade freundlich, wie du über den Vater deines Liebchens sprichst, Lucius!“

„Dieser Narr hat keinerlei Freundlichkeit verdient! Aber lassen wir das, Flavius. Es führt zu nichts. Ich möchte dich nur darum bitten, den alten Aigikoreus gegenüber Melina mit keinem Wort zu erwähnen. Sie wird dann nur traurig… du verstehst?“

„Natürlich, Lucius.“

„Dann bis heute Abend. Wir sehen uns!“

=<>=<>=<>=

Während Lucius in der Therme weilte, hatte sich Melina, der es inzwischen wieder ganz gut ging, in Begleitung Divias und Quellas in den Garten begeben, wo sie es sich auf einem Diwan, den man für sie auf die Terrasse gestellt hatte, bequem machte. Ein paar Minuten später brachte Odalind eine große Schüssel frischer, in mundgerechte Stückchen geschnittener Früchte hinaus, die sie auf einem Tischchen, das sich neben dem Diwan befand, abstellte.

„Mit den besten Wünschen von Festia“, sagte Odalind und verneigte sich ein wenig. „Und ich wünsche natürlich auch, dass es euch mundet, Herrin.“

„Wie aufmerksam von Festia! Bestell ihr meinen Dank“, erwiderte Melina, schaute voller Freude auf das Obst, griff sich ein Stück Orange heraus und steckte es in den Mund. „Hm, gut.“

Die junge Frau nahm sich gleich danach noch ein Stück Banane, dann ein Stück Birne, dann ein Apfelstückchen… Odalind staunte, mit welchem Appetit die Herrin, die heute Morgen gar nichts zu sich nehmen wollte, jetzt aß.

Auch Divia wunderte sich. Wie seltsam sich Frauen, die ein Kind erwarteten, doch benahmen. Selene, ihre Mutter, war in diesem Zustand oft sehr ungeduldig und zänkisch gewesen, manchmal hatte sie auch einfach nur rumgeheult. Melina hingegen litt unter morgendlicher Übelkeit, wollte dann verständlicherweise nichts essen und einige Stunden später befielen sie Heißhungerattacken. Allerdings lösten einige Speisen bei ihr auch Übelkeit aus. Nun ja, Melina behielt wenigstens ihr angenehmes Wesen.

„Nimm dir doch auch etwas, Divia!“ forderte die junge Griechin ihre kleine Stieftochter in freundlichem Ton auf. „Die Früchte sind ganz frisch!“

„Ach nein, ich möchte im Moment nichts“, sagte das Mädchen. Dann schaute sie zu Odalind, die immer noch dastand, und fragte: „Worauf wartest du? Festia braucht dich bestimmt in der Küche.“

„Nein, im Moment eigentlich nicht. Sie wies mich an, zu warten, bis die Herrin aufgegessen hat“, erklärte die Germanin und schaute dann unsicher zu Melina. „Vielleicht wünscht Ihr später noch mehr Obst, Herrin, oder etwas anderes?“

„Ich glaube nicht, Odalind. Du kannst ruhig in die Küche zurückkehren“, erwiderte die junge Frau. „Falls ich etwas brauche, schicke ich Quella zu euch!“

Die Küchensklavin verneigte sich und verschwand zurück ins Haus.

„Wo steckt eigentlich Laila?“ fragte Divia plötzlich. „Ich dachte, sie sollte immer in deiner Nähe bleiben?“

„Sie hat die ganze Nacht an meinem Bett gewacht und muss sich ausschlafen“, erklärte Melina.

„Und wer hilft dir dann beim Zurechtmachen für den Abend?“ bohrte Divia weiter.

„Bis dahin ist Laila sicherlich ausgeruht. Es sind ja noch ein paar Stunden. Zur Not kann Philine mir helfen!“

„Ich bin Euch auch sehr gerne behilflich“, bot Quella sich sofort an.

„Aber nicht doch, du musst Divia zurechtmachen.“

Die alte Sklavin machte keinen sehr glücklichen Eindruck bei dieser Aussicht. Melina ignorierte das und wandte sich wieder der Elfjährigen zu: „Heute Abend werden auch ein paar Mädchen deines Alters zu Gast sein.“

„Ach, eigentlich lege ich keinen Wert darauf, diese Mädchen kennenzulernen“, gab Divia lustlos zurück und schaute die junge Griechin enttäuscht an.

Irritiert von dem Blick ihrer kleinen Stieftochter fragte Melina: „Freust du dich denn gar nicht darauf, neue Bekanntschaften zu machen? Ich bin sicher, diese Mädchen sind sehr nett.“

„Warten wir es ab“, meinte Divia und senkte ihren Blick. Früher, so sinnierte sie, hätte sie sich gewiss darüber gefreut, wenn auf den Abendgesellschaften, die Vater und Mutter gaben, Gleichaltrige gewesen wären. Doch seit Melina da war, wollte Divia die meiste Zeit am liebsten alleine mit ihr verbringen. Wie sehr hatte sie jene Morgenstunden in dem Landhaus genossen, als sie neben der jungen Griechin unter der Decke gelegen und sich an sie gekuschelt hatte. Melinas Körper war so weich gewesen und so warm. Doch mit dem Kuscheln war es jetzt vorbei. Ständig befand sich jemand in Melinas Nähe, weil Papa es so wünschte. Warum nur hatte Melina schwanger werden müssen? Auf ein jüngeres Geschwisterchen, mit dem sie Papa und Mama teilen musste, konnte sie gern verzichten. Ach, sie mochte es schon jetzt nicht, da es wesentlich zu Melis Unwohlsein und ihrer Übelkeit beitrug.

„Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch nicht zu viel zumutet, wenn Ihr an der Cena teilnehmt, Herrin?“ fragte Quella gerade, was Divia besorgt aufhorchen ließ.

„Aber ich freue mich doch schon so darauf, Silvia Valeriana wiederzusehen“, entgegnete Melina und strahlte. Erneut schob sie sich ein Stückchen Orange in den Mund.

„Silvia Valeriana kommt also auch?“ fragte Divia nach.

„Aber ja, sie und ihr Verlobter. Bestimmt kann ich von ihnen erfahren, wie es meinen beiden Brüdern geht.“

„Du magst Silvia wohl gern, oder?“

„Natürlich, sie ist doch sehr nett. Oder bist du anderer Meinung, Divia?“

„Eigentlich kenne ich Silvia gar nicht richtig“, antwortete das Mädchen ausweichend. In Wirklichkeit konnte sie die Nichte von Senator Valerianus nicht ausstehen. Wenn sie heute Abend hier war, würde Melina sich die meiste Zeit mit dieser dummen Pute unterhalten. Nein, es versprach keine besonders angenehme Cena zu werden…

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Nach einem leichten Mittagsmahl zog Melina sich wieder in ihr Gemach zurück. Mittlerweile hatte sich Laila dort eingefunden, um sie für die Cena zurechtzumachen.

„Ich hoffe, du bist ausgeruht genug?“ fragte Melina und betrachtete ihre Leibsklavin besorgt. „Wenn du zu müde bist, dann sag es nur. Ich werde dann Philine bitten, mir zu helfen.“

„Aber nicht doch, Herrin“, wehrte die Ägypterin ab. „Seid versichert, dass ich ausreichend Schlaf hatte und mich darauf freue, Euch wieder zu Diensten zu stehen.“

„Nun gut“, meinte die junge Griechin und nickte ihr lächelnd zu. „Dann hilf mir jetzt beim Ausziehen!“

Laila kam diesem Befehl nach, wusch dann ihre Herrin und rieb ihren Körper mit Rosenöl ein. Danach löste sie das Haar Melinas und kämmte es sorgfältig durch, bevor sie es wieder flocht und zu einer kunstvollen Frisur aufsteckte. Anschließend half sie ihrer Herrin in deren Tunika und eine hellblaue Seidenstola hinein, die Lucius ihr geschenkt hatte.

„Was für ein schönes Kleid“, hauchte Laila überwältig, als sie das Gewand berührte. „Wie wunderbar glatt sich der Stoff anfühlt.“

„Ja, nicht wahr? Ich trage es heute zum ersten Mal.“

„Ach, es muss ein schönes Gefühl sein, von einem Mann so verwöhnt zu werden, Herrin.“

Melina strahlte die Sklavin an und erwiderte: „Ja, Laila, er ist überaus großzügig.“

„Ihr und der Herr seid gewiss sehr glücklich miteinander“, sagte die Ägypterin sehnsüchtig. „Und Euer Glück stets vor Augen muss ich zugeben, dass ich mich auch nach der Liebe eines Mannes sehne. Bitte, verzeiht mir dieses Geständnis, Herrin.“

„Es gibt nichts zu verzeihen“, meinte Melina sanft. „Ich kann dich gut verstehen.“

„Wahrscheinlich ist mein Wunsch sehr dumm“, murmelte Laila und senkte den Blick. „Ich weiß ja, dass ich nur eine Sklavin bin und mich gar nicht mit einem Mann verbinden kann, selbst wenn ich wollte. So etwas bedarf der Zustimmung des Herrn oder gar meiner Freilassung…“

„Ich weiß, was du meinst“, entgegnete die junge Griechin. „Sklavin oder nicht – jede Frau kann erst dann heiraten, wenn der Vater oder sein Stellvertreter dem zustimmen. Weißt du, meinem Vater ist es gewiss nicht recht, dass ich jetzt mit Lucius zusammen bin, aber mein Bruder ist ganz anderer Meinung und hat sein Einverständnis zu unserer Verbindung gegeben. Warum solltest nicht auch du solch ein Glück haben, Laila? Vielleicht sind die Götter dir gnädig und du wirst die Gefährtin eines Mannes, der dich liebt.“

Melina betrachtete sich die dunkelhäutige Ägypterin einen Augenblick nachdenklich. Dann fuhr sie fort: „Mach dich auch ein wenig zurecht für unsere Gäste, denn ich wünsche, dass du sie mit deinem Gesang und deinem Spiel auf der Lyra erfreust.“

„Wirklich, Herrin?“ fragte Laila ungläubig.

„Ja, du hast so eine schöne Stimme“, antwortete Melina.

„Oh danke, Herrin“, sagte die Sklavin, kniete sich vor sie hin und küsste ihre Hände. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Divia trat herein, um die Meinung ihrer Mama bezüglich ihres Erscheinungsbildes für die Cena einzuholen. Sie stutzte, als sie sah, was Laila gerade tat.

Melina hingegen blickte auf und schien erfreut, ihre Stieftochter zu sehen.

„Komm herein, Divia, und lass dich anschauen!“ rief sie ihr zu.

Das Mädchen folgte dieser Aufforderung, drehte sich auf Wunsch der jungen Griechin herum, damit diese sie von allen Seiten betrachten konnte, und fragte dann endlich: „Warum hat Laila deine Hände geküsst, Meli?“

Dabei warf die Elfjährige der dunkelhäutigen Sklavin, die sich mittlerweile wieder erhoben hatte, einen argwöhnischen Blick zu.

„Ich sagte ihr etwas und darüber freute sie sich“, erklärte Melina. Dann fuhr sie, das Thema wechselnd, fort: „Du siehst sehr hübsch aus, Divia.“

„Ja, findest du wirklich, Meli?“

„Natürlich, Divia.“

„Und du meinst, dass ich allen anderen auch gefalle? Auch diesen Mädchen, die heute Abend kommen werden?“

„Bestimmt!“ bekräftigte Melina, wandte sich dann Laila zu und sagte: „Du darfst jetzt gehen.“

Die Ägypterin verneigte sich und verschwand aus dem Zimmer. Divia schaute ihr misstrauisch nach, sah dann wieder zu der jungen Griechin und meinte: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass Laila etwas von dir wollte und es nun bekommen hat. Willst du mir nicht verraten, was es ist?“

„Sie wollte nichts von mir. Ich bat sie um etwas und sie schien darüber äußerst erfreut zu sein, das ist alles“, erwiderte Melina.

„Worum hast du sie denn gebeten?“

„Dass sie heute Abend für uns und unsere Gäste singt und spielt.“

Divia nickte nur und schwieg. Doch in ihr verfestigte sich das Bild, das sie während des Landaufenthaltes von Melinas Leibsklavin gewonnen hatte. Demnach war Laila eine Person, die um Aufmerksamkeit und Bewunderung, vor allem für ihr musikalisches Talent, buhlte. Sie schien sich nicht damit zufriedengeben zu wollen, die Leibsklavin von Melina zu sein. Etwas, das Divia unverständlich war. Sie selbst würde alles dafür tun, um immer in der Nähe der jungen Griechin sein zu dürfen, ihre Haut zu berühren, ihre schönen, bläulich schimmernden, schwarzen Locken zu kämmen, sie durch die Finger gleiten zu lassen und den süßen Geruch einzuatmen, der von Melina ausging…

„Du bist die schönste Frau der Welt“, hauchte das Mädchen und schaute die junge Griechin mit zärtlichen Blicken an. „Da kann Laila machen, was sie will. Unsere Gäste kommen nur, um dich zu bewundern.“

„Aber nicht doch, Divia“, wehrte Melina lachend und ein wenig peinlich berührt ab. „Sie kommen, weil dein Vater sie zur Cena eingeladen hat, so wie es üblich ist – und weil er ihnen erzählen will, dass ich Mutter werde…“

Bei diesem Gedanken errötete die junge Frau etwas.

„Dir scheint es nicht recht zu sein, dass er es ihnen erzählt“, stellte Divia fest.

„Nun ja, ich fühle mich einfach nicht wohl, wenn alle erwartungsvolle Blicke auf mich richten“, gab Melina zu. „Denn ich weiß genau, dass sie denken: Hoffentlich schenkt sie ihm einen Sohn…“

„Ich verstehe dich vollkommen“, sagte das Mädchen in tröstendem Ton und strich ihrer Stiefmutter behutsam über den Unterarm. „Selene hatte auch nichts anderes im Kopf als einen Sohn, weil Papa angeblich so gerne einen hätte. Was ist denn nur so Besonderes an einem Jungen?“

„Ich glaube, ein Vater sieht in seinem Sohn ein Abbild seiner selbst“, meinte Melina nachdenklich. „Mein Vater war immer sehr stolz auf meinen ältesten Bruder, der sein Nachfolger werden sollte.“

„Sein Nachfolger? Und was ist mit einer Tochter? Ich weiß, dass Papa mich liebt. Wie war das bei deinem Vater?“

Melina ließ traurig ihren Kopf hängen. Sie erinnerte sich wieder an den Brief, den sie ihrem Vater aus Rom geschrieben hatte. Bis jetzt war keine Antwort gekommen, was sicherlich hieß, dass sie für ihn gestorben war…

„Mein Vater… er ist ein strenger Mann“, murmelte die junge Griechin. „Ich… ich glaube, dass er mich liebte, aber… nun ja, mein ältester Bruder kam bei ihm an erster Stelle. Er leidet gewiss darunter, Leandros verloren zu haben…“

„Es war dumm von mir, dir eine solche Frage zu stellen, da dich dies unweigerlich an alles erinnert, was du verloren hast“, sagte Divia mitfühlend. „Bitte, verzeih mir, Meli! Es lag nicht in meiner Absicht, dich traurig zu machen.“

„Es… es ist nicht deine Schuld, Divia“, erwiderte die junge Frau und schaute nun wieder zu dem Mädchen auf. Dann zog sie es an sich und wisperte: „Bitte, glaub mir, Divia, ich hab dich lieb und werde dich genauso lieb haben, wenn mein Kind da ist. Ich habe genug Liebe für dich, mein Kind und deinen Vater… hörst du, Divia? Und lass dir von niemandem einreden, dass eine Tochter weniger wert ist als ein Sohn. Denn das ist nicht wahr! – Mein Vater war streng zu mir, weil er mich liebte und nicht wollte, dass mir etwas geschieht. Er nannte mich seinen Augenstern und es brach ihm gewiss das Herz, als man mich als Geisel nahm. – Denk immer daran, Divia, wenn dein Vater wieder einmal streng zu dir sein sollte: Er tut das nur aus Liebe zu dir.“

„Das weiß ich inzwischen, Melina… ich weiß es nur allzu gut… Mach dir keine Sorgen um mich, liebste Meli…“, wisperte das Mädchen und genoss es, von der jungen Frau im Arm gehalten zu werden. „Ich hab dich auch lieb und werde dich immer lieben… immer, liebste Meli… meine liebste Meli…“

Melinas Wunsch entsprechend fand die Cena draußen im Garten statt, zum einen, damit Divia und die anderen Mädchen sich später etwas abseits von den Erwachsenen zurückziehen konnten, und zum anderen, weil sie selbst ein Gespräch unter vier Augen mit Silvia Valeriana führen wollte.

Nachdem alle Gäste eingetroffen waren, von dem Herrn des Hauses willkommen geheißen wurden und man das Essen aufgetragen hatte, verriet Lucius endlich, dass er sich darauf freue, wieder Vater zu werden. Man gratulierte ihm und Melina, ließ die beiden hochleben und stieß lautstark auf die werdenden Eltern und den Nachwuchs an.

„Mögen die Götter euch einen gesunden, kräftigen Knaben bescheren!“ rief Flavius Senior, hob seinen Becher und leerte ihn dann in einem Zug. Die anderen Gäste außer Appius, die nicht ahnten, dass es genau das war, was Melina auf keinen Fall hören wollte, taten es dem alten Offizier nach. Lucius freute sich zwar einerseits über diesen frommen Wunsch, andererseits schaute er ein wenig besorgt zu seiner jungen Geliebten, die ihn gezwungen anlächelte. Er legte einen Arm um Melina und flüsterte ihr zu: „Denk immer daran, dass mir eine Tochter ebenso willkommen wäre…“

Die junge Frau schenkte ihm einen dankbaren Blick und nickte. Sie wusste selbst, dass die Gäste ihren Ausruf nicht böse gemeint hatten und nahm sich vor, dies nicht zu vergessen. Lächelnd schaute sie in die Runde, wobei ihre Augen endlich Appius trafen, der sie einen Moment schmunzelnd betrachtete und dann mit etwas lauterer Stimme sagte: „Wir wünschen euch ein gesundes, kräftiges Kind! Und wir wünschen natürlich auch, dass es Melina immer gut gehen möge!“

Die Gäste stimmten darin überein und tranken nun auf das Wohl der werdenden Mutter, was die junge Frau ein wenig heiterer stimmte. Danach nahm sie eine Kleinigkeit zu sich und suchte dabei den Blick von Silvia Valeriana, die sich wie üblich in verliebtem Augenspiel mit ihrem Verlobten befand. Melina musste darüber lächeln, schaute dann zu Divia, die bei einigen der gleichaltrigen Mädchen saß und sich offenbar gut mit ihnen unterhielt. Auch dies erleichterte die junge Griechin etwas. Sie hoffte wirklich sehr, dass Divia ein oder zwei gute Freundinnen fand, mit denen sie spielen oder sich anderweitig austauschen konnte. Außerdem könnte sie diese Mädchen auch besuchen oder zu sich einladen und mit ihnen ohne Bedenken gemeinsam speisen. Ein solch böser Streit wie an Divias Geburtstag sollte nie wieder vorkommen.

„Schmeckt es dir, mein Schatz?“ fragte Lucius gerade in ihre Gedanken hinein.

„Ja, Liebster, es ist köstlich“, antwortete sie.

Er strich ihr sanft über die Wange und murmelte: „Iss nur tüchtig, Liebes!“

Sie lächelte und nickte, nahm sich etwas von dem frisch gepressten Orangensaft, während ihr Mann sich nun seinem Nachbarn zuwandte, und ließ ihren Blick wieder über die Runde schweifen. Diesmal trafen sich ihre Augen mit denen Silvias, die ihr daraufhin zuprostete, trank, dann aufstand und zu ihr hinüberkam. Ehe sie sich zu Melina auf die Liege niederlassen konnte, erhob sich diese und sagte leise: „Lasst uns an einen ruhigeren Ort gehen, wo wir uns unter vier Augen unterhalten können.“

Silvia nickte, hakte sich bei ihr unter und gemeinsam verließen sie die Gesellschaft in Richtung des Gartenteichs. Dort angekommen, setzten sie sich auf die Bank neben der großen Eiche, an der Divias Schaukel hing.

„Ihr seht fabelhaft aus, Melina“, sagte Silvia bewundernd. „Es erübrigt sich wohl zu fragen, ob Ihr mit Lucius Marcellus glücklich seid?“

„Oh ja! Lucius ist ein sehr liebevoller und aufmerksamer Mann, der mich überaus verwöhnt“, gestand Melina lächelnd. „Ich könnte mir keinen besseren Gefährten wünschen.“

„Und in einigen Monaten werdet Ihr die Krönung Eurer Verbindung in Händen halten“, schwärmte die junge Römerin. „Euer eigenes Kindlein… ach, wie ich Euch beneide... Ich wünschte, Flavius und ich würden auch endlich heiraten! Aber er ist genau wie mein Onkel der Meinung, dass er erst seine Beförderung abwarten solle. Dabei lege ich gar keinen Wert darauf, ein so großes Haus zu führen, wie Flavius es mir bieten möchte. Eine kleine Villa und ein paar Sklaven würden mir genügen. Ich will nur endlich mit dem Mann zusammenleben, den ich über alles liebe; und ein Kindlein wäre die Krönung unserer Liebe… Wie glücklich müsst Ihr sein, Melina, das Kind von dem Mann Eures Herzens erwarten zu dürfen…“

„Ja, das bin ich, Silvia – wenngleich mir dieses Kind mitunter großes Unwohlsein bereitet. Aber Quella, meine alte Amme, meinte, dass sich dies geben würde; und es geht mir ja auch etwas besser. Die Übelkeit plagt mich jetzt nur noch morgens.“

Die beiden jungen Frauen lachten. Dann legte Silvia ihre Hand auf Melinas Unterarm und meinte: „Es ist so schön, dass Ihr wieder in Rom seid. Wenn Ihr möchtet, könnten wir uns öfter sehen. Wie wäre es, wenn wir uns morgen am späten Vormittag in der Therme träfen? Ich habe ein wunderbares, neues Öl, das aus Mandeln, Rosen und Melissen zusammengemischt wurde. Glaubt mir, Melina, es entfaltet einen wunderbaren Duft auf der Haut.“

„Das glaube ich“, erwiderte die junge Griechin. „Aber im Moment bin ich äußerst vorsichtig damit, öffentliche Plätze aufzusuchen. Ich habe zu viel Angst, dass mich die Übelkeit plötzlich überrascht. Doch ich danke Euch sehr für das Angebot. Vielleicht ein anderes Mal.“

„Gut, das verstehe ich natürlich. Aber bitte, Melina, dürfte ich Euch hin und wieder besuchen? Ich würde vorher natürlich einen Boten schicken, um mich nach Eurem Befinden zu erkundigen.“

„Selbstverständlich. Ich würde mich über Eure Besuche freuen“, sagte die Griechin. „Und wie geht es meinem kleinen Bruder? Ist er immer noch glücklich bei Eurem Onkel und Eurer Tante?“

„Oh ja, Quintus Secundus gedeiht prächtig. Er ist ein ganzes Stück gewachsen und läuft mittlerweile so schnell, dass Tia achtgeben muss, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er ist ein sehr fröhliches Kind.“

„Ich würde ihn gern wiedersehen.“

„Dann werde ich es für Euch arrangieren, Melina. Es wird meinem Onkel sicherlich ein Vergnügen sein, Euch und Euren Gefährten zu seiner nächsten Cena willkommen zu heißen.“

„Melina! Silvia! Wo seid Ihr?!“ erklang der Ruf der Abendgesellschaft an das Ohr der beiden jungen Damen.

„Ich fürchte, wir müssen jetzt zurück“, seufzte Melina. „Leider… ich hätte mich lieber noch ein wenig länger mit Euch unterhalten.“

„Das holen wir nach, meine Liebe“, erwiderte Silvia. Dann erhob sie sich zusammen mit der jungen Griechin und kehrte zu der Abendgesellschaft zurück.

„Na, was hattet ihr beiden miteinander zu tuschen?“ fragte Flavius Senior amüsiert. Dann wandte er sich dem Gastgeber zu und sagte: „Frauen haben immer irgendetwas miteinander zu bereden, wovon wir Männer nichts wissen sollen.“

Lucius lachte und meinte: „Womöglich Frauensachen… davon verstehen wir nichts.“

„So, glaubst du? Na, vielleicht hast du ja recht, mein Freund“, gab der alte Flavius belustigt zurück. Dann schaute er Melina an, die sich mittlerweile auf den Diwan zu ihrem Mann gesetzt hatte, und sprach sie in äußerst freundlichem Ton an: „Meine Liebe, Ihr solltet ordentlich essen. Es kann Euch nicht schaden, etwas zuzunehmen, gerade in Eurem Zustand – schließlich braucht Ihr Kraft, um das Kindlein auszutragen!“

Die junge Griechin errötete, was Lucius veranlasste, seinem Freund zu antworten: „Mach dir keine Sorgen, Flavius, meine Frau isst mit großem Appetit!“

Dabei legte er eine Hand auf Melinas Bauch und sprach weiter: „Sei versichert, dass ich darauf achte, dass mein Kind gesund und kräftig zur Welt kommt.“

Der werdenden Mutter lag auf der Zunge, dass es ihr gemeinsames Kind sei, welches sie unter dem Herzen trug, aber sie wagte es nicht, dies öffentlich auszusprechen. Vermutlich würde eine solche Bemerkung Lucius vor seinen Gästen blamieren, und sie wollte keinesfalls, dass er sein Gesicht verlor. Besser, sie sprach später unter vier Augen einmal mit ihm darüber.

Allerdings schien Melina die Einzige zu sein, die sich an der Bemerkung des Hausherrn störte. Alle anderen lachten und amüsierten sich prächtig. Offenbar hatte Lucius es nicht böse gemeint, denn er hielt ihr nun ein Stück Hühnerfleisch vor den Mund und flüsterte zärtlich: „Komm, iss, mein Schatz! Schließlich müssen wir unseren Junior füttern…“

Gehorsam öffnete sie den Mund und ließ sich von Lucius das Fleischstückchen hineinschieben. Belohnt wurde sie dafür von ihm mit einem Kuss auf die Wange. Allerdings hatte sie Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die ihr in die Augen treten wollten. Eben hatte ihr Mann seinen Wunsch nach einem Sohn offen ausgesprochen. Was, wenn sie ihn enttäuschte…? Zwar hatte er gesagt, dass ihm eine kleine Melina ebenso willkommen wäre, aber er würde gewiss überaus enttäuscht sein, wenn sie ein Mädchen zur Welt brächte…

„Trink einen Schluck, Liebling“, murmelte Lucius ihr soeben ins Ohr und reichte ihr einen Becher Wein. Allein der Geruch rief in Melina große Übelkeit hervor. Sie hielt ihre Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. Besorgt musterte Lucius sie. „Ist dir wieder schlecht, Liebes?“

Sie nickte kaum merklich, worauf er einen Sklaven heranwinkte und sagte: „Hol die Leibsklavin der Herrin herbei, damit sie meine Frau in ihr Gemach geleitet!“

„Nicht doch, Lucius“, wisperte sie ihm zu, atmete ein paarmal tief ein und aus und meinte dann: „Jetzt geht es wieder. Du darfst mir nur keinen Wein mehr anbieten… tut mir leid.“

„Nein, Schätzchen, mir tut es leid“, murmelte Lucius und drückte sie an sich. Die Umarmung gab der jungen Griechin wieder die Geborgenheit, die sie gerade brauchte und die sie so oft in den vergangenen Monaten in Lucius‘ Armen gefunden hatte.

„Laila soll trotzdem kommen“, sagte Melina dann. „Ich habe sie gebeten, unsere Gäste ein wenig musikalisch zu unterhalten. Ihr Spiel und ihre wunderbare Stimme werden uns allen den Abend gewiss verschönern.“

„Das ist eine gute Idee“, griff Lucius diesen Vorschlag auf und wandte sich dann an den Sklaven, der immer noch bei ihnen stand und auf Anweisungen wartete. „Du hast gehört, was die Herrin gesagt hat. Geh und hol die Ägypterin her!“

„Jawohl, Herr!“

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Seit Sorex‘ Gespräch mit dem dämonischen Reiseleiter, der ihm immer wieder versicherte, dass sie auf dem richtigen Weg seien und es noch eine Weile dauerte, bis sie ihr Ziel erreicht hatten, waren sie immer noch unterwegs zum entweihten Tempel des Ra. Serpa-Thot fragte sich verzweifelt, welchen Plan der Dämon verfolgte, der den toten Leib des ägyptischen Führers besetzt hielt. Womöglich machte er sich einen Spaß daraus, sie immer wieder dieselbe Route gehen zu lassen, bis ihre Vorräte aufgebraucht waren und sie völlig entkräftet im heißen Sand der Wüste starben… ohne den Segen eines Priesters oder gar mit magischen Papyri versehen, die Zaubersprüche enthielten, um all die Prüfungen im Jenseits zu bestehen, damit man in die ewigen Gefilde der Seligkeit eingehen konnte…

Mit solchen Gedanken, die ihn zutiefst ängstigten, betete der ägyptische Sklave leise und unentwegt um den Beistand der gütigen Götter. Vielleicht war es ihr Schutz, der den Dämon davon abhielt, ihn in der Nacht zu quälen. Denn seit er dessen Angebot abgelehnt hatte, auf die dunkle Seite zu kommen und Seth zu dienen, hatte der böse Geist ihn in Ruhe gelassen. Trotzdem war der Sklave immer auf der Hut - einem Dämon durfte man nicht trauen.

 

Wie an vielen Abenden zuvor saß Serpa-Thot auch heute wieder vor seinem Zelt und blickte hoffnungsvoll in den Nachthimmel hinauf, während er stumm die Göttin Nut um ihren Schutz anflehte.

Allmählich zogen sich seine Gefährten in ihre Nachtlager zurück, doch er blieb weiterhin sitzen und starrte zum Sternenzelt hinauf. Sorex war es zufrieden, denn er glaubte, sein ägyptischer Sklave übernehme immer freiwillig die erste Nachtwache. Ihm fiel auch nicht auf, dass Serpa-Thot, ohnehin ein schmaler Mann, immer dünner wurde.

Der ägyptische Sklave aß nur sehr wenig, da er fürchtete, der Dämon mische etwas unter die Lebensmittel, das diejenigen Menschen, die davon aßen, seinem Willen unterwarf. Lediglich Wasser nahm der schmächtige Ägypter bedenkenlos zu sich, denn er war davon überzeugt, dass kein Dämon sich erdreistete, das heilige Nass, das zum Machtbereich des Osiris gehörte, zu entweihen. Vor dem Herrscher des Jenseits hatten die Geschöpfe der dunklen Seite zu viel Respekt, als dass sie dies wagen würden – denn Vater Osiris und sein Sohn Horus-Ra besaßen die Macht, Seths Kinder zu vernichten. Ach, wenn sie doch nur den Dämon vernichteten, der sich hier als Reiseleiter aufspielte…

Serpa-Thot blinzelte. Seine Augen brannten. Die Hitze und das Schlafdefizit der vergangenen Tage begannen nun, ihren Tribut zu fordern. Aber er musste durchhalten, er durfte jetzt nicht einschlafen…

„Oh, Nut, bitte hilf mir!“ sandte er einen verzweifelten Gedanken an die Göttin der Nacht.

Ein leichter Wind umspielte den Körper des Sklaven und er fröstelte ein wenig. Diese Wüstennächte konnten ziemlich kalt sein… und er war so müde… nur ganz kurz würde er die Augen schließen… nur ganz kurz… Oh, wie kalt es war… so kalt… dieser eisige Wind… wenn das nicht das Werk der Wüstendämonen war… ihm war so kalt… so kalt…

Doch was war das?

Jemand hatte ihm eine warme Decke um die Schultern gelegt.

Erschrocken schlug Serpa-Thot seine Augen wieder auf und blickte um sich. Neben ihm hockte eine Frau mit schmalen, dunklen Augen und offenem, schwarzen Haar, das fast ihren ganzen Körper umschloss. Ihre dünnen Lippen hatte sie zu einem Lächeln verzogen und wisperte ihm mit schmeichlerischer Stimme zu: „Du sollst nicht frieren, mein Lieber. Komm mit mir und ich werde deinen kühlen Körper wieder mit Wärme erfüllen. Mein Leib ist ein Tempel der Freude, den du besuchen darfst.“

„Nein!“ entfuhr es Serpa-Thot, der mit einem Schlage wieder wach war, und er sprang hoch. „Verschwinde! Weiche von mir, Dämon. Glaubst du, ich erkenne dich nicht, Tochter des Seth?!“

„Warum wehrst du dich so gegen etwas, das dir gewiss Vergnügen bereitet, mein Freund?“ fragte die Frau mit süßer Stimme und richtete sich nun auf. Sie blitzte Serpa-Thot mit ihren nachtschwarzen Augen an, in denen er kurz eine grüne Flamme auflodern zu sehen glaubte, und schenkte ihm ein breites Lächeln. Dabei entblößten sich weißschimmernde Zähne. Sie streckte ihre langen Arme nach ihm aus und bat: „Komm an mein Herz, süßer Freund, und genieße die Freuden der Liebe, die du so lange entbehren musstest.“

„Niemals!“ fuhr Serpa-Thot sie an. „Im Namen von Isis, Osiris und Hathor – weiche von mir, verfluchter Geist!“

Im selben Augenblick verwandelte sich die Frau in eine giftgrün-lodernde Flamme und einen Moment später stand die Gestalt des Reiseführers vor ihm.

„Wie dumm du bist!“ zischte der Dämon ihn wütend an. „Mein HERR bietet dir Geschenke an. Du könntest Reichtum besitzen und Macht und dazu die Liebe einer schönen Frau. Warum weist du dieses Angebot ab, Mensch?!“

„Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen!“ gab Serpa-Thot mit fester Stimme zurück.

Ein höhnisches Lachen entfuhr der Kehle des Dämons und er fragte spöttisch: „Glaubst du wirklich, die Götter, die du dauernd um ihren Beistand anflehst, werden dich vor mir beschützen?“

„Ja, davon bin ich überzeugt!“

„Was für ein erbärmlicher Narr du doch bist!“ sagte der Dämon verächtlich. „Nun, so bereite dich jetzt auf deinen Tod vor! Du behinderst allmählich meine Mission, Sorex zu dem verfluchten Tempel zu führen. Der Alte stöhnte heute Abend mal wieder über die Beschwerlichkeiten dieser Reise. Dabei hatte ihm mein Herr klargemacht, dass der Weg sehr weit wäre. Ich befürchte, der Römer würde deinem Vorschlag, die nächste Stadt aufzusuchen, wohl bald stattgeben, wenn ich dich leben ließe. Du verunsicherst deinen Herrn, der im Grunde dazu bereit ist, auf die dunkle Seite zu kommen und dafür ein großes Opfer erbringen will. Da du dich dem massiv entgegenstellst, bleibt mir nun nichts anderes übrig, als dich zu töten.“

„Besser tot, als gefangen als einer der Dämonen in der Wüste zu leben!“

Ein eisiger Wind pfiff daraufhin plötzlich um sie herum und der Dämon begann laut zu lachen. Er streckte seine Arme gen Himmel, wurde wieder zu einer grünen Flamme und verwandelte sich vor den Augen des entsetzten Serpa-Thot in eine große Kobra. Sie richtete sich zischelnd auf und fixierte den schmächtigen Ägypter mit ihren giftgrünen Augen.

„Oh, ihr gütigen Götter, rettet mich vor der Macht des Bösen!“ entfuhr es dem Sklaven, der unwillkürlich zu zittern begonnen hatte, aber nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Mit starrem Blick folgte er den Bewegungen der Schlange, die sich auf den Boden zurücksinken ließ und begann, sich ihm zu nähern. Gleich wäre sie da und würde ihre Zähne in seinen Leib schlagen, ihr Gift würde sich in seinem Körper ausbreiten und ihm den Tod bringen…

„Miau!“ hörte er plötzlich den Laut einer Katze und spürte, wie etwas Seidiges seine Beine umschmeichelte. Die Kobra verharrte in ihrer Bewegung, richtete sich etwas auf… und dann geschah es: Eine große Katze mit blauschimmerndem Fell sprang mit wütendem Fauchen auf die Kobra, hielt sie mit ihren Pfoten fest und biss sie mehrmals in den Kopf. Lautes Zischeln entfuhr der Schlange und sie wehrte sich zunächst heftig. Ihr langer Körper versuchte, die Katze zu umschlingen. Doch diese schlug fauchend immer wieder mit ihren Tatzen, in denen ausgefahrene, scharfe Krallen sichtbar wurden, gegen die Gegnerin und fügte ihr blutige Wunden zu. Endlich ließ die Gegenwehr der Schlange nach, so dass die Katze dazu überging, deren langen Körper aufzuschlitzen. Blut erfüllte gleich darauf den Erdboden. Einen Moment später lag statt des Schlangenleibes derjenige des Reiseführers dort, während sich zeitgleich die Erstarrung, in der Serpa-Thot gefangen gewesen war, auflöste. Erleichtert bewegte der schmächtige Mann sich. Er konnte kaum fassen, dass eine Katze sein Leben gerettet hatte. Voller Dankbarkeit wollte er sich dem guten Tier zuwenden und richtete seine Augen, die eben noch ungläubig den toten Feind angestarrt hatten, auf. Doch er erschrak, als statt der erwarteten Katze ein junges Mädchen vor ihm stand und ihn mit ernstem Blick ansah. Ihre Augen waren von einem sehr hellen, fast leuchtenden Grün, während ihre blauschwarzen Haare, die wie Seide im Licht des Mondes glänzten, von einem silbernen Diadem umrahmt wurden, auf dessen goldenem Emblem das  ‚Auge des Ra‘  prangte. Sie trug ein langes, dunkles Gewand, das mit zahlreichen, goldenen Sternen bestickt war.

Unwillkürlich fiel Serpa-Thot vor dem Mädchen auf die Knie und stammelte: „Oh, gütiges Geschöpf, das mir von den Göttern geschickt wurde. Wie kann ich dir jemals für meine Rettung danken?“

„Deine Gebete wurden erhört, weil du mehrfach den Verführungsversuchen Seths widerstandest und niemals an den Göttern gezweifelt hast“, erklärte das Mädchen mit sanfter Stimme.

„Bist du eines jener Sternenmädchen, von denen man erzählt, sie dienten der großen Nut?“ fragte Serpa-Thot und sah sie ehrfürchtig an.

Sie nickte und schenkte ihm ein freundliches Lächeln.

„Mein Name lautet Nuria“, antwortete sie. „Und ich wurde gesandt, um dich zu retten. Deshalb komm jetzt, denn es wird Zeit, so schnell wie möglich diesen Ort zu verlassen!“

Das Sternenmädchen reichte dem Ägypter seine Hand, doch er zögerte, diese zu ergreifen.

„Was ist, Serpa-Thot?“

„Verzeih mir, Nuria, aber kann ich denn so einfach gehen und meinen Herrn den bösen Mächten überlassen? Sollten wir nicht alles tun, um ihn daran zu hindern, die Welt ins Chaos zu stürzen?“

„Du kannst für den fremden Sterblichen nichts mehr tun“, erklärte das Sternenmädchen. „Bitte, Serpa-Thot, mach dir keine Sorgen. Sorex Nigellus hat sich zwar für die dunkle Seite entschieden, aber er wird die Welt nicht ins Chaos stürzen. So einfach, wie ihr Sterblichen glaubt, ist es nämlich nicht! Und nun komm, nimm meine Hand und vertraue mir!“

Der schmächtige Ägypter ergriff Nurias Hand und ließ sich von ihr führen. Seine Angst, die ihn doch während des Beginns ihrer Wüstenreise ständig begleitete, war völlig von ihm abgefallen und hatte einem wohltuenden, inneren Frieden Platz gemacht. Er spürte, welch starke Wärme von dem Sternenmädchen ausging, und wunderte sich gar nicht, als die Schlangen, die sich ihnen immer wieder in den Weg stellten, von ihr mühelos zertreten wurden und sofort verdampften, als hätten sie niemals existiert.

In Gegenwart des guten Schutzgeistes kam ihm alles um ihn herum ein wenig heller vor. Doch das war kaum verwunderlich, denn es hieß, dass jedes Sternenmädchen eine strahlende Flamme des Ra in sich trug, welche selbst die dunkelste Umgebung erhellte. Solch ein Sonnenstrahl war gewiss auch sehr heiß, doch ihn umfing nur angenehme Wärme, die ihn allmählich müde machte.

„Nuria, ich glaube, der Schlaf wird mich bald übermannen“, wisperte er, ohne jedoch den Funken einer Angst in sich zu spüren. Seine Augen begegneten den ihren und versanken darin, während ihm die sanfte Stimme des Sternenmädchens antwortete: „Nur keine Sorge, Serpa-Thot, ich trage dich… schlaf nur…. Schlaf, mein lieber, guter Serpa-Thot. Ich bringe dich in Sicherheit…“

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Der Gesang der dunkelhäutigen Ägypterin erfreute die Abendgesellschaft des Lucius Marcellus sehr, so wie Melina es vorausgesehen hatte. Auch ihr selbst tat die Musik gut. Kaum hatte Laila ihren ersten Ton gesungen, fühlte sie sich fast augenblicklich besser. Sie sah glücklich zu Lucius auf und drückte seine Hand. Er schaute zu ihr, lächelte ebenfalls und küsste sie.

„Schade, dass Leandros nicht hier ist“, flüsterte sie ihrem Geliebten ins Ohr.

„Im Moment geht das nicht“, wisperte er zurück. „Doch wenn du möchtest, könnte ich dafür sorgen, dass er dich in den nächsten Tagen einmal kurz besucht.“

Melina nickte, schmiegte sich eng in Lucius‘ Arm, der sie fest an sich drückte, und strahlte ihn an. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der musikalischen Darbietung ihrer Leibsklavin zu.

 

Als sich die Abendgesellschaft endlich auflöste, war es weit nach Mitternacht. Melina wollte inzwischen nur noch ins Bett, da sie wieder müde war. Allerdings bat sie Lucius, der sie in ihr Gemach begleitete, dass heute Nacht ihre alte Amme bei ihr bleiben solle. Sie hätte Sehnsucht nach Quella und Laila müsse sich endlich auch einmal ausschlafen.

„Hat sich deine Leibsklavin etwa bei dir beklagt?“ wollte Lucius daraufhin ärgerlich wissen.

„Aber nein, Liebster, ganz im Gegenteil“, beschwichtigte Melina ihn sofort. „Sie klagt nie über irgendetwas, doch ich sehe, wie übermüdet Laila ist. Dennoch war ihr musikalischer Vortrag ein Genuss, nicht wahr?“

„Ja, in der Tat“, gab der Hausherr zu.

„Darf Quella also heute Nacht bei mir bleiben?“ fragte Melina nochmals.

„Also schön“, meinte Lucius, wieder besänftigt. „Philine wird ein wenig später auch zu euch kommen. Ich muss noch etwas mit ihr besprechen. Und nun schlaf gut, mein Honigmädchen. Ich wünsche dir angenehme Träume.“

Er küsste sie zärtlich auf den Mund, strich ihr noch einmal übers Haar und verließ dann den Raum. Melina schaute ihm lächelnd nach und fühlte sich überaus wohl. Doch dann kehrte der Gedanke, den sie bis jetzt erfolgreich beiseite geschoben hatte, mit aller Macht wieder in ihr Bewusstsein zurück: Sie musste einen Sohn gebären! Alle einschließlich Lucius erwarteten dies von ihr. Aber was, wenn sie diese Erwartung nicht erfüllte?

Dieser Gedanke machte ihr das Herz schwer. Sie musste mit einer vertrauenswürdigen Person darüber sprechen, und Quelle schien ihr hierfür die Richtige zu sein.

Wenige Minuten später betrat die alte Amme auch schon Melinas Zimmer und wurde von ihrer jungen Herrin stürmisch umarmt.

„Ach, Quella, ich hatte solche Sehnsucht nach dir“, seufzte sie. „Aller sagen zwar, dass ich schon eine erwachsene Frau bin, aber dennoch bedarf ich manchmal meiner lieben Amme.“

„Ihr habt etwas auf dem Herzen, mein Lämmchen“, meinte die Alte besorgt und schaute ihren früheren Zögling eindringlich an. „Und natürlich könnt Ihr mir jederzeit Eure Sorgen anvertrauen, Herrin. Ich hoffe nur, dass ich Euch helfen kann.“

„Vielleicht mit einem Rat“, mutmaßte die junge Griechin und ließ sich jetzt auf einen Schemel sinken. „Während du mir beim Auskleiden hilfst, erzähle ich dir meinen Kummer.“

 

Inzwischen hatte Lucius Philine in sein Arbeitszimmer rufen lassen und ihr aufgetragen, diese Nacht zusammen mit Quella an der Seite seiner Geliebten zu wachen.

„Erlaubt Ihr mir die Frage, Herr, weshalb Ihr Eure Frau von der alte Amme behüten lasst? War es nicht Euer Wunsch, dass sich Quella nur um Eure Tochter kümmern soll?“

„Das ist richtig! Aber da Melina selbst den Wunsch hegte, ihre alte Kinderfrau bei sich zu haben, wollte ich es ihr nicht abschlagen. Ich möchte, dass sich meine junge Frau wohl fühlt. Gleichwohl misstraue ich der Alten. Ein unbedachtes Wort von ihr könnte Melina aufregen. Deshalb wirst du zusammen mit Quella am Bett meiner Frau wachen, um darauf zu achten, dass nichts gesagt oder getan wird, was die Kleine aufregt. Kann ich mich auf dich verlassen?!“

„Natürlich, Herr!“

„Und noch etwas: Die ägyptische Leibsklavin meiner Frau müsste daran erinnert werden, nicht allzu freimütig in Gegenwart ihrer Herrschaften ihre Meinung zu äußern. Du weißt, wie zuwider mir vorlaute Sklaven sind. Sprich deswegen doch einmal mit ihr.“

„Hat sie denn etwas Schlimmes gesagt, Herr?“ fragte Philine erschrocken.

„Nein, schlimm fand ich es nicht, nur vorlaut. Mach ihr einfach unmissverständlich klar, dass sie ihre Meinung nicht einfach ungefragt äußern darf“, erwiderte Lucius. „Ansonsten bin ich zufrieden mit dieser Sklavin. Ich denke, es reicht, wenn du sie nur streng ermahnst. Und jetzt darfst du gehen, Philine. Pass gut auf meinen Liebling auf! Wir sehen uns dann morgen!“

„Gute Nacht, Herr!“

 

Mittlerweile hatte Melina, inzwischen in ihrem Nachtgewand im Bett sitzend, ihrer alten Amme ihren Kummer darüber anvertraut, Lucius zu enttäuschen, wenn sie ihm keinen männlichen Nachkommen schenkte. Sie erzählte ihr, dass er während der heutigen Cena von  ‚seinem‘  Kind und dem  ‚Junior‘  gesprochen habe und fragte sie unsicher, ob das denn nicht deutlich verriete, wie sehr Lucius sich einen Sohn wünsche.

„Aber, mein Lämmchen, das war sicherlich nur gedankenlos dahingesagt“, versuchte Quella die junge Frau zu trösten und schloss sie in ihre Arme, in denen sie sie langsam wiegte und leise ein griechisches Wiegenlied summte, um Melina zu beruhigen. Sie brachte es einfach nicht über sich, dem Mädchen zu sagen, dass das Verhalten des Lucius Marcellus nur ihre schlechte Meinung über diesen bestätigte. Er war und blieb ein rüpelhafter Barbar!

In diesem Augenblick klopfte es sachte an die Tür und gleich darauf steckte Philine ihren Kopf hinein.

„Darf ich eintreten, Herrin?“ fragte die griechische Sklavin leise.

„Aber ja, kommt nur herein“, forderte Melina sie freundlich auf.

Philine ließ sich dies nicht zweimal sagen und näherte sich mit besorgter Miene der jungen Frau, die immer noch, den Kopf auf Quellas Schulter, in den Armen ihrer Amme lag.

„Ist Euch unwohl, Herrin?“ fragte die griechische Sklavin. „Soll ich den Medicus holen?“

„Nein, nein, ich musste nur mit einem lieben Menschen über eine Sache reden, die mich plagt“, erklärte Melina. „Was würde ich nur ohne meine gute Quella machen?“

„Ja, ich glaube auch, dass die Fürsorge Eurer Amme wohltuend für Euer Gemüt ist, Herrin“, bekräftigte Philine in freundlichem Ton, setzte sich nun auf den Stuhl gegenüber Quella, welche auf dem Bettrand saß, und wandte sich erneut an Melina. „Was ist das denn für eine Sache, die Euch solchen Kummer bereitet, Herrin?“

Die Alte warf der griechischen Sklavin einen bösen Blick zu und entgegnete äußerst giftig: „Was geht das Euch an? Meine Herrin hat sich mir anvertraut! Eure Ratschläge sind hier unerwünscht!“

„Aber, Quella!“ entfuhr es Melina entsetzt. Sie löste sich aus den Armen der Alten und starrte sie fassungslos an. „Philine hat es sicher nur gut gemeint, als sie eben ihre Hilfe anbot.“

Dann wandte sich die junge Frau in entschuldigendem Ton an die griechische Sklavin: „Verzeiht Quella bitte ihre Verhaltensweise. Sie tut dies nur, weil sie meint, mich beschützen zu müssen. Eigentlich ist es meine Schuld, Philine. Ich hätte Quella einfach nicht mit meinem Kummer belasten dürfen, aber ich bin so daran gewöhnt, mit allem, was mich bedrückt, zu ihr zu kommen.“

Melina schaute jetzt wieder zu ihrer alten Amme und fuhr fort: „Bitte, entschuldige, Quella! Ich hätte wissen müssen, dass dich mein Kummer aufregt.“

„Nicht doch, mein Lämmchen“, murmelte die Alte sanft. „Es war ganz richtig, dass Ihr Euch mir anvertraut habt.“

„Nun, die Sache scheint doch nicht ganz aus der Welt zu sein“, mutmaßte Philine. „Vielleicht kann ich dazu beitragen, Euren Kummer zu lindern, Herrin, wenn Ihr mir davon erzählen wollt? Womöglich hat es etwas mit den römischen Sitten zu tun, die Euch noch fremd sind.“

„Dann sagt mir, Philine, ist es normal, dass alle Welt sich immer nur ein männliches Kind wünscht?“ fragte Melina neugierig.

„Bei einer Erstgeburt? Aber natürlich! Männliche Nachkommen tragen den Namen der Familie weiter, während Töchter später ihre Familie verlassen, um zu heiraten und deshalb mit einer guten Mitgift ausgestattet werden müssen – zumindest ist dies bei den wohlhabenden Familien in Rom üblich…“

„Aber mein Mann sagte mir, dass eine Tochter ebenso willkommen sei wie ein Sohn. Auch heute sagte er mir das, als unsere Gäste uns einen gesunden Sohn wünschten. Später allerdings sprach er von seinem Junior. Ich muss gestehen, Philine, dass mir das sehr zu schaffen macht…“

„Ihr solltet Euch einfach nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen“, schlug die griechische Sklavin vor. „Der Herr freut sich auf das Kind und ihm wird es willkommen sein, so lange es nur gesund ist.“

„Aber alle sagen…“

„Hört nicht darauf, was andere sagen, sondern was Euer Mann Euch versprach“, unterbrach Philine das junge Mädchen, das wieder traurig wirkte. „Glaubt mir, Herrin, Euer Kind ist in der Familie Marcellus höchst willkommen!“

Quellas Miene war zu entnehmen, dass sie von der Behauptung ihrer Landsmännin nicht überzeugt war. Aber sie schwieg. Melina jedoch schien wieder heiterer zu werden. Sie lächelte nun und ließ sich seufzend auf ihr Kissen sinken.

„Ihr seid in der Familie Marcellus wirklich willkommen“, sagte Philine noch einmal eindringlich zu der jungen Frau. „Nicht nur, dass der Patron Euch liebt und um Euer Wohlergehen besorgt ist. Nein, auch Divia liebt Euch – und Ihr habt sogar die Sympathie des überaus kritischen Appius gewonnen, der Euch sehr gewogen ist. Aus diesem Grund werden alle Kinder, die Ihr unserem Herrn schenkt, mit offenen Armen in dieser Familie aufgenommen.“

„Glaubt Ihr das wirklich, Philine?“

Die Angesprochene beugte sich ein wenig näher zu Melina, legte einen Arm auf deren Hand und tätschelte sie, wobei sie murmelte: „Ihr wisst, dass es die Wahrheit ist, Herrin. Und jetzt solltet Ihr Euch beruhigt in Morpheus‘ Arme sinken lassen. Vielleicht träumt Ihr heute etwas Schönes. Gute Nacht, Herrin.“

„Gute Nacht, Philine! – Gute Nacht, Quella! – Ich danke euch beiden!“

Während sich die junge Frau nun ein wenig auf die Seite drehte und die Decke näher an ihren Körper zog, erhob sich Quella und setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe des Bettes. Von dort wollte sie ein wachsames Auge auf Melina haben. Sie hielt sich tatsächlich eine längere Zeit wach, bevor der Schlaf auch die alte Frau übermannte und sie schließlich einnicken ließ. Philine betrachtete Quella mit nachsichtigem Lächeln. Die Alte sollte sich ruhig ausruhen. Sie hatte in ihrem Leben genug gearbeitet…

Als Megara erwachte, wunderte sie sich über die Hitze im Zelt und darüber, dass es anscheinend schon weit nach Sonnenaufgang war. Erstaunt warf sie einen Blick auf Sorex, der neben ihr schlief. Merkwürdig! Seit sie unterwegs waren, wurden sie immer kurz vor Sonnenaufgang geweckt und brachen auch bald danach auf, so lange es noch nicht allzu heiß war. Warum lagen sie jetzt also noch hier herum?

„Sorex“, wandte sich Megara an ihren Liebhaber und rüttelte ihn ein wenig.

„Hm?“ der alte Römer blinzelte, schaute sie an und dann war er plötzlich mit einem Schlage wach. Irritiert blickte er um sich. „Bei Jupiter! Weshalb hat uns niemand geweckt?“

Er erhob sich rasch von seinem Lager und ging aus dem Zelt. Kein Mensch war zu sehen.

„Was soll das bedeuten?!“ schimpfte er laut. „Serpa-Thot! Verdammt! Gib Antwort!“

Nichts!

„Was ist los, Herr?“ meldete sich nun mit verschlafener Stimme einer der germanischen Sklaven, die im anderen Zelt geschlafen hatten, und steckte seinen Kopf aus dem Zelteingang heraus.

„Das würde ich auch gerne wissen!“ gab Sorex ärgerlich zurück. „Los! Steh auf!“

„Ja, Herr!“

Der Germane verschwand wieder im Zelt und schien seinen Kameraden zu wecken. Wenige Augenblicke später traten die beiden kräftigen Männer dann zu Sorex heraus, der sich mittlerweile weiterhin irritiert umgeschaut hatte.

„Habt ihr etwa die ganze Nacht durchgeschlafen?“ wandte er sich dann an die Sklaven.

„Ja, Herr!“

„Weshalb hat keiner von euch Serpa-Thot abgelöst?“

„Niemand weckte uns, Herr!“

Megara kam jetzt auch aus ihrem Zelt nach draußen und fragte: „Was ist los, Sorex?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete er ihr und schüttelte den Kopf. Dann blickte er wieder zu den Germanen. „Wir sollten Serpa-Thot und den Reiseführer suchen. Ich will endlich wissen, warum keiner der beiden uns geweckt hat!“

„Vielleicht hatten sie einen Streit?“ mutmaßte Megara. „Es war unübersehbar, dass Serpa-Thot den Kontakt zu unserem Führer mied und ihn nicht besonders mochte.“

„Das werden wir sicherlich erfahren, wenn wir sie finden“, knurrte der alte Römer missmutig. „Also, machen wir uns auf die Suche!“

Die Griechin warf einen Blick auf die Kamele, die friedlich an der Stelle kauerten, wo man sie gestern Abend angeleint hatte. Das Gepäck mit den Vorräten befand sich im Zelt, in dem Sorex und sie geschlafen hatten.

„Mich wundert ihr Verschwinden“, meinte Megara besorgt. „Sie können sich nur innerhalb dieser Oase befinden, denn ich glaube nicht, dass sie allein in die Wüste hinaus sind… ohne Wasser, ohne Vorräte… Es ist viel zu gefährlich! Vielleicht ist etwas passiert?“

„Kann schon sein“, räumte Sorex ein. Er nahm ihre Hand und wandte sich dann wieder den Sklaven zu. „Wir sollten immer zu zweit gehen. Wer etwas findet, schreit so laut er kann!“

„Gut, Herr!“ erwiderten die Germanen und gingen dann in die Richtung, die der Alte ihnen wies, während er sich mit Megara in die andere Richtung aufmachte. Langsam gingen sie am Rand der Oase entlang, die Gegend aufmerksam mit den Augen absuchend.

Schließlich sah Megara von weitem einen Mann am Fuße einer großen Palme liegen und stieß den Römer mit ihrem spitzen Ellenbogen in die Seite.

„Schau, Sorex“, sagte sie. „Das Gewand… es könnte unser Reiseführer sein…“

Der Angesprochene sah in die Richtung, in die die Griechin deutete, und näherte sich gemeinsam mit ihr dem unter der Palme bäuchlings Liegenden, der sich nicht regte.

„He da!“ rief Sorex den Mann an. Als dieser auf den Zuruf nicht reagierte, ging er in die Hocke und drehte ihn um. Megara stieß daraufhin einen lauten, spitzen Schrei aus, denn das Gesicht des am Boden Liegenden, bei dem es sich tatsächlich um ihren Reiseleiter handelte, war mit blutverkrusteten, tiefen Wunden übersät. Desgleichen sein Oberkörper, der in der Mitte einen längsseitigen Schnitt aufwies, als ob jemand versucht hätte, den Mann mit einem Schwert in zwei Teile zu zerschneiden. Ihr Führer war eindeutig tot.

Mit aufgerissenen Augen wich Sorex vor dem Leichnam zurück, dessen starrer Blick ihn schaudern ließ. Als Soldat hatte er zwar schon manchen Toten gesehen, aber noch nie einen, der dermaßen massakriert worden war. Am meisten irritierte ihn dabei, dass die Leiche blutleer zu sein schien. Müsste nicht aufgrund der vielen tiefen Kratzwunden, die gewiss von einer großen Raubkatze stammten, Körper und Kleidung des Toten mit Blutspuren übersät sein? Und wäre nicht zu erwarten gewesen, ihn in einer Lache seines eigenen Blutes liegend vorzufinden? Konnte der rote Lebenssaft tatsächlich so schnell in die Erde versickert sein? Und dennoch müssten Spuren davon zu sehen sein…

Die beiden germanischen Sklaven, durch Megaras Schrei herbeigerufen, standen nun neben der Griechin und blickten ebenso fassungslos wie Sorex auf den toten Reiseführer herab. Schließlich wagte einer von ihnen zu fragen: „Was ist das für ein Zeichen, das über dem Toten in den Erdboden eingeritzt wurde?“

Alle blickten nun auf die genannte Stelle und Sorex meinte: „Dieses Symbol ist mir oft begegnet, als ich mich mit alten ägyptischen Texten befasst habe. Es nennt sich das ‚Auge des Ra‘. Allerdings ist mir ein Rätsel, was das mit dem Tod unseres Reiseführers zu tun hat.“

„Glaubt Ihr, das wilde Tier, das ihn tötete, treibt sich noch hier in der Nähe herum, Herr?“ fragte einer der Germanen und schaute sich misstrauisch nach allen Seiten um, was ihm die anderen sofort gleichtaten. Und dann sprach der Sklave die Vermutung aus, die wohl alle hatten: „Serpa-Thot ist gewiss auch ein Opfer der Bestie geworden.“

„Du hast sicherlich recht“, gab Sorex zu und senkte den Blick. Ihm tat es um den treuen, kleinen Ägypter leid, der ihm viele Jahre gute Dienste geleistet hatte. „Habt ihr seinen Leichnam irgendwo gesehen?“

„Nein, Herr!“

„Nun, vielleicht finden wir ihn noch…“

„Wollen wir wirklich unsere Zeit damit verschwenden, einen Toten zu suchen?“ warf Megara, die am ganzen Leib zu zittern begonnen hatte, nun ein. „Wir können für ihn genauso wenig tun wie für den Toten zu unseren Füßen. Wäre es nicht klüger, Sorex, wenn wir uns auf den Weg in die nächste Stadt machten, so wie Serpa-Thot es vor kurzem erst vorschlug?“

„Ich weiß nicht… wir sind fremd hier und es ist für uns gewiss ziemlich gefährlich, in die Wüste zu ziehen“, meinte der alte Römer, dem plötzlich klar wurde, wie verloren sie alle hier ohne den ägyptischen Führer waren.

„Was sollen wir sonst tun? Wir können doch nicht einfach hierbleiben“, entgegnete Megara ängstlich. „Sollen wir abwarten, bis die Bestie, die zwei unserer Begleiter zerriss, zurückkommt, um auch uns das Leben zu rauben?“

„Eure Gefährtin hat recht“, wagte einer der Germanen zu sagen.

Sorex schaute seine zwei Sklaven und die Griechin nachdenklich an, dann nickte er.

„Nun gut, ich sehe ein, dass wir nicht einfach hier verharren können, zumal unsere Vorräte nicht ewig reichen“, erklärte der Alte. „Aber ohne einen Führer, der sich in der Wüste auskennt, werden wir die nächste Stadt vermutlich nicht finden. Deshalb halte ich es für das Beste, wenn wir einfach auf der vorgesehenen Route weiterziehen.“

„Aber, Sorex! Ist das nicht Wahnsinn?!“ protestierte die Griechin.

„Unsinn, Schatz! Der Führer verriet mir gestern Abend, dass wir schon ganz nah an unserem Ziel wären. Wenn wir nur weiter vorwärts gehen, gelangen wir bestimmt dorthin“, sagte der Angesprochene in beruhigendem Ton. Dann wandte er sich an die beiden Sklaven und befahl: „Brecht die Zelte ab und macht alles für unsere Weiterreise fertig!“

„Und was ist mit dem Toten, der hier liegt, Herr? Sollten wir ihn nicht wenigstens beerdigen?“

„Das kostet uns nur wertvolle Zeit, die wir nicht haben! Lassen wir ihn also hier liegen.“

„Aber, Herr! Das ist nicht recht!“ wandte der Germane ein. „Wir sollten…“

„Schluss damit!“ fuhr Sorex den Sklaven in ärgerlichem Ton an.

„Aber, Herr, wie soll der Verstorbene jemals Ruhe finden?“ brachte nun der andere Germane vor. „Fürchtet Ihr Euch denn nicht vor der Rache des Toten?“

„Die Glut der Sonne wird diesen Körper mit der Zeit mumifizieren“, erklärte der Römer ungeduldig. „Und nun will ich nichts mehr darüber hören! Führt meine Befehle aus, damit wir endlich weiterreisen können!“

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Als Serpa-Thot aus tiefem Schlaf erwachte, fand er sich in einem sauberen Bett wieder, das in einem kleinen, hellen Zimmer stand. Verwundert rieb er sich die Augen und fragte sich, wie er hierher kam. Er erinnerte sich nur daran, wie müde er gestern Nacht vor dem Zelt gewesen war. Sicherlich hatte ihn der Schlaf übermannt und ihm einen seltsamen, aber hoffnungsvollen Traum beschert: Ein wunderschönes Sternenmädchen rettete ihn vor dem dämonischen Reiseführer und vielen Schlangen, die ihm nach dem Leben trachteten…

Am Ende schien Herr Sorex doch zur Vernunft gekommen zu sein, hatte die nächste Stadt aufgesucht und sich in dieser ordentlichen Herberge einquartiert. Wie freundlich es von ihm gewesen war, ihn einfach weiterschlafen zu lassen. Gewiss hatte einer der germanischen Sklaven ihn in diesen kleinen Raum gebracht.

Serpa-Thot erinnerte sich auch noch deutlich jener Worte, die der Führer seinem Herrn an den Kopf geworfen hatte: Wenn Sorex die nächste Stadt aufsuchte, würde er sie verlassen.

Das bedeutete, dass sie endlich den Dämon, der sich als Reiseführer aufgespielt hatte, los waren. Vielleicht war es Herr Sorex nun endlich leid, weiterhin nach dem verfluchten Ort zu suchen.

Voller Hoffnung im Herzen erhob sich der kleine Ägypter und bemerkte erst jetzt, dass er ein neues, frisches Gewand trug, welches leicht parfümiert war. Er betastete sich erstaunt, dann griff er an seinen Hals und fühlte, dass das Band mit der Sklavenmarke sich nicht mehr dort befand. Sollte Sorex ihn etwa freigelassen haben? Was war nur los?

Serpa-Thots Blick fiel auf den kleinen Tisch neben seinem Bett, wo sich eine Papyrusrolle, eine gefalteter Brief aus Pergament und eine kleine Glocke befanden. Neugierig griff er zuerst nach der Rolle und zog sie auseinander:

 

„Lieber Serpa-Thot,

nach all den Jahren in der Knechtschaft bist du nun ein freier Mann. Neben dieser Nachricht befindet sich der Freibrief des Sorex Nigellus für dich. Bitte wundere dich nicht darüber, sondern nimm es einfach hin und genieße deine Freiheit.

Ich rate dir, in deine Heimatstadt zurückzukehren. Deine alte Mutter sowie deine Schwester leben noch dort und freuen sich bestimmt, dich wiederzusehen. Vor allem, da du nun über genügend Geld verfügst, damit ihr drei ein sorgenfreies Leben für den Rest eurer Tage führen könnt.

Ich habe mir erlaubt, dir einen Diener zu besorgen, der diese Nacht vor deiner Tür gewacht hat. Er ist vertrauenswürdig und treu, allerdings stumm. Sein Name ist Isidor, da er die große Göttin Isis, die Mutter des Allerhöchsten, überaus verehrt. In seiner Gegenwart wird das Böse dich nicht mehr heimsuchen, so dass allein die Anwesenheit des treuen Dieners dir und deiner Familie Schutz gewährt.

Isidor wird dich wohlbehalten in deine Heimatstadt bringen, wird dein Geld behüten und verwalten und alles tun, worum du ihn bittest.

All dies ist die Belohnung für deine Treue zu den gütigen Göttern Ägyptens und für deinen selbstlosen Versuch, den Römer Sorex Nigellus und seine Gefährtin Megara von ihrem unheilvollen Plan abzubringen, um damit sie und alle anderen Menschen zu retten.

Bitte, sei versichert, lieber Serpa-Thot, dass die beiden die Welt nicht ins Chaos stürzen können. Dazu bedarf es göttlicher Kräfte, über die weder ein Mensch noch ein Dämon verfügt. Und wisse, dass der überaus bedauernswerte Seth, der seit Jahrhunderten darüber klagt, von der göttlichen Familie verstoßen worden zu sein, nicht mehr über die Kräfte verfügt, um ein Chaos herbeiführen zu können.

Fürchte dich nicht, Serpa-Thot. Die dunkle Seite wird dich nie mehr behelligen. Wisse, dass du ein von den Göttern gesegneter Mann bist und von jetzt an bis an dein Lebensende ihren besonderen Schutz genießt.

Im Namen von Isis, Osiris, Horus-Ra und all ihren gütigen Geschwistern sende ich dir ein gesegnetes Lebewohl.

Nuria“

 

Ungläubig starrte Serpa-Thot auf dieses Schreiben. Konnte es wirklich wahr sein, was dort stand? Der Angriff des dämonischen Reiseleiters, seine Verwandlungen, sein Kampf mit der großen Katze waren kein Traum, sondern Realität gewesen? Nuria, das Sternenmädchen, existierte?

Irritiert blickte der kleine Ägypter wieder auf den Nachttisch, ergriff nun den Brief und faltete ihn auseinander. Tatsächlich stand dort in der gut leserlichen Handschrift des Sorex Nigellus, dass er ihn in die Freiheit entließ und ihm überdies zum Dank für seine jahrelangen, treuen Dienste eine Truhe voll Gold schenkte.

„Nein, nein!“ entfuhr es Serpa-Thot und er schüttelte den Kopf. Bei all dem musste es sich um einen Irrtum handeln. Sorex war zwar wohlhabend, hatte ihm auch die Freiheit versprochen, aber er wäre viel zu geizig, um irgendjemandem so viel Gold zu überlassen. Außerdem hatte er gar nicht so viel materielle Mittel auf die Reise mitgenommen…

Wie in Trance nahm Serpa-Thot nun die kleine Glocke und schüttelte sie. Die Tür seines Zimmers wurde geöffnet und herein kam ein älterer Mann mit schulterlangem, weißem Haar und gütigen, blauen Augen, die ihn aufmerksam anblickten.

„Seid… seid Ihr… Isidor?“ fragte der schmächtige Ägypter zögerlich.

Der Weißhaarige nickte langsam und lächelte ihn freundlich an. Serpa-Thot spürte, welch wohltuende Wirkung von dem stummen Diener ausging. Sein Herz erfüllte sich sofort mit innerem Frieden. Genau so war es gestern Nacht in Gegenwart von Nuria gewesen Am Ende war vielleicht auch Isidor…?

Ach, es spielte letztendlich keine Rolle, was dieser Diener war. Allein dessen Gegenwart besagte, dass sein Erlebnis mit Nuria kein Traum gewesen war. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass er nun ein freier Ägypter war, über ein gewisses Vermögen, einen treuen Diener und den Schutz der Götter verfügte. Er war ein gesegneter Mann und er würde seine Mutter und seine Schwester wiedersehen… Oh, gepriesen seien die Götter Ägyptens!

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Als Melina an diesem Morgen erwachte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft wohl. Selbst, als sie sich im Bett aufsetzte, befiel sie keinerlei Übelkeit.

„Nun, Herrin, wie fühlt Ihr Euch?“ fragte Philine.

„Danke, ausgezeichnet“, antwortete die junge Frau und lächelte. Dann blickte sie auf ihre alte Amme, die immer noch friedlich in ihrem Stuhl schlummerte. Sie wandte sich wieder der griechischen Sklavin zu und flüsterte: „Wir sollten Quella noch ein wenig ruhen lassen. Wärt Ihr wohl so gut, mir beim Ankleiden zu helfen?“

„Aber natürlich, Herrin.“

Vorsichtig stieg Melina aus dem Bett, zog sich das Nachtgewand aus und ließ sich von Philine in ihre Kleider helfen. Dann gingen die beiden aus dem Raum und hinunter in das Esszimmer, in dem sich noch Lucius befand. Er war überrascht, seine Geliebte zu sehen.

„Nanu, so früh schon wach?“ fragte er verwundert.

„Ja, Liebster“, antwortete die junge Griechin, ging auf ihn zu, umarmte und küsste ihn, bevor sie sich neben ihn niederließ. Während Philine sich nun diskret entfernte, schmiegte Melina sich an ihren Mann und schaute ihn mit kokettem Lächeln an. „Möchtest du mich nicht wieder füttern, Lucius? Ich habe großen Hunger!“

Er lachte, nahm ein kleines Stück Brot, tat etwas von dem Käse drauf und schob es dann in den geöffneten Mund seiner Geliebten, die es genüsslich kaute.

„Dir scheint es wieder besser zu gehen, Melina“, meinte er dann. „Als ich dich gestern Nacht verließ, kamst du mir ein wenig traurig vor.“

„Ach, ich war nur müde, Liebster“, tat sie es ab und streichelte seinen Arm. Dann nahm sie sich selbst ein neues Stückchen Brot mit Käse und aß es.

„Vielleicht hätte ich doch noch ein wenig damit warten sollen, ehe ich zu einer Cena einlud“, sagte Lucius, der sie aufmerksam beobachtete und ihr dann zärtlich mit den Fingern durch das Haar fuhr. „Es war bestimmt anstrengend für dich, Honigmädchen.“

„Nicht doch, Lucius! Du wolltest deine Freunde wiedersehen und ich bin gerne mit Silvia Valeriana zusammen. Außerdem glaube ich, dass es Divia gut tat, mit Mädchen ihres Alters zusammen zu sein. Es war alles in Ordnung, Liebster.“

„Wirklich?“ fragte er zweifelnd und sah sie wieder eindringlich an. Als sie nickte, fuhr er in leisem Ton fort: „Du musst dir aber keine Gedanken darüber machen, was meine Freunde gestern sagten, als sie uns zuprosteten. Du weißt, dass es mein größter Wunsch ist, dass du glücklich bist und dass unser Kind gesund zur Welt kommt… ich liebe dich, Melina…“

„Ich liebe dich auch, Lucius“, hauchte sie und strahlte ihn an. Dann küsste sie ihn erneut und flüsterte: „Danke!“

Er ergriff ihre Hand und drückte sie.

„Hast du einen Wunsch, Melina, den ich dir erfüllen kann?“

„Ich würde Leandros gern wiedersehen. Meinst du, es ließe sich in den nächsten Tagen einrichten?“

„Bestimmt!“ versprach er ihr. „Ich werde es nachher mit Flavius besprechen.“

„Und wenn du nichts dagegen hast, würde ich mir gern einen kleinen Hausaltar in meinem Gemach einrichten, um Apollo zu verehren“, sagte sie dann zaghaft und blickte ihn unsicher an.

„Ich habe nichts dagegen“, erwiderte er lächelnd. „Aber es ist eigentlich unnötig, denn Apoll gehört zu den Göttern, die ohnehin in meinem Haus verehrt werden.“

„Nun ja, ich weiß“, gab sie zu. „Doch wir beten alle gemeinsam zu diesen Göttern, was ja auch richtig ist. Dennoch macht es einen Unterschied, wenn man alleine betet – und Apollo ist nun einmal der Gott, den ich am meisten verehre.“

„Melina, ich respektiere deinen Glauben“, entgegnete er. „Tue, was du für richtig hältst.“

„Darf ich einmal in den nächsten Tagen mit Philine den Tempel des Apollo aufsuchen?“ fragte sie.

„Selbstverständlich, Liebling! Ihr könntet auch heute gehen!“

„Das würde ich sehr gerne tun, aber Philine hat die ganze Nacht an meinem Bett gewacht und ist jetzt vermutlich viel zu müde dazu. Während sie sich heute ausruht, kann ich ja mal allein mit dem Gesinde besprechen, was es alles hier im Hause zu tun gibt. Schließlich muss ich mich daran gewöhnen, die Hausherrin zu sein – oder?“

„Das ist wahr! Aber bevor du dich in diese neue Aufgabe stürzt und ich in die Kaserne muss, lass uns in Ruhe zusammen frühstücken und dann ein bisschen im Garten spazieren gehen. Da wir beide so früh aufgestanden und jetzt endlich wieder einmal miteinander allein sind, sollten wir unser Zusammensein genießen…“

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Als Divia eine Stunde später das Gemach von Melina aufsuchte, fand sie darin nur die immer noch schlafende Quella vor. Melina schien schon aufgestanden zu sein.

Das Mädchen trat an die Alte heran und begann vorsichtig, diese an der Schulter zu rütteln.

„He, Quella! Guten Morgen! Es ist Zeit aufzustehen!“ sagte Divia, während sie die Sklavin zu wecken versuchte.

„Hm?“ kam es verschlafen aus Quellas Mund und sie hatte Mühe, die Augen aufzuschlagen.

„Wie kannst du nur auf einem Stuhl schlafen?“ wunderte sich das Mädchen und schüttelte verständnislos den Kopf. „Ist dir das denn nicht zu unbequem?“

„Ah…“, stöhnte die Alte und rieb sich die Augen. Dann erst schien sie ihre Umgebung wahrzunehmen. „Divia? Du bist schon wach und angezogen?“

„Natürlich! Melina scheint auch bereits aufgestanden zu sein“, entgegnete das Kind.

„Was?!“ entfuhr es Quella und sie schaute nun auf das Bett vor sich, in dem sich außer dem abgestreiften Nachtgewand ihrer jungen Herrin nichts Weiteres befand. „Wie…? Also, ich habe nichts gehört…“

„Ja, offensichtlich“, kicherte Divia. „Vermutlich hat sie dich nicht wachbekommen. Auch ich hatte die größte Mühe eben damit. Du scheinst ziemlich viel Schlaf nachholen zu müssen, wenn du schon auf einem Stuhl einschläfst. Bin ich denn so anstrengend?“

Am liebsten hätte Quella diese Frage bejaht, aber es war zu gefährlich, denn Divia war unberechenbar. Womöglich erzählte sie es ihrem Vater und man wusste nicht, wie er auf eine derartige Antwort reagierte.

„Ach, Kind, ich bin eine alte Frau und kann nicht mehr so, wie ich es gern möchte“, sagte sie stattdessen und erhob sich langsam vom Stuhl. Dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst. „Also, dass ich nicht einmal gehört habe, wie Melina aufgestanden und sich angezogen hat… so etwas ist mir noch nie passiert! Ich bin immer wach geworden, wenn meine kleine Herrin erwachte…“

„Ist doch halb so schlimm, Quella“, meinte Divia in tröstendem Ton. „Vielleicht solltest du dich nicht mehr so viel um mich kümmern, sondern mir einfach nur noch Gesellschaft leisten. Ich werde Melina bitten, dass Sidori mir zukünftig als persönliche Leibsklavin zur Verfügung steht. Sie hat sicher nichts dagegen.“

„Nicht doch, Divia“, entfuhr es Quella ängstlich. „Dein Vater betraute mich damit, mich um dich zu kümmern, während Sidori eigentlich Melina dienen soll. Es hat sich zwar nun ein wenig anders entwickelt, aber er hat sicherlich etwas dagegen, dass ich nicht mehr als deine Kinderfrau tätig bin. Darum bitte ich dich, Kind, sprich kein Wort davon, dass ich nur noch als deine Gesellschafterin tätig sein soll. Dein Vater wird sonst sicherlich ärgerlich auf mich.“

„Er braucht doch nichts davon zu wissen“, entgegnete das Mädchen. „Ich spreche nur mit Melina darüber…“

„Nein, bitte…!“

„Ach, Quella, Meli weiß doch sowieso, dass du eingeschlafen bist. Sie hat dich weiterschlafen lassen, was bedeutet, dass sie nichts dagegen hat, wenn du etwas weniger arbeitest. Papa kümmert sich doch nicht um solche Dinge…“

„Bitte, Divia, sag nichts! Auch nicht zu Melina. Ich weiß zwar, dass sie deinem Vorschlag sicherlich zustimmen würde, aber ich bin überzeugt, dass es deinem Vater nicht recht sein wird… und sobald er merkt, dass Sidori dir als persönliche Bedienstete zur Verfügung steht, wird er den Grund dafür erfahren wollen – aber vor allem interessiert ihn dann bestimmt, warum ich nicht in der Lage bin, meiner Pflicht nachzukommen. Vielleicht wird er mich bestrafen…“

„Ach nein, Quella, das glaube ich nicht.“

„Bitte, Divia, ich flehe dich an, Melina nicht darum zu bitten, Sidori zu deiner persönlichen Sklavin zu machen.“

„Also schön“, seufzte Divia und schüttelte den Kopf. „Ich glaube zwar, dass deine Ängste unbegründet sind, aber wenn du mich so eindringlich darum bittest, werde ich vorerst darauf verzichten, Meli um Sidori als Leibsklavin zu bitten und…“

Das römische Mädchen hielt in seiner Rede inne und starrte die alte Amme nachdenklich an. Ihr fiel wieder ein, was Philine ihrem Onkel über Liuba berichtet hatte und wie daraufhin Onkel Appius der griechischen Sklavin unter Androhung der Denunziation verboten hatte, einem Menschen etwas über ihre frühere Spielgefährtin zu verraten. Man konnte also davon ausgehen, dass Philine niemandem erzählte, dass Liuba noch lebte und sich im Hause dieser Sabina Veneria befand… in einem Bordell…

Divia  wusste immer noch nicht, um was es sich bei diesem Bordell handelte. Onkel Appius sprach zwar von einem Lusthaus, aber auch darunter konnte sie sich nichts Rechtes vorstellen. Es schien sich um etwas Schlimmes zu handeln, wenn ihr Onkel nicht bereit war, Liuba zurückzukaufen. Leider konnte sie auch Melina nicht darum bitten, denn damit würde sie bestimmt Philine schaden. Nein, sie musste einen anderen Weg finden, um Liuba zu helfen. Oh, es wäre sicher wundervoll, wenn ihre frühere Sklavin als ihre persönliche Bedienstete an ihrer Seite zurückkehrte. Doch wer würde ihr helfen und dieses Mädchen für sie von dieser Sabina Veneria zurückkaufen…?

 

 

 

Als Lucius in der Kaserne eintraf, meldete ihm sein Schreiber, dass der Imperator alle Legaten heute Morgen zu sehen wünsche. Daher machte er sich gleich auf den Weg in den großen Saal, der sich in der Mitte des Gebäudes befand. Hier pflegte der Kaiser seine Besprechungen mit den Legaten abzuhalten, wenn es irgendwelche größeren Probleme gab.

Fast zeitgleich trafen die hohen Offiziere in dem Saal ein und warteten nun gespannt auf Vespasianus und auf das, was er ihnen zu sagen hatte.

Ungefähr eine Viertelstunde später betrat der Kaiser den Raum, schritt auf seinen Platz zu, setzte sich und gab den Legaten dann einen Wink, es ihm gleichzutun. Sobald das geschehen war, legte er ihnen in aller Ausführlichkeit dar, dass sich in mehreren gallischen Provinzen wieder einmal die Einheimischen zu einer Streitmacht miteinander verbunden und nun die römischen Besatzer angegriffen hatten.

„Selbstverständlich werden wir unseren stationierten Truppen zu Hilfe eilen“, sagte Vespasianus. „Da die gallischen Barbaren überaus widerspenstig sind, bedarf es bei dieser Operation einer besonders harten Vorgehensweise. Deshalb scheinen mir die Legaten Marcellus und Adranus die richtigen Männer hierfür zu sein. Gibt es dagegen Einwände?“

Doch niemand protestierte. Die Gallier waren bekannt dafür, einen schier unausrottbaren Widerstandsgeist zu besitzen, weshalb sie dem Imperium des Öfteren zu schaffen machten, so wie jetzt. Und obwohl die anderen Legaten weder Feiglinge waren noch mindere Verstandeskräfte besaßen, riss sich keiner darum, die Gallier wieder einmal niederzuwerfen. Sie waren froh, diese Aufgabe – wie schon so oft -  an Marcellus und Adranus abtreten zu können, und beschwerten sich auch nicht darüber, dass diese beiden Männer aufgrund dessen große Reichtümer anhäufen konnten und darüber hinaus die Hochachtung des Kaisers genossen.

Vespasianus blickte in die Runde, nickte dann und meinte: „Nachdem das geklärt ist, werde ich also Gaius Adranus und Lucius Marcellus mit ihren Armeen nach Gallien schicken.“

Er nickte den beiden Genannten zu und bat sie dazubleiben. Die anderen hingegen winkte er hinaus. Als er mit Adranus und Marcellus allein war, meinte er nur: „Ich überlasse Euch die Strategieplanung.“

„Das dürfte kein Problem sein“, meinte Gaius Adranus, warf einen Blick zu Lucius, der ihm mit leichtem Lächeln zunickte, und fragte: „Wann sollen wir aufbrechen, Imperator?“

„Übermorgen! Bis dahin habt Ihr all Eure Leute doch beisammen?“

„Selbstverständlich, Imperator!“ entgegnete Lucius in festem Ton. „Ihr könnt Euch auf uns verlassen. Legatus Adranus und ich kämpfen mit unseren Männern seit so vielen Jahren gemeinsam gegen die Gallier, dass man unsere beiden Armeen fast als eine große Einheit sehen kann, die unschlagbar ist. Und Ihr habt mein Wort darauf, Imperator, dass wir diese Barbaren erneut niederwerfen werden!“

„Gut gesprochen, Lucius!“ bestätigte Adranus und grinste.

„Ich bin davon überzeugt, dass Ihr siegreich heimkehren werdet!“ erwiderte Vespasianus. „Ich lege die Operation also in Eure Hände. Morgen werdet Ihr weitere Order erhalten.“

Der Kaiser wandte sich in freundlichem Ton an Adranus: „Ihr dürft jetzt gehen. Ich muss noch etwas Persönliches mit Legatus Marcellus besprechen.“

Adranus verneigte sich und verließ dann den Raum. Lucius hingegen starrte erstaunt auf Vespasianus. Dieser wandte sich ihm nun lächelnd zu und begann: „Ihr erinnert Euch sicher noch an unser Gespräch über Fabius Maiorus Graeccus, mein guter Marcellus, nicht wahr?“

„Natürlich, Imperator!“

„Nun, ich würde ihn gerne in den wohlverdienten Ruhestand schicken, wenn ich einen geeigneter Nachfolger für seinen Posten wüsste. Man sollte keinen Anfänger in einer so unruhigen Region wie Attika zum Statthalter machen.“

„Ich teile Eure Meinung, Imperator. Der Frieden ist im Moment nur erzwungen und wer weiß, wie lange er hält, wenn andere Männer die gerade herrschenden Vorsitzenden der Polis ablösen, deren Söhne wir in unserer Hand haben. Es bedarf eines Mannes, der nicht nur klug ist, sondern auch mit voller Härte durchgreift, wenn es sein muss!“

„Genau so sehe ich es auch“, stimmte Vespasianus ihm zu und schenkte Lucius ein breites Lächeln, bevor er in heiterem Ton fortfuhr: „Wie ich hörte, lebt Ihr mit der hübschen Tochter des alten Aigikoreus im Konkubinat zusammen?“

„Das ist richtig!“

„Ihr macht auf mich einen äußerst zufriedenen Eindruck, Marcellus! Offenbar tut Euch die Verbindung mit der vornehmen Griechin gut.“

Lucius nickte lächelnd und verneigte sich ein wenig.

„Nun, ich hoffe, das junge Mädchen schenkt Euch endlich den Sohn, den Ihr ersehnt“, sagte Vespasianus. „Frisches Blut macht das römische Volk noch stärker. Außerdem ist eine Verbindung, wie Ihr sie mit der jungen Griechin führt, doch ein sehr probates Mittel, um Frieden zwischen den Völkern zu stiften. Was könnte mehr Versöhnung zwischen Rom und Athen schaffen, als die Verbindung eines noblen Römers mit der Tochter eines griechischen Adligen, der zur führenden Oberschicht Athens gehört? Möglicherweise führt es dazu, die stolzen Athener zu echten Verbündeten des Imperiums zu machen, wie sie es früher einmal waren, anstatt sie zu einem Waffenstillstand zu zwingen, den sie sich nur widerwillig abpressen ließen. Auf diese Weise könnte Eure Verbindung mit der Tochter des alten Aigikoreus die Griechen endlich dazu bringen anzuerkennen, dass sie ein Teil des römischen Reiches sind…“

Der Kaiser hielt inne und warf Lucius einen eindringlichen Blick zu, den dieser erstaunt zur Kenntnis nahm. Er fragte sich insgeheim, was der Imperator ihm eigentlich mit diesen Ausführungen zu verstehen geben wollte. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

„Nun, mein guter Marcellus, ich bezweifle nicht, dass Ihr die Gallier wie üblich niederwerfen werdet“, fuhr Vespasianus gut gelaunt fort. „Ihr habt Rom schon viele gute Dienste geleistet. Was haltet Ihr davon, den Posten als Statthalter von Attika zu übernehmen, wenn Ihr aus Gallien zurück seid? Eure junge Gefährtin wäre gewiss entzückt darüber, in ihre Heimat zurückkehren zu können.“

Lucius sog scharf die Luft ein. Solch ein Angebot hatte er nicht erwartet. Es bot eine sehr gute Gelegenheit, den Kaiser dazu zu bringen, Melina nach seiner Rückkehr aus Gallien die römische Staatsbürgerschaft zu verleihen, damit sie als Ehefrau des Statthalters in Attika fungieren konnte. Sie wäre gleichsam Repräsentantin einer gelungenen, harmonischen Verbindung zwischen Rom und Griechenland.

„Nun, mein guter Marcellus, hat es Euch die Sprache verschlagen?“ fragte Vespasianus.

„Das kann man sagen…“, gab Lucius zu. „Euer Angebot ist überaus verlockend. Ich muss ein wenig darüber nachdenken…“

„Natürlich, mein Lieber. Vergesst dabei nicht, dass Eure Verbindung mit dem jungen Mädchen die Grundlage dafür bilden könnte, den alten Aigikoreus auf unsere Seite zu ziehen. Und bedenkt auch, dass Ihr als Statthalter nicht mehr gezwungen wärt, für längere Zeit Eure Familie zu verlassen. Stellt Euch vor, dass Ihr die Söhne, die die junge Aigikoreusa Euch schenkt, heranwachsen sehen könntet“, erklärte Vespasianus lächelnd. „Ich würde Euch sehr gerne als Proconsul von Attika sehen, Lucius.“

„Ich danke Euch für das Angebot, Imperator“, entgegnete der Angesprochene und verneigte sich leicht. „Natürlich weiß ich es zu schätzen. Bitte, gebt mir etwas Bedenkzeit.“

„Selbstverständlich, mein Lieber. Ich erwarte Eure Antwort erst, wenn Ihr aus Gallien zurückgekehrt seid…“

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Immer noch in Gedanken mit dem Angebot des Kaisers beschäftigt kehrte Lucius in sein Dienstzimmer zurück. Dort erwartete ihn neben seinem Schreiber auch Flavius Senior.

„Nanu, mein Freund, ich dachte, du bist nicht mehr im Dienst?“ meinte Lucius und musterte den alten Offizier verwundert.

„Na ja, im Moment bin ich beurlaubt“, erklärte Flavius Senior mit einem Seitenblick auf den Schreiber. „Eigentlich würde ich dich gern unter vier Augen sprechen.“

Lucius winkte seinem Untergebenem, den Raum zu verlassen, was dieser sogleich tat. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ sich der Legatus auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch nieder und forderte mit einer Geste auch seinen Freund dazu auf, sich zu setzen.

„Nun, Flavius, was hast du auf dem Herzen?“

„Ich hörte, dass der Imperator heute Morgen eine Versammlung aller Legaten einberufen hat“, begann der Alte besorgt. „Handelt es sich um eine ernste Angelegenheit, Lucius?“

„Ja, aber es ist alles schon geklärt“, entgegnete der Angesprochene und grinste. „Du erinnerst dich doch sicher noch an unsere zahlreichen Kämpfe gegen die Gallier?“

„Natürlich, Lucius! Wie könnte ich diese verdammten Barbaren vergessen? In einem der Kämpfe gegen sie zog ich mir die Beinverletzung zu, die mich zu einem Invaliden machte! Ach, wenn ich könnte, würde ich diesen Galliern…“, Flavius hielt inne und starrte seinen Freund mit offenem Mund an. Dann fragte er ungläubig: „Sie machen mal wieder Probleme?“

„So ist es!“ bestätigte Lucius und nickte. „In zwei Tagen brechen Adranus und ich mit unseren Streitkräften auf, um erneut gegen sie zu kämpfen.“

„Diese verdammten Barbaren!“ schimpfte Flavius. „So oft schon haben wir sie geschlagen. Wann gelingt es uns endlich, ihren Widerstandsgeist zu zerstören?!“

„Das wissen nur die Götter“, meinte der Legatus verächtlich. „Allmählich frage ich mich, ob wir nicht zumindest alle gallischen Männer und ihre Söhne versklaven sollten, damit endlich Ruhe in den Provinzen herrscht. Verglichen mit den immerwährenden Kriegsausbrüchen dieser Barbaren war der Aufstand in Attika ein Spaziergang…“

„Ja“, bestätigte Flavius wütend. „Gegen die Gallier könnt ihr jeden Mann gebrauchen – und ich melde mich freiwillig, um unter deinem Kommando gegen diese Barbaren zu kämpfen!“

Aufgebracht sprang er auf und trat er mit dem Fuß heftig auf den Boden auf. Sofort durchfuhr ein heftiger Schmerz sein lädiertes Bein und er verzog das Gesicht, ohne jedoch einen Laut von sich zu geben. Dennoch war Lucius nicht entgangen, wie sehr sein Freund wohl leiden musste.

„Ich weiß deine Kühnheit und deine Loyalität zu Rom und zu mir durchaus zu schätzen“, entgegnete der Legatus in wohlwollendem Ton. „Und es wäre mir ein Vergnügen, einen so tapferen Soldaten wie dich an meiner Seite zu wissen. Ein Jammer, dass mir dieses Vergnügen wegen deines schlimmen Beines nicht vergönnt sein wird…“

„Was redest du denn da, Lucius?!“ widersprach der alte Offizier aufgebracht. „Ich will diesen Galliern zeigen, dass ein Tingellinus… Aaah…“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht starrte Flavius Senior an die Decke, damit sein Freund nicht sah, wie ihm die Tränen in die Augen schossen.

„Komm, setz dich“, sagte Lucius in sanftem Ton. Er musste eine Weile warten, ehe Flavius dieser Aufforderung nachkam. Dann fuhr er fort: „Hör zu, mein Freund, du hast dir dieses unangenehme und schmerzhafte Leiden zugezogen, als du für Rom kämpftest. Deshalb genieße deinen wohlverdienten Ruhestand, Flavius…“

„Ich will nicht einfach tatenlos zu Hause herumsitzen, während du und mein Junge gegen die gallischen Barbaren zu Felde zieht!“

„Das musst du auch nicht“, entgegnete der Legatus und grinste etwas, als sein Freund ihn überrascht anstarrte. „Es wäre gewiss sehr hilfreich, wenn du die Götter darum bittest, uns gegen unsere Feinde beizustehen... Jeden Tag, mein Freund, so wie es die Schmerzen in deinem lädierten Bein zulassen! Jupiter, Mars und Apoll schenken deiner Bitte sicherlich Gehör.“

„Warum sollten sie, wenn du es nicht tust, Lucius?“ fragte Flavius, doch auch um seine Mundwinkel begann sich ein spöttisches Lächeln abzuzeichnen. Die beiden Freunde sahen sich an und brachen plötzlich in ein lautes, kurzes Gelächter aus. Dann meinte der alte Offizier: „Du hast gewiss recht, Lucius. Mit meinem kaputten Bein wäre ich euch mehr eine Last als eine Hilfe. Darum werde ich deinen Vorschlag ausführen und die Götter mit Opfergaben davon zu überzeugen versuchen, dass sie euch helfen, diese barbarischen Gallier endgültig zu besiegen.“

„Tue das, mein Freund – etwas Besseres könnte ich mir von einem Freunde nicht wünschen!“

Flavius Senior nickte und schenkte dem Legatus einen erwartungsvollen Blick. Als dieser ihn erstaunt anschaute, fragte der Alte: „Hast du dir mein Angebot durch den Kopf gehen lassen, Lucius?“

„Welches Angebot?“

„Odalind betreffend.“

„Ach so, das…“, entfuhr es Lucius, dann schüttelte er den Kopf. „Um ehrlich zu sein, Flavius: Meine Gedanken kreisen die meiste Zeit um meine schwangere Gefährtin. Doch aus deiner Frage ist zu schließen, dass dir die persönliche Bedienung durch die Germanin gefallen hat.“

„Aber unbedingt!“ bestätigte der Alte und verdrehte die Augen schwärmerisch, während er seine Lippen spitzte und so tat, als würde er die Luft küssen. „Oh, Lucius, diese Odalind ist wirklich überaus begehrenswert… diese runde Figur, diese roten Wangen… An der Germanin ist alles dran, was das Herz eines Mannes erfreut.“

Der Legatus lachte etwas und schüttelte den Kopf, während Flavius gleich darauf in bittendem Ton fortfuhr: „Komm, Lucius, verkauf mir die germanische Sklavin, damit ich mich nicht länger nach ihren weichen Armen verzehren muss. Ich kann es kaum erwarten, dieses Prachtweib an mein Herz zu drücken und dabei ihren prallen Busen zu spüren…“

„Nun, wenn dir so viel an der Germanin liegt, dann werde ich sie heute noch zu dir schicken“, erwiderte Lucius lächelnd. „Betrachte sie als ein persönliches Geschenk von mir, Flavius!“

„Oh, du bist wahrhaft ein Freund, Lucius! Wie kann ich dir je dafür danken?“

„Indem du mir nach einem Besuch in der Therme dabei hilfst, eine neue Küchenhilfe bei Decimus auszusuchen!“

„Das tue ich mit dem größten Vergnügen!“

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„Oh, Sorex“, stöhnte Megara aus ihrer Sänfte. „Nimmt diese Reise denn kein Ende?“

„Nur Geduld“, erwiderte der alte Römer, obwohl er im tiefsten Inneren selbst entnervt war. Die Oase hatten sie schon lange hinter sich gelassen, doch er bereute es inzwischen, diesen Ort verlassen zu haben.

Seit Stunden gingen sie immer geradeaus – oder jedenfalls in die Richtung, die geradeaus zu führen schien, ohne dass ihnen außer Wüste irgendetwas anderes begegnete. Woher sollten sie wissen, ob sie wirklich ein Stück vorangekommen oder ob sie nicht einfach im Kreis gegangen waren?

Zudem brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel auf sie herunter, aber Sorex wagte nicht, eine Rast einzulegen – es war viel zu gefährlich…

„Ich halte es hier drinnen nicht mehr aus, Sorex!“ jammerte Megara in ihrer Sänfte. „Lass uns eine Pause machen und etwas zu uns nehmen.“

„Nein! Wir werden uns erst ausruhen, wenn wir eine Oase erreicht haben!“

„Oh, Sorex, ich habe solchen Durst!“ kam es bittend aus der Sänfte.

„Du wirst es noch eine Weile aushalten müssen“, entgegnete er barsch.

„Wie lange denn noch? Seit wir aufbrachen, habe ich nichts mehr getrunken.“

„Gib endlich Ruhe!“ bellte er ärgerlich. Gleich darauf hörte er ein langgezogenes Schluchzen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Er konnte es nicht ertragen, wenn eine Frau weinte. Obwohl er ärgerlich war, musste er zerknirscht zugeben, dass er Megara wohl wirklich etwas zu viel zumutete, wenn er von ihr verlangte, nach einem so langen Weg noch weitere Stunden auszuhalten, ohne einen Schluck getrunken zu haben.

„Also schön“, brummte er. „Dann machen wir jetzt eine kleine Weile Pause, damit die Dame sich stärken kann – und wir ebenfalls.“

Als man daraufhin anhielt und Sorex sich von einem der beiden Germanen vom Kamel herunterhelfen ließ, hatte er den Eindruck, dass auch die Sklaven darüber erleichtert zu sein schienen, eine kleine Stärkung zu sich nehmen zu können. Von ihren Gesichtern liefen trotz des langen Tuches, das sie sich ebenso wie er um den Kopf geschlungen hatten, die Schweißperlen herunter. Er räumte ein, dass der Gedanke, einen Schluck Wasser zu trinken, ein Gefühl der Erleichterung in ihm auslöste.

„Reich uns eine Wasserflasche!“ befahl Sorex dem anderen Sklaven, der sich sogleich daran machte, den geforderten Gegenstand aus einem der Vorratsbeutel, mit denen das andere Kamel bepackt war, herauszuholen und ihn seinem Herrn zu reichen. Dieser öffnete den Lederbeutel und setzte ihn gierig an die Lippen. Er trank drei große Schlucke, dann setzte er den Wasserbehälter wieder ab, ging damit an die Sänfte heran und sagte: „Hier, Schätzchen, trink etwas!“

Die Lederflasche wurde ihm von Megara fast aus der Hand gerissen und er hörte, wie sie hastig trank. Sie schien gar nicht aufhören zu wollen.

„He, es war nicht davon die Rede, dass du alles allein austrinken darfst!“ rief er sie zur Ordnung. „Wir müssen uns das Wasser gut einteilen!“

Er hörte, wie sie noch einen Schluck zu sich nahm und dann die Flasche absetzte. Einen Moment später reichte sie ihm den Behälter hinaus.

„Hier, Sorex, ich konnte mich zusammenreißen, obwohl mein Durst immer noch sehr groß ist. Aber ich sehe natürlich ein, dass wir sparsam mit dem Wasser umgehen müssen. Ich hoffe nur, dass wir bald an unserem Ziel sind“, sagte sie in einem zerknirschten Ton.

Der alte Römer nahm die Flasche an sich, reichte sie nun dem Germanen, der ihm am nächsten stand, und beobachtete, wie dieser und sein Landsmann sich ebenso gierig darüber hermachten, wie er und Megara es getan hatten.

Danach war der Wasserbehälter leer, wie der Sklave, der den letzten Schluck zu sich genommen hatte, mit enttäuschter Stimme meldete.

„Ach bitte, Herr, lasst uns noch etwas trinken“, flehte er und sah Sorex eindringlich an. „Wir sind seit so vielen Stunden unterwegs und werden vermutlich noch ein ganzes Stück vor uns haben, bis wir die nächste Oase erreichen. Bitte, lasst uns noch eine Wasserflasche miteinander teilen!“

„Ja, Sorex, bitte, noch etwas Wasser!“ rief nun auch Megara und steckte nun ihren Kopf aus der Öffnung der Sänfte hinaus.

Nachdem der alte Römer ihren und den Blick des anderen Germanen aufgefangen hatte, gab er seufzend nach und nickte. Freudestrahlend eilte einer der Sklaven zu dem Kamel, das die Vorräte trug, und holte einen neuen Wasserbehälter aus dem Vorratsbeutel heraus. Voller Verlangen öffnete er ihn und setzte ihn an die Lippen, obwohl Sorex schimpfte. Doch lediglich ein Tröpfchen Wasser berührte die Zunge des durstigen Germanen. Verwundert setzte er die Lederflasche wieder ab und starrte sie an. Aber nicht lange, denn der zornige Sorex, welcher mittlerweile zu dem Sklaven geeilt war, riss ihm den Behälter aus der Hand und wollte sofort aus ihm trinken. Jedoch erlebte er die gleiche unangenehme Überraschung wie der Germane, nahm den Lederbeutel von den Lippen und schüttelte ihn heftig mit der Öffnung nach unten. Kein einziger Tropfen entwich dem Behälter.

„Was, bei Jupiter, soll das bedeuten?!“ entfuhr es Sorex ärgerlich und er warf dem Sklaven vor ihm einen Blick zu. „Habt ihr Kerle etwa vergessen, die Flaschen an der Oase wieder aufzufüllen?!“

„Natürlich nicht, Herr!“ beeilte sich der Germane zu sagen. „Ich kann mir auch nicht erklären, warum kein Wasser in dem Lederbeutel ist.“

„Sei’s drum! Dann hol die nächste Flasche heraus!“

Der Sklave tat, wie ihm befohlen, und diesmal reichte er seinem Herrn den Behälter. Dieser schraubte ihn ungeduldig auf und wollte trinken, aber er erlebte dasselbe wie zuvor.

„Kein Wasser!“ stellte Sorex ärgerlich fest und warf dem Sklaven nun einen unheilvollen Blick zu. Dieser starrte ihn erstaunt an, holte dann aber sofort noch eine Flasche aus dem Vorratsbeutel. Doch auch in dieser befand sich kaum ein Tropfen Wasser.

„Das gibt es doch nicht!“ schrie der römische Offizier zornig auf. Dann schaute er erneut zu dem Germanen vor ihm, warf dann dem anderen hinter ihm einen Blick zu und schimpfte weiter: „Ihr habt tatsächlich vergessen, die Wasservorräte aufzufüllen! Seid Ihr wahnsinnig?!“

„Wir haben die Flaschen wirklich an der letzten Oase aufgefüllt!“ beeilte sich nun der andere Germane, der nun neben Sorex getreten war, zu versichern. „Dass sie beinah leer sind, kann ich mir auch nicht erklären!“

„Wie dem auch sei – wir werden versuchen müssen, so schnell wie möglich die nächste Oase zu erreichen!“ entgegnete der alte Römer ungehalten. „Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als uns zusammenzureißen und zu hoffen, dass die nächste Wasserstelle nicht allzu weit entfernt ist…!“

„Gibt es Probleme, Liebster?!“ rief Megara, die immer noch in ihrer Sänfte saß und erstaunt sah, wie Sorex und seine beiden Sklaven beieinander standen und redeten, während er und einer der Germanen jeweils eine Wasserflasche in der Hand hielten.

Der Angesprochene wandte sich nun wieder ihr zu, dann drückte er dem anderen Germanen die zweite Wasserflasche in die Hand und ging zu ihr hin. Mit gezwungenem Lächeln sagte er leise: „Es besteht keinerlei Grund zur Besorgnis, Schätzchen. Ich habe nur gerade festgestellt, dass meine beiden Sklaven keinen Verstand besitzen! Sie haben vergessen, unsere Wasservorräte aufzufüllen…“

„Was?!“ entfuhr es der Griechin und sie starrte den alten Römer erschrocken an.

„Du brauchst keine Angst zu haben, die nächste Oase ist sicher nicht mehr weit“, erwiderte Sorex mit sanfter Stimme und strich ihr beruhigend über ihren Unterarm. „Wir brechen jetzt wieder auf. Zieh dich in die Sänfte zurück und schlaf ein bisschen. Sobald wir angekommen sind, wecke ich dich!“

„Aber woher willst du wissen, dass wir wirklich auf dem richtigen Weg sind?“ fragte Megara beunruhigt.

„Wir sind immer geradeaus gegangen – so wie der verstorbene Reiseleiter es mir empfahl“, behauptete Sorex, obwohl er selbst bezweifelte, die Richtung nicht verloren zu haben. Aber eine hysterische Frau konnte er jetzt nicht gebrauchen. Außerdem musste er sich selbst beruhigen, um nicht in Panik zu verfallen. Es könnte ja wirklich sein, dass sie bisher nicht vom Weg abgekommen waren. Wer konnte das in dieser verdammten Wüste, die ihm keinerlei Anhaltspunkte bot, schon sagen? Verdammt, sie hätten niemals ohne einen einheimischen Führer aufbrechen dürfen. Wenn sie doch nur in der Oase geblieben und auf die nächste Reisetruppe gewartet hätten…

„Wie dem auch sei“, fuhr Sorex nun an Megara gewandt fort und starrte sie eindringlich an. „Wir müssen so schnell wie möglich weitergehen, um eine Oase zu erreichen. Bitte, mach dir keine Sorgen. Bisher hatten wir immer Glück – warum sollte es so nicht weitergehen? Also, Schätzchen, leg dich hin und schlaf ein bisschen. Wenn du wieder erwachst, sind wir bestimmt an einem sicheren Ort.“

„Ich hoffe, du behältst recht“, murmelte sie, schaute sich ängstlich um und zog sich dann wieder in die Sänfte zurück.

Sorex indessen wandte sich nun in barschem Ton an seine beiden Sklaven: „Wir ziehen weiter!“

 

 

 

 

Festia stand gerade am Herd und überwachte die Kochtöpfe, während Odalind damit beschäftigt war, den Tisch, auf dem sie zusammen mit Festia alles für das leichte Mittagessen vorbereitet hatte, sauberzumachen, als sie sich nähernde Schritte hörten und erstaunt zum Eingang sahen. Einen Augenblick später trat der Hausherr ein, dem eine ältere Frau mit rotblondem Haar, das zu einem dicken Knoten am Hinterkopf aufgesteckt war, folgte. Sofort verneigten sich Festia und Odalind vor dem Herrn und senkten ihren Blick.

„Ihr könnt euch erheben!“ ließ Lucius sich gleich darauf vernehmen. Als sie zu ihm aufschauten, deutete er auf die ältere Frau, die sich mittlerweile neben ihm befand, und fuhr fort: „Dies hier ist eine neue Sklavin, Festia. Sie heißt Gertrud und wird dir von nun ab als Küchenhilfe zur Hand gehen!“

„Aber, Herr“, wunderte sich die Köchin und blickte ihn mit großen Augen an. „Odalind ist mir eine sehr tüchtige Hilfe. Ich brauche eigentlich niemanden mehr hier.“

„Odalind wird uns verlassen!“ klärte Lucius sie mit harter Stimme auf.

Die braunhaarige Germanin starrte ihn erschrocken an. Dann ließ sie sich vor ihm zu Boden fallen und fragte ängstlich: „Seid Ihr nicht mit mir zufrieden, Herr? Bitte, sagt mir, was ich falsch gemacht habe!“

„Du hast nichts falsch gemacht“, erwiderte der Hausherr etwas freundlicher und schenkte ihr ein kaum wahrnehmbares Lächeln. „Ganz im Gegenteil: Mein Freund Flavius Tingellinus Senior ist so von dir eingenommen, dass er mir gegenüber zum Ausdruck brachte, dich gern in seine Dienste nehmen zu wollen. Deshalb wartet vor meinem Haus einer seiner Sklaven darauf, dich zu seinem Herrn zu bringen, dem du hinfort gehörst. Also geh und pack deine wenigen Sachen zusammen.“

„Oh, bitte, Herr, lasst mich in Euren Diensten bleiben!“ flehte Odalind Lucius an. „Ich bin Euch und der Herrin so zugetan! Bitte, Herr, erlaubt mir, Euch und der Herrin weiterhin dienen zu dürfen!“

„Nun, es freut mich, dass du uns gerne zu Diensten stehst – aber du bist jetzt das Eigentum von meinem Freunde Flavius Tingellinus“, entgegnete Lucius mit fester Stimme und starrte unerbittlich auf die Germanin hinunter, die ihn mit Tränen in den Augen ansah, während ihre Unterlippe etwas zitterte. „Pack deine Sachen, Odalind. Mein Freund kann es kaum erwarten, dich in seinem Hause zu haben, wo du ihm als persönliche Bedienstete zur Seite stehen wirst.“

„Oh nein, lieber Herr!“ sagte die Germanin mit tränenerstickter Stimme. „Bitte, Herr, bitte, schickt mich nicht zu ihm!“

„Schluss mit dem Lamentieren!“ fuhr Lucius die Sklavin zu seinen Füßen mit lauter Stimme an. „Du kannst es als Ehre betrachten, dass ein solch verdienter Offizier wie Flavius Tingellinus dich zu seiner persönlichen Sklavin machen will!“

„Bitte nicht, Herr! Schickt mich nicht weg!“

„Wenn ich noch ein weiteres Widerwort von dir vernehme, werde ich dich persönlich auspeitschen!“ schrie Lucius sie an, worauf Odalind den Blick zu Boden senkte und schluchzte, während ihn Festia erschrocken anstarrte. Doch er beachtete weder sie noch die neue Küchenhilfe, die das Geschehen mit unbewegter Miene schweigend beobachtete. Vielmehr richtete er erneut in strengem Ton das Wort an die Germanin: „Nun, Sklavin, worauf wartest du? Geh jetzt sofort und pack deine Sachen. Danach verschwindest du aus meinem Haus und wirst dem Bediensteten von Flavius Tingellinus folgen, verstanden?!“

„Ja, Herr“, wisperte Odalind kaum hörbar. Sie erhob sich langsam und verließ dann die Küche. Wie betäubt starrte die Köchin ihr nach. Dann blickte sie zu ihrem Herrn auf, der sie mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte.

„Hast du mir etwas zu sagen, Festia?!“ knurrte er sie böse an.

Die runde Köchin senkte sofort ihre Augen zu Boden und schüttelte den Kopf.

„Gut!“ meinte Lucius knapp und verließ dann raschen Schrittes die Küche.

Ohne Umschweife ging er direkt in die Kammer, in der Philine noch schlief, und warf die Tür so laut hinter sich zu, dass die griechische Sklavin sofort erwachte. Als sie seiner ansichtig wurde, fragte sie diensteifrig: „Kann ich etwas für Euch tun, Herr?“

„Erklär mir auf der Stelle, wie du dazu kommst, den Sklavenhändler Decimus zu beauftragen, eine bestimmte Person zu suchen!“ zischte er Philine an.

„Oh, Herr, Eure Gefährtin bat mich darum“, verteidigte sich die Griechin.

„So erzählte es mir auch Decimus“, knurrte Lucius. „Als ich vorhin bei ihm war, um eine neue Sklavin zu erwerben, fragte er mich, ob meine junge Konkubine zufrieden wäre über das rasche Ergebnis seiner Nachforschungen. Da ich nichts darüber wusste, war ich natürlich verwirrt und wollte wissen, was genau er meine. Auf diese Weise erfuhr ich, dass meine Frau dich beauftragt hätte, Sidoris Schwester zu suchen…“

„Genau so verhielt es sich, Herr!“ behauptete Philine. „Ihr trugt mir auf, die Wünsche Eurer Gefährtin soweit es geht zu erfüllen. War dies etwa nicht recht von mir, Herr?“

„Du hättest mir davon berichten müssen!“ fuhr Lucius seine Lieblingssklavin in äußerst wütendem Ton an, so dass sie sich unwillkürlich an die Wand drückte und ihn ängstlich anstarrte. Er hatte sich ihr gegenüber noch nie so zornig benommen. „Wie kommt Melina überhaupt auf die Idee, die Schwester ihrer kleinen Sklavin suchen zu lassen? Und weshalb spricht sie nicht mit mir darüber?!“

„Gewiss wollte sie Euch mit einer derartigen Kleinigkeit nicht behelligen, Herr“, meinte Philine zaghaft. „Schließlich weiß Eure Frau doch, wie viel Ihr zu tun habt.“

„Na schön, das lasse ich als Einwand gelten“, brummte er und schien sich ein wenig zu beruhigen. Doch ganz war sein Ärger noch nicht verflogen. Er starrte eindringlich auf die Sklavin. „Meine kleine Melina dachte sich bestimmt nichts dabei, mir eine derartige Sache wie den Kauf einer neuen Sklavin zu verschweigen. Aber von dir, Philine, hätte ich zumindest eine kurze Mitteilung darüber erwartet. Du weißt ganz genau, dass ich über alles hier im Hause Bescheid wissen will. Stattdessen muss ich von diesem schmierigen Sklavenhändler erfahren, dass meine junge Frau eine bestimmte Sklavin zu kaufen wünscht. Ich kam mir dabei vor wie ein Dummkopf, Philine!“

„Tut mir leid, Herr“, wisperte die Griechin und senkte ihren Kopf. „Ich muss es vergessen haben. Allerdings wäre mir auch nie in den Sinn gekommen, dass Decimus die Frechheit besitzen würde, Euch auf diese Sache anzusprechen – vor allem, da sie erledigt ist.“

„Dann klär mich jetzt über den Stand der Dinge auf!“ befahl Lucius streng. „Was also hat Decimus über Sidoris Schwester in Erfahrung bringen können?“

„Nun, das Mädchen…“, Philine stockte einen Moment. Sie war versucht, ihrem Herrn die Wahrheit zu sagen. Doch dann fiel ihr wieder ein, womit Appius Marcellus ihr gedroht hatte. Deshalb fuhr sie gleich darauf mit ihrer Lüge fort: „Es ist tot!“

„Was? Und das ist sicher?“ fragte der Legatus. Er schien betroffen über diese Nachricht zu sein.

„Ja, Herr, leider. Gerade deshalb wagte ich noch nicht, es Eurer Gefährtin zu erzählen. Sie wird sicherlich traurig sein, wenn sie von dem Tod des Mädchens erfährt…“

„Nun, dann wollen wir Melina mit dieser Nachricht auch nicht beunruhigen“, meinte Lucius jetzt in überaus sanftem Ton. „Am Besten, du verlierst ihr gegenüber kein Wort mehr über die ganze Angelegenheit. Ich will nicht, dass sich meine schwangere Frau unnötig aufregt.“

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Melina saß mit Divia zusammen auf der Bank im Garten, eine Papyrusrolle in der Hand, und besprach mit ihr den gerade gelesenen Text, als Lucius sie aufsuchte. Er bekam noch den letzten Teil dieser Unterhaltung mit, bevor er die beiden Mädchen erreichte:

„ …die Harmonie, die die Musik erzeugt, verscheucht die Kräfte des Bösen und bewirkt dadurch Heilung.“

„Und du glaubst wirklich, dass dieser Pythagoras damit recht hat, Meli?“

„Aber natürlich! Musik ist etwas, das das Gemüt des Menschen beruhigt. Das musst du selbst doch auch schon gespürt haben, Divia!“

„Ich… ich weiß nicht…“, kam es zögerlich aus dem Munde der Elfjährigen. Dann bemerkte sie ihren Vater und lächelte ihn an, was dieser erwiderte. Melina war Divias Blick gefolgt und strahlte ebenfalls.

„Lucius!“ rief sie erfreut aus. „Du bist endlich wieder zurück!“

„Die Sehnsucht trieb mich heim, Honigmädchen“, sagte er und strich ihr leicht über das Haar, bevor er sich erneut seiner Tochter zuwandte. „Du solltest dich mehr mit Musik beschäftigen, Filia, wenn du ihre Wirkung noch nicht gespürt zu haben meinst.“

„Ja, Papa“, versprach Divia gehorsam, erhob sich auf einen Wink ihres Vaters und ging zu ihrer Schaukel, während Lucius sich nun neben seine Geliebte setzte und sie wohlwollend betrachtete. Liebevoll legte er eine Hand auf ihren Bauch, streichelte diesen sanft und fragte: „Fühlst du dich besser?“

„Ja, Liebster, es geht mir gut. Vielleicht ist die Zeit meiner Übelkeit vorbei?“

„Das wäre zu wünschen“, meinte Lucius, beugte sich nun mit seinem Kopf über ihren Bauch und küsste ihn. Dabei flüsterte er: „Wir freuen uns auf dein Erscheinen, kleiner Schatz!“

Melina lachte, strich ihm zärtlich über seine kurzen Haare und murmelte: „Es dauert noch eine ganze Weile, Liebster.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte er und richtete sich wieder auf. Er betrachtete sie eine Zeitlang nachdenklich, bevor er fragte: „Bist du glücklich hier, Melina?“

„Ich bin glücklich, wenn ich in deiner Nähe sein kann, Liebster.“

„Und du hast kein Heimweh?“

„Doch, manchmal schon“, gab sie zu, wobei sie ihren Blick senkte.

„Würdest du gern wieder in Athen leben?“ fragte er nun und sah sie eindringlich an.

Melina schaute überrascht zu ihm auf. Dann glitt ein Lächeln über ihr Antlitz und sie erwiderte: „Es ist lieb, dass du dir Gedanken um mich machst, Lucius. Aber bitte, sei unbesorgt. Nichts könnte mich glücklicher machen, als mit dir zusammen zu sein, glaub mir.“

Statt einer Antwort küsste er sie auf die Stirn und schenkte ihr einen zärtlichen Blick.

 

Divia saß auf ihrer Schaukel und beobachtete von dort aus lächelnd ihre Eltern. Dann jedoch nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, dass sich vom Hause aus eine Person näherte und blickte sich um. Eine rotblonde, ältere Frau ging mit einer Schüssel frischen Obstes zu der Bank, auf der Melina und Lucius saßen.

„Wer ist das?!“ rief Divia erstaunt aus.

Die Aufmerksamkeit ihrer Eltern, die eben noch mit sich beschäftigt waren, richtete sich auf das Mädchen, wobei sie nun auch endlich die rotblonde Frau mit der Obstschüssel bemerkten. Melina warf einen fragenden Blick zu Lucius.

„Das ist Gertrud, unsere neue Küchensklavin“, erklärte er daraufhin mit lauter Stimme, so dass Divia es auch mitbekam und zufrieden wirkte.

„Neue Küchensklavin?“ wunderte sich die junge Griechin.

„Ja, Liebling, ich habe sie vorhin gekauft. Festia braucht doch jemanden, der ihr zur Hand geht“, antwortete er nun in normaler Lautstärke.

„Aber dafür hat sie doch Odalind, die eine sehr tüchtige Kraft ist. Nun ja, in der Küche gibt es genug zu tun…“

„Das stimmt!“ bestätigte Lucius lächelnd. „Ich hoffe sehr, dass Gertrud die tüchtige Odalind ersetzen kann.“

„Ersetzen?“ entfuhr es Melina und sie sah ihren Geliebten erschrocken an. „Odalind ist doch wohl nichts Schlimmes zugestoßen?“

„Aber nein“, beruhigte sie Lucius.

Mittlerweile war die neue Sklavin bei ihm und Melina angekommen und reichte ihnen die Schüssel mit den kleingeschnittenen Fruchtstückchen. Lucius nahm ein Stück Apfel und hielt es seiner jungen Frau vor den Mund.

„Komm, Liebling, iss!“

Aber Melina starrte ihn immer noch an und machte keine Anstalten, das Apfelstück zu essen.

„Was ist mit Odalind passiert, Lucius?“ fragte sie einen Augenblick später.

„Ich habe sie zu meinem alten Freund Flavius geschickt“, antwortete er in heiterem Ton und schob sich nun selbst das Fruchtstück in den Mund.

„Was? Aber warum denn, Lucius?“

„Wie du weißt, hat Flavius ein krankes Bein, das ihm zeitweise sehr schlimme Schmerzen bereitet. Kurz gesagt, er braucht eine kräftige Sklavin, die ihn pflegt, und glaubt, dass Odalind dafür genau die richtige sei“, erklärte er und tätschelte der besorgt dreinblickenden Melina die Hand. „Mach dir keine Sorgen, Honigmädchen. Flavius findet Odalind sehr sympathisch, deshalb fiel seine Wahl auf sie. Die Germanin wird es gut bei ihm haben.“

„Warum konnte er sich nicht auf dem Sklavenmarkt nach einer anderen Dienerin umsehen?“ fragte Melina ein wenig aufgebracht. „Ich mochte Odalind auch und hätte sie gern behalten.“

„Bitte, Liebling, bleib ganz ruhig“, meinte er in sanftem Ton zu ihr. Dann winkte er der neuen Sklavin, sich zu entfernen. Sobald er sie außer Hörweite glaubte, flüsterte er Melina ins Ohr: „Flavius ist verliebt in Odalind.“

Melina blickte Lucius ungläubig an. Dieser grinste etwas und meinte: „Nun verstehst du, nicht wahr?“

Sie richtete ihre Augen zu Boden und fragte tonlos: „Und… und Odalind? Mag sie Flavius auch?“

„Sie wird ihn mit der Zeit gewiss zu schätzen wissen“, antwortete Lucius, wobei sich seine Lippen zu einem süffisanten Lächeln verzogen. „Flavius ist ein netter Kerl. Ich denke, die Germanin wird keinen Grund haben, sich zu beklagen.“

Melina schwieg.

„Ach, komm, Honigmädchen!“ sagte Lucius nach einer Weile, als die junge Griechin immer noch keinen Ton von sich gegeben hatte. „Odalind wird es bestimmt bei Flavius gefallen und ihm tut die Gegenwart einer netten Frau sicherlich gut.“

Melina starrte zu Boden und schwieg weiter. Er legte behutsam den Arm um ihre Schultern und meinte sanft: „Wenn Gertrud dir nicht gefällt, kaufen wir eine andere Sklavin für die Küche. Dort gibt es genug zu tun.“

Immer noch hielt die junge Frau ihren Blick gesenkt. Deshalb fuhr er fort: „Eigentlich könnten wir noch ein paar weitere Arbeitskräfte anschaffen. Wenn du willst, kaufe ich dir auch eine oder sogar zwei Sklavinnen zu deiner persönlichen Bedienung; und für das Kind brauchen wir ohnehin eine gute Kinderfrau. Weißt du was? Du begleitest mich und darfst die Sklavinnen aussuchen...“

Melina schüttelte den Kopf, starrte aber weiterhin auf den Boden. Lucius legte seine Hand unter ihr Kinn und hob es hoch. Doch das Mädchen bemühte sich, seinem Blick auszuweichen.

„Sieh mich endlich an!“ sagte er in leicht ärgerlichem Ton. Sie zog ihr Kinn weg und erhob sich. Er tat es ihr gleich und trat hinter sie. „Was hast du denn nur, Melina?“

„Es gefällt mir nicht, wie du mit Odalind umspringst“, murmelte sie. „Findest du nicht, du hättest sie wenigstens fragen sollen, ob sie zu Flavius will?“

„Ich kann mit meinen Sklaven machen, was mir beliebt!“ herrschte er sie an.

Divia horchte sofort auf, als sie diesen Ton aus dem Munde ihres Vaters hörte. Als gleich darauf Melina in Tränen ausbrach, sprang sie sofort von der Schaukel und eilte zu ihren Eltern. Währenddessen hatte Lucius Melina von hinten umarmt und flüsterte gerade: „Tut mir leid, dass ich mich im Ton vergriffen habe, Honigmädchen. Es war nicht so gemeint.“

„Warum hast du Meli angeschrien, Vater?“ fragte Divia streitlustig.

„Verschwinde, Divia“, entgegnete Lucius gereizt. „Was wir beide miteinander zu besprechen haben, geht dich nichts an.“

Doch die Elfjährige blieb stehen und warf ihrem Vater einen bösen Blick zu.

„Du darfst Meli nicht weh tun!“ sagte sie mit drohendem Unterton.

„Könnt ihr beide nicht aufhören, miteinander zu streiten?!“ mischte sich nun Melina ein, entwand sich den Armen ihres Geliebten und lief ins Haus zurück. Lucius und Diva starrten ihr bestürzt hinterher. Dann fing das Mädchen sich als Erste wieder.

„Was war eigentlich los, Vater?“ fragte es und schaute ihn erwartungsvoll an.

„Ich verstehe es auch nicht“, antwortete er, ohne Divia anzusehen.

„Worüber habt Ihr Euch denn unterhalten?“

„Ach, nichts Besonderes. Ich erzählte Melina, dass wir eine neue Küchensklavin haben, weil Odalind jetzt bei jemand anderem arbeitet – und dann bot ich ihr an, mich zu begleiten, weil ich noch weitere Sklaven kaufen will. Sie hätte die neuen Arbeitskräfte sogar aussuchen dürfen“, erklärte Lucius. Er schien immer noch verwundert zu sein, schüttelte dann den Kopf und wandte sich seiner Tochter jetzt offen zu: „Ich gehe zu Onkel Appius und bin vor heute Abend sicherlich nicht zurück. Bitte, kümmere dich um Melina. Sag ihr, dass es mir leid tut.“

Bevor die Elfjährige etwas darauf erwidern konnte, befand sich ihr Vater schon auf dem Weg ins Haus zurück. Divia blickte ihm einen Moment hinterher, dann folgte sie ihm in die Villa und eilte hinauf in Melinas Zimmer. Hier lag die junge Griechin allein auf ihrem Bett und schien leise zu weinen. Das Kind schloss die Tür hinter sich und setzte sich zu seiner Stiefmutter auf das Bett, streichelte behutsam deren Rücken und sagte leise: „Vater lässt dir bestellen, dass es ihm leid tut.“

„Warum macht er nur so etwas?“ fragte Melina, ohne sich nach dem Mädchen umzudrehen.

„Ich weiß nicht genau, was zwischen euch vorgefallen ist“, meinte Divia. „Vater erzählte mir, dass Odalind von uns fort ist. Aber warum und wohin sie gegangen ist, weiß ich nicht.“

„Die arme Odalind ist bei Flavius Tingellinus Senior“, erklärte Melina und drehte sich nun doch zu ihrer Stieftochter um. Ihre Augen waren feucht. „Angeblich braucht er jemanden, der ihn pflegt…“

„Aber warum muss das unsere Odalind sein?“

„Genau dasselbe fragte ich deinen Vater…“

„Und was antwortete er?“

„Flavius Senior mag Odalind, er wollte unbedingt sie… nur sie“, erklärte Melina.

Divia starrte die junge Frau fassungslos an und schüttelte dann den Kopf.

„Wie konnte er Odalind einfach seinem Freund überlassen?“ fragte Melina mit tonloser Stimme. „Es… es ist einfach…“

„Es ist gemein!“ vollendete Divia den Satz. Dann schaute sie die junge Griechin eindringlich an und sagte: „Das ist das Los einer Sklavin, Meli! Wir können nichts tun, um Odalind zu helfen. Wollen wir hoffen, dass es ihr bei Onkel Flavius gefällt…“

„Ich fühle mich so hilflos!“ gab Melina zu. In ihrer Stimme klang die Verzweiflung deutlich heraus. „Und ich bin gekränkt. Warum hat dein Vater denn nicht vorher mit mir gesprochen, bevor er Odalind einfach seinem Freunde überließ? Wenn sie bei ihm unglücklich ist, kann ich nichts tun, um ihr zu helfen… nichts… nichts…!“

Die junge Frau fing wieder an zu weinen. Divia schloss sie in die Arme und streichelte ihr den Rücken, aber sie wusste nicht, wie sie sie trösten konnte. Im Grunde ging es ihr nicht anders als Melina, deren Meinung sie teilte. Es war gemein von Vater, Odalind einfach fortzugeben… und es war gemein von ihm, nicht vorher darüber mit Melina zu sprechen.

Das römische Mädchen dachte daran, wie nett Odalind war. Sie war wesentlich angenehmer als diese Laila, die sich so gerne in den Vordergrund schob. Warum hatte Vater nicht die Ägypterin zu seinem alten Freund geschickt, statt ihm die freundliche Germanin zu überlassen, welche ihr ohne Zögern schnell etwas zubereitet hatte, wenn sie sie darum bat. Odalind war wahrlich nicht zu beneiden, in Zukunft einem solchen Mann wie Onkel Flavius dienen zu müssen. Wenn er betrunken war, konnte er recht unangenehm werden…

Divia erinnerte sich nun auch an Liuba und fragte sich, wie es ihr wohl in diesem Bordell erging, aus dem kein Mensch sie herauskaufen wollte. Ach, wenn sie selbst doch nur über Geld verfügte, würde sie keine Zeit verlieren, um ihre frühere Freundin dort auszulösen…

=<>=<>=<>=

Seit Stunden waren Sorex, Megara und die beiden Germanen unterwegs, ohne etwas anderes außer Wüste gesehen zu haben. Mittlerweile machten die Sklaven, die mühsam einen Schritt vor den anderen setzten, einen erschöpften Eindruck.

Megara hielt es in ihrer Sänfte kaum mehr aus, da sich dort die Hitze staute. Da sie jedoch wusste, dass sie über kein Trinkwasser mehr verfügten, beklagte sie sich nicht, sondern hoffte, dass bald eine Oase auftauchte. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an Wasser, erinnerte sich voller Verlangen an die erfrischenden Bäder im Hause ihres alten Gatten. Eines der wenigen Dinge, die ihr die Ehe mit Theodoros erträglich gemacht hatten. Oh, so ein Bad wäre jetzt genau das Richtige… und dann ein gutaussehender, kräftiger, junger Sklave, der ihr einen Becher kühlen Weines reichte…

„Herr!“ hörte die Griechin einen der Germanen rufen. „Herr, ich kann nicht mehr!“

„Wir müssen weitergehen!“ entgegnete Sorex im barschen Ton. „Du weißt selbst, dass wir nicht anhalten dürfen! Wir haben kein Wasser mehr! Und das ist allein eure Schuld!“

„Aber, Herr, wir haben wirklich…“

„Schweig! Ich will kein weiteres Wort mehr hören!“

Megara fühlte, wie allmählich Angst in ihr aufstieg. Normalerweise ließ sie sich nicht so leicht einschüchtern, aber jetzt befand sie sich in einer Situation, die lebensgefährlich werden konnte. Und wenn sie es richtig einschätzte, sah es ganz so aus, als ob ihr Gefährte nicht mehr aus der Wüste herausfand… wie sollte er auch, ohne einheimischen Führer? War das tatsächlich das Ende ihrer Reise, die so vielversprechend begonnen hatte…?

„Herr, Herr… schaut, was ist das?!“ erklang nun der erschrockene Ruf von einem der Germanen.

Alarmiert steckte Megara ihren Kopf aus der Öffnung der Sänfte und schaute nach vorn. Ein großer Wirbel kam mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Ein lauter Schrei entfuhr ihrer Kehle.

„Wir sind verloren!“ rief einer der Sklaven und fiel auf die Knie.

Die Esel und die Kamele wurden unruhig und begannen zu brüllen.

„Halt die Zügel fest!“ schrie Sorex dem Germanen zu, der die Tiere führte, die Megaras Sänfte trugen, doch der Mann reagierte nicht. Die Griechin merkte, dass ihr Gefährt sich plötzlich schneller bewegte. Die Esel gingen durch. Voller Verzweiflung sprang sie aus der Sänfte und landete auf dem heißen Sand, nur um gleich darauf zu spüren, wie er ihr ins Gesicht wehte. Die Windhose hatte sie und ihre Reisebegleiter nun eingehüllt. Megara, die ohnehin auf dem Boden lag, vergrub mutlos ihren Kopf in die Arme. Das war das Ende… sie würde sterben… Schon spürte sie, wie der Sand sich allmählich auf ihrem Körper niederließ… Oh, sie wollte noch nicht sterben… sie wollte nicht sterben…

 

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Kapitel: 43
Sätze: 6.088
Wörter: 86.877
Zeichen: 512.384

Kurzbeschreibung

Ein Rückblick in die menschliche Vergangenheit des Lucien LaCroix > Legatus Lucius Marcellus verliebt sich während eines Auftrages in Athen in die vornehme, junge Griechin Melina, die seine Gefühle erwidert. Doch da gibt es noch Lucius‘ Ehefrau, die gar nicht erbaut von dieser gegenseitigen Zuneigung ist. Selbst nachdem sie von ihrem Mann den Scheidungsbrief erhalten hat, will sie sich nicht damit abfinden, dass Lucius und Melina als Paar zusammenleben. Und sie ist nicht die einzige Person, der diese Beziehung ein Dorn im Auge ist. Außerdem gibt es da noch die rachsüchtige Megara, die ihrer Stieftochter Melina sowie deren Vater alles andere als wohlgesonnen ist, und einen alten Veteranen auf der Suche nach Unsterblichkeit…

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit Liebe, Romanze, Mystery und Antike getaggt.

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