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Heimliche Liebe

237
12.08.17 14:02
16 Ab 16 Jahren
Homosexualität
In Arbeit

2 Charaktere

Anne de Bourgh

Die einzige Tochter und Erbin von Lady Catherine und Sir Lewis de Bourgh. Anne ist von kränklicher Natur, weshalb sie kaum unter Menschen gehen darf. Sie lebt zurückgezogen mit ihrer Mutter auf dem stattlichen Anwesen Rosings Park, dem Stammsitz der de Bourghs. Ihre Mutter ist außerdem fest davon überzeugt, dass sie eines Tages die Ehefrau von Fitzwilliam Darcy wird.

Mary Bennet

Sie ist die mittlere Tochter der Eheleute Bennet und gilt in ihrer Heimatgemeinde als sehr gebildetes Mädchen, da sie sehr viel liest und gut Klavier spielen kann. Im Vergleich mit ihren Schwestern finden ihre Mitmenschen sie allerdings äußerlich nicht sehr ansprechend. Außerdem zeichnet sich Mary durch Frömmigkeit aus.

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Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß
Als heimliche Liebe, von der niemand nicht weiß.

Keine Rose, keine Nelke kann blühen so schön,
Als wenn zwei verliebte Seelen beieinander tun stehn.

Setz du einen Spiegel ins Herz mir hinein,
Damit du kannst sehen, wie so treu ich es mein'!

[Unbekannter Dichter, aus: Achim von Arnim und Clemens Brentano,

"Des Knaben Wunderhorn"  (1806-1808)]

~~~

 

Es war in Pemberley, wo Anne sie das erste Mal sah. Sie saß auf der Wiese nahe beim Teich auf einer Decke und las ein Buch, während eine warme Sommerbrise mit dem dunklen Haar spielte, das unter dem hübschen, blumenverzierten Hut hervorlugte. Dabei wirkte jenes Mädchen so in ihre Lektüre vertieft, dass sie nichts mehr um sich herum wahrzunehmen schien. Nicht einmal Mutters wohlmeinende und kaum zu überhörenden Ratschläge, die sie der neuen Mrs. Darcy erteilte.

Anne musste ein wenig darüber lächeln, denn sie konnte sich genau daran erinnern, dass Mutter noch vor etwa einem Jahr mit unerbittlicher Stimme erklärt hatte, sie werde keinen Fuß mehr auf Pemberley setzen, da dessen gute Luft durch die Heirat Williams mit Miss Elizabeth Bennet verpestet worden sei. Nun ja, Mutter neigte stets zu Übertreibungen.

Anne selbst war Elizabeth Bennet mehr als dankbar für deren bloße Existenz, denn sonst wäre sie gezwungen gewesen, ihren Cousin William zu heiraten, wie Mutter und deren jüngere Schwester es bei ihrer Geburt beschlossen hatten. Dabei hegten weder sie noch William großes Interesse füreinander und behandelten sich stets mit gleichbleibender, kühler Höflichkeit. Doch das war ihr immer sehr recht gewesen. Genauso wie die jetzigen Umstände. Durch Williams Heirat mit Miss Bennet fühlte sie sich von einer unglaublichen Last befreit.

Ihre Mutter hingegen hatte die Hochzeit ihres Lieblingsneffen mit einer Frau unter seinem Stand als persönlichen Affront aufgefasst und auch versucht, sie davon zu überzeugen, dass William sie durch sein Handeln verletzt hätte. Doch dem war keineswegs so, denn Anne hatte sich noch nie besonders für Angehörige des anderen Geschlechts interessiert. Der einzige Mann, dem sie je liebevolle Gefühle entgegen gebracht hatte, war ihr Vater Lewis gewesen, der leider vor vier Jahren verstorben war. Seither lebte sie zusammen mit ihrer Mutter auf Rosings Park und war damit sehr zufrieden. Sie hatte eine Gesellschafterin, mit der sie sich gut verstand und die sich in rührender Weise um sie kümmerte, überließ nur allzu gern ihrer resoluten Mutter das Kommando und konnte sich dadurch all den Dingen widmen, die sie interessierten. Lesen war eines davon und sie war ihrem Vater mehr als dankbar, dass er ihr seine gesamten Bücher testamentarisch hinterließ, von denen sie alle behalten hatte. Wenn Mutter geahnt hätte, dass sich darunter auch Bildbände mit Gemälden aus dem mythologischen Bereich der Römer und Griechen sowie erotische Literatur befanden, wäre sie wohl sehr entsetzt gewesen.

Anne fragte sich selbst immer wieder, wie es Vater gelungen war, derartig brisante Lektüre vor ihrer Mutter zu verbergen. Denn Lady Catherines strenge Moralvorstellungen hätten es wohl niemals zugelassen, solche Art von Büchern in der Bibliothek von Hartwick Hall* oder gar Rosings Park zu dulden. Die Darstellung nackter Menschen, die Erwähnung leidenschaftlicher Küsse oder gar die Lobpreisung der Schönheit milchweißer Brüste wären in den Augen ihrer Mutter ein großer Skandal. Und dass ihre unschuldige Tochter damit konfrontiert würde, dass sie gar Gefallen daran fand – undenkbar!

Anne amüsierte sich im Innersten bei dieser Vorstellung. Nein, ihre Mutter könnte niemals nachvollziehen, dass ihr eine derartige Kunst gefiel. Und wenn Mutter ahnen würde, dass vor allem der Anblick nackter Frauen sie entzückte, dann wäre das Geschrei groß…

Dabei hielten sich die meisten Damen der Gesellschaft doch den Großteil der Zeit unter ihren Geschlechtsgenossinnen auf. Selbst verheiratete Frauen sahen ihre Ehegatten meistens nur während der gemeinsamen Mahlzeiten. Jedenfalls war es bei ihren eigenen Eltern so gewesen. Lediglich wenn sie zusammen verreisten, Freunde und Bekannte besuchten oder an Bällen teilnahmen, verbrachten sie mehr Zeit als sonst miteinander.

Anne wünschte sich manchmal, dass ihr Vater noch leben und sich um alles kümmern würde. Seit seinem Tod war Mutter nämlich noch sehr viel strenger geworden, was sich sicherlich darauf zurückführen ließ, dass sie nun gezwungen war, seine Aufgaben zu übernehmen. Zwar hatte man Mutter bereits in ihrer Kindheit auf so etwas vorbereitet, da sie einige Jahre lang das einzige Kind und damit die Erbin des Earls of Matlock* gewesen war, aber dennoch musste sie sich als Frau bei manchen ihrer Pächter erst Respekt verschaffen und offensichtlich ging das nicht ohne eine gewisse Härte und Strenge. Und gerade diese Eigenschaften, die früher zwar vorhanden, aber nicht so ausgeprägt zum Vorschein gekommen waren, gingen ihr allmählich in Fleisch und Blut über, so dass sie langsam zu einer Tyrannin wurde, gegen die auch Anne sich kaum zu widersetzen wagte.

Dabei war Lady Catherine de Bourgh zu Lebzeiten ihres Ehemannes eine liebevolle und besorgte Gattin und Mutter gewesen, die es als persönliche Pflicht auffasste, sich stets um die weniger begüterten Menschen in ihrem Umfeld zu kümmern. Auch erklärte sie Anne immer wieder, dass es einst ihr obliegen würde, sobald sie einmal Herrin auf Rosings wäre.

Damals schien ihre Mutter ein völlig anderer Mensch gewesen zu sein als heute, wenngleich sie sich immer noch für die Armen, Kranken und Waisen zuständig fühlte, dies aber nun an Reverend Collins und seine Gattin delegiert hatte. Daran ließ sich unschwer erkennen, dass unter ihrer harten Schale nach wie vor ein weiches Herz schlug. Und auch Mutters Empörung über Williams Heirat konnte man dergestalt interpretieren, dass sie nur das Wohl ihres Kindes im Auge hatte. Anne empfand das Letztere zwar als durchaus liebenswert ihr gegenüber und war dankbar, dass ihre Mutter versucht hatte, sie zu beschützen, als sie seinerzeit die Familie Bennet aufsuchte, um Elizabeth ins Gewissen zu reden, aber sie spürte auch die große Entfremdung, die mittlerweile zwischen ihr und ihrer Mutter bestand. Anne war sich sicher, dass ihre Mutter gar nicht richtig verstehen würde, was sie ihr sagen wollte, wenn sie ihr anvertraute, dass sie sich in Gesellschaft von Frauen sehr viel wohler fühlte als in derjenigen von Männern. Vermutlich würde Mutter ihr nur zu verstehen geben, dass dies bei einem behüteten, jungen Mädchen aus gutem Hause völlig normal sei.

Anne seufzte innerlich und schaute wieder auf die anmutige Leserin, die immer noch völlig versunken in ihre Lektüre war. Elizabeth hatte ihnen bereits bei ihrer Ankunft vor etwa drei Stunden verraten, dass eine ihrer jüngeren Schwestern sich ebenfalls gerade in Pemberley aufhielt, um ihr beizustehen. Denn in wenigen Wochen schon sollte das erste Kind der Eheleute Darcy zur Welt kommen. Daher vermutete Anne, dass es sich bei der jungen Leserin um besagte Schwester handelte, und sie konnte es kaum erwarten, mit Miss Bennet bekannt gemacht zu werden. Es war jedenfalls ziemlich faszinierend, eine Person zu beobachten, die sich scheinbar durch nichts aus der Ruhe bringen ließ.

Kaum hatte Anne diese Überlegungen abgeschlossen, als sie auch schon durch die Stimme ihrer Mutter von Elizabeths interessanter Schwester abgelenkt wurde.

„Anne, Kind! Wo bist du nur mit deinen Gedanken?!“

„Entschuldige, Mama, ich habe gerade die schöne Landschaft bewundert.“

„Ah… gut, mein Liebes, das ist schön. Aber jetzt waren wir lange genug draußen, finde ich. Lass uns also ins Schloss zurückkehren!“

„Oh, jetzt schon?!“, fragte Anne enttäuscht. „Es ist doch noch hell und angenehm warm.“

„Das mag sein, aber wir müssen an Mrs. Elizabeth denken“, entgegnete Lady Catherine in unerbittlichem Ton. „Als werdende Mutter sollte sie sich etwas mehr schonen.“

Anne sah dermaßen traurig aus, dass Mrs. Darcy ihr einen mitfühlenden Blick zuwarf und sagte: „Meine liebe Miss Anne, verweilen Sie nur so lange im Park wie Sie wünschen. Es ist völlig unnötig, mich ins Haus zu begleiten. Genießen Sie ruhig Ihren Aufenthalt hier.“

Anne lächelte Elizabeth dankbar zu, doch ihre Mutter mischte sich sofort ein.

„Meine Tochter kann keinesfalls allein hier im Park bleiben, Mrs. Elizabeth!“

„Das wird sie auch nicht, Lady Catherine, seien Sie unbesorgt“, antwortete Mrs. Darcy freundlich, wandte sich dann in Richtung des lesenden Mädchens und rief laut: „Mary!“

Die Dunkelhaarige hob nun den Kopf und blickte zu den drei anderen Frauen. Anne freute sich darauf, jetzt endlich die interessante Schwester Elizabeths kennenzulernen.

„Mary, komm doch bitte mal her!“, rief Mrs. Darcy und winkte der Dunkelhaarigen zu. Diese klappte ihr Buch zu, erhob sich und eilte auf die drei zu.

„Ist alles in Ordnung, Lizzy?“, fragte Mary, in deren Augen sich sehr deutlich die Sorge um ihre ältere Schwester widerspiegelte.

„Aber ja, ich bin nur etwas müde“, erklärte Elizabeth lächelnd und machte Mary dann mit Lady Catherine de Bourgh und ihrer Tochter Anne bekannt. Während Mylady die jüngere Schwester der neuen Mrs. Darcy abschätzig musterte, konnte Anne nun in der Nähe das Antlitz Marys studieren und fand, dass es zwar ein wenig streng, aber dennoch anziehend wirkte. Vor allem Marys dunkle Augen hatten es Anne angetan, denn diese verliehen ihr einen geheimnisvollen Ausdruck und machten sie noch neugieriger darauf, Miss Bennet näher kennenzulernen.

„Mary“, wandte sich Mrs. Darcy nun wieder an ihre Schwester. „Lady Catherine möchte sich gerne zurückziehen, um sich ein wenig von der langen Reise auszuruhen, und ich würde mich auch gerne noch für ein oder zwei Stunden hinlegen. Wärest du so freundlich, dich so lange um Miss de Bourgh zu kümmern und sie ein wenig hier herumzuführen?“

„Natürlich, das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Mary und sah lächelnd zu Anne, die zurücklächelte.

„Meine Tochter ist zart und man muss besonders auf ihre Gesundheit achten“, ermahnte Lady Catherine das ihr unbekannte Mädchen. Wenngleich diese auf sie einen zuverlässigen Eindruck machte, hatte sie nicht vergessen, aus welcher skandalösen Familie sie stammte. Mylady war auch nur gekommen, weil Williams impertinente Ehefrau jetzt ein Kind erwartete und man die Möglichkeit, dass Elizabeth die Mutter des Darcy-Erben werden könnte, nicht ignorieren durfte. In diesem Fall musste man sie notgedrungen als vollwertiges Mitglied der Familie anerkennen. Doch das bedeutete keineswegs, dass sie bereit war, dies auf alle Bennets auszuweiten.

„Mary ist sehr verantwortungsbewusst“, gab Elizabeth selbstbewusst zurück. „Ihre Tochter ist bei ihr in den besten Händen, Mylady.“

„Ja, das glaube ich auch“, sagte Anne und schaute nun zu ihrer Mutter hoch. „Mach dir keine Sorgen, Mama. Miss Mary und ich sind keine kleinen Kindern mehr, sondern durchaus vernünftige jungen Damen. Ich denke, wir werden ein wenig spazieren gehen. Dagegen hast du doch nichts?“

„Nein, das scheint mir ungefährlich für dich zu sein, mein Liebes“, gab Lady Catherine zu und schien nun beruhigt. „Aber ihr solltet euch immer im Schatten aufhalten!“

Anne und Mary nickten, was Ihre Ladyschaft vollends zufriedenstellte und endlich dazu brachte, mit Elizabeth ins Schloss zu gehen. Die beiden Mädchen sahen ihnen nach, bis sie ihren Blicken entschwunden waren, dann wandte sich Anne wieder Mary zu.

„Ihre Lektüre scheint sehr interessant zu sein“, meinte sie freundlich. „Darf ich fragen, was Sie gerade lesen?“

„Ach, es ist nur ein Buch über Kindererziehung“, gab Mary zurück.

„Ein Buch über Kindererziehung?“, wunderte sich Anne.

„Ja, meine Schwester hat mir den Vorschlag gemacht, mich um ihr Kind zu kümmern, sobald es auf der Welt ist“, erklärte Mary. „Und ich habe das Angebot angenommen.“

„Das finde ich überaus freundlich von Ihnen“, meinte Anne. „Ihre Schwester muss sehr froh darüber sein, dass Sie dazu bereit sind, sich bis zu Ihrer eigenen Hochzeit quasi als Kindermädchen zu betätigen.“

Mary errötete etwas und erwiderte: „Nun, um ehrlich zu sein, Miss de Bourgh: Ich glaube kaum, dass ich jemals heiraten werde.“

„Warum?“, wunderte sich Anne. „Sind Sie dem Ehestand etwa gänzlich abgeneigt?“

„Im Grunde nicht, aber wie Sie sicherlich unschwer erkennen können, dürfte ich kaum zu den Frauen gehören, die Männer sich als Gattin ersehnen.“

Anne starrte Elizabeths Schwester einen Augenblick lang perplex an, dann schüttelte sie den Kopf und meinte: „Ich verstehe nicht, wie Sie zu dieser Überzeugung kommen, Miss Mary. Meiner Meinung nach sehen Sie reizend aus und scheinen darüber hinaus auch sehr nett zu sein. Es besteht also gar kein Grund zu der Annahme, dass Sie von Männern nicht als mögliche Ehekandidatin in Betracht gezogen werden könnten.“

„Sie sind sehr freundlich, Miss de Bourgh“, bedankte sich Mary und blickte verlegen zu Boden. Offensichtlich war sie nicht daran gewöhnt, dass man in einer solchen Weise mit ihr sprach. Anne beschloss, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen, und schlug darum vor: „Lassen Sie uns die schön bewachsene Allee dort drüben entlangwandern. Dabei können Sie mir erzählen, was Sie schon alles über Kindererziehung in Erfahrung gebracht haben.“

~~~***~~~

Anne hatte einen wundervollen Nachmittag im Beisein von Mary Bennet verbracht, mit der sie fast drei Stunden lang durch lange Baumalleen, schön gepflegte Gartenwege und um den großen See spazieren gegangen war. Mary war sehr wohlerzogen, hatte eine angenehme Art über verschiedene Dinge zu sprechen, schien überaus gebildet zu sein und Anne fühlte sich in ihrer Gesellschaft sehr wohl. Fast bedauerte sie es, als sie sich von Miss Bennet trennen musste, um in ihr Zimmer zu gehen und sich für das Abendessen umzuziehen.

Bei dem Dinner, das etwa eine Stunde später im großen Esszimmer von Pemberley stattfand, sah Anne die dunkelhaarige Mary wieder, die ihr gelb-geblümtes Sommerkleid nun gegen ein etwas streng geschnitteneres, blaues Kleid ausgetauscht hatte, wodurch sie ein wenig ernster und älter wirkte. Dennoch fand Anne sie hübsch und musste sich sehr zusammenreißen, um Mary nicht ständig anzuschauen. Diese hingegen hatte die meiste Zeit ihre Lider gesenkt und sprach kaum ein Wort.

Nun ja, ihre Mutter, Lady Catherine, redete mal wieder unterunterbrochen und tat ungefragt ihre Meinung zu diesem oder jenem kund und fiel damit nicht nur ihr, sondern vermutlich auch dem Ehepaar Darcy und Mary auf die Nerven. Aber um des lieben Friedens willen schwiegen sie alle. Es lohnte sich einfach nicht, wegen einer solchen Lappalie, die irgendwann einmal ein Ende fand – spätestens dann, wenn Mutter einen trockenen Mund bekam -, einen Streit vom Zaun zu brechen. Diese Strategie hatte nach dem Dinner, als William Darcy alle in den kleinen Salon einlud, um noch einen Kaffee zu trinken und etwas miteinander zu plaudern, den angenehmen Nebeneffekt, dass Mutter es müde war, viel zu sprechen. Sie fragte daher William, ob Georgiana sich in London wohlfühle, wer ihre neue Gesellschafterin sei und welche Bekanntschaften sie geschlossen habe und lauschte dann interessiert seinem Bericht.

Anne hingegen zog es vor, sich zu Mary zu setzen und sie zu fragen, ob sie auch schon einmal in London gewesen sei. Miss Bennet gab zu, dass sie hin und wieder ihren Onkel, einen Kaufmann, und dessen Familie besucht hätte, aber dass sie das Landleben eindeutig vorzog. Anne stimmte ihr erfreut zu und wollte wissen, ob sie schon einmal in der Gegend von Kent gewesen sei. Miss Bennet schüttelte den Kopf, gab aber zu, dass sie gerne einmal ihren Cousin, Mr. Collins, und seine Frau Charlotte, die sie gut kannte, besuchen wolle. Jedoch hätte sie bislang keine Einladung von einem der beiden erhalten.

„Nun, die beiden haben gewiss viel zu tun“, erklärte Anne freundlich. „Mr. Collins nimmt seine Pflichten als Pastor und Seelsorger sehr ernst und seine Frau steht ihm bei, so gut sie es vermag.“

„Was sagst du da von Mr. Collins und seiner Frau, Kind?“, mischte sich da plötzlich Lady Catherine ein und schaute zu ihrer Tochter. Dabei nahm sie nun deren Sitznachbarin noch einmal eindringlich in Augenschein und sagte dann zu Mary: „Sie müssen diejenige der Bennet-Töchter sein, die laut Aussage von Mr. Collins sehr gebildet ist. Ein braves Mädchen, so erzählte er mir, und mir scheint, dass er damit wohl recht hat.“

Mylady schenkte Mary nun ein kleines Lächeln und fuhr fort: „Da Sie so gebildet sind, spielen Sie doch gewiss Klavier, nicht wahr?“

„Ja, Ma’am“, antwortete Mary und wagte, der sie einschüchternden Lady de Bourgh ein schüchternes Lächeln zu schenken. Diese nahm es wohlwollend zur Kenntnis und nickte. „Sehr schön, Miss Bennet, dann dürfen Sie mir Ihre Künste vortragen.“

Mary erhob sich gehorsam, setzte sich an den Flügel und tat Lady Catherine den Gefallen. Doch aufgrund der Ermahnungen ihres Vaters und Elizabeths hatte sie schon lange eingesehen, dass ihre Stimme wohl nicht besonders überragend war und sie einen besseren Eindruck hinterließe, wenn sie nicht mehr vor Publikum singen würde. Seitdem sie diesen Rat befolgte, bekam sie für ihr Klavierspiel auch mehr Anerkennung. So war es auch diesmal und Lady Catherine konnte sich die boshafte Bemerkung nicht verkneifen: „Sie spielen besser als Ihre Schwester Elizabeth, Miss Bennet. Wahrscheinlich üben Sie jeden Tag recht fleißig?“

„Ja, Mylady, das tue ich.“

„So ist es recht“, lobte Lady Catherine und lächelte dann Elizabeth an. „Ich bin sicher, meine Liebe, dass Sie ebenso gut wie Ihre Schwester spielen würden, wenn Sie regelmäßig übten.“

„Sie haben gewiss recht“, gab Mrs. Darcy zu und lächelte zurück, womit das Thema dann erledigt war.

Anne jedoch bewunderte Elizabeth wieder einmal dafür, mit welch heiterer Gelassenheit sie ihrer Mutter Paroli bot. Vermutlich ärgerte diese sich jetzt insgeheim darüber, dass es ihr nicht gelungen war, Williams Ehefrau zu einer unbedachten Äußerung zu provozieren. Aber Mutter würde nie einsehen, dass Elizabeth ihre Absichten durchschaute und deshalb niemals auf impertinente Fragen oder Bemerkungen eingehen würde. Wahrscheinlich nahm sie Mutter auch nicht ganz ernst.

Anne, die ebenfalls wenig geneigt war, ihre Mutter ernstzunehmen, freute sich dennoch, dass diese von Mary Bennet positiv eingenommen war. Ihr war nicht entgangen, dass Ihre Ladyschaft überaus beeindruckt von dem fehlerfreien Klavierspiel der jungen Dame gewesen war. Womöglich konnte sie sie dazu überreden, Miss Mary nach Rosings einladen zu dürfen. Immerhin wirkte sie völlig anders als ihre Schwester Elizabeth, sehr viel ernsthafter – ein Glück, denn Mutter schätzte diese Art Gouvernanten-Typ, den Mary perfekt zu verkörpern schien. Sie könnte durchaus gute Chancen haben, die Nachfolgerin von Mrs. Jenkinson zu werden, die vor etwa einem halben Jahr ihren Dienst quittierte, um bei einer ihrer gut verheirateten Nichten ihren wohlverdienten Ruhestand zu verbringen. Mutter war darüber hinaus so großzügig gewesen, ihr eine jährliche Leibrente von etwa 200 Pfund zu zahlen, da sie mit ihren Diensten stets sehr zufrieden gewesen war.

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*Hartwick Hall > fiktiver Wohnsitz des verstorbenen Sir Lewis de Bourgh.

*Earl of Matlock > In einem Jane-Austen-Forum wurde darauf verwiesen, dass Notizen von JA gefunden worden sind, die wohl darauf hindeuten würden, dass die Familie, aus der Lady Catherine und Oberst Fitzwilliam entstammen, den Namen „of Matlock“ trägt. Ich habe den Namen auch schon in einigen P&P-Geschichten gelesen und daher einfach auch für meine Geschichte übernommen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Am anderen Tag schlief Anne sich lange aus und ließ sich daher von einer Bediensteten das Frühstück aufs Zimmer bringen. Als das Dienstmädchen jedoch berichtete, dass sich Lady Catherine bereits besorgt erkundigt hatte, ob es ihrer Tochter gut ginge, ließ Anne bestellen, dass Mutter sich keine Sorgen machen solle.

Nachdem sie das Frühstück im Bett genossen hatte, griff Anne nach einer dick geflochtenen, goldenen Kordel, die neben ihrem Bett hing, zog daran und befahl dann der Bediensteten, die daraufhin sofort erschien, ihre Zofe herbeizuholen und danach das Frühstückstablett wieder mitzunehmen.

Etwa eine halbe Stunde später schlenderte Anne frisch gewaschen und angekleidet gut gelaunt Richtung Bibliothek, wo sie sich eine leichte Lektüre suchen und sich damit dann an den schönen See im Park auf eine Bank setzen wollte, um dort ein wenig zu lesen. Anne war angenehm überrascht, als sie den ehrfurchtgebietenden, großen Raum mit der hohen Decke betrat und Mary Bennet in einem der gemütlichen Sessel lesend vorfand. Bei ihrem Eintritt jedoch unterbrach die junge Frau ihre Lektüre, um aufzusehen, wer gekommen war.

„Guten Morgen, Miss de Bourgh“, begrüßte Mary die Cousine ihres Schwagers und erhob sich sofort.

„Guten Morgen, Miss Bennet“, erwiderte Anne freundlich den Gruß und schenkte ihrem Gegenüber ein strahlendes Lächeln. Mary trug ihr dunkelbraunes Haar diesmal offen, so dass es in leichten Wellen über ihre Schultern fiel und dadurch ihr Gesicht umschmeichelte, welches in diesem Moment überaus weich und verletzlich wirkte. Anne schien dieses Mädchen schöner als je zuvor und sie fühlte sich heftig zu ihr hingezogen. Doch sie beherrschte sich. Immerhin kannten sie sich kaum und sie wusste nicht, was Mary von ihr hielt.

„Es tut mir sehr leid, dass ich Sie gestört habe“, meinte Anne daher in leicht entschuldigendem Ton und ließ ihren Blick erneut über Mary wandern, die nur in einen leichten Morgenrock gehüllt war und lediglich Hausschuhe an ihren nackten Füßen trug. „Mir scheint, Sie sind bereits seit einigen Stunden in der Bibliothek?“

„Ja, das stimmt“, gab Mary ein wenig verlegen zu und senkte ihren Blick, wobei sich ihre Wangen leicht röteten. „Dabei muss ich die Zeit völlig vergessen habe. Entschuldigen Sie bitte meine unangemessene Kleidung, Miss de Bourgh.“

„Ach, machen Sie sich darüber keine Gedanken“, erwiderte Anne lächelnd. „Ich kann durchaus nachvollziehen, dass man von einer Lektüre derartig gefesselt ist, dass man die Zeit vergisst. Darf ich fragen, was Sie gerade lesen?“

„Es handelt sich um ‚Die hebräischen Gesänge‘ von Byron“, antwortete Mary.

„Was, solch düsteren Lesestoff tun Sie sich am frühen Morgen an?“, wunderte sich Anne.

„Mir erscheint das Werk keineswegs düster, sondern vielleicht etwas traurig… an manchen Stellen“, meinte die mittlere der Bennet-Töchter und blickte nun Miss de Bourgh wieder offen an. „Aber ich finde die Sprache, in der es geschrieben ist, sehr schön. Und Byron beschreibt meiner Meinung nach recht treffend einige Geschehnisse aus der Heiligen Schrift.“

„Nun, mag sein, aber es gibt doch noch andere gute Schriftsteller. Was halten Sie beispielsweise von Keats oder Wordsworth?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich bisher nicht viel Lyrik gelesen“, gab Mary zu. „Meine bisherige Lektüre beschränkte sich fast immer auf die Bibel, auf Erbauungsliteratur oder geschichtliche Werke. Byrons Schriften habe ich erst hier in der Bibliothek entdeckt und war sofort fasziniert von den ‚Hebräischen Gesängen‘ und der Sprache, in der Byron diese verfasste. Eigentlich erstaunlich, dass er so etwas zustande gebracht hat. Wie ich hörte, soll er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau haben… und dennoch scheint mir aufrichtig zu sein, was er schreibt. Hören Sie nur, Miss de Bourgh:

 

Die höh‘re Welt

 

O höh’re Welt, lehrt uns der Schmerz

Dich sehnsuchtsvoller zu begehren;

Empfängt uns dort ein treues Herz

Mit gleichem Blick, doch ohne Zähren –

Gegrüßt dann, unbetret’ne Sphären,

Willkommen, jetzt schon, Sterbenszeit,

Wo, fern vom Leid, wir uns verklären

In deinem Glanz, o Ewigkeit!

Es muss so sein, und es ist gut,

Dass wir an jenem Strande beben,

Wo vor uns rollt die Todesflut,

Und noch am flieh’ndem Dasein kleben.

O denket doch an jenes Leben,

Dass unser Herz uns wiederschenkt,

Mit ihm uns fester zu verweben,

Und wo uns himmlisch Wasser tränkt! [1]

 

Klingt das nicht wunderschön, Miss de Bourgh?“

Die Angesprochene erwiderte lächelnd: „Zweifellos klingt es sehr romantisch, aber dennoch ziemlich düster mit dieser Anspielung auf den Tod. Als ob das Leben nicht erstrebenswert wäre. Zu einem jungen Mädchen wie Ihnen würde folgendes besser passen:

 

An einen Schmetterling

 

Grad eine halbe Stunde habe ich geschaut,

wie Du auf gelber Blüte schwebst, vertraut,

und doch, mein kleiner Schmetterling, ist’s Schlaf,

ich weiß nicht, ist's der Nektar, der Dich labt?

Wie regungslos! Das Eis am Meer ist kaum

so regungslos! Und welche Freude Dir,

wenn Dich des Windes frischer Hauch

hat doch gefunden unter diesem Baum

und ruft Dich wieder fort von hier!

 

Ich sorg’ für dieses Stückchen Obstbaumland,

der Blumen Pflege liegt in Schwesterhand:

Wenn Deine Flügel müd’, hier darfst Du ruhn,

hier kehre ein wie in ein Heiligtum!

Komm oft zu uns, hier will Dir keiner schaden!

Laß mich in Deines Zweiges Nähe sein,

von Versen plaudern dann, von Sonnenschein

und Sommertagen, als wir Kinder waren,

wo jeder Tag vom Morgen bis zum Abend

so lang wie jetzt die Zeit von zwanzig Tagen. [2]

 

Finden Sie die Worte des Dichters Wordsworth nicht sehr schön? Er deutet zwar auch die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit an, aber in welch schönen, heiteren Farben beschreibt er dies.“

„Ja, es klingt sehr hübsch“, meinte Mary zaghaft und lächelte leicht. „So, wie dieser Dichter den Schmetterling beschreibt, denkt kaum jemand daran, dass man mit diesem Insekt gemeinhin eigentlich ein flatterhaftes Wesen verbindet.“

„Stupide Zuschreibungen, die engstirnige Menschen diesem hübschen Geschöpf einfach angedeihen ließen, weil sie unfähig sind, die Schönheit von Schmetterlingen zu erkennen…“, Anne hielt kurz inne, um Mary einen forschenden Blick zuzuwerfen, bevor sie fortfuhr: „Diese Menschen halten ja auch Schönheit für etwas Verwerfliches, anstatt es als ein Gottesgeschenk zu sehen.“

„Schönheit kann ein Gottesgeschenk sein“, gab Mary zögernd zu. „Es kommt allerdings darauf an, wie man damit umgeht. Es gibt schöne Menschen, die tugendhaft sind, und andere, die gedankenlos und leichtsinnig ihren guten Ruf aufs Spiel setzen, nur um ihrem Vergnügen zu fröhnen.“

„Das klingt, als sprächen Sie von jemandem, den Sie kennen, meine Liebe.“

„Ja, so ist es, Miss de Bourgh. Aber bitte, fragen Sie mich nicht weiter danach. Denn es ist mir unmöglich, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Es ist zu schmerzlich.“

„Ich werde nicht weiter in Sie dringen, Miss Bennet“, versicherte Anne freundlich. Sie ahnte, dass Mary dabei an ihre jüngere Schwester dachte, die mit einem Offizier durchgebrannt war und eine Zeitlang versteckt in London mit diesem zusammengelebt hatte. Gerade dieser Skandal war es, der es in den Augen ihrer Mutter unmöglich machte, dass ihr Cousin William sich ausgerechnet Elizabeth Bennet zur Braut erwählte und sie trotz ihrer heftigen Intervention heiratete.

Anne legte behutsam eine Hand auf Marys Unterarm und meinte sanft: „Was halten Sie davon, wenn Sie sich ankleiden, in Ruhe frühstücken und dann mit mir einen Spaziergang durch den herrlichen Park unternehmen? Ich werde so lange hier auf Sie warten, bis Sie fertig gefrühstückt haben, und mich in Ruhe in dieser großen Bibliothek umsehen.“

„Sie sind sehr freundlich, Miss de Bourgh“, erwiderte Mary schüchtern. „Aber Sie müssen nicht extra auf mich warten, wenn Sie den Wunsch hegen, einen Spaziergang zu machen.“

„Ich warte gerne auf Sie“, versicherte Anne liebenswürdig und schenkte ihrem Gegenüber ihr strahlendstes Lächeln. „Außerdem genieße ich es richtiggehend, mich in Räumen wie diesem hier aufzuhalten. Bibliotheken strahlen doch eine gewisse stille Würde aus, die einen unwillkürlich ehrfürchtig werden lässt, aber auch beruhigend wirkt. Finden Sie nicht auch?“

„Mag sein, darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, meinte Mary.

„Vielleicht ist es auch nur mein persönlicher Eindruck“, sagte Anne beschwichtigend und lächelte. „Doch ich halte Sie auf, meine Liebe, wo Sie doch gewiss hungrig sind.“

„Nun… eigentlich verspüre ich keinen Appetit“, gab ihre Gesprächspartnerin zu. „Aber es ist sicherlich angebracht, wenn ich mich nun ankleiden gehe. Entschuldigen Sie mich für einen Moment.“

„Vergessen Sie nicht, zu frühstücken“, ermahnte Anne sanft. Mary lächelte dankbar, knickste leicht und verschwand dann aus dem Raum. Anne sah ihr nach, bis sie fort war, und widmete sich dann den hohen Regalen, die sie interessiert entlangschlenderte, ihre Augen neugierig auf die Namen der Werke gerichtet. So verging etwa eine Viertelstunde, bis Anne plötzlich stutzte und ein schmales, in einem hellbraunen Umschlag gebundenes Büchlein aus einem Regal in den hinteren Reihen hervorzog, das dort wohl absichtlich zwischen zwei großen Werken am Rande versteckt worden war. Ungläubig musterte Anne das dünne Buch einen Moment lang, dann glitt unwillkürlich ein Lächeln über ihre Miene.

„Sieh an, William, du besitzt also ‚Sapphos Oden‘“, murmelte das Mädchen. „Wenn Mutter das wüsste, würde sie sicherlich in Ohnmacht fallen.“

Mit heiterem Gesichtsausdruck beschloss Anne, das Büchlein mit sich zu nehmen und Mary daraus etwas vorzulesen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergeben sollte. Sie war gespannt darauf, wie Elizabeths Schwester auf solche Art von Lyrik wohl reagieren würde. Eigentlich fand sie selbst die Oden der griechischen Dichterin ziemlich harmlos, aber da Sappho als eine Frau galt, die der Liebe zum eigenen Geschlecht gefrönt haben sollte, waren ihre Werke in anständigen Kreisen und vor allem für Mädchen und Frauen verpönt. Interessant, dass ihr stets so korrekt wirkender Cousin William einen kleinen Gedichtband der antiken Autorin besaß. Das machte ihn Anne fast sympathisch, da es ihn menschlich erscheinen ließ. Nun, sein Geheimnis war bei ihr in sicheren Händen.

Anne hielt in ihren Überlegungen inne, da sie Schritte von draußen vernahm, die sich der Bibliothek zu nähern schienen. Vermutlich war es Mary Bennet und Anne eilte aufgeregt der Tür zu. Kaum hatte sie sie erreicht, als diese sich öffnete und Elizabeths Schwester ihr entgegenblickte.

„Ich hoffe, Ihnen ist das Warten auf mich nicht zu lang geworden, Miss de Bourgh?“

„Keineswegs, meine Liebe“, versicherte Anne in freundlichem Ton. „Haben Sie gut gefrühstückt?“

„Ja, aber leider ging es nicht schneller“, entschuldigte sich Mary.

„Es ist der Gesundheit äußerst abträglich, zu rasch zu essen“, erklärte Anne, der diese Worte, die sich wie eine Ermahnung ihrer eigenen Mutter anhörten, einfach entschlüpften. Kaum hatte sie es bemerkt, war es ihr sofort peinlich und sie errötete etwas. „Verzeihen Sie, Miss Bennet, es war sicher unangebracht, Ihnen etwas dieser Art zu sagen. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich nicht möchte, dass Sie wegen mir etwas tun, das Ihnen schadet. Ich hoffe dennoch, dass Sie Ihr Frühstück genossen haben?“

„Das habe ich, Miss de Bourgh“, erwiderte Mary und nickte.

„Bitte, meine Liebe, versprechen Sie mir, dass Sie in Zukunft in Ruhe und mit Genuss die Mahlzeiten zu sich nehmen werden. Die Vorstellung, dass Sie sich wegen mir Unannehmlichkeiten machen, behagt mir nämlich gar nicht.“

„Machen Sie sich keine Gedanken, Miss de Bourgh, ich habe in der Tat in Ruhe gegessen. Doch da ich Sie nicht so lange warten lassen wollte, war ich natürlich ein wenig unruhig. Schließlich sind Sie ein Gast, um den man sich kümmern muss.“

„Ach was“, tat Anne es ab. „Mr. Darcy ist mein Cousin und daher sehe ich keinen Grund, warum man sich so viel Umstände mit mir machen sollte. Betrachten Sie mich doch einfach als eine Freundin und bitte, nennen Sie mich Anne.“

„Danke, Miss de Bourgh…“

„Anne…“

„Danke, Anne… oh Gott, wird das auch Ihrer verehrten Frau Mutter recht sein, wenn ich Sie einfach bei Ihrem Vornamen anspreche?”

„Natürlich, ich habe Sie doch darum gebeten.“

Mary lächelte ein wenig und wirkte erleichtert.

„Da Sie es wünschen, nenne ich Sie gerne Anne, und ich bitte Sie aus diesem Grunde, mich ebenfalls bei meinem Vornamen anzusprechen. Ich heiße Mary.“

„Ja, ich weiß, meine Liebe.“

Anne schenkte ihrem Gegenüber ein strahlendes Lächeln, reichte ihr dann ihren Arm und meinte: „Also, Mary, was halten Sie davon, wenn wir jetzt endlich hinaus in den Park gehen? Das schöne Wetter lädt einen geradezu dazu ein.“

„Das finde ich auch“, bekräftigte die mittlere Bennet-Tochter und hakte sich bei der vornehmen jungen Dame, für die sie nach wie vor Hochachtung empfand, ein. Dennoch wagte sie es nicht, von sich aus das Wort an Anne zu richten, als sie wenig später eine lange Allee, die von Bäumen gesäumt war, entlangschlenderten. Nach einer Weile ergriff Miss de Bourgh das Wort.

„Sie verrieten mir gestern, dass Sie nicht glauben, ein Mann könne sich je für Sie interessieren, Mary. Wie kommen Sie überhaupt auf den Gedanken, dass sie keinem gefallen?“

„Nun…. nun ja…“, begann Mary, der dieses Thema unangenehm zu sein schien. Anne, die gerne alles auf einmal über Elizabeths Schwester erfahren hätte, drängte sie jedoch nicht, sondern wartete ab, ob und inwieweit sich Miss Bennet ihr öffnen würde. Als diese nichts weiter sagte, meinte Anne: „Es lag keineswegs in meiner Absicht, Ihnen zu nahe zu treten, meine Liebe. Mich wunderte nur, dass Sie anscheinend glauben, nicht hübsch zu sein, wo sie doch so ein angenehm anzuschauendes Mädchen sind. Wer hat Ihnen denn nur eingeredet, sich selbst hässlich zu finden?“

„Sie sind wirklich sehr freundlich zu mir, Anne“, erwiderte Mary ein wenig schüchtern und errötete leicht. „Aber im Vergleich zu all meinen Schwester sehe ich tatsächlich ziemlich nichtssagend aus.“

„Nicht doch, das finde ich gar nicht!“, widersprach die junge Dame sofort.

„Oh, Sie kennen außer Elizabeth doch keine meiner Schwestern; und Lizzy ist auch sehr hübsch.“

„Ja, das stimmt! Darüber hinaus sehen Sie Elizabeth etwas ähnlich! Sie müssen sich überhaupt nicht hinter ihr verstecken!“

„Ein gütiger Mensch wie Sie sieht gewiss in allen anderen die Schönheit“, wehrte Mary verlegen ab und sah zu Boden. „Aber die meisten Leuten sind nicht so. Sie vergleichen und bewerten. Selbst meine Mutter beklagte sich des Öfteren darüber, dass ich nicht so wohlgeraten sei wie ihre übrigen Töchter. Und wenn Sie meine Schwester Jane, eine überaus große Schönheit, je gesehen hätten, dann verstünden Sie auch die Klage meiner Mutter. Selbst meine beiden jüngeren Schwestern gelten als attraktiv, obwohl sie beide noch sehr albern sind. Dennoch war Lydia, unser Nesthäkchen, als Erste von uns verheiratet.“

„Dass eine Frau verheiratet ist, besagt doch gar nichts“, erwiderte Anne im Ton der Überzeugung. „Doch mich erschüttert es sehr, dass Ihre eigene Mutter so blind zu sein scheint, um nicht zu bemerken, wie bezaubernd Sie sind, Mary.“

„Bezaubernd…?“, hauchte Mary und starrte Anne nun fassungslos an. Sie glaubte, sich verhört zu haben. Als ihre Begleiterin lächelnd nickte, wehrte sie sofort ab: „Nicht doch…. nicht doch, Miss de Bourgh…ähm, Anne… also nein…Sie sind wirklich zu liebenswürdig zu mir…“

„Keineswegs! Sie sind ein sehr hübsches Mädchen und Ihre Bescheidenheit zeichnet Sie darüber hinaus noch vor allen anderen aus. Sie können sich nicht vorstellen, wie angenehm Sie auf mich wirken.“

„Wirklich?“

„Ja, Mary, ich finde Sie äußerst sympathisch“, bekräftigte Anne. „Deshalb tut es mir richtig weh, dass Sie selbst den Urteilen einer ignoranten Umwelt, die gar nicht zu schätzen weiß, was sie an Ihnen hat, Glauben schenken. Sie sind wie eine wertvolle Rose, die sich versteckt, um ungesehen am Wegesrand zu blühen.“

Mary errötete aufgrund dieses Kompliments, das sie nicht recht einzuordnen wusste. Die Freundlichkeiten Miss de Bourghs waren offensichtlich aufrichtig gemeint, aber es nahm sich schon recht seltsam aus, dass eine junge Dame einer anderen derartige Schmeicheleien und Komplimente machte. Wäre Anne ein Mann gewesen, hätte man deren Worte leicht für Umwerbungen ihrer Person halten können, aber so…? Nun ja, möglicherweise war es in den gehobenen, feinen Kreisen, in denen die de Bourghs verkehrten, üblich. Jedenfalls benahm Anne sich so, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, ihr derart schöne Worte zu sagen.

Anne hatte mittlerweile den Weg zum See eingeschlagen und sie schritten munter auf eine der Bänke zu, die dort in einigem Abstand standen. Dabei plauderte Miss de Bourgh weiter, als ob sie nicht bemerkt hätte, wie verlegen sie aufgrund der an sie gerichteten Liebenswürdigkeiten geworden war.

„Wissen Sie, Mary, meine Mutter möchte mich auch liebend gern verheiraten“, erzählte Anne gerade. „Aber da wir kaum in Gesellschaften gehen und ich auch noch nicht bei Hofe eingeführt wurde, fand sich bislang kein Gentleman, der sich für mich interessierte. Es muss also nichts zu bedeuten haben, wenn man keine Verehrer hat. Mir ist das jedenfalls sehr recht.“

„Wirklich?“, fragte Mary und sah Anne überrascht an. „Sie sehnen sich demnach nicht danach, von vornehmen jungen Herren umworben zu werden?“

„Nein, keineswegs!“, antwortete ihre Begleiterin und lachte etwas. „Ganz im Gegenteil. Ich habe mich noch nie mit Heiratsgedanken getragen und sehne mich auch nicht nach dem Ehestand. Zum Glück bin ich wohlhabend genug, um nicht auf eine reiche Heirat angewiesen zu sein.“

„Es würde Ihnen also gar nichts ausmachen, eine alte Jungfer zu werden, obwohl Sie von aparter Schönheit sind?“

„Oh, Sie finden mich also schön, Mary?“

Erneut blickte die Angesprochene rasch zu Boden und ihre Wangen färbten sich noch ein wenig dunkler. Dann schaute sie zaghaft zu Anne hoch und murmelte: „Aber ja… ja, Sie sind wahrhaftig ein Mädchen, das viele Menschen als äußerst apart und anziehend bezeichnen würden. Wenn Sie erst einmal bei Hofe eingeführt werden, können Sie sich wahrscheinlich kaum vor Verehrern retten.“

„Nun ja, mag sein“, meinte Anne mit leichtem Spott in der Stimme. „Allerdings gelte ich auch als sehr gute Partie, so dass es einigen dieser Courschneider ziemlich egal sein dürfte, ob ich hübsch bin oder wie ein Bärenhäuter aussehe. Wer weiß schon, welcher der Gentlemen es dann ehrlich mit mir meint?“

„Das ist wahr, in manche Köpfe kann man einfach nicht hineinsehen“, räumte Mary ein. „Dennoch bin ich davon überzeugt, dass sie vielen Gentlemen überaus gefallen werden.“

„Genau dasselbe denke ich über Sie“, gab Anne lächelnd zurück. „Wenn Sie die Saison in London verbrächten, wären Sie vermutlich bald eine glücklich strahlende Braut.“

„Nein, nein, das kann ich mir nicht denken“, widersprach Mary und schüttelte lächelnd den Kopf. „So hübsch bin ich nicht, dass ein Mann mich um meiner Selbst willen heiraten würde. Leider besitze ich nämlich keine große Mitgift, es ist so gut wie nichts… gerade dieser Umstand ließ es in den Augen Ihrer verehrten Frau Mutter unangebracht erscheinen, dass William Darcy meine Schwester zur Frau nahm. Wäre Elizabeth nicht hübsch und klug, hätte er sie wohl kaum eines Blickes gewürdigt.“

„Mal ganz abgesehen davon, Mary: Was halten Sie persönlich von der Ehe? Sehnen Sie sich nach einem Ehemann, nach einem Heim und eigenen Kindern?“

„Nun ja… es wäre schön, jemanden zu haben, den man liebt und der einem beisteht. Ich glaube, niemand will gern sein Leben allein verbringen.“

„Besser allein als mit einem Menschen an seiner Seite, den man unerträglich findet“, sagte Anne.

„Dem stimme ich vollkommen zu“, antwortete Mary ernst und sah ihre Begleiterin eindringlich an. „Aber wenn man jemanden sympathisch findet, wenn man sich verliebt… ich glaube, es muss schön sein, sein Leben mit einem Menschen zu teilen, den man von Herzen liebt.“

„Ja, das würde ich auch gern…“, seufzte Anne.

Die beiden Mädchen waren mittlerweile bei der Bank angelangt und setzten sich nieder.

„Ich wünschte, ich wäre frei zu entscheiden, mit wem ich zusammenleben will“, fuhr Anne dann fort.

Mary musterte sie wieder erstaunt. Dann fragte sie: „Können Sie das denn nicht?“

„Meine Mutter wünscht, dass ich heirate“, erklärte Anne traurig. „Ich fürchte, eines Tages werde ich mich ihrem Wunsch fügen und mich mit dem Mann vermählen müssen, den Sie für mich ausgesucht hat. Liebe spielt in diesem Fall keine Rolle, sondern nur der gesellschaftliche Stand und das Vermögen. Keine besonders angenehme Aussicht, nicht wahr?“

„Nein“, gab Mary ihr recht und nickte. „Genauso wenig wie die für mich wahrscheinliche Zukunft, eine arme, alte Jungfer zu werden. Wenn ich Glück habe, kann ich hier auf Pemberley bleiben und mich um die Kinder der Darcys kümmern, bis sie erwachsen sind. Denn die Aussicht für mich, einen Mann zu bekommen, den ich liebe und der meine Gefühle erwidert, sind überaus mager.“

„Waren Sie denn schon einmal verliebt, Mary?“, erkundigte sich Anne interessiert, denn ihr war der unterschwellig sehnsuchtsvolle, traurige Ton ihrer Sitznachbarin nicht entgangen.

„Einmal… ja, einmal war ich sehr verliebt…“, murmelte Mary und blickte betrübt vor sich hin. „Leider hatte der Mann kaum einen Blick für mich übrig, hatte nur Augen für meine Schwestern, während er mich gar nicht zu bemerken schien… wirklich albern von mir, mich in ihn zu verlieben, nicht wahr?“

„Unsere Gefühle können wir uns nun einmal nicht aussuchen“, erwiderte Anne verständnisvoll, ergriff spontan Marys Hand und drückte sie leicht. „Und es ist niemals albern, jemanden zu lieben, selbst wenn dieser Jemand unsere Gefühle nicht erwidert oder uns nicht zu bemerken geruht. Mit der Zeit werden Ihre Gefühle für diesen ignoranten Dummkopf, der ein hübsches Mädchen wie Sie nicht anschauen wollte, sicherlich vergehen. Ich bin davon überzeugt, dass Sie etwas Besseres verdient haben… einen Menschen, der Sie wirklich von Herzen liebt…“

„Sie klingen so, als ob Sie wüssten, wovon Sie sprechen“, wisperte Mary und schaute Anne nun ihrerseits interessiert an. „Waren Sie denn auch schon einmal verliebt?“

„Nicht wirklich… nein, eigentlich nicht…“, gab Anne zögerlich zu. Sie erinnerte sich daran, als sie vor ein paar Jahren das erste Mal einen der Bildbände ihres verstorbenen Vaters Lewis aufgeschlagen und darinnen den Druck eines Gemäldes zweier, in fließende Gewänder gekleideter Frauen in inniger Umarmung und der Andeutung eines Kusses erblickt hatte. Dabei bemerkte sie deutlich, wie sehr diese Abbildung sie im tiefsten Inneren berührte und dermaßen gefangen nahm, dass sie ihre Augen kaum mehr davon zu lösen vermochte. Damals, als sie fast noch ein Kind war, hatte sie sich tatsächlich ein wenig in diese beiden gemalten Frauen verliebt, obwohl sie sie niemals lebend zu Gesicht bekommen hatte und sich nur in ihrer Phantasie vorstellte, wie die beiden sie in ihre Mitte nahmen und liebkosten. Dies hatte jedes Mal äußerst leidenschaftliche Gefühle in ihr ausgelöst und ließ sie auch in diesem Augenblick keineswegs unberührt. Doch jetzt musste sie sich selbst beherrschen. Schließlich wollte sie die unbedarfte Mary nicht erschrecken. Das Mädchen schaute sie ohnehin schon an, als ob sie aus einer anderen Welt stammte.

Anne lächelte Mary zu und drückte erneut deren Hand.

„Ich habe mir immer nur vorgestellt, wie es wäre, mit jemandem zusammenzusein, den man liebt“, erklärte sie dann, worauf Mary nickte, zum Zeichen dafür, dass sie sie verstand. Annes Lächeln wurde breiter und sie fuhr fort: „Möglicherweise werde ich mich bald tatsächlich in einen echten Menschen verlieben… es gibt da nämlich jemanden, der mir äußerst sympathisch ist…“

„Ein junger Mann aus Ihrem engeren Bekanntenkreis?“, fragte Mary und sah sie erwartungsvoll an.

„Nein, es handelt sich um jemanden, den ich erst vor kurzem kennengelernt habe“, antwortete Anne und schlug nun den schmalen Gedichtband auf, den sie mitgenommen hatte. Mary lauschte aufmerksam, als sie ihr daraus vorlas:

 

„An ein geliebtes Mädchen

 

Göttern gleich dünkt – seelig wie Götter sich

Der Mann zu seyn, der gegen dir über dasitzt,

und in deiner Nähe der süssen Stimme

Zaubergespräch lauscht,

 

und des Lachend Wonnegetön, das jetzo

traun! das Herz mir tief in der Brust erschüttert,

denn erblick‘ ich dich, so erstirbt des Mund’s gleich

jeglicher Ton in mir.

 

Nein, die Zung ist dann mir gelähmt, ein zartes

Feuer rollt schnell unter die Haut herum mir,

mit den Augen seh‘ ich nicht, und es klingen

dumpf mir die Ohren.

 

Kalter Angstschweiß rinnet herab, es rafft mich

Beben ganz dahin, und erbleicht wie Spätgras

bin ich; kaum noch weht mir der Athem und ich

scheine zu sterben.“ [3]

 

Nachdem Anne diese Ode Sapphos vorgelesen hatte, ließ sie den Band auf ihren Schoß sinken und schaute Mary aufmerksam an.

„Nun, wie fanden Sie dieses Stück Lyrik aus der Antike?“

„Ich… ich weiß nicht…“, murmelte Mary verwirrt. „Der Dichter, der dies schrieb, muss sehr verliebt in jenes Mädchen gewesen sein. Seine Worte klingen leidenschaftlich.“

„Oh ja, es ist zweifellos leidenschaftlich“, bekräftigte Anne und lachte ein wenig. „Allerdings war es eine Frau, die diese Worte schrieb.“

„Eine Frau?“

Wieder einmal erkannte Anne an dem erstaunt-erschüttertes Gesichtsausdruck Marys, wie behütet sie aufgewachsen war. Sicherlich hatte sie nie zuvor etwas von Sappho gelesen.

„Frauen können doch auch eine starke Zuneigung zueinander entwickeln“, begann Anne daher behutsam, ohne Mary aus den Augen zu lassen. „Eine starke Freundschaft kann ohne diese Art von Zuneigung sicherlich nicht bestehen. Bestimmt haben Sie auch eine gute Freundin, die Sie allen anderen vorziehen, der Sie sich vorbehaltlos anvertrauen und die Sie überaus schätzen.“

„Nun… eigentlich… nein, eigentlich nicht“, erwiderte Mary.

„Das wundert mich wirklich“, meinte Anne, nahm wieder die Hand ihrer Sitznachbarin und drückte einen leichten Kuss auf ihren Handrücken. „Wie kann eine so liebenswürdige, kluge junge Dame wie Sie keine enge Freundin haben? Weiß denn wirklich niemand in Ihrer näheren Umgebung Sie zu schätzen?“

Mary, verwirrt von dem Handkuss  der Miss de Bourgh, schüttelte stumm den Kopf.

„Nicht zu fassen“, murmelte Anne. „Nun, dann erlauben Sie mir bitte, Ihre Freundin zu sein… ich möchte gerne Ihre beste Freundin sein, denn ich mag Sie wirklich sehr gern.“

„Oh, Anne… ich… es wäre mir eine Ehre, wenn…“, stotterte Mary, doch Miss de Bourgh unterbrach sie, indem sie ihr einen Finger auf den Mund legte.

„Sch, sch, sch… Mary, kein weiteres Wort mehr über Ehre und ähnlichen Unsinn“, flüsterte sie und näherte ihr Gesicht der mittleren Bennet-Tochter. „Ich fühle mich stark zu Ihnen hingezogen und hege jetzt schon eine große Sympathie und Zuneigung zu Ihnen. Meine liebe Mary, ich will für immer Ihre Freundin sein… stets die Ihre für alle Zeiten, was auch geschieht…“

Und dann verschloss Anne Marys Lippen zart mit den ihren. Zunächst spürte sie, wie Mary ein wenig erschrak, und streichelte daraufhin beruhigend über deren Oberarme. Dann jedoch erwiderte Mary mit leichtem Druck den Kuss. Anne glaubte, noch nie so glücklich wie in diesem Moment gewesen zu sein. Nur widerwillig löste sie ihren Mund von demjenigen des verehrten Mädchens. Mary blickte sie an, in ihren Augen schimmerte es feucht, und sie lächelte etwas. Dennoch wirkte sie verwundert und auch ein wenig fassungslos.

„Willst du mir auch stets die liebste Freundin sein, Mary?“, wagte Anne schüchtern zu fragen und fürchtete sich einen Augenblick lang davor, eine ablehnende Antwort zu erhalten.

„Ja…“, hauchte Mary eine Sekunde später. „Ja, ich möchte für immer deine liebste Freundin sein, Anne.“

Über Annes Gesicht glitt ein glücklicher Ausdruck und in ihren Augen begann es ebenfalls feucht zu schimmern.

„Du warst auch immer allein, nicht wahr?“, fragte Mary in diesem Moment und als die junge Dame stumm nickte, schloss sie sie einfach in die Arme. Eine Weile verharrten die beiden Mädchen so, bis Elizabeths Schwester plötzlich in Annes Ohr wisperte: „Ich hätte nie für möglich gehalten, jemals eine verwandte Seele wie dich zu treffen, liebste Freundin. Es ist also kein Mythos, dass es so etwas wie Liebe zwischen zwei Mädchen gibt, nicht wahr?“

„Nein, es ist kein Mythos“, flüsterte Anne und schenkte Mary einen zärtlichen Blick, den diese auf ebensolche Weise erwiderte. „Ich hatte insgeheim immer gehofft, eines Tages jemanden zu finden, der meine Gefühle erwidert und mich versteht. Jemanden, dem ich mich anvertrauen kann.“

„Auch ich sehnte mich immer nach einer solchen Freundin, obwohl die Aussicht darauf, jemanden wie dich zu finden, so gut wie unmöglich war; und als ich mich in den jungen Mann verliebte, dachte ich, die Sehnsucht nach einer lieben Freundin wäre nur eine Phase gewesen, die ich überwunden habe. Wenn ich dir nicht begegnet wäre, dann… oh, Anne, ich wäre verloren gewesen…“

„Aber… aber du wirktest so erschüttert, als ich dir Sapphos Gedicht vortrug. Deshalb dachte ich, du hättest noch nie etwas von der tiefen Freundschaft voller Liebe gehört, die es zwischen Frauen geben kann.“

„Natürlich durfte ich nie Derartiges lesen“, gab Mary zu und lachte nun etwas. Es klang befreit und sie wirkte auf einmal überaus gelöst und glücklich. „Aber natürlich habe ich durch historische Bücher von der Dichterin aus Lesbos gehört und mich gefragt, wie die tiefe Freundschaft von Frauen wohl aussehen könnte… und als du mir eben ein so leidenschaftlich geschriebenes Gedicht vorgetragen und mir danach verraten hattest, dass es von einer Frau verfasst  wurde, da war ich allerdings sehr überrascht und es erschreckte mich auch ein wenig… bestimmt wäre es niemandem aus unserer Familie recht, dass wir eine Ode dieser Art lesen…“

„Nein, gewiss nicht!“, stimmte Anne ihr in heiterem Ton zu. „Aber was würdest du sagen, wenn ich dir verrate, dass dieses Gedichtbändchen aus der Bibliothek deines Schwagers William stammt? Er hatte es in einem der hinteren Regale gut versteckt und ich konnte es nur finden, weil ich mich in aller Ruhe dort umgesehen habe, während ich auf dich wartete. Du siehst also, dass es von Vorteil ist, wenn man sich in manchen Dingen Zeit lässt.“

Die beiden Mädchen lachten noch einmal laut auf und lösten sich dann endlich voneinander.

„Wir sollten allmählich zum Haus zurückgehen. Es wird bald Mittag sein“, meinte Anne dann, erhob sich und reichte Mary ihre Hand. Diese stand ebenfalls auf und ergriff die Hand ihrer neuen Freundin. Gemeinsam schlenderten sie Hand in Hand mit glücklichem Lächeln in Richtung Schloss…

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[1] Lord Byron: Hebräische Gesänge. Aus dem Englischen von Franz Theremin, Blatt 7.

[2] William Wordsworth: Auswahl aus seinem Werk: Englisch und Deutsch. Übertragungen von Dietricht H. Fischer, 5. April 2003, www.william-wordsworth.de

[3] Aus: Sapphos Oden griechisch und deutsch, mit erklärenden Anmerkungen von Anton Möbius. Hannover 1815. Übersetzt von Ernst Anton Möbius (1779-1838).
 

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Kapitel: 2
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Kurzbeschreibung

Anne de Bourgh lernt Mary Bennet kennen und findet sie sofort sympathisch. Sehr bald wird ihr jedoch klar, dass ihre Zuneigung das Maß der Sympathie übersteigt.

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit Liebe, Romanze und Schmerz und Trost getaggt.

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