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Fanfictions schreiben in gut. Ein Schreibratgeber für Kritikgeplagte

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05.01.19 00:15
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Autorennotiz

Hallo zusammen und herzlich willkommen in diesem Schreibratgeber extra für Fanfictions.

Die einen oder anderen werden das Gefühl vielleicht kennen: Die frustrierendste Erfahrung beim Lesen ist nicht, dass jemand einen schlechte Idee hatte, sondern dass eine gute Idee schlecht umgesetzt wurde. Daher findet ihr hier getreu dem Motto "vieles geht, aber es geht besser" hier Tipps rund um die großen Fanfiction-Fragen: Wie lässt sich über Mary schreiben, ohne dass aus ihr eine Sue wird? Wann tut ein AU nicht weh? Und wie werden aus Erzfeinden eigentlich glaubwürdig Herzmenschen? Vieles von dem, was ich euch hier weitergebe, musste ich selbst erst lernen und auch wenn ich nur mit Wasser koche, hoffe ich, ihr könnt hieraus etwas für euch mitnehmen.

Diesen Schreibratgeber hatte ich ursprünglich auf Wattpad veröffentlicht und auf Storyhub war er in Teilen auf einem altem Geschmeinschaftsaccount online. Inzwischen finde ich den Titel nicht mehr so gelungen, habe ihn zur Wiedererkennung beibehalten. Einige Kapitel, die auf Wattpad einzusehen waren, habe nicht übernommen. Vielleicht stelle irgendwann überarbeitet Versionen davon online. Derzeit (4. 1. 2019) ist wegen Überarbeitung einiger Kapitel die Kommentarfunktion vorübergehend deaktiviert.

Bitte beachtet, dass ich in diesem Ratgeber nicht auf Crossover und Realperson Fictions eingehe!

Auf eine produktive Zeit!
Augurey

Zu Beginn möchte ich auf eine ganz zentrale Frage eingehen. Die Leitfrage dieses Ratgebers, die ihr euch sicherlich auch selbst schon gestellt habt.

Was macht eigentlich eine gute Fanfiction aus?

Nun, das ist nicht so leicht zu beantworten. Denn die Meinungen gehen hier sehr stark auseinander. Für manche ist eine Fanfiction nur gut, wenn ihr OTP darin vorkommt. Den nächsten ist es vor allem wichtig, dass die Geschichte spannend ist. Und wieder andere achten darauf, dass sie sich strikt an den Canon hält. Bei so unterschiedlichen Interessen ist es natürlich schwierig, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.

Um doch eine Antwort zu finden, schauen wir uns einmal an, was „Fanfiction" eigentlich bedeutet.

Auf vielen Webseiten zum Thema sowie in Onlinelexika und Enzyklopädien (einschließlich Tante Wiki) findet man folgende Definition: „Fanfictions sind Geschichten, die von Fans zu einem bestimmten Werk geschrieben werden". Daraus lassen sich zwei Dinge schließen: Erstens die ziemlich banale Erkenntnis, dass die Urheber von Fanfictions Fans sind - was uns nicht weiter zu interessieren braucht. Und zweitens – und das ist der entscheidende Punkt – dass Fanfictions einen Bezug zu einem bestimmten Original aufweisen. Eine Geschichte ist also nur dann eine „Herr der Ringe"-Fanfiction, wenn auch Elemente aus „Herr der Ringe" darin auftauchen. Wenn jemand dagegen seine eigene Welt entwirft mitsamt ihrer fantastischen Rassen und einem bösen, magischen Artefakt, das vernichtet werden muss, kann er noch so sehr von Tolkien inspiriert sein – es wird nie eine HdR-Fanfiction daraus.

Kurzum sind Fanfictions also nichts anderes als Spin-offs, alternative Versionen und Fortsetzungen eines bestehenden Werks. Wenn man Fanfictions als Literatur ernst nimmt (und nicht nur als reine Blödelei ansieht), ergeben sich aus hieraus besondere Kriterien, anhand derer sich die Qualität einer Fanfiction messen lässt. Denn an Fortsetzungsbände und ähnliche Werke werden bestimmte Erwartungen gestellt, die sich am ehesten mit dem Schlagwort „Kohärenz" zusammenfassen lassen. Genauer gesagt geht es darum, dass beide Geschichten sichtbar zusammengehören. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Charaktere, die sich im Vorgängerband noch abgrundtief hassten, nicht plötzlich so dargestellt werden, als seien sie seit Jahren die allerbesten Freunde. Qualität heißt in diesem Sinne also „Wie gut gelingt es einer Fanfiction, sich in den Kontext des Bezugswerks einzufügen?". Was nicht zwangsläufig eine Aussage darüber ist, ob die Geschichte an sich gut oder schlecht ist. Oben genannter Fantasyroman kann eine richtig tolle Geschichte sein, doch als „Herr der Ringe"-Fanfiction wäre sie unbrauchbar. Oder kurz gesagt: Wo ein bestimmtes Fandom draufsteht, sollte auch ein bestimmtes Fandom drin sein.

Genauso wie gute Fortsetzungsgeschichten, ein gutes Spin-off und eine gute Alternativversion zeichnen sich gute Fanfictions dadurch aus, dass sie nachvollziehbar ans Original anschließen. Salopp: Man kann die DVD nach der 17. Szene ausschalten und die Fanfiction lesen, ohne das Gefühl zu haben, wortwörtlich im falschen Film zu sein. Es geht also um ein Wiedererkennen. Ein Wiedererkennen der Charaktere, der Welt, der Regeln, der Handlung. Eine gute Fanfiction macht aus Maximilian Mustermann, dem Reinigungsprofi mit zwanghaftem Ordnungsfimmel, nicht einfach so Maxi-Man, König des Chaos, dessen Bude immer so aussieht als wäre mal eben eine Horde Wildschweine durchgelaufen. Sie hält sich an das, was das Original vorgibt. Sie besitzt Canontreue – jenes ominöse Ding, das Canonfuchser fast heiligsprechen.

Das bedeutet aber nicht, dass eine gute Fanfiction nur nacherzählen darf, was der Canon bereits vorgibt. Bei der Kritik liegt die Betonung auf „einfach so", „plötzlich" und „aus heiterem Himmel". Canontreue bedeutet in diesem Sinne nicht zwangsläufig ein stures Marschieren auf den vorgezeichneten Linien. Vielmehr geht es darum, sinn- und respektvoll mit dem Material umzugehen, das das Original bereitstellt. Wenn Fanfictions Alternativversionen, Spin-offs und Fortsetzungen sind, dann dürfen sich Charaktere und Handlung dort natürlich auch weiterentwickeln und den eingeschlagenen Weg verlassen. Denn das geschieht ja auch in offiziellen Werken. Ein Pärchen, das im ersten Band noch zusammen war, kann im dritten längst getrennt sein und neue Partner gefunden haben. Es kommt nicht also nicht so sehr darauf an, wo die Fanfiction endet, sondern wo sie anfängt. Und das sollte dort sein, wo der Canon aufhört. Gute Fanfictions bieten dem Leser immer eine Brücke, um vom Original in die Fanfiction zu gelangen, ohne dabei ins kalte Wasser zu fallen. Die Pfeiler einer solchen Brücke heißen „Entwicklung" und „Begründung" und ihr Bau wird uns noch in den weiteren Kapiteln beschäftigten.

Fürs Erste lässt sich festhalten, dass eine gute Fanfiction durchdacht und respektvoll mit dem Original umgeht, anstatt wie die Axt im Walde rücksichtslos nur die besten Stücke herauszuhauen; dass sie darauf achtet, dass die Figuren in character sind, dass sie maßgebliche Weltregeln beachtet und die bisherige Handlung berücksichtigt.

Neben diesen speziellen Kriterien braucht eine gute Fanfiction natürlich auch alles andere, was gute Geschichten im Allgemeinen ausmacht: Nachvollziehbarkeit und Logik, gut charakterisierte Figuren, einen spannenden Plot und einen angenehmen Stil.

Und mit dieser Erkenntnis steigen wir ein in den praktischen Teil dieses Ratgebers.

Beginnen wir den Praxisteil dieses Ratgebers mal ganz am Anfang: bei der Vorbereitung eures Werks. Vorbereitung? Ja! Denn schon vor dem eigentlichen Schreiben gibt es oft einiges zu tun, wenn eine Geschichte gut werden soll. Zumindest dann, wenn ihr vorhabt, etwas Längeres zu schreiben.

Vielleicht kennt ihr das ja selbst: Ihr habt eine Fanfiction begonnen. Und am Anfang lief es auch ganz. Dann aber kam ein Kapitel, zu dem euch kaum noch etwas einfiel. Ihr habt geschildert, was der Charakter so tut, wie er aufsteht, sich duscht und das Haus verlässt. Aber ihr hattet das Gefühl, dass euer Text nicht wirklich viel aussagt. Und am Ende habt ihr vielleicht sogar bei euren Lesern nachgefragt, was ihr schreiben sollt, weil euch die Ideen ausgegangen sind.

Zu solchen Schwierigkeiten kommt es oft, wenn eine Fanfiction nicht gut geplant ist. Denn in vielen Fällen entscheidet eine gute Planung darüber, ob eine Geschichte „gelingt". Doch warum ist das eigentlich so? Und was heißt Planung in diesem Zusammenhang?

Schauen wir uns dazu mal an, was einen Roman und andere, längere Geschichten eigentlich ausmacht.

Solche Geschichten sind nicht einfach nur eine große Ansammlung an wahllosem Text. Vielmehr verfolgen sie ein bestimmtes Ziel. Ein Krimi zum Beispiel die Aufklärung eines Verbrechens, eine Romanze das Zusammenkommen zweier Menschen, ein Fantasyroman vielleicht die Zerstörung eines magischen Amuletts. Was auch immer das Ziel sein mag, es bestimmt, wie der Text aufgebaut ist. Denn was zwischen dem ersten und letzten Kapitel geschrieben steht, ist darauf ausgerichtet, dem Ziel Schritt für Schritt näherzukommen. Dieses Näherkommen ist eure Handlung. Handlung bedeutet hier nichts anderes als eine Kette von Ereignissen, die miteinander in Zusammenhang stehen und aufeinander aufbauen: Ein Mord geschieht – die Polizei ermittelt – sie findet den Mörder – der Mörder wird vor Gericht gestellt und verurteilt; zwei Menschen lernen sich kennen – sie verabreden sich – sie verlieben sich – sie gestehen einander ihre Liebe und werden ein Paar.

Wie ihr seht, steckt hinter einer langen Geschichte also immer ein System. Was in den einzelnen Kapiteln geschieht, passiert nicht zufällig, sondern folgt einem ganz bestimmten Plan. Einem Plan, der letztendlich zum Ziel der Geschichte führen soll.

Dieser Plan, sowie die Ziele und Handlungen, die ihn bestimmen, sind die wichtigsten Merkmale einer Geschichte. Denn sie machen sie erst zu einem zusammenhängenden Text, in dem ein Abschnitt auf dem nächsten aufbaut. Damit unterscheiden sich Geschichten zum Beispiel von Tagebüchern, in denen einfach jemand lose all seine Gedanken und Eindrücke sammelt, ohne dass zwischen den einzelnen Einträgen ein Zusammenhang besteht noch irgendein Ziel angestrebt wird. Oder von vielen Fernsehserien, bei denen zwar alle Folgen im selben Universum spielen, man aber die erste nicht gesehen haben muss, um die zwölfte zu verstehen.

Das Problem bei vielen Fanfictions ist nun, dass sie zwar als zusammenhängende Geschichten gedacht sind – aber nicht so geschrieben werden. Wie oft habe ich zum Beispiel in Vorworten Dinge gelesen wie: „Eigentlich sollte das nur ein Oneshot werden, aber weil viele es so gern mochten, setz ich ihn jetzt doch fort". Oder erlebt, dass Leute in Foren erzählten, dass sie „einfach so drauflos schreiben". Nicht, dass ihr mich nun falsch versteht: Spontanität ist nicht verboten und manche kommen damit sogar sehr gut zuerecht. Doch gerade, wenn man noch wenig Erfahrung im Schreiben hat, kann „einfach drauf los schreiben" auch dazu führen, dass man sehr schnell in die Falle geht. Das Schreiben ist so nämlich nicht zielgerichtet, sondern gleicht mehr dem freien Schreiben eines Tagebuchs. Man hat vielleicht eine grobe Idee, was in der Geschichte passieren soll („ich will Charakter X und Charakter Y zusammenbringen"), aber keine genaue Vorstellung davon, wie das eigentlich vonstattengehen soll. Kurzum: Man hat keinen Plan. Stattdessen schreibt man einfach auf, was einem als erstes in den Sinn kommt. Und so lesen sich die Fanfictions dann auch: Der Charakter tut mal dies, mal jenes; Handlungsorte, Landschaften, Aussehen, Kleidung, Taten (wie frühstücken oder duschen) oder Gedanken und Gefühle der Figur werden zwar oft ausgiebig und manchmal auch in schillerenden Worten beschrieben, aber es ist kein roter Faden zu erkennen. Eine wirkliche Handlung kommt nicht in Gang und sobald die spontanen Einfälle aufgebraucht sind, gehen einem die Ideen aus.

Wenn ihr dieses Problem kennt, dann hilft euch nur eines: Planung. Und zwar viel Planung. Eines muss euch bewusst sein: Einen Roman zu schreiben (und eine lange Fanfiction ist nichts anderes als das) kostet viel Zeit und Mühe. Es geht nämlich um weit mehr als um das Aneinanderreihen schöner Worte und Szenen. Ihr werdet monatelang beschäftigt sein, wenn nicht sogar noch länger.

Falls ihr die Herausforderung annehmen wollt, geht es für euch weiter auf der nächsten Seite. Das Planen von Handlungsverläufen nennt sich „Plotten" (vom englischen Wort für Handlung: Plot). Ihr könnt eure Planungen stichpunkartig auf dem PC oder im Notizbuch festhalten oder euch Mindmaps und Zeichnungen zum Handlungsverlauf anfertigen. Schnappt euch also die Tastatur oder das Mäppchen, es geht los...

Willkommen zurück, ihr Planer. Wie ich schon im letzten Kapitel sagte, kann eine gute Planung verhindern, dass euch die Ideen ausgehen. Doch das ist noch nicht alles! Ob man sich verzettelt, weil man unbedacht Handlungsstränge aufwirft, die man dann nicht weiterspinnen kann oder die Geschichte nicht im richtigen Tempo vorankommt: Planung ist das Heilmittel gegen eine ganze Reihe von „Kinderkrankheiten".

Aber: Nicht alle haben den gleichen Bezug zum Planen. Es gibt verschiedene Typen. Manche müssen ihre Geschichten bis ins kleinste Detail plotten, ehe sie mit dem Schreiben anfangen können. Andere sind eher spontan und kommen ohne viel Planung besser zurecht. Und dann gibt es so Leute wie mich, die mit einem Mittelmaß an Planung am besten fahren. Zu welcher Sorte ihr gehört, müsst ihr ausprobieren. Ich stelle euch hier eine Möglichkeit vor, wie ihr es handhaben könnt. Passt sie so an, wie es für euch am besten ist.

Schritt 1: Wisst, worüber ihr schreiben wollt

Es ist banal, doch hatte ich schon bei manchen Fanfictions das Gefühl, es wurde vergessen: Jede Geschichte braucht ein Thema. Und zwar eines, das geeignet ist, um daraus einen Handlungsverlauf abzuleiten. ‚Ein Jahr in Hogwarts' oder ‚mein OC auf der Enterprise' sind das nicht. Denn diese Ideen sind viel zu weit gefasst. Sie sagen nicht mehr aus, als dass magiebegabte Jugendliche eine Menge Schulstunden haben oder euer eigener Charakter auf einem Raumschiff durchs All fliegt. Was ihr damit habt, ist zwar ein Setting mit einem bestimmten Alltag, aber noch keinen Ansatz für eine nennenswerte Handlung. Was passiert in diesem Jahr in Hogwarts? Was erlebt der OC auf der Enterprise? Das wären die entscheidenden Fragen. Oder anders gesagt: Wisst, welche Geschichte ihr den Lesern erzählen möchtet! Wollt ihr sie mitnehmen in ein neues Abenteuer? Wollt ihr ein Pärchen verkuppeln? Vielleicht beides? Fragen sind dabei übrigens ein gutes Stichwort. Denn wenn ihr es schafft, euer Thema in einer Frage zu formulieren, kann euch das helfen, euren Blick auf die Handlung zu schärfen. Natürlich klappt das aber nicht mit allen Themen.

Wenn ihr das Thema eurer Geschichte wisst, ist es Zeit, euch Gedanken über den Weg und die einzelnen Stationen zu machen. Es ist wichtig, dass ihr ein Gespür dafür bekommt, wie lang der Weg der Geschichte, die ihr erzählen wollt, eigentlich ist. Unterschätzt dabei nicht, dass eine Geschichte Raum braucht. Viele Schreibneulinge machen den Fehler, dass sie sich zu Beginn mühen sparen, indem sie einige Entwicklungen schon voraussetzen, die eigentlich Teil der Geschichte wären. Beispielsweise erlebe ich es immer wieder, dass die Figuren schon zu Beginn der Fanfiction heimlich ineinander verliebt sind. Oft gehen den Schreibenden dann schon nach wenigen Kapiteln die Ideen aus und das ist kein Zufall. Denn wenn ihr eine Romanze schreibt, dann habt ihr die Hälfte des Weges schon hinter euch, wenn die Charaktere längst verliebt sind. Es wäre eure Aufgabe, zu beschreiben, wie sie sich ineinander verlieben, wenn euer Ziel ist, zwei Charaktere zu verkuppeln, die in der Vorlage nicht verliebt waren. Dies solltet ihr immer im Hinterkopf behalten. Doch weiter im Text.

Schritt 2: Kennt euer Ziel

Eine weitere Banilität: Um zielgerichtet zu schreiben, ist es hilfreich, das Ziel zu kennen. Nun ist es so, dass manche Themen schon ihr eigenes Ende enthalten. „Wie kommen X und Y zusammen?" sagt schon aus, dass die Geschichte mit einem Liebespaar enden wird. Bei anderen Themen ist dies nicht der Fall.  Bei „was wäre, wenn der Bösewicht überlebt hätte und der Held gestorben wäre?" weiß man zwar, wie die Geschichte beginnt, aber nicht, wie sie endet. Ihr habt also keine Ahnung, wohin die Handlung führt. Und das kann euch auch ins Stocken bringen. Deswegen: Schließt für einen Moment die Augen, stellt euch vor, wie die Geschichte ausgeht und schreibt es auf.

Schritt 3: Kennt euren Anfang

Wo es ein Ende gibt, gibt es natürlich auch einen Anfang. Und der ist genauso wichtig. Manchmal gibt das Thema diesen schon vor, siehe das Beispiel in Schritt zwei. Bei anderen Geschichten hingegen ist der Anfang nicht so klar. Ich weiß nicht, ob das nur in Harry Potter Fandom so ist, aber mir fällt bei Fanfictions immer wieder auf, dass Schreiberlinge oftmals wahnsinnig umständliche Ausgangssituationen konstruieren, besonders wenn es um Pairings geht. Da startet Albus Dumbledore (Schulleiter von Hogwarts) irgendein Schulprojekt, das offenbar keinen anderen Sinn hat als zwei Schüler zu verkuppeln. Denn weder wird ersichtlich, was der Schulleiter mit dem Projekt eigentlich bezweckt noch spielt das Projekt neben dem Pairing irgendeine Rolle. Und genau das ist, was ich meinte, als ich sagte, Planung helfe dem Verzetteln mit unbedachten Handlungssträngen entgegen. Ein Schulprojekt sollte nur dann einen Platz in der Geschichte haben, wenn es auch entsprechenden Raum einnimmt. Das gilt ebenso für „wichtige Missionen", die den Helden durch ein Dorf führen, in dem die schöne Maid lebt, in die er sich verlieben soll und dann nie wieder erwähnt wird und ähnliches. Mein Tipp: Anstatt Anfangssituationen zu konstruieren, mit denen ihr gleich so ein Riesenfass aufmacht, schaut euch eher an, wo der Canon selbst Ansatzpunkte bieten könnte. Warum ein Schulprojekt starten, das eh keine weitere Bedeutung hat, wenn man den beiden Charakteren auch einfach für ihr Brechen der Schulregeln im Original einen Haufen gemeinsamen Nachsitzens aufdrücken könnte?

Schritt 4: Legt Zwischenstationen fest

Jetzt, da ihr wisst, welche Geschichte ihr erzählen wollt und auch deren Anfang und Ende kennt, kommt der schwierigste Teil von allen: Der Weg - und damit auch das Plotten im engeren Sinne. Nun gibt es Geschichten wie Sand am Meer und jede hat eine andere Handlung (oder besser gesagt andere Handlungen). Doch etwas haben alle Geschichten gemeinsam: In jeder gibt es bestimmte Schlüsselstellen, die den Ball in eine bestimmte Richtung lenken. In einem Krimi ist das zum Beispiel die Entdeckung der Leiche oder der anonyme Anruf, der den heißen Tipp gibt; in einer Romanze der Moment, in dem sich das spätere Liebespaar zum ersten Mal begegnet und der erste Kuss. Ich denke, ihr versteht, was ich meine.

Eure Aufgabe ist nun, für eure Fanfiction solche Schlüsselstellen festzulegen – quasi als Zwischenetappen auf dem Weg zum Ziel. Schmeißt also die grauen Zellen an und fragt euch: „Was muss alles geschehen, damit die Handlung in die Richtung verläuft, wo ich sie haben will?" Jede Zwischenstation ist ein Schritt auf das Ziel eurer Geschichte zu. Wichtig ist dabei, dass der Weg nicht zu kurz, aber auch nicht zu lang ist. Denn in beiden Fällen kommt irgendwann Langeweile auf. Leser sind eben wie Wanderer, die gerne etwas von der Landschaft sehen, aber auch nicht ewig durchs Gelände gehetzt werden wollen. Weil ich auf die Themen Charakterentwicklung und Pairings in späteren Kapiteln nochmal extra eingehe, möchte ich es am Beispiel „Krimi" erklären.

Die Handlungskette eines Krimis könnte so aussehen:

Auffinden der Leiche und Spurensicherung – Abgleich von Fingerabdrücken mit der Datenbank (sie gehören zu polizeibekanntem Mann) – Stellen des Verdächtigen – Geständnis des Verdächtigen

Das wäre aber ziemlich langweilig und die Geschichte ziemlich schnell vorbei.

Möglich wäre dann auch noch das hier:

Auffinden der Leiche und Spurensicherung – Finden von Fingerabdrücken (falsche Spur) – anonymer Anruf (falsche Spur) – Förster findet Axt im Wald (falsche Spur) – Polizei erhält anonymen Brief (falsche Spur) – [...]

Spätestens bei der fünften falschen Spur werden eure Leser den Monitor oder das Handy schütteln und mit wütendem Gesicht rufen: „Mach endlich hinne!"

Ein guter Handlungsverlauf ist etwas zwischen den beiden. Die Handlung darf an manchen Stellen gerne mal „ausbrechen" und die Spur zum Ziel verlassen. Jedoch solltet ihr sie dann wieder auf die richtige Bahn zurücklenken und nicht auf der Stelle treten. Am besten, ihr erstellt erst mal eine grade Linie vom Anfang zum Ziel und schaut dann, wo ihr ein paar „Umleitungen" einbauen könnt.

So viel erst mal dazu, wie ihr einen Handlungsstrang entwerfen könnt. Nun ist es aber so, dass Romane oft mehrere Handlungsstränge besitzen. Erinnert euch an Schritt eins: Vielleicht habt ihr für eure Geschichte nicht nur ein Thema festgelegt? Nehmen wir mal an, eure Absicht wäre gewesen, für eine Krimiserie einen neuen Fall zu schreiben, aber nebenbei würdet ihr auch gern zwei Kollegen wieder miteinander versöhnen, die sich im Canon gerade ziemlich in der Wolle haben. Dann habt ihr zwei Handlung – eine Haupthandlung (den neuen Kriminalfall) und eine Nebenhandlung (die Versöhnung der Kollegen) und natürlich solltet ihr für beide Handlungsstränge mit Zwischenstationen entwerfen (wobei der Kriminalfall wohl ausführlicher ausfallen dürfte). Die große Kunst beim Schreiben eines Romans ist es, Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen und zusammenzuführen. Das heißt, Stationen zu entwerfen, in denen sie sich treffen. Und an dieser Stelle kommen die Buntstifte ins Spiel, denn dafür sind Mindmaps ganz hilfreich. Ihr habt also auf der linken Seite eures Papiers den Handlungsstrang „Fall" aufgezeichnet mit den Stationen „Auffinden der Leiche" usw. und rechts den Handlungsstrang „Streit" mit sagen wir einer Station namens „Entschuldigung (wird vom anderen nicht angenommen)". Und nun passiert es, ihr kommt zur Station „Jagd eines Verdächtigen". Und an dieser Station geschieht folgendes:

Die beiden zerstrittenen Polizisten kehren nochmal zurück an den Tatort. Dort sind sie aber nicht allein, sondern treffen auf einen Einbrecher, der sie plötzlich mit der Waffe bedroht. Der Kollege, der zuvor versuchte, sich zu entschuldigen, schaltet schneller und wirft den anderen Polizisten zu Boden, ehe die Kugel ihn treffen kann. Der Einbrecher flieht, die Polizisten nehmen die Verfolgung auf. Leider verlieren sie die Spur, doch haben sie sein Gesicht gesehen. Als der Einbrecher entkommen ist und die beiden Polizisten zurückkehren, bedankt sich derjenige, der zuvor fast angeschossen wurde, beim Anderen. Er gibt zu, dass man sich wohl doch aufeinander verlassen könne, was das erste freundliche Wort seit Wochen zwischen den beiden Kollegen ist.

Ihr seht also, die Station „Jagd eines Verdächtigen" ist für beide Handlungsstränge wichtig: Für den Strang „Krimifall", weil sich ein Einbrecher am Tatort sehr verdächtig macht, für den Strang „Streit", weil hier der andere Kollege einen ersten Schritt in Richtung Versöhnung geht. Und genau darum geht es: Szenen in denen die Handlungsstränge zusammenkommen. Dies ist besonders dann wichtig, wenn es auf das Ende zugeht. Denn zum Schluss sollten die Handlungsstränge zusammenlaufen und sich klären. Dass eine Geschichte mehrere Handlungsstränge hat, kann natürlich verschiedene Gründe haben. Zum Beispiel, dass es, wie hier, ein Haupt- und ein Nebenthema gibt, mehrere Erzählcharaktere (POVs) oder dass die Geschichte auf unterschiedlichen Zeitebenen spielt. Wenn ihr alles „durchplottet" habt ihr am Ende eine Mindmap, die aussieht wie das U-Bahnliniennetz einer Großstadt. Allerdings solltet ihr darauf achten, auch nicht zu viele Handlungsstränge aufzubauen oder miteinander zu verknüpfen, denn damit übernehmt ihr euch und verwirrt die Leser. Gerade für den Anfang sind einfachere Geschichten mit wenigen und recht „geradlinigen" Handlungssträngen die bessere Wahl. Der Mysterythriller mit zahlreichen Verstrickungen, falschen Spuren und überraschenden Wendungen ist eher etwas für Fortgeschrittene.

Und wenn ihr euch jetzt denkt ‚Puh, ist das alles kompliziert! Ich weiß ja gar nicht, wo ich überhaupt anfangen soll, ich hab noch gar keine Idee!': Macht nichts! Ich sagte nicht umsonst, dass viel Arbeit auf euch zukommen wird. Plotten braucht Zeit. Keiner erwartet von euch, dass ihr innerhalb von einer halben Stunde eure komplette Geschichte durchgeplottet habt. J.K. Rowling beispielsweise hat Jahre damit verbracht, zu plotten sowie Welt und Charaktere zu erfinden, bevor sie den ersten Satz für Harry Potter schrieb. Natürlich heißt das nicht, dass auch ihr euch fünf Jahre einschließen müsst. Aber: Ihr solltet euch die Zeit nehmen, die ihr braucht. Legt euch ein Notizheft oder einen Ordner auf eurem PC an, gebt eurem Gehirn den Auftrag, sich mit der Geschichte zu beschäftigen und sammelt erst mal die Ideen, die euch in den nächsten Wochen so kommen. Vielleicht geht es euch so wie mir und euch kommen oft einzelne Szenen in den Sinn. Dann notiert sie euch in Stichpunkten und überlegt, wo sie in den Handlungsverlauf passen könnten. Was passiert davor, was danach? Wie geht es weiter? Wie kam es überhaupt dazu? Fragt die Szenen, die euch in den Sinn kommen, ruhig ordentlich aus. Wahrscheinlich werdet ihr dann schon weitere Ideen bekommen. Und wenn ihr dabei immer euer Thema im Auge behaltet, dann wird sich ein gewisses Netz schon fast von alleine spinnen. Für den Fall, dass es doch mal haken sollte: Manchmal hilft es auch, am Ende zu beginnen, und rückwärts zu gehen. Okay, die Kollegen haben sich versöhnt. Wie kam es dazu? Haben sie sich vielleicht ausgesprochen? Und wenn ja: Was hat sie veranlasst, sich auszusprechen? Solange ihr noch beim Plotten seid, könnt ihr vorne, hinten oder in der Mitte beginnen. Ihr könnt Stationen und Handlungsstränge hinzufügen, umlenken, anders gestalten oder ganz streichen – alles kein Problem. Problematisch wird es erst, wenn ihr schon die halbe Geschichte geschrieben habt und dann merkt, dass euer Plot nicht aufgeht.

Und damit beende ich meine Tipps zum Plotten. Wie gesagt, ist das hier aber nur eine Möglichkeit von vielen. Ich persönlich gehe auch nicht so durchgeplant vor. Meist kenne ich vor dem Schreiben nur Anfang und Ende meiner Geschichte, die wirklich wesentlichsten Stationen der Haupthandlung und vielleicht ein paar Ansätze verschiedener Nebenstränge. Alles andere entwickelt sich während des Schreibens. Aber auch das ist nur ein Weg von vielen. Hier muss jeder seinen eigenen Weg finden.

Ihr habt eure Geschichte also geplottet oder auch nicht. Jedenfalls, gehen wir für dieses Kapitel einfach mal davon aus, ihr hättet es getan. Vielleicht sitzt ihr gerade vor euren Aufzeichnungen und fragt euch, was ihr tun sollt. Sollt ihr jetzt das erste Kapitel eurer Kriminalgeschichte mit dem Auffinden der Leiche beginnen und im zweiten Kapitel über die Auswertung der Fingerabdrücke schreiben?

Nun, vielleicht nicht ganz.

Handlungsskizzen sind wie ein Bauplan für eure Geschichte. Aber die Handlung schwebt nicht einfach in der Luft. Kein guter Kriminalroman beginnt damit, dass die Polizei zu einem Mordfall gerufen wird und auf der nächsten Seite schon die Ergebnisse der Spurensicherung auswertet hat. Selbst wenn der Roman mit der Untersuchung des Tatorts anfängt, werden danach wahrscheinlich erst einmal einige Seiten folgen, in denen es „ruhiger" zugeht. Oder anders gesagt: Der Handlungsstrang hat erst mal Pause.

Sicher hat jeder von euch in der Schule schon mal die drei magischen Worte „Anfang – Mitte – Schluss" gehört, deswegen werde ich dazu wenig sagen. Der handlungsstärkste Teil ist die Mitte, die bei einem typischen Verlauf damit beginnt, dass sich die Handlungsstränge öffnen und in das Ende übergeht, wenn die Handlungsstränge zusammenlaufen und es zum Finale kommt. Anfang und Schluss bilden dagegen eher einen Rahmen für die Handlung.

Der Anfang einer Geschichte dient dazu, den Leser einzuführen. Auch wenn es in vielen modernen Roman häufig einen kleinen „Kick" zum Beginn gibt, wie eben das Eintreffen der Ermittler am Tatort, geht es hier vor allem darum, dass sich der Leser ein Bild von der Situation machen kann. Er lernt die Charaktere und das Setting kennen. Oder er erfährt, falls es ein Fortsetzungsband ist, wie es bei ihnen derzeit so läuft und was sie gerade machen, ehe etwas bedeutendes Neues geschieht. Oft bekommen Leser auch schon einen kleinen Hinweis darauf, worum es in der Geschichte geht. Um das Beispiel der zerstrittenen Kollegen noch einmal aufzugreifen, könnte der Kriminalroman damit beginnen, dass die Polizisten auf der Wache kaum miteinander reden und sich nur finstere Blicke zuwerfen. Ein Zeichen dafür, dass hier dicke Luft herrscht, die sich ja im Laufe der Geschichte verdünnisiert.

Der Schlussteil dient dagegen dazu, die Geschichte für den Leser abzurunden. Es wäre ziemlich unbefriedigend, wenn ein Roman mitten in der finalen Schlacht abbrechen würde. Deswegen gibt es am Ende einer Geschichte oftmals noch ein kurzes Resümee oder ein Ereignis, das zeigt, dass die Geschichte jetzt wieder in den Alltag übergeht. Manche Geschichten schließen mit einem offenen Ende. Aber auch hier ist die Handlung an sich abgeschlossen und das Ende ein kleiner Ausblick auf die Zukunft.

Ihr seht also: Handlung - im Sinne äußerer Action – ist nicht alles. Es gibt auch Momente in einer Geschichte, in denen andere Dinge im Vordergrund stehen, zum Beispiel das Einfühlen in die Charaktere und auch solche Szenen können für eine Geschichte wichtig sein. Entscheidend ist, dass sie etwas zum Fortgang der Geschichte beitragen.

An dieser Stelle muss ich kurz etwas einwerfen: In vielen Online-Schreibratgebern wie diesem wird euch davon abgeraten, bestimmte Szenen überhaupt zu schreiben. Ganz oben auf der Liste stehen dabei Duschen und das Frühstück, die auch ich im ersten Kapitel zum Plotten für Beispiele für Einfallslosigkeit aufführte. Nun ist aber keine Szene per se schlecht. Es kommt immer darauf an, was ihr daraus macht. Oder besser gesagt: Nicht was ihr schreibt ist wichtig, sondern warum ihr es schreibt.

Dass Dusch- und Frühstücksszenen so einen schlechten Ruf haben, liegt in erster Linie daran, dass sie in vielen Fanfictions als Filler benutzt werden. Filler, das sind Kapitel oder Szenen, die keine Bedeutung für die Geschichte haben und nur geschrieben wurden, um salopp gesagt die Seiten vollzubekommen.

Doch eine Dusch- oder Frühstücksszene muss nicht zwangsläufig unwichtig sein:

- Wenn der Charakter eine Essstörung hat, kann eine Frühstücksszene sehr bedeutungsvoll sein, weil sich hier vielleicht erstmals zeigt: Holla, hier stimmt was nicht

- Wenn euer Charakter sich das Symbol einer Geheimorganisation auf den Rücken hat tätowieren lassen, ihr das aber nicht so offen ansprechen wollt, kann eine Duschszene ein gutes Mittel sein, um versteckt den entscheidenden Hinweis zu geben.

Oft findet man solche Szenen wie gesagt zu Beginn der Geschichte. Aber auch im Mittelteil herrscht nicht pausenlos Action. Es gibt den Begriff der äußeren und den der inneren Handlung. Äußere Handlungen ist das, was man sich so üblicherweise darunter vorstellt: Ereignisse und Taten - die Leiche wird gefunden, die Spurensicherung macht ihre Arbeit, die Ermittler befragen Zeugen und vieles mehr. Aber: Auch die Gefühle und Gedanken, sprich die Innenwelten der Figuren, gehören mit zur Handlung. Denn sein wir ehrlich: Ein Polizist, der nur den Tatort in Augenschein nimmt, ohne dabei sein Gehirn zu benutzen, sollte dringend den Job wechseln. Insofern ist es auch kein Fehler, mal nur das Innenleben der Figuren zu zeigen – solange es etwas mit dem Thema der Geschichte zu tun hat. Sei es durch den direkten Zugang zu den Gedanken und Gefühlen der Charaktere oder vermittelt durch direkte Rede, Mimik oder schreibende Tätigkeiten der Figur. Tatsächlich braucht eine gute Geschichte in meinen Augen auch Momente, in denen die äußere Handlung stillsteht und aufgearbeitet wird. Andernfalls ist eine Fanfiction mehr ein Action-Game als eine Geschichte.

Natürlich halten sich innere und äußere Handlung nicht immer die Waage. Sie müssen es auch nicht.

Es gibt Geschichten, deren Schwerpunkt vor allem auf äußerer Handlung liegt und die ich hier als handlungszentriert bezeichnen möchte. Hierzu gehören zum Beispiel Abenteuerromane. Aber auch hier wird es Momente geben, in denen Charaktere einfach nur am Lagerfeuer sitzen und überlegen, was sie tun können. Und vielleicht sind diese Überlegungen der Grund, weswegen sie die nächste Gefahr überstehen.

Andere Geschichten wiederum bestehen hauptsächlich aus innerer Handlung: In Romanzen beispielsweise nehmen Gefühle und Gedanken der Figuren meist mehr Platz ein als äußere Ereignisse. Darum möchte ich solche Geschichten charakterzentriert nennen. Aber auch hier gilt: Wenn die Charaktere sich nie über den Weg laufen, gibt es auch keinen Grund, aneinander mit Herzklopfen zu denken.

Innere und äußere Handlung bedingen sich also gegenseitig. Ohne einen äußeren Auslöser gibt es keinen Anlass für Gefühle und Gedanken. Und Gefühle und Gedanken wiederum bestimmen oft das Handeln von Figuren und damit auch den Ausgang bestimmter Situationen. Klug ist es auch, beide Ebenen, innere und äußere Handlung, zu verbinden und in einer Szene zu verdichten. Bleiben wir mal beim Krimibeispiel. Nehmen wir an, ihr habt einerseits eine Szene, in der euer Kommissar die Akten einiger Zeugen durchgeht und sich bei dieser mühseligen Arbeit langweilt, bis er ganz am Ende eine interessante Entdeckung macht. Und anderseits habt ihr noch immer den Streit und euer Kommissar soll darüber grübeln, ob er nicht unfair zu seinem Kollegen war. Hier würde es sich anbieten, beides zu verbinden: Euer Kommissar geht seine Akten durch und währenddessen triften seine Gedanken ab zum Streit mit dem Kollegen. Auf diese Weise vermeidet ihr, dass eure Leser beim langweiligen Teil der Arbeit des Kommissars ebenfalls unbeschäftigt sind und braucht auch keine Extra-Szene mehr für seine Gedanken.

Ich hoffe, diese Anmerkungen haben euch schon eine Richtschnur gegeben, wie ihr eure Handlungsskizze umsetzen könnt. Doch bevor ihr jetzt zum Stift oder wohl eher zur Tastatur greift, wartet noch einen Augenblick. Denn es gibt noch immer ein paar Dinge zu entscheiden, bevor ihr loslegen könnt. Zum Beispiel, aus wessen Sicht die Geschichte eigentlich erzählt werden soll...

Wenn ihr eine Fanfiction plant, werdet ihr euch sicher schon mal gefragt haben: Wer soll die Geschichte eigentlich erzählen? Die Wahl der Erzählperspektive (englisch auch point of view, abgekürzt auch POV), ist nicht ganz unwichtig. Denn es gibt verschiedene Erzählperspektiven und nicht jede eignet sich für jede Geschichte gleichermaßen. Hier möchte ich euch einige vorstellen und erklären, wo meiner Meinung nach ihre Stärken und ihre Schwächen liegen. Bevor es losgeht, solltet ihr euch jedoch zwei Dinge gut merken:

Der Erzähler ist nicht der Autor. Geschichtenschreiben ist immer ein wenig wie Theaterspielen: Man muss sich in zig Figuren hineindenken. Der Erzähler ist eine davon. Vielen Schreibanfängern passiert es leider oft, dass sie statt den Eindrücken des Erzählers ihr eigenes Empfinden aufschreiben. Ein Beispiel: Euer Erzählcharaker ist ein Junge namens Martin, der morgens in die Schule kommt und dort seiner Mitschülerin Svenja begegnet. Weil ihr Svenja mögt, schreibt ihr: „Im Klassenzimmer saß schon Svenja. Sie war ein blondes Mädchen und sehr nett." Nun wissen eure Leser aber, dass Martin Svenja im Canon nicht leiden kann und finden es daher komisch, dass er sie nett nennt. Solche Fehler lassen sich vermeiden, wenn ihr immer im Hinterkopf behaltet, dass nicht ihr selbst die Geschichte erzählt, sondern der Erzähler.

Der Erzähler ist nicht die Hauptfigur. Es gibt zwar Geschichten, in denen Erzähler und Hauptfigur dieselbe Person sind, aber auch das ist kein Muss. Bei manchen Erzählperspektiven steht der Erzähler ganz außerhalb der Geschichte und beobachtet das Geschehen bloß. In anderen Fällen ist der Erzähler vielleicht nur eine Nebenfigur, wie zum Beispiel das Kindermädchen oder der beste Freund des Hauptcharakters.

Und mit diesen Merksätzen, schauen wir uns die unterschiedlichen Erzählperspektiven genauer an.

Der Ich-Erzähler

Bei der Ich-Perspektive erzählt ein Charakter selbst, wie er eine Geschichte erlebt. Damit taucht der Ich-Erzähler am tiefsten in die Sicht einer Figur ein. Bei vielen Schreibanfängern ist er sehr beliebt, vermutlich weil wir im Alltag auch in Ich-Form erzählen. Dabei ist ein Ich-Erzähler gar nicht so leicht zu handhaben wie es auf den ersten Blick scheint. Denn um diese Perspektive gut anzuwenden, müssen sich Schreiberlinge immer der Persönlichkeit des Erzählcharakters bewusst sein. Ein Karnevalsmuffel dürfte den Faschingsumzug anders erleben als die Prinzengarde.

Vorteile:

- sehr tiefer Einblick in die Innenwelt und Wahrnehmung einer Figur

- kleine Stilfreiheiten (einem Ich-Erzähler verzeiht man Umgangssprache, Schimpfwörter usw. noch am ehesten, insofern es Ausnahmen bleiben und zur Figur passen)

Nachteile:

- Keine Position außerhalb der Figur (POV-Charakter kann sich selbst nicht sehen; nur Vermutungen über Gefühlen und Gedanken anderer Charaktere; Kein Wissen über die Zukunft)

- Fließtext erscheint immer von der Figur selbst geschrieben (kann Problemen sein, wenn der POV-Charakter zum Beispiel aus dem Mittelalter stammt, der Autor aber modern schreibt)

- Gefahr, dass der Erzähler eingebildet wirkt („Ich war ein wahrer Musterschüler" vs. „Markus war ein wahrer Musterschüler")

- schwer bei zwielichtigen POV-Charaktern ein Gegengewicht zu ihrer Einsteillung einzubringen (kann zwar durch Handlung ausgeglichen werden, braucht aber Erfahrung und Fingerspitzengefühl)

Gut geeignet für: charakterzentrierte Geschichten

Besser nicht bei: handlungszentrierten Geschichten; mehreren Erzählcharakteren (weil verwirrend), ausgenommen Brief- und Tagebuchromane - hier können mehrere Ich-Erzähler existieren.

 

Der personale Erzähler

Der personale Erzähler wird auch „Er"-Erzähler genannt, weil er in der dritten Person geschrieben wird. Wie die Ich-Perspektive ist auch er auf eine Sicht beschränkt. Allerdings taucht diese Perspektive nicht ganz so tief in die Figur ein. Vielmehr ist der personale Erzähler wie eine Stimme, die den Charakter kennt, begleitet und seine Sichtweise erzählt, ihn aber nicht selbst zu Wort kommen lässt. Beim multipersonalen Erzähler, einer Abwandlung dieser Perspektive, gibt es mehrere Erzählcharaktere, zwischen denen die Geschichte wechselt.

Vorteile:

- Verwendung eigenen Schreibstils (weniger problematisch, wenn Autor modern schreibt, obwohl POV-Charakter aus dem Mittelalter stammt)

- Figuren klingen nicht so schnell eingebildet, da sie nicht selbst sprechen

Nachteile:

- Keine Position außerhalb der Figur (POV-Charakter kann sich selbst nicht sehen; nur Vermutungen über Gefühlen und Gedanken anderer Charaktere; Kein Wissen über die Zukunft)

- Keine Stilfreiheiten wie beim Ich-Erzähler

- Nicht so tiefes Eintauchen in die Wahrnehmung der Figur

Gut geeignet für: Gleichgewicht von innerer und äußerer Handlung; mehrere, aber nicht zu viele POV-Charaktere

Besser nicht bei: massenhaften POV-Charakteren

 

Der auktoriale Erzähler

Der auktoriale Erzähler wird auch allwissender Erzähler genannt. Und das nicht ohne Grund: Denn er hat Einsicht in die Innenwelt aller Figuren und kann Voraussagen treffen. Oft findet man beim auktorialen Erzähler auch Kommentierungen wie „Das war nicht sehr klug von Maria". Womit der auktoriale Erzähler meist ein wenig über dem Geschehen schwebt, anstatt mittendrin zu sein.

Vorteile:

- Zugang zu Gedanken und Gefühlen aller Charaktere

- Spannung durch Andeutung der Zukunft („Alle waren sie froh und ahnten nicht, was ihnen noch blühen sollte")

- Außenbeschreibung aller Figuren („Kevin wurde bleich")

Nachteile:

- Hohe Distanz zu einzelnen Charakteren, erschwerte Identifikation

- Kommentare problematisch, wenn Leser sich „Moral von der Geschicht'" selbst denken will

- Zukunftsandeutungen können als unliebsame Spoiler empfunden werden

Gut geeignet für: belehrende Geschichten wie Märchen und Parabeln; Parodien; Geschichten mit massenhaften POVs und Schauplätzen

Besser nicht bei: Geschichten, bei denen Leser sich tief in einen Charakter einfühlen oder von der Handlung „mitgerissen" werden sollen.

 

Der neutrale Erzähler

Während der auktoriale Erzähler ein allwissender war, ist der neutrale Erzähler ein unwissender. Bei dieser Perspektive tritt der Erzähler als unbeteiligter Beobachter der Handlung auf. Man kann ihn mit dem Augenzeugen eines Banküberfalls vergleichen, der den Polizeibeamten den Tathergang schildert oder mit einer Filmkamera, die das Geschehen bloß aufzeichnet. Wie diese hat der neutrale Erzähler keinen Zugang zu den Innenwelten der Charaktere, noch kann er in die Zukunft schauen und Voraussagen treffen. Auch Wertungen nimmt er nicht vor. Er gibt schlichtweg die Geschehnisse wieder, wie sie von außen wahrzunehmen sind.

Vorteile:

- völlige Interpretationsfreiheit der Innenwelt aller Figuren für den Leser

- Fehlende Innenperspektiven stacheln zum Nachdenken an (Spannungserzeugung)

Nachteile:

- Gefühle und Gedanken einer Figur können vom Leser nur anhand von direkter Rede oder anderer äußerer Eindrücke erschlossen werden.

- Setzt großes Talent für Schreiben zwischen den Zeilen voraus (sonst Gefahr eines leblosen „Tatsachenberichts")

- Auf lange Sicht eventuell Wunsch nach „Klartext" beim Leser

Gut geeignet für: handlungszentrierte Geschichten, insbesondere mit Rätselplot

Besser nicht bei: charakterzentrierten Geschichten

 

Der Du-Erzähler

Die Du-Perspektive findet man vor allem bei sogenannten Reader-Inserts*. Ihr herausstechendes Merkmal ist, dass sie den Leser nicht als Zuhörer anspricht, sondern ihm die Geschehnisse als quasi eigene Wahrnehmung schildert. Dazu bedient sich die Du-Perspektive der zweiten Person: „Du stehst vor der Großen Halle und wartest auf deine Freunde". Auf Gefühle und Gedanken des „Lesers" wird eingegangen. Zugang zur Innenwelt anderer Charaktere hat der Du-Erzähler in der Regel dagegen nicht. Da der Du-Erzähler eine recht seltene Erzählform ist, kann ich leider nur wenig zu den Vor- und Nachteilen sowie der Eignung sagen. Doch lässt sich wohl festhalten, dass auch der Du-Erzähler dem Leser ein intensives Einsteigen in die Geschichte ermöglichst, noch intensiver als der Ich-Erzähler. Der Vorteil ist aber zugleich auch ein Nachteil, denn wenn die geschilderten Gefühle und Gedanken nicht mit den tatsächlichen Empfindungen der Lesendes übereinstimmt, kann dieser Widerspruch auch das Mitgehen mit der Geschichte zerstören. Am besten ist der Du-Erzähler für Rollenspiel-Geschichten geeignet.

 

Übergänge und Mischformen

Soweit die Übersicht der Erzählperspektiven. Natürlich sind das alles nur Prototypen. In der Realität kommen Erzählperspektiven nicht immer so „astrein" vor wie hier aufgelistet. In vielen Geschichten, vor allem Romanen, wechselt die Perspektive hin und wieder. Harry Potter beispielsweise ist die meiste Zeit über im personalen Erzähler geschrieben. Jedoch sind die ersten Kapitel auch oft in der auktorialen Perspektive verfasst und Snapes Erinnerungen sogar in der neutralen. Und das sind nur ein paar Beispiele von vielen:

- Der personale und besonders der multipersonale Erzähler schwanken oft ein wenig zum auktorialen Erzähler

- Der personale Erzähler geht bei inneren Monologen manchmal in Ich-Form über

- Wenn die Gefühle und Gedanken aller Charaktere offenliegen, aber keine Wertungen und Voraussagen vorkommen, kann man das als Zwischenform zwischen auktorialen und neutralem Erzähler sehen

- Manchmal kommen in Geschichten in Ich-Perspektive oder mit personalem Erzähler Passagen in Du-Form vor, um Verständnis beim Leser zu wecken

- Geschichten in Ich-Perspektive können ebenfalls Voraussagen enthalten, wenn der Charakter rückblickend erzählt

- ...

Kleinere Abweichungen in der Erzählperspektive sind also durchaus erlaubt. Wichtig ist, dass ihr euch für eine Grundperspektive entscheidet und dann konsequent bleibt, was die Abweichungen betrifft:

Ihr habt euch für eine Mischung entschieden und zieht das durchs ganze Werk durch? – Okay!

Ihr habt euch für eine Reinform entschieden, schreibt aber besondere Textstellen (z.B. Prologe, innere Monologe ect.) in einer anderen Perspektive? - Auch okay

Ihr schreibt erst in Ich-Form, wechselt dann mitten im Kapitel zum personalen Erzähler, schreibt dann plötzlich auktorial und im nächsten Satz in Du-Form? - Ähm, nicht mehr okay.

Ich hoffe, ihr habt verstanden, was ich damit sagen will.

Zum Abschluss noch eine Empfehlung: Wenn ihr euch für eine Perspektive entscheidet, stellt euch immer die Fragen: Welche Charaktere sind wichtig? Wer sollte gehört werden? Romanzen zum Beispiel sind charakterzentrierte Geschichten mit meist nur einem bis zwei wichtigen Figuren. Daher wäre für sie die Ich-Form oder der (multi-)personale Erzähler am besten geeignet. Dagegen wäre es unklug, für eine Romanze den allwissenden Erzähler zu wählen, nur damit man ein einziges Mal die bewundernden Gedanken einer männlichen Nebenfigur „hören" kann, wenn die Protagonistin den Raum betritt. Wenn ein Charakter eine Stimme bekommt, dann sollte er in der Geschichte auch eine bedeutende Rolle haben. Es sollte seine Geschichte sein. Ansonsten wäre es besser, wenn die Protagonistin den Raum betritt und merkt, dass besagter Nebencharakter sie die ganze Zeit verstohlen ansieht und schnell errötend zur Seite schaut, sobald sich ihre Blicke treffen. Eure Leser sind nicht dumm, sie werden verstehen, dass Kerl denkt: „Wow, was für ein tolles Mädchen". Denn das lässt sich aus seinem Verhalten schließen.

Und wie man mit dem Verhalten von Charakteren spielen kann, um dem Leser zwischen den Zeilen zu erzählen, was dem Erzähler entgeht und warum das ziemlich spannend sein kann, das wird uns noch in einem späteren Kapitel beschäftigten. Einem viel späteren. Haltet Ausschau nach „Show, don't tell". Und bis dahin: Viel Spaß beim Auswählen!

*Fanfictions, bei denen der Leser die Hauptfigur ist

Zum Abschluss der Vorbereitungen aufs Schreiben möchte ich hier noch auf eine letzte Sache eingehen, über die ihr euch ebenfalls Gedanken machen solltet: Die Zeitform.

Habt ihr euch schon gefragt, ob ihr eure Fanfiction rückblickend schreiben wollt oder die Dinge gerade in dem Moment erzählt werden sollen, in dem sie geschehen?

Geschichten haben nicht nur eine Erzählperspektive, sondern ebenso eine Zeitform. Zwei Möglichkeiten sind üblich und beide haben ihre Vor- und Nachteile.

Am häufigsten werden Geschichten im Präteritum, also der einfachen Vergangenheit, verfasst. Ein Beispiel: „Ich ging ins Klassenzimmer und steuerte auf die hintere Schulbank zu, wo meine Sitznachbarin Lisa schon auf mich wartete". Erinnerungen und andere Rückgriffe auf die Vergangenheit stehen dagegen im Plusquamperfekt, also der dritten, vollendeten Vergangenheit: „Ich hatte sie eine Woche lang nicht gesehen und freute mich sehr". Geschichten im Präteritum zu schreiben sitzt vielen so sehr in Fleisch und Blut, dass sie nicht darüber nachdenken und diese Zeitform automatisch benutzen. Das macht es leicht, im Präteritum zu schreiben. Und es bietet noch weitere Vorteile. Dadurch, dass die Geschichte rückblickend geschrieben wird, erscheinen auch Voraussagen von zum Beispiel Ich-Erzählern nicht merkwürdig. Die Vergangenheitsform besitzt auch einen gewissen Abstand zur Handlung, so dass die Erzählung leichter als zusammenhängende Geschichte erfasst werden kann als wenn alles gerade eben erst passiert. Problematisch kann das Präteritum werden, wenn eine Szene sehr eindrücklich sein soll. Um mal eine Anekdote aus meinem Schreiberinnenleben zu erzählen: Ich saß einst Ewigkeiten an einer Traumsequenz, weil sie sich im Präteritum einfach miserabel anhörte und das war letztendlich ausschlaggebend dafür, dass ich die ganze Zeitform wechselte.

Und zwar entschied ich mich für das Präsens. Präsens ist die Gegenwartsform. Unsere Beispielszene würde dort so lauten: „Ich gehe ins Klassenzimmer und steuere auf die hintere Schulbank zu, wo meine Sitznachbarin Lisa schon auf mich wartet". Anders als Präteritum sind es viele nicht so sehr gewohnt, Geschichten im Präsens zu schreiben, was einen mitunter manchmal ins Stocken bringen kann. Insbesondere wenn es um Rückgriffe auf die Vergangenheit geht. Denn hier stehen mehrere Vergangenheitsformen zur Verfügung und welche richtig ist, hängt davon ab, ob das Ereignis schon gänzlich abgeschlossen ist oder noch Auswirkungen auf die Gegenwart hat. Wenn Lisa zum Beispiel an einem verregneten 24. Dezember an die weiße Weihnacht vom Vorjahr zurückdenkt, dann wäre „in der Weihnachtsnacht hatte es geschneit" (Plusquamperfekt) korrekt, denn die Weihnacht vom Vorjahr ist lange abgeschlossen. Wenn Lisa dagegen am Weihnachtsmorgen diesen Jahres den Rollo hochzieht und überrascht feststellt, dass vor dem Fenster alles weiß ist, dann wäre „in der Weihnachtsnacht hat es geschneit" (Perfekt) richtig, denn das Ereignis „schneien" hat noch Auswirkungen – überall liegt glitzernder Schnee. Das kann ein wenig verwirren und erschwert das Schreiben im Präsens. Im Gegenzug dazu ist das Präsens aber viel näher am Geschehen. Man geht stärker mit der Handlung mit, da man jedes Ereignis in dem Moment erlebt, in dem es geschieht. Für eindrückliche Szenen, wie meine Traumsequenz, passt das Präsens daher sehr gut. Die Medaille hat aber auch eine andere Seite: Voraussagen funktionieren, wenn überhaupt, eigentlich nur mit dem auktorialen Erzähler ohne dass es seltsam klingt. Und was noch viel einschneidender ist: Es geht ein gutes Stück des Kontinuitätsgefühls verloren. Das heißt, dass man als Leser zwar immer im Jetzt und hier ist, es aber schwerer fällt, die Kapitel als zusammenhängendes Werk zu erleben. Eher liest man jede Szene für sich. Doch manchmal ist ein Nachteil auch ein Vorteil: Für Geschichten, in denen gerade dieses Gefühl eines fehlenden Ganzes ein großes Thema ist (also zum Beispiel bei Schicksalsschlägen, bei denen die Vergangenheit nicht mehr ist und die Zukunft düster erscheint), eignet sich das Präsens wunderbar. Bei Tagebuch- und Briefromanen wird es es sehr häufig benutzt. Und auch Kurzgeschichten werden gerne mal in Gegenwartsform verfasst.

Überlegt also, welche Art von Geschichte ihr erzählen wollt und welche Zeitform dazu am besten passt. Und wenn ihr euch entschieden habt, dann schnallt euch gut an. Denn das Vorgeplänkel ist vorbei: Wir starten mit den Themen, die nur Fanfictions betreffen.

Achtung! Dieses Kapitel wird in den nächsten Wochen überarbeitet und ergänzt. Wenn das Update erfolgt ist, wird dieser Kasten verschwinden.

Jetzt ist es endlich soweit: Ladies und Gentleman, wir kommen zum ersten Thema, das speziell mit Fanfictions zu tun hat. Es geht um Fakten, Fakten, Fakten. Genauer gesagt um die Fakten des Originals: Wann betritt der Bösewicht zum ersten Mal die Bühne? Wer zerstört das magische Artefakt? Wo findet der Endkampf statt?

Kritische Leser erwarten von einer guten Fanfiction, dass sie Canontreue besitzt – sie also die Fakten des Originalwerks berücksichtigt. Für viele ist damit mehr gemeint als bloßes Einhalten. Es bedeutet, sich der Fakten bewusst zu sein. Dass das nicht immer so leicht ist, zeigt folgendes Beispiel: Obwohl im Canon gerade ein Krieg tobt, ist in der Fanfiction davon nichts zu spüren. Alle sind heiter und kein Wermutstropfen trübt die Fröhlichkeit, als lebten die Charaktere in einer Blase. Natürlich erwartet niemand, dass in einer Romanze jedes Kapitel vor Schlachten und Kämpfen strotzt. Aber wenn Krieg ist, darf zumindest erwartet werden, dass Schreckensmeldungen die Runde machen, dass jeder mit Angst zu kämpfen hat, mancher vielleicht sogar Angehörige verliert. Und das ist nur ein Beispiel von vielen, in denen Fakten des Originals nicht genug berücksichtigt werden. Tatsächlich kranken sehr viele Fanfictions an Erscheinungen wie diesen.

Doch was ist, wenn die eigene Idee sich mit den Fakten des Canons sogar beißt? Wenn man einen Charakter braucht, der schon gestorben ist oder über jemanden nicht schreiben möchte, der eigentlich dazugehört? Die allermeisten Fanfictions erzählen eine Geschichte, die etwas an der Handlung des Originals verändert. Doch was ist, wenn man keine große Geschichte erzählen möchte, weil die veränderten Details nur eine Nebensache sind und nicht zum Hauptplot gehören?

Dann kommt es auf eine sinnvolle Anknüpfung ans Original an!

Manchmal klappt es noch ganz gut, Ideen ans Original „anzudocken", weil der Canon einen gewissen Spielraum für Interpretationen lässt. Nehmen wir einmal das Beispiel „Ein Charakter ist gestorben" und denken an ein Fantasy-Universum, in dem für jeden Menschen eine magische Blume blüht, die verwelkt, sobald er stirbt. Nun wird der Charakter im Canon in einer Schlacht von einem tödlichen Zauber getroffen. Eine Heilerin, die später die Leiche untersucht, bezeugt seinen Tod, sagt jedoch, dass es merkwürdig sei, dass die Leichenstarre noch nicht eingesetzt habe. Und die Lebensblume der Figur ist nicht verwelkt – sie ist seit der Schlacht verschwunden.

In so einem Fall könnte man es noch leicht erklären, dass der Charakter nur in den Scheintod versetzt wurde. Denn der Canon streut selbst Zweifel und lässt Lücken: Keine Leichenstarre? Eine verschollene Blume? Klingt ja fast so, als wollte da jemand den Tod der Figur vortäuschen.

Anders sieht es mit dieser Version aus: Die Figur wird in der Schlacht von einem tödlichen Zauber getroffen. Eine Heilerin, die später die Leiche untersucht, bezeugt den Tod. Die Freunde erscheinen mit der verwelkten Lebensblume und legen sie weinend auf die schon steife Brust des Charakters.

In diesem Fall gibt es nichts zu rütteln. Der Canon schreit förmlich: Dieser Charakter ist tot!

Nun passt euch sein Ableben allerdings gar nicht. Ihr mochtet den Charakter und würdet ihn ungern sterben sehen. Klar, dass er in eurer Fanfiction überlebt. Doch wie bringt ihr das ein?

Es gibt drei Arten Canonfakten abzuwandeln, die mir in Fanfictions immer wieder begegnen und die ich als Leserin zumindest unbefriedigend finde, den letzten Punkt sogar richtig schlecht.

1.) Vorwort-Hinweise: Bei solchen Fanfictions findet man im Vorwort eine kleine Anmerkung der Fanfictionschreibenden, dass bestimmte Dinge in ihrer Fanfiction anders seien: ‚Figur X lebt bei mir noch, weil er sehr schnell geheilt wurde', oder ‚Charakter Y hat es in meiner Geschichte nie gegeben'. Solche Hinweise sind zwar ganz nett gemeint und immerhin weiß ich als Leserin, was mich erwartet. Aber manche Dinge würde ich gern in der Geschichte selbst erfahren. Deswegen finde ich solche Hinweise ein wenig ungenügend. Zumindest, wenn es in der Fanfiction nicht mehr aufgegriffen wird.

2.) Ignoranz: Bei dieser Version gibt es keinen Hinweis im Vorwort, noch in der Geschichte selbst irgendeine Erklärung dafür, warum zum Beispiel eine bestimmte Figur noch lebt. Die Fanfiction ist so geschrieben, als hätte die tödliche Schlacht nie stattgefunden. Der Charakter tollt munter durch die Geschichte und als Leserin frage ich mich ständig: warum?

3.) Tatsachenverdrehung: Diese Variante hat mit Abstand das größte Potential, kritische Leser dazu zu bringen, die Geschichte zerreißen zu wollen. Hier werden die Canonfakten nicht nur ignoriert – sie werden verdreht, wie es dem Schreiberling gerade passt. Die Heilerin aus unserem Beispiel, die im Canon immer zuverlässig war, wird auf einmal zur Dilettantin erklärt. Die Leiche ist nur steif, weil der Charakter alle Muskeln anspannt. Die Freunde, die den Todeszauber mit eigenen Augen sahen, stehen unter einem Illusionsfluch und die Lebensblume wurde halt eben nicht ordentlich gedüngt. Kurzum: Alle Fakten des Canons, werden mit hanebüchenen Erklärungsversuchen zurechtgebogen. Was dabei herauskommt, ist vor allem eines: Ein großer Haufen Unlogik. Unlogik, die besonders dann Aggressionen weckt, wenn zum Beispiel der beste Freund der Hauptfigur, der im Canon durchaus sein Leben für den anderen riskierte, eigentlich böse ist und nur bestochen worden sein soll, den besten Freund zu geben. Aber ich schweife ab. Belassen wir es beim großen Haufen Unlogik.

Alle drei Arten haben nun eine Sache gemeinsam: Sie schaffen es nicht, eine wirkliche Brücke zum Canon zu schlagen. Und wenn ihr euch an den Exkurs zur Frage, was eine gute Fanfiction ausmacht, zurückerinnert, kann das das Leseempfinden erheblich stören. Weil es den Leser herausreißt und nicht mehr das Gefühl gibt, noch in der gleichen Geschichte zu sein. Was sollt ihr also tun? Dem Charakter die Totenruhe gönnen? Nicht zwangsläufig! Die Lösung lautet:

Zurückgehen in der Timeline und sich einen anderen Verlauf überlegen.

Doch was heißt das eigentlich?

Änderungen der Timeline

Die Timeline (auf Deutsch Zeitleiste oder Zeitstrahl) ist die Chronik aller Geschehnisse einer Geschichte. Dies ist nicht mit der Abfolge der Kapitel zu verwechseln, denn manchmal werden frühere Ereignisse auch erst in späteren Kapiteln erzählt. Zum Beispiel, wenn ein Charakter das Gedächtnis verloren hat und erst im letzten Kapitel aufgeklärt wird, wie es dazu kam.

Die Timeline würde dennoch so aussehen:

13. März: Charakter wird zusammengeschlagen und verliert Gedächtnis (Erzählt in Kapitel 20)

14. März: Charakter wacht mit Kopfwunde auf und kann sich nicht erinnern (Erzählt in Kapitel 1)

...

21. März: Charakter erinnert sich und erstattet Anzeige (Erzählt in Kapitel 20)

Ich denke, ihr habt verstanden, was ich meine.

Wenn euch also etwas an den Ereignissen des Canons nicht gefällt, dann geht zurück in der Timeline zu dem Punkt, an dem es passiert und überlegt, wie die Sache anders hätte ausgehen können.

Es gibt es einfache und komplexe Abweichungen vom Canon:

Einfache Abweichungen sind alle Veränderungen, die von einem einziges Ereignis abhängen. Unser Beispiel fällt in diese Kategorie: Um den Charakter überleben zu lassen, würde es schon ausreichen, zur Schlacht zurückzugehen und den bösen Magier beim Todeszauber „danebenschießen" zu lassen. Fertig! Eine einfache Lösung, ohne mühsames Zurechtbiegen oder Ignoranz.

Komplexe Abweichungen sind dagegen weitaus schwieriger: Hier haben wir es mit einer Abweichung zu tun, die das Ergebnis einer Kette von Ereignissen ist. Oder auch deren Anfang. Denn es gibt zwar Abweichungen, die an sich erstmal einfach sind, jedoch einen Rattenschwanz von Veränderungen nach sich ziehen. Wenn der Tod eines Charakters Auslöser für einen Krieg war, kann die Figur nicht überleben, ohne dass sich der weitere Verlauf der Geschichte massiv verändert. Andere komplexe Abweichungen sind weniger dramatisch. Ein Beispiel dafür wäre, dass ein Pärchen sich getrennt hat, das im Canon immer zusammen war. Diese Tatsache bräuchte eine längere Erklärung, denn niemand beendet eine lange Liebesbeziehung über Nacht. Doch die Auswirkungen wären nicht so groß. Beide Sorten aber brauchen etwas mehr Überlegungen – und auch mehr Raum beim Schreiben.

Wenn ihr euch einen anderen Ausgang der Ereignisse überlegt habt, dann stellt sich die große Frage: „Wie bringe ich das eigentlich in die Fanfiction ein?". Hier gibt es wieder verschiedene Möglichkeiten:

Der Prolog

Prologe sind kleine Vorgeschichten, die vor dem eigentlichen Beginn der Geschichte stehen. Oft zeigen sie einzelne Szenen mitten aus der Handlung, um den „Leseappetit" ein wenig anzuheizen. In Fanfictions verwenden viele Schreiberlinge Prologe auch, um den Lesern zu zeigen, wo sie von der ursprünglichen Timeline abgewichen sind. In unserem Beispiel würde der Prolog dann nochmal die Schlacht zeigen – und den bösen Magier, der seinen Zauber verpatzt.

Vorteile: Die Leser sind gleich von Beginn an in die Änderung eingeweiht. Es ist also kein Platz für ein „falscher Film"-Gefühl. Außerdem erleben sie live mit, wie die Veränderung passiert.

Nachteile: Wenn zwischen dem veränderten Ereignis und dem eigentlichen Beginn der Geschichte viel Zeit vergeht, kann es sein, dass der Prolog eher wie ein Anhängsel und nicht wie ein Teil der Fanfiction wirkt. Außerdem eignen sich Prologe nur für Veränderungen, die in der Geschichte eine größere Rolle spielen. Wenn es zum Beispiel um das Überleben einer Figur geht, die in der Fanfiction nur am Rande vorkommt, würde ein Prolog seltsam wirken, weil die Figur keine große Bedeutung hat.

Eignung: Einfache Abweichungen

Die Rückblende

Rückblenden sind kleine Einschübe von Szenen aus der Vergangenheit in den Text. Oft tauchen sie auf, wenn ein Charakter in Erinnerungen schwelgt oder zwei Charaktere sich über das „Damals" unterhalten. Wer Rückblenden verwenden will, kann sie einmal einsetzen oder die veränderte Vorgeschichte stückeln und in mehreren Rückblenden erzählen.

Vorteile: Wie beim Prolog ist der Leser auch hier „live" dabei. Da in einer Geschichte mehrere Rückblenden vorkommen können, ist es auch möglich, etwas komplexere Abweichungen zu erzählen. Außerdem erscheint die veränderte Vorgeschichte hier nicht ganz so losgelöst, da Rückblenden in die Geschichte selbst eingebunden sind.

Nachteile: Rückblenden reißen den Leser oftmals ein wenig aus dem Lesefluss und brauchen entsprechenden Raum. Da sie nicht ganz am Anfang der Geschichte stehen, kann es passieren, dass den Leser die Frage „warum" etwas länger quält. Und es muss in der Geschichte auch sensible Momente geben, in denen es „passt" an die Vergangenheit zu denken.

Eignung: Einfache Abweichungen; leicht komplexe Abweichungen bei mehreren Rückblenden

Stammtisch-Gespräche

Diesen Punkt habe ich Stammtisch-Gespräche genannt, weil der Stammtisch das Klischeebild schlechthin hierfür ist: Die Charaktere sitzen in bierlauniger Runde, da sagt der eine zum anderen: „Erzähl doch mal, wie das damals war mit der Schlacht" - und der Charakter erzählt. Kurz gesagt geht es also um die wahrhaft erstaunliche Erkenntnis: Figuren können über die Vergangenheit auch einfach reden. Miteinander – oder im inneren Monolog mit sich selbst. Und vielleicht denken sie auch manchmal nur an die Vergangenheit zurück.

Vorteile: Wie die Rückblende sind Gespräche und Gedanken in die Geschichte eingebunden, anders als die Rückblende nehmen sie nicht ganz so viel Raum ein und können auch mal nebenbei erzählt werden.

Nachteile: Auch hier braucht es den passenden Moment. Außerdem erleben die Leser die Veränderung nicht live mit, was das Risiko birgt, dass mancher vielleicht nicht so gut „mitgeht."

Eignung: Einfache Abweichungen, leicht komplexe Abweichungen

Wie ihr seht, habe ich bisher immer von leicht komplexen Abweichungen gesprochen. Denn es gibt auch Abweichungen vom Canon, die so massive Konsequenzen haben, dass diese sich nicht mehr nebenbei erzählen lassen. Falls bei einer Abweichung nicht nur das Schicksal eines Charakters verändert wird, sondern das Werk von Grund auf den Kopf gestellt, gibt es in meinen Augen nur eine Möglichkeit, das glaubhaft zu erzählen:

Zurück auf Start

Dies ist die radikalste Variante von allen. Hier wird die Geschichte ab dem Punkt der Abweichung komplett neu erzählt – und nicht nur „nebenbei" als Prolog, Rückblende oder im Gespräch. Diese Neuerzählung kann chronologisch aufgebaut sein (Timeline und Kapitel gehen Hand in Hand) oder nicht. Jedenfalls beginnt die Fanfiction „von vorne".

Vorteile: Eine sehr gründliche Aufarbeitung der Abweichung und hohe Nachvollziehbarkeit für den Leser

Nachteile: Sehr viel Arbeit und sehr viel Raum für die Abweichung, denn ihr schreibt eine ganz neue Geschichte.

Eignung: stark komplexe Abweichungen, leicht komplexe Abweichungen, wenn ihr euch die Mühe machen wollt.

So viel zu den Möglichkeiten, trotz Abweichung eine Brücke zum Canon zu schlagen. Zum Abschluss noch ein kleiner Hinweis: Auch wenn die Abweichung vielleicht nur eine einfache ist – Auswirkungen hat alles. Ihr habt einen Charakter, den ihr nicht mögt, auswandern lassen? Okay. Aber auch jemand, der umgezogen ist, wird seinen Freunden ab und zu einen Brief schreiben. Genauso wie im Krieg Schreckensmeldungen die Runde machen. Und damit sind wir am Ende dieses Kapitels wieder am Anfang.

Weiter geht es mit dem großen Themenblock „Charaktere und Pairings". Wir sehen uns!

Fragt man mal Leser von Fanfictions, was ihnen das Wichtigste ist, lautet die Antwort häufig: „dass die Figuren in character sind". ICnes scheint für die meisten eines der Hauptkriterien für eine gute Fanfiction zu sein. Umso erstaunlicher ist es, dass viele Geschichten dieses Kriterium gar nicht erfüllen. Ja, tatsächlich gibt es eine Unzahl von Fanfictions da draußen, in denen die Figuren sogar durch und durch „out of character" sind - und damit eine ganz Menge potentieller Leser vergraulen.

Vielleicht wurde auch an eurer Geschichte schon einmal deswegen kritisiert. Vielleicht hat euch das überrascht, weil ihr gar nicht verstehen konntet, was ihr falsch gemacht habt. Und vielleicht würdet ihr eure Sache gerne besser machen, aber habt keine Ahnung, wie ihr das anpacken sollt. Dann seid ihr in diesem Kapitel genau richtig.

Um zu verhindern, dass eure Geschichte zum Leserschreck wird, ist erst einmal sinnvoll, zu verstehen, was sich hinter diesen ominösen „in character" und „out of character" eigentlich alles verbirgt.

Zunächst einmal scheint die Sache recht einfach: ICnes oder „in character" bedeuten nichts anderes, als dass eine Figur in der Fanfiction genauso dargestellt ist wie im Original*. Das heißt, wenn Hermann Kränscher im Original ein fleißiger Schüler ist, büffelt er auch in der Fanfiction mit Leidenschaft. Würde Hermann Kränscher dagegen in der Fanfic Schulbücher nur mit der Kneifzange anfassen, würde man sagen, die Figur ist out of character, denn das entspricht so gar nicht dem, wie er im Buch, in der Serie, dem Film erscheint.

Soweit, so gut. Was ist aber, wenn der Charakter in eurer Fanfiction in eine Situation gerät, die er im Canon nie erlebte? Nehmen wir mal an unser guter Hermann stammt aus einem Buch, in dem es viel um den Schulalltag ging. Um Klassenarbeiten, langweilige Stunden, Hausaufgabenabschreiben und mehr. Aber die Liebe war irgendwie nie ein Thema und Hermann Kränscher hat sich im Canon nie verliebt. Genau das passiert aber in eurer Fanfiction. Wie verhält sich Hermann Kränscher nun in der Situation? Ist er schüchtern und läuft rot an? Oder macht er einen auf großen Macker und versucht, das Mädchen oder den Jungen zu beeindrucken? Nun, vielleicht würde jemand, der das Buch ebenfalls gelesen hat, euch sagen: „Ich denke, Herrmann Kränscher würde rot anlaufen. Er ist ja sonst auch schüchtern, deswegen glaube ich kaum, dass er einen auf großen Macker machen würde."

Ob eine Figur als „in character" oder „out of character" wahrgenommen, hat also nicht nur damit zu tun, wie gut ihr Situationen aus dem Original „kopiert". Vielmehr haben Leser oft ein Gesamtbild der Figur im Kopf und beurteilen auch Szenen, die so nicht im Original vorkamen, danach, ob sie damit vereinbar sind.

Und: Es gibt eine ganze Menge Puzzleteile aus dem Canon, die in so ein Gesamtbild einfließen können. Dinge, über die ihr euch Gedanken machen solltet Denn: Jede „Out of Character"-Darstellung beruht auf einem Mangel an Verständnis darüber, wie die Figur im Canon ist. Sei der Grund absichtliche Ignoranz oder ein Versehen. Sehen wir uns diese Puzzleteile als mal an:

Körperliches

Wie sieht der Charakter im Canon aus? Ist er groß oder klein? Blond oder dunkelhaarig? Hat er irgendwelche Gebrechen oder Krankheiten? Welches Geschlecht hat er? Ist er ein Mensch, eine Elbin, ein Alien? Manchmal reicht es schon aus, aus einem ungepflegten Typen einen Schönling zu machen, damit jemand die Figur out of character findet.

Sexuelle Orientierung

Welchem Geschlecht ist der Charakter im Canon zugetan? Flirtet er mit Frauen, Männern, beiden, keinem? In wen verliebt er sich? Mit wem geht er eine Beziehung ein?

Fähigkeiten und Talente

Was kann der Charakter? Wo liegen seine Stärken? Ist er ein Mathegenie oder kann er besonders gut zeichnen? Und wo schwächelt er? Was kann er so absolut gar nicht?

Verhaltensweisen und Charakterzüge

Hier sind wir bei einer der Kernfragen zum Thema: Wie verhält sich der Charakter im Canon? Was sind seine wesentlichen Charakterzüge? Zeigt er sich mutig oder ängstlich? Tollkühn oder vorsichtig? Ist er geschickt oder tollpatschig? Ist er fleißig oder ein Faulpelz? Benimmt er sich freundlich oder – naja, ihr wisst, was ich sagen will.

Innenleben – Gefühle und Gedanken

Nicht ganz so offensichtlich, aber ebenso wichtig, ist das Innenleben der Figur: Was geht in ihr vor? Was sind ihre Ängste, ihre Sorgen, ihre Wünsche? Wo liegen ihre wunden Punkte? Was denkt oder fühlt sie? Dieser Punkt ist besonders interessant, wenn ein Charakter sich nach außen hin verstellt. Woran ihr das erkennt, darauf komme ich im nächsten Kapitel noch zu sprechen. Bei Nebenfiguren ist das Problem häufig, dass man ihr Innenleben nicht direkt präsentiert bekommt. Man kann es nur aus ihrem Verhalten darauf schließen. Aber auch darauf gehe ich später nochmal ein.

Einstellung und Weltbild

Ebenfalls ein wichtiger Punkt ist die Weltsicht eines Charakters. Ist er ein Menschenfreund oder ein Misanthrop? Lebt er nach strengen moralischen Grundsätzen oder ist er nur auf seinen Vorteil bedacht? Hegt er Vorurteile gegen bestimmte Personen? Steht er auf der guten oder bösen Seite? Gibt es etwas, von dem er überzeugt ist, an das er glaubt?

Ziele

Der Canon verrät es nicht immer, doch sehr oft haben Charaktere ganz bestimmte Ziele. Mancher will vielleicht nur ein gutes Zeugnis haben. Ein anderer dagegen ist so von Rache getrieben, dass er seine ganze Zeit dafür opfert, den Untergang seines Erzfeindes zu planen. Welches Ziel verfolgt die Figur, über die ihr schreibt?

Interessen, Vorlieben und Abneigungen

Auch Hobbys, Interessen, Vorlieben (wie z.B. Lieblingsspeisen) und Abneigungen gehören zu den Eigenschaften einer Figur. Oftmals werden diese Dinge eher als nette, kleine Randerscheinungen gehandelt. Das ist aber nicht immer der Fall. Gerade wenn ihr es mit einem Charakter zu tun habt, der in einer Sache regelrecht aufgeht, kann dieser Punkt sogar zentral sein. Was wäre beispielsweise Mozart ohne die Musik?

Charaktersprech

Dieser Punkt wird oft vergessen: Figuren zeichnen sich nicht nur dadurch aus, wie sie sind, sondern auch dadurch, wie sich geben. Und in diesem Fall, wie sie sprechen. Oftmals haben Charaktere eine bestimmte Art, sich auszudrücken. Und die macht eine Menge aus. Stellt euch zum Beispiel mal ein Meeting zwischen Wirtschaftsbonzen vor – lauter Männer und Frauen, die mit ernstes Gesichtern und geschniegelten Anzügen an einem Konferenztisch sitzen. Und nun steht der Steifste von allen auf, tritt vor die anderen und sagt: „Joj, meine Homies, Welcome in da House! Voll fett, dass ihr da seid!". Ihr würdet denken, ihr seid bei der Verstecken Kamera passen, oder? Also: Habt auch ein Auge auf den „Charaktersprech" der Figur.

Rahmenbedingungen

Zum Schluss noch ein paar Dinge, die nicht direkt Eigenschaften der Figur sind, diese aber beeinflussen und daher ebenfalls wichtig sind. Ich nenne sie mal „Rahmenbedingungen". Solche Rahmenbedingungen sind beispielsweise:

Biografie – Was hat der Charakter in der Vergangenheit so alles erlebt?

Lebenssituation – wie lebt der Charakter heute? Ist er zum Beispiel arm oder reich? Hat er ein geregeltes Leben oder ist alles ein einziges Chaos?

Beziehungen zu anderen Figuren – Wer steht dem Charakter nahe und mit wem hat er Probleme? Warum?

Kontexte - Bewegt sich der Charakter in Kontexten, die ein bestimmtes Verhalten von ihm erfordern? Zum Beispiel „Chefetage" einerseits, „Familie" andererseits?

All diese Aspekte prägen das Bild, das Leser vom Charakter haben. Daher ist es wichtig, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wenn ihr vermeiden wollt, dass euch die Figur „out of character" gerät. Natürlich kommt es auch darauf an, was für eine Fanfiction ihr schreibt. Wenn in eurer Geschichte zum Beispiel gar keine Romanze vorkommt, ist die sexuelle Orientierung natürlich egal. Trotzdem: Es schadet nie, sich über eine Figur Gedanken zu machen.

Vielleicht habt ihr bei manchen dieser Fragen auch gedacht: „Aber darüber verrät doch der Canon gar nichts!" Falls dem so ist, hier eine gute Nachricht: Auch wenn ich all diese Aspekte gerade als einzelne Puzzleteile aufgezählt habe, hängen sie mehr oder weniger zusammen. Viele (nicht alle!) beeinflussen und erklären sich gegenseitig. Ein paar Beispiele? Wenn ein Charakter Zwerge für Abschaum hält (Einstellung), ist es naheliegend, dass er sie nicht besonders nett behandelt (Verhalten). Umgekehrt kann man sich aber auch denken, dass ein Charakter, der fies zu seinem Erzfeind ist (Rahmenbedingungen) nicht unbedingt zu allen Menschen gemein sein muss (Verhalten). Und wenn ich weiß, dass der Charakter durch einen schweren Fehler einen guten Freund verloren hat (Rahmenbedingungen), ist es nicht so schwer, darauf zu kommen, dass alles dafür tun würde, sich wieder auszusöhnen (Ziele). Lücken lassen sich also durchaus schließen – wenn man sich nur genug Gedanken über den Rest macht. Es ist eben ein bisschen wie eine Gleichung mit ein paar Unbekannten. Und damit beende ich diese Lektion.

Ihr seht, auf dem zweiten Blick, ist ICnes gar keine so einfache Sache mehr, wie es zu Anfang noch schien. Im Gegenteil ist es sogar eine sehr komplizierte. Und das beantwortet schon ein wenig die Frage, wie es passieren kann, dass einem eine Figur unabsichtlich „out of character" gerät.

*Wobei "in character" auch unterschiedlich ausgelegt wird. Manche verwenden den Begriff nur für Charakterzüge im engeren Sinne, wie z.B. Geiz oder Neugier. Ich lege hier die weitere Definition an, die alles beinhaltet, was man in einen Steckbrief über die Figur schreiben könnte.

 

Hallo zusammen. Da wären wir also, beim zweiten Teil zur Frage „wie schreibe ich Figuren in character"? Wie angekündigt, möchte ich hier auf drei Dinge eingehen: 1. Wie man sich mit Figuren besser vertraut machen kann 2.) Wie man verborgene Seiten entdeckt und 3.) Was die häufigsten Fehler in sind. Schießen wir also los.

Wie kann man sich mit Figuren besser vertraut machen?

Schritt eins, um OOCnes zu vermeiden, ist es, sich intensiv mit dem Charakter auseinanderzusetzen. Dabei geht es nicht nur darum, einfach viel zu lesen oder fernzusehen. Die Informationen, die ihr sammelt, brauchen eine gewisse Aufarbeitung. Ziel ist es, ein Gesamtbild von der Figur zu entwickeln. Denn das ist euer wichtigstes Handwerkszeug! Nur wenn ihr eine genaue Vorstellung davon habt, wie der Charakter ist, könnt ihr ihn in eine neue Situation stecken, ohne in die Falle zu tappen. Was also müsst ihr tun?

Wenn ihr eine Weile lang das Buch gelesen oder die DVD angesehen habt, wird euch sicher auffallen, dass sich manche Dinge wiederholen. Wenn Benno Schwan in fast jeder Szene über etwas stolpert und sein Partner Eduard Kulli sich über dessen Ungeschicktheit aufregt, dann könnt ihr mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Benno Schwan ein Tollpatsch ist. Voila – ihr habt einen Charakterzug gefunden. Nehmt euch am besten einen Block, macht für alle Aspekte, die ich im letzten Kapitel aufzählte eine Spalte (die „Rahmenbedingungen" am besten aufteilen in „Biografie", „Beziehungen" usw.) und notiert, was euch auffällt oder ihr bereits wisst.

Nun ist aber nicht alles, was ihr über den Charakter herausfindet, gleich wichtig. Entscheidend ist, dass ihr an seinen Wesenskern herankommt, den Grundpfeiler seiner Persönlichkeit. Es ist zwar nicht verkehrt, zu wissen, dass jemand gern Pfefferminzschokolade nascht. Aber wenn er nicht schokoladenabhängig ist und ihr das in eurer Geschichte schamlos ausnutzen wollt, ist diese Info nebensächlich. Zudem gibt es auch Dinge, die der Canon euch nicht auf dem Silbertablett präsentiert, die aber trotzdem wichtig sind. Folgende Leitfragen (Ergänzungen vorbehalten) können euch helfen, ein bisschen sortieren, welche Eindrücke aus dem Original besonders wichtig sein könnten. Und ja, auch dann, wenn der Canon nicht alle Fragen beantwortet:

Was treibt den Charakter an?

Was sind seine tiefsten Überzeugungen, Werte und Ideale?

Was sind seine Ziele?

Was sind seine größten Ängste und Sorgen?

Was ist sein sehnlichster Wunsch?

Was fehlt ihm am meisten?

Was waren die schlimmsten Erfahrungen seines Lebens?

Was waren die schönsten?

Was sind seine markantesten Charakterzüge?

Was fällt einem an seinem Verhalten am meisten auf?

Was sind seine größten Stärken und Schwächen?

Wie denkt er über sich selbst?

Wo steht er sich selbst im Weg?

Wen hasst der Charakter und warum?

Und wer steht ihm nahe? Wer ist ihm wichtig?

Wenn ihr nun mit eurer Recherche fertig seid und eine Menge Wissen über den Charakter angehäuft habt, ist es sinnvoll, die Informationen miteinander zu vergleichen und zu euch zu überlegen, ob es zwischen all diesen Dinge eine Verbindung gibt. Denn: Alle Aspekte hängen irgendwie miteinander zusammen, wenn vielleicht auch nicht jeder mit jedem. Sie miteinander zu verknüpfen, hilft euch nicht nur Lücken zu schließen. Es gibt euch auch noch etwas viel Entscheidenderes: Eine Einsicht darin, warum der Charakter so ist, wie er ist. Wenn ihr wisst, dass eine Figur einen spielsüchtigen Vater hatte (Biografie), werdet ihr auch verstehen, dass er nicht etwa aus Geiz seinem besten Freund kein Geld für ein Pokerspiel leihen will, sondern aus Sorge. Dieses Wissen kann euch helfen, wenn ihr z.B. genau so ein Szenario schreiben wollt.

Wie entdeckt man geheime Seiten?

Soweit, so gut. Ihr habt also eure Informationen gesammelt und aufgearbeitet. Alles könnte wunderbar sein - gäbe es da nicht ein kleines Problem: Ihr seid da über eine Szene gestolpert, die so gar nicht in das Bild passen will, das die Figur sonst abgibt.

Wieso ist der stets so vorlaute Charaktere auf einmal ganz leise und still? Weshalb sagt jemand „Er hat ein gutes Herz" über den Fiesling, der sich bisher nur gemein gezeigt hat? Und warum setzt sich die Person, die sonst immer im Mittelpunkt stehen muss, plötzlich in die hinterste Ecke?

Widersprüche dieser Art sind nicht einfach nur „kleine Fehler" im Canon, die ihr getrost beiseitelegen könnt. Im Gegenteil: Genau solche „Brüche" sind oftmals ganz besonders entscheidend. Denn sie verraten euch, wie ihr euer Wissen über die Figur einzuordnen habt und welche verborgenen Seiten es am Charakter vielleicht noch zu entdecken gibt.

Generell gibt es zwei Arten von Gründen, die hinter solchen Brüchen stecken können.

 

Erstens: Kontext

Vielleicht gehört das Verhalten des Charakters (sowohl das normale wie auch das seltsame) zu einem bestimmten Kontext. Wie zum Beispiel

...einem Milieu: Der vorlaute Schüler wird auf der Polizeiwache still? Vielleicht traut er sich ja nur vor Lehrern große Töne zu spucken?

...einer Beziehung: Der Charakter, der den Fiesling gutherzig findet, ist sein bester Freund? Vielleicht ist er dann ja der einzige, zu dem er wirklich nett ist

...einer besonderen Situation: Der Charakter, der sich in die Ecke verdrückt, hat gerade erfahren, dass seine Eltern sich scheiden lassen? Nun, vermutlich hat ihn das so runtergerissen, dass er nichts mehr von der Welt sehen will.

 

Zweitens: Geheime Seiten

Andererseits kann es auch sein, dass der Charakter sich verstellt und in eben diesen Momenten seine Fassade Risse bekommen hat. Wenn das der Grund ist, stellen sich natürlich einige Fragen:

Warum verstellt sich der Charakter?

Was genau verbirgt er?

Und warum bröckelt seine Fassade genau in diesem Moment?

Was nun Sache ist und eine Antwort auf all diese Fragen, werdet ihr finden, wenn ihr euch anseht, was ihr bisher über den Charakter wisst. Und: Haltet Ausschau nach anderen Situationen, in denen sich die Figur anders benimmt und überlegt, was die Szenen gemeinsam haben.

 

Häufige Fehler

Zu guter Letzt, will ich, wie versprochen, noch mal auf ein paar der typischsten Fehler eingehen, die dazu führen, dass Figuren „out of character" geraten und euch Tipps geben, wie ihr sie vermeiden könnt.

Fehler 1: Das wandelnde Klischee

Erinnert ihr noch, wie ich zu Beginn des letzten Kapitels die Frage aufwarf, wie Hermann Kränscher sich wohl verhalten würde, wenn er verliebt ist? Unser fiktiver Mitleser begründete seine Antwort mit Hermanns Eigenschaften („er ist ja sonst auch schüchtern"). Viele Schreibanfänger machen dagegen den Fehler, dass sie oft auf Klischees zurückgreifen. Über Verliebtheit gibt es beispielsweise das Klischee, dass man weiche Knie bekommt, rot anläuft und keinen Ton mehr herausbekommt. Nun, für Hermann Kränscher passte das vielleicht. Aber stellen wir uns mal vor, unser Charakter wäre einer, der Flirten sein Hobby nennt und schon zig Affären hinter sich hat. Dass so jemand keinen Ton mehr herausbekommt, ist eher unwahrscheinlich. Auf das Klischee zurückgreifen würde die Figur also „out of character'" wirken lassen.

Was ihr tun könnt: In vielen Situationen verhalten sich Menschen recht ähnlich. Aber eben nicht immer. Deswegen stellt euch beim Schreiben immer die Frage: „Passt das zum Charakter? Ist das vereinbar, mit dem Gesamtbild, das ich von ihm habe?"

 

Fehler 2: Fähnchen im Wind

Und noch ein typischer Anfängerfehler, den ihr vielleicht kennt. Ihr habt die eine Szene, in der der der Badboy einen ziemlich fiesen Spruch zu einem Mädchen sagt. Aber dieses Mädchen soll ihn beeindrucken. Also gibt sie eine rotzfreche Antwort. Nun macht der Badboy ihr ein Kompliment und damit das auch wirkt, läuft eure Figur rot an und senkt schüchtern den Blick. Kurzum, ihr schreibt genau so, wie die Handlung es gerade bracht. Dadurch werden die Charaktere aber zu Fähnchen im Wind, die kein Profil haben. Damit eine Figur auch wirklich ein Charakter ist, braucht sie eine feste Persönlichkeit. Und heißt: Entweder rotzfrech oder schüchtern. Figuren dagegen so handeln zu lassen, wie es die Situation gerade braucht, lässt sie austauschbar werden – oder in unserem Fall: out of character.

Was ihr tun könnt: Macht euch vor dem Schreiben klar, wie der Charakter ist und bleibt ihm treu. Wenn er feige ist, dann wird er nicht einfach so den Helden spielen. Habt den Mut zu riskieren, dass die Situation nicht so ausgeht, wie ihr sie plant. Ihr könnt eure Handlung noch immer kitten. Wie erfahrt in späteren Kapiteln.

 

Fehler 3: Vorschnelle Verallgemeinerung

Aber auch, wenn man die Figur im Blick hat, kann man Fehler machen. Zum Beispiel, weil man zu schnell sein Urteil fällt. Oft lese ich in Fanfictions Sachen wie diese: Ein Krieger verfällt im Canon einem bösen, magischen Artefakt - in der Fanfic wird er deswegen als Arschloch dargestellt, obwohl er im Canon bei allen als ehrenwert gilt; Eine Elbin hasst eine Menschnfrau, weil diese ihr den Mann ausgespannt hat – in der Fanfic ist sie deshalb furchtbar rassistisch, obwohl sie sich im Canon immer für Menschen stark macht. Ein Charakter ist arm und wäre gern reicher – in der Fanfic bringt er daher seinen besten Freund um dessen Vermögen, obwohl er im Canon finanzielle Unterstützung nur ungern annahm. Solche Fehldarstellungen von Figuren kommen oftmals daher, dass jemand nur aus einer oder wenigen Szenen darauf schließt, wie die Figur ist – und sie dabei völlig missversteht. Denn ihm entgeht der Kontext und damit auch, warum sich der Charakter so verhält. Zu Beispiel, dass er jemanden hasst, weil dieser ihm den Mann ausgespannt und nicht wegen seiner Spezies.

Was könnt ihr tun: Macht euer Bild von einem Charakter niemals nur an einer oder wenigen Szenen fest, sondern verschafft euch einen Gesamteindruck. Und fragt euch bei Widersprüchen („Sie hasst Menschen" vs. „Sie macht sich für Menschen stark"), wie diese zu erklären sind.

 

Fehler 4: Geheime Seiten ohne Begründung

Eine Sache nervt mich an Fanfictions besonders. Und das ist, wenn Charakteren unterstellt wird, dass ihr Verhalten bloß Fassade ist – ohne irgendeinen Anhaltspunkt im Canon. Da haben die Erzfeinde sich schon immer heimlich geliebt, obgleich sie sich im Original gegenseitig Das Leben zur Hölle machten. Aber sie haben den Anderen ja nur deshalb auf dem Pausenhof krankenhausreif geschlagen, weil Papa, der Kilometer vom Internat weg wohnt, sie sonst enterbt hätte. Ist klar! Ich schrieb, dass Widersprüche manchmal ein Hinweis darauf sein können, dass jemand sich verstellt. Das Gleiche gilt aber auch umgekehrt: Wenn ein Charakter sich widerspruchsfrei verhält und von anderen auch nicht widersprüchlich wahrgenommen wird - tja, dann steckt hinter seinem Verhalten das, wonach es aussieht. Etwas anders zu behaupten produziert nur eines: Einen großen Haufen Unlogik.

Was ihr tun könnt: Wenn ihr einem Charakter geheime Seiten unterstellt, begründet das immer durch etwas am Canon und baut das auch in die Fanfic ein. Wenn ihr nichts findet: Lasst es einfach. Ihr bekommt euer Pairing auch so zusammen. Mehr dazu in späteren Kapiteln.

 

Fehler 5: Verhaltens-Roboter

Zugegeben: Der letzte Punkt ist nicht wirklich OOCnes. Trotzdem habe ich ihn hier aufgenommen, da auch er eine etwas unglückliche Darstellung ist. Es geht um die Übertreibung von Eigenschaften: Die Leseratte hebt ihre Nase wirklich nie von den Büchern, die Naschkatze verknuspert dauernd Süßkram, der Fiesling haut ständig Beleidigungen raus usw. Man muss den Schreibenden hier zugutehalten, dass sie vermutlich wirklich gewillt sind, die Figuren in character darzustellen und deswegen die offensichtlichsten Dinge kopieren, wie zum Beispiel bestimmte Angewohnheiten. Leider bleibt das Verständnis der Figuren oberflächlich, sie wirken steif und roboterhaft. ICnes ist mehr als das ständige Wiederholen von Angewohnheiten. Manchmal beruhen Verhaltensweisen auf bestimmten Gründen (jemand nascht nur, wenn er nervös) oder Kontexten (der fiese Lehrer beleidigt nur Schüler, niemals den Schulleiter). Und selbst wenn das nicht der Fall ist, kann jemand nach stundenlangem Lesen eine Pause brauchen, gerade mit etwas anderem mehr beschäftigt sein oder einen schlechten Tag haben, an dem er auf so gar nichts Bock hat. Solche kleinen Abweichungen machen Figuren erst lebendig.

Was ihr tun könnt: Behaltet die Kontexte im Auge, fragt euch „warum" und beachtet, dass Menschen nicht 24/7 das Gleiche tun. Dann ist das Risiko, dass ihr „Verhaltensroboter" schreibt, relativ gering.

Ihr seht: Sich viele Gedanken um die Figuren zu machen, hilft, Fehler in der Darstellung zu vermeiden.

An dieser Stelle noch ein letzter Tipp: Wenn ihr euer Gespür für eine Figur trainieren wollt, dann sind Schreibprojekte und Challenges immer eine gute Übung.

Weiter geht's im nächsten Kapitel mit der Frage, wie ihr Charaktere dazu bringen könnt, etwas zu tun, das sie eigentlich nicht tun würden, ohne dass es out of character wirkt.

 

Manchmal ist wirklich der Wurm drin! Da habt ihr eine Szene, in der der Charakter etwas Bestimmtes tun müsste, damit euer Plot funktioniert – Nur leider, leider wäre das für die Figur absolut out of character.

Vielleicht soll der größte Feigling weit und breit den Drachen angreifen, der Mönch mit dem Schweigegelübde munter drauf losplappern oder die loyale Kämpferin für das Gute der bösen Seite ein wichtiges Geheimnis verraten.

Falls ihr solche Probleme kennt, dann seid ihr hier richtig. Denn in diesem Kapitel will ich euch zeigen, wie ihr solche Szenen anpacken könnt, ohne dass die Figuren out of character wirken.

Doch bevor es losgeht, noch ein kleiner „Gebrauchshinweis": Alle Tricks in diesem Kapitel sind nur für einmalige Taten oder kurze Phasen der Verhaltensänderung geeignet, nicht dafür, die Persönlichkeit eines Charakters (ihre Ziele, ihre Einstellung, ihre Gefühle für andere Figuen) dauerhaft zu verändern. Wenn ihr also wollt, dass sich der strahlende Held auf düstere Pfade begibt; jemand in seinem Erzfeind die große Liebe findet oder der Oberbösewicht lieber Deckchen für den Weltfrieden häkelt, dann ist das Kapitel nicht das Richtige für euch (Keine Sorge, dauerhafte Veränderungen werden in späteren Kapiteln noch Thema sein).

Nun, fangen wir also an.

Der wichtigste Leitsatz, der für alle Situationen gilt, lautet:

Jedes abweichende Verhalten braucht einen guten Grund

Vielleicht kennt ihr das ja: In eurer Klasse, eurem Uniseminar, an euren Arbeitsplatz oder wo auch immer gibt es diesen „Klassenclown" – einen Scherzkeks, der immer gut drauf ist, nie das Lächeln verliert und nur so vor Lebensfreude sprüht. Eines Morgens kommt er dann plötzlich mit einer Miene wie drei Tage Regenwetter zur Tür herein, spricht kaum ein Wort, lässt den Kopf hängen und geht allen aus dem Weg. Ihr werdet euch automatisch die Frage stellen: „Was um Himmelswillen ist los? Wer ist dieser Mensch und was hat er mit meinem Mitschüler/Kommilitonen/Kollegen gemacht?", denn diesen Verhalten passt so gar nicht zu ihm. Wenn ihr dann jedoch erfahrt, dass gestern seine geliebte Großmutter gestorben ist, macht das alles einen Sinn und ihr findet seine Art gar nicht mehr so komisch. Und genau das ist der Punkt: Ein guter Grund hilft, das ungewöhnliche Verhalten einzuordnen. Man weiß, dass es eine Ausnahmesituation ist und der Mensch noch immer derselbe geblieben ist.

Im Folgenden möchte ich euch ein paar Möglichkeiten vorstellen, das Verhalten eurer Charaktere zu begründen und im Abschluss noch ein paar allgemeine Worte dazu loswerden.

 

Die Extremsituation

Schwierigkeitsgrad: hoch

Sein wir ehrlich: Die meiste Zeit des Lebens ist Alltag. Wir erleben Situationen, die wir kennen, die wir gewohnt sind, mit denen wir umgehen können und reagieren darauf in unserer üblichen Art. Aber dann gibt es auch jene Momente, in denen auf einmal alles anders ist. In denen wir herausgerissen werden aus unserem alltäglichen Trott und gar nicht mehr wissen, was gerade abgeht. Solche Momente möchte ich hier „Extremsituationen" nennen. Und wie echte Menschen erleben sie auch Charaktere. Auslöser für eine solche Situation kann sein, dass etwas an die tiefsten Ängste, größten Wünsche oder schlimmsten Erfahrungen rührt. Dass etwas Unerwartetes passiert oder dass eine eigentlich gewohnte Situation sich so zuspitzt, dass man völlig überfordert wird. Kennzeichnend für die Extremsituaion ist, dass jemand in ein geistig-emotional Chaos verfällt. Er ist ganz aus der Bahn geworfen! Und in diesem Zustand kann vieles passieren. Furchtlose werden feige, Angsthasen finden ihren Mut, Verschwiegene reden wie ein Wasserfall, Quasselstrippen verstummen. Wann aus einer Situation eine Extremsituation wird, ist natürlich von Figur zu Figur unterschiedlich. Ein Charakter, der viel Lebenserfahrung besitzt, ist vermutlich schwerer „aus der Ruhe" zu bringen, als jemand, der noch wenig erlebt hat. Doch eine Grenze hat jeder irgendwo.

Beispiele: Die Pazifistin geht auf den Bösewicht los, nachdem dieser drohte, ihre Schwester zu ermorden; Der Sportler sitzt nur noch tatenlos herum, nachdem seine große Liebe ihn verlassen hat; Der Mastermind ist mit seinem Latein am Ende, als sich wirklich überall unlösbare Probleme auftun.

Was ist zu beachten: Der Einsatz einer Extremsituation ist natürlich spannend, besonders um verborgene Seiten ans Tageslicht zu bringen. Jedoch braucht es dafür ein gutes Gespür für den Charakter. Daher solltet ihr diese Methode erst anwenden, wenn ihr schon gut in Übung seid. Außerdem muss der Plot genügend Raum für eine Extremsituation bieten.

 

Der körperliche Ausnahmezustand

Schwierigkeitsgrad: niedrig bis mittel

Natürlich kann nicht nur die Psyche aus dem Gleichgewicht geraten, sondern auch der Körper. Und weil Körper und Psyche miteinander zusammenhängen, können sich Veränderungen des Körpers auch auf letztere auswirken. Es gibt zwei Arten von körperlichen Ausnahmezuständen, die für unsere Zwecke interessant sind. Einerseits gibt es die Erschöpfung, ausgelöst z.B. durch Übermüdung, Schlafmangel oder Erkrankungen wie eine fiese Grippe. Erschöpfung wirkt sich vor allem auf die geistige Leistungsfähigkeit aus: Menschen sind weniger aufnahmefähig, reagieren langsamer, und können Aufgaben, die Hirn erfordern, schlechter lösen. Noch tiefgehendere Veränderungen sind möglich, wenn jemand unter dem Einfluss von Drogen steht (Wozu ich auch mal Alkohol, bestimmte Medikamente und fandomspezifische Substanzen wie Zaubertränke zähle). Jemand kann unter Drogeneinfluss Gefahren vergessen, halluzinieren, sich für den Größten halten, aggressiv werden und noch vieles mehr. Je nachdem was er eingenommen hat und wie er darauf reagiert.

Beispiele: Dem sonst so gewieften Polizisten entgeht im Grippezustand das entscheidende Puzzleteil; Ein verschwiegener Charakter plaudert unter Einfluss eines Wahrheitstranks seine ganze Lebensgeschichte aus.

Was gibt es zu beachten: Drogen als Erklärung für ein ungewöhnliches Verhalten sind in Geschichten sehr verbreitet und gelten bei vielen als unschönes Klischee. Deswegen habe ich lange gegrübelt, ob ich diesen Punkt überhaupt aufnehmen soll. Doch ich denke, wenn die Alternative „keine Erklärung" lautet, sind Drogen noch das kleinere Übel. Und gut aufgezogen ist gegen solchen Plot auch nichts einzuwenden, z.B. wenn die Bösen sich durch einen Wahrheitstrank Informationen „beschaffen". Trotzdem: Macht es euch nicht zu leicht. Überlegt erst, ob es auch einen anderen Weg gibt. Recherchiert die genaue Wirkung von Substanzen! Beachtet, dass Menschen auf Drogen unterschiedlich reagieren können. (Nicht alle werden unter Alkoholeinfluss zum Randalierer oder haben mit dem Nächstbesten Sex). Berücksichtig auch, dass sich nicht jeder unkontrolliert betrinkt oder ähnliches. Und: Jemandem etwas ins Glas kippen, ist eine ziemlich üble Sache, die ihr im Sinne eines sensiblen Umgangs nicht einfach im Nebensatz abkanzeln solltet. Kurzum: Wenn ihr Drogen einsetzt, dann mit Bedacht!

 

Der Anreiz

Schwierigkeitsgrad: mittel

Kommen wir jetzt zu einer Methode, bei der der Charakter aus völlig freien Stücken handelt. Sicher erinnert ihr euch an eure Kindheit. Und sicher war euer Fußboden nicht weniger übersät mit Bauklötzchen, Buntstiften und Spielzeug als meiner. Wie haben euch eure Eltern eigentlich dazu gebracht, dieses Chaos aufzuräumen? Meine haben mich mit Ausflügen zum Abenteuerspielplatz bestochen. Ich muss sagen: Es hat gewirkt. Und das nicht ohne Grund: Menschen sind oft bereit, für Dinge, die ihnen wichtig sind, einen gewissen Preis zu zahlen. Sei es, um etwas zu erhalten, das sie sich wünschen – oder um etwas zu vermeiden, vor dem sie sich fürchten. Und natürlich lässt sich das wunderbar für Fanfictions nutzen.

Beispiele: Ein Schüler, der am Prüfungsbammel leidet, reißt sich in der Deutschklausur zusammen, um seine Freunde, die an ihn glauben, nicht zu enttäuschen; der Scherzkeks hält sich auf der Hochzeit seiner Schwester zurück, um ihr den Tag nicht zu verderben und der sonst so faule Kollege wird in Anwesenheit des Chefs zum fließigen Bienchen, um seinen Job nicht zu riskieren.

Was ist zu beachten? Ihr solltet die Ziele, Wünsche und Ängste des Charakters kennen und auch wissen, welche anderen Figuren ihm wichtig genug sind, um für sie etwas zu tun bzw. auf etwas zu verzichten.

 

Unter Zwang

Schwierigkeit: mittel bis hoch

Die Kehrseite der Freiwilligkeit ist der Zwang. Zwänge gibt es in den unterschiedlichsten Formen. Da wären zum einen geschriebene und ungeschriebene Gesetze, die man beachten sollte, wenn man nicht ausgegrenzt werden möchte oder gar Bekanntschaft mit schwedischen Gardinen machen will. Es gibt Notlagen, die einem zu Dingen zwingen können, weil die eigene Existenz auf dem Spiel steht.

Und es gibt es Zwänge, die eine Person über die andere ausübt. Hierzu gehören Dinge wie Erpressung, Bedrohung, das Ausnutzen einer Machtposition oder Manipulation. Manche Fandoms gehen sogar noch weiter, indem es in ihrem Universum Dinge wie Besessenheit oder Gedankenkontrolle gibt. Die Möglichkeiten, eine Figur unter Zwang handeln zu lassen, sind also vielfältig.

Beispiele: Die Verbrecherin hält sich bedeckt, weil die Polizei ihr auf den Fersen ist; ein Obdachloser, stiehlt Essen, um nicht zu verhungern, obwohl er Diebstahl eigentlich verachtet ; Jemand von den Guten spioniert für die Bösen, weil ihm gedroht wurde, dass man sonst seiner Familie etwas antut.

Was ist zu beachten? Geschriebene Gesetze und Gepflogenheiten sind recht einfach einzubringen. Ihr müsst die Regeln der Welt kennen und wissen, wo sie mit dem Verhalten des Charakters kollidieren. Schwieriger wird es bei Notlagen. Es stellt sich die Frage: Wie kam der Charakter in diese Situation? Zwänge, die von einem Anderen ausgehen, sind besonders kompliziert. Ihr müsst die wunden Punkte des Charakters kennen und ihr braucht einen Täter, der genug Macht besitzt, die Figur seinem Willen zu unterwerfen. Gerade bei willensstarken Figuren kann dies sehr schwierig werden. Und natürlich muss auch der Plot genügend Raum für ein solches Szenario lassen.

 

Das Versehen

Schwierigkeit: niedrig bis mittel

Kommen wir zum letzten Punkt, der sich mit drei Worten beschreiben lässt: Nobody is perfect. Auch Charaktere nicht. Und manche Fehler, die sie machen, haben ungeahnte Konsequenzen. Als Versehen möchte ich hier alle Szenarien bezeichnen, in denen die Handlung von Charakteren anders ausgeht als von ihnen beabsichtigt, weil Missgeschick und Schicksal ihre Finger im Spiel hatten. Für Schreibende ist das Versehen natürlich Gold wert! Denn es ist eine gute Möglichkeit, die Charaktere etwas tun zu lassen, das sie eigentlich nicht tun würden.

Beispiele: Ein Charakter wird bei einem Gespräch belauscht – von jemanden, der das nicht hören sollte; der Gefolgsmann des Bösewichts schießt im Gefecht daneben und trifft einen Kollegen; Jemand überweist eine große Summe Geld auf das falsche Konto.

Was ist zu beachten? Der Schwierigkeitsgrad eines Versehens hängt von der jeweiligen Situation ab. Aber im Prinzip sind Versehen recht leicht einzubringen. Allerdings sind sie auch wirklich nur für einmalige Taten geeignet. Während z.B. eine Erpressung sich über einen längeren Zeitraum ziehen kann, müsste ein Charakter schon sehr ungeschickt oder sehr dumm sein, den gleichen Fehler mehrmals zu begehen.

 

Das war es soweit mit dem Tricks, die ihr einsetzen könnt, wenn ihr wollt, dass eure Figuren anders handeln als gewohnt, ohne dabei gleich out of character zu wirken. Zum Abschluss möchte ich euch noch ein paar allgemeine Dinge dazu sagen, die ihr beachten solltet.

Erstes: Geht nicht weiter, als es sein muss. Auch wenn ihr die Figuren anders handeln lasst, versucht sie noch so in character wie möglich zu schreiben. Wer ängstlich ist, wird sich nicht mit Kampfgeschrei und Siegerpose dem Feind entgegenstellen, um seine Lieben zu retten, sondern am ganzen Leib zitternd; Jemand Verschwiegenes, dem in einer Extremsituation das Herz auf der Zunge liegt, wird sich sofort unterbrechen, wenn er sich einigermaßen beruhigt hat und merkt, was er gerade tut; Und wer aus einer Notlage heraus handelt oder erpresst wird, wird den ersten Ausweg aus seiner Situation nehmen oder sogar mit dem Gedanken spielen, den Preis zu zahlen.

Zweitens: Beachtet die Grenzen des Machbaren. Alle Tricks, die euch hier vorgestellt habe, betreffen mehr oder weniger die psychische Verfassung der Charaktere. Was Fähigkeiten angeht, sind sie nur zu gebrauchen, wenn der Charakter etwas bereits beherrscht. Ich weiß, dass es in Fanfictions oft sehr beliebt ist, die Figuren gerade in entscheidenden Momenten mit wahren Höchstleistungen auffahren zu lassen. Doch bitte: Keiner mutiert in einer Extremsituation zum exzellenten Schwertkämpfer, wenn er zuvor noch nie ein Schwert in der Hand hielt. Wenn er den Schwertkampf zwar gelernt hat, aber sich nie zutraute, ist das etwas anderes. Ansonsten gilt: Fähigkeiten hat man oder muss sie mühsam erlernen. Und wenn beides fehlt, dann hat man Glück, wenn einem eine Aktion gerade noch mit Mühe, Not und minimalstem Erfolg gelingt.

Drittens: Übertreibt es nicht. Ein paar Mal einen der hier vorgestellten Tricks einzusetzen, ist okay. Aber wenn ihr kaum noch eine Zeile schreiben könnt, ohne dass irgendein Charakter unter Drogen steht, Extremsituationen erlebt, erpresst wird, seine Angewohnheiten für was auch immer zurückstellt oder Fehler macht, dann solltet ihren euren Plot noch einmal gründlich überdenken (vielleicht lasst ihr besser jemand anderen handeln?). Niemand möchte seine Lieblingsfiguren ständig fremdbestimmt lesen.

Viertens: Denkt an das Nachspiel. Der Charakter hat also gerade im Suff dem Erzfeind wichtige Informationen verraten. Alles klar, gehen wir zur Tagesordnung über.... Moment, so funktioniert das nicht! Wenn ein Charakter gegen seine Persönlichkeit gehandelt hat, braucht das eine Aufarbeitung. Es wird ihn beschäftigten, dass er so neben sich stand. Wenn er gegen seine moralische Überzeugung gehandelt hat, quälen ihn wohlmöglich Schuldgefühle. Hat er etwa Peinliches getan oder versagt, schämt er sich in Grund und Boden. Und wenn er über sich hinausgewachsen ist, wird er sich wohl darüber wundern und gar nicht glauben können, was er vollbracht hat. Taten haben Konsequenzen und auch diese brauchen Raum im Plot!

Und wenn ihr denkt, dass das doch ein guter Aufhänger wäre, etwas am Charakter der Figur dauerhaft zu verändern, dann dürft ihr euch auf das nächste Kapitel freuen. Denn wir steigen ein in das Thema „Charakterentwicklung"

 

Auf das heutige Kapitel freue ich mich ganz besonders. Nicht nur, weil es eines der wichtigsten Themen, sondern auch eines der spannendsten ist. Allerdings keines der leichtesten. Es geht um Charakterentwicklung, dem Grundpfeiler jeder charakterzentrierten Geschichte. Aber auch Fanfictions, die mehr auf Abenteuer und Action aus sind, kommen nicht drum herum.

Doch was heißt Charakterentwicklung eigentlich? Im Prinzip nichts anderes als dass sich die Persönlichkeit einer Figur durch einen Prozess der Wandlung dauerhaft verändert! Wenn ihr euch also in den letzten Kapiteln gefragt habt, was ihr tun könnt, wenn Schüchterne endlich mutig werden, die Angeberin von ihrem hohen Ross herunterkommen und Faulpelze fleißig werden sollen, dann seid ihr hier richtig. Und natürlich bedeutet Entwicklung nicht immer nur eine Veränderung zum Positiven. Er darf also auch die so gütige Nonne zur Menschenfeindin mutieren.

Aber: So einfach und verlockend Charakterentwicklung zunächst auch klingt, so kompliziert ist sie in der Umsetzung. Es gibt eine Menge Stolpersteine. Lasst folgenden Text mal auf euch wirken:

Und da stand eines Morgens ihre Erzfeindin Veronika vor ihrer Türe. Die Frau, die ihr den Mann ausgespannt hatte, die sie von ihren Schlägerfreunden krankenhausreif prügeln ließ, die ihr seit Jahren das Leben zur Hölle machte und letzte Woche noch die Autoreifen zerstach.

„Weißt du, Martina, ich denke, wir sollten unseren Streit aufgeben", sagte sie verschämt, „Das ist doch alles Kinderkram. Ich weiß, ich hab viel Mist gebaut und das tut mir aufrichtig leid. Aber können wir nicht besser Freundinnen sein?"

Martina musterte sie einen Moment lang, dann lächelte sie.

„Entschuldigung angenommen."

Veronika blickte auf und strahlte. „Weißt du, das sollten wir feiern. Ich kenn da eine echt gute Bar!"

Von diesem Tag an waren sie die allerbesten Freundinnen der Welt.

Vielleicht hattet ihr das Gefühl, dass an diesem Text irgendetwas nicht so ganz stimmt. Falls ja: Wir kommen später noch darauf zurück.

Charakterentwicklung bedeutet also Arbeit. Doch ist es eine Arbeit, die sich lohnt. Denn eine gute Charakterentwicklung ist oftmals das Zünglein an der Waage, das entscheidet, ob auch anspruchsvollen Lesern eine Fanfiction zusagt. Wenn der Fiesling in eurer Geschichte von Beginn an Mr Nice Guy ist, werden euch das einige krummnehmen. Wenn er dagegen erst zu Mr Nice Guy wird, kann die Sache schon ganz anders aussehen.

Was also braucht ihr für eine gute Charakterentwicklung?

Erst mal ein Entwicklungsziel. Ist klar – wenn ihr gar keine Vorstellung habt, was sich am Charakter verändern soll, geht gar nichts.

Als nächstes solltet ihr euch überlegen, was der Charakter bräuchte, um zu werden, wie ihr ihn haben wollt. Oder umgekehrt: Warum er nicht schon längst so ist. Kurzum, welche Hürden es zu überwinden gibt. Fehlt dem Charakter vielleicht jemand, der an ihn glaubt? Halten ihn moralische Bedenken davon ab, etwas zu tun? Schaut euch die Kapitel zur ICnes noch einmal an, das wird euch helfen.

Nun braucht es einen Anstoß, einen Auslöser für die Entwicklung. Entwicklung hat immer dann eine Chance in Gang zu kommen, wenn jemand in seinen Vorstellungen über sich und die Welt irritiert wird. Das kann bedeuten, dass eine bisher erfolgreiche Verhaltensweise nicht mehr funktioniert (der Rüpel gerät an jemanden, der ihm ordentlich Paroli bietet). Oder dass manche Dinge sich als anders herausstellen als der Charakter sie bisher wahrgenommen hat (es benehmen sich doch nicht alle Zwerge wie die Axt im Walde). Wenn ihr euch die Hürden betrachtet und nochmal ins letzte Kapitel schaut, werdet ihr sicher schon die eine oder andere Idee für einen Auslöser bekommen.

Dazu jedoch noch eine Warnung: Es ist in vielen Fanfictions leider sehr beliebt, Figuren unter Drogen zu setzen, in eine Extremsituation oder eine Zwangslage zu werfen und ihr Verhalten dann zum Dauerzustand zu machen, weil sie Gefallen daran finden. Der Klassiker: Zwei Erzfeinde besaufen sich, haben Sex im Suff, finden das wider Erwarten ganz toll und sind hinterher ein Liebespaar. Bitte schreibt sowas nicht! Keiner nimmt freiwillig Verhaltensweisen an, die er nur unter Zwang oder Kontrollverlust gezeigt hat, noch hat er Spaß daran. Es kann zwar sein, dass so ein Erlebnis etwas ins Rollen bringt. Aber die wahren Auslöser für die Entwicklung liegen dann im Drumherum dieser Situation. Niemand, der im Suff seine Lebensgeschichte ausplauderte, wird allein durch diese Tat offener. Es kann aber passieren, dass er ins Nachdenken gerät, wenn Andere ihn wider Erwarten nicht für seine Vergangenheit verurteilen. Keiner, der gezwungen war, Essen zu stehlen, um nicht zu verhungern, wird zum zwielichtigen Dieb, wenn es ihm wieder gut geht. Aber es kann sein, dass er ab diesem Zeitpunkt zwei Mal nachfragt, warum jemand klaut ehe er ihn verurteilt. Denn er hat gelernt, dass hinter einer solchen Tat mitunter bittere Not stehen kann. Achtet also darauf, dass ihr auch die richtigen Auslöser wählt! Aber das nur als Mahnung am Rande.

Machen wir weiter im Text.

Ihr habt den Stein also ins Rollen gebracht. Gleich schon wird euer Charakter ein ganz Anderer sein. Ähm...nein. Egal, was dem Entwicklungsziel eures Charakters im Weg steht – Ängste, moralische Überzeugungen, Lebensziele, alte Wunden – sie alle sitzen sehr tief und lassen sich nicht mal eben ausziehen wie ein Pullover. Entwicklung braucht Zeit.

Und wenn ich mir jetzt mal überlege, was alle glaubwürdigen Entwicklungsverläufe, so unterschiedlich sie auch sind, gemeinsam haben, dann komme ich zu folgendem Grundschema:

 

Der Entwicklungsverlauf

Stufe 1: Ausgangssituation

Hierzu gibt es nicht viel zu sagen. Das ist der Anfang eurer Fanfiction und der Charakter ist noch ganz „so drauf" wie im Canon. Manchmal kündigt sich eine Entwicklung schon durch bestimmte Vorzeichen an, die jedoch noch keine Auswirkungen haben. Die Stufe endet mit dem Auslöser.

Stufe 2: Skepsis

Wie gesagt: Festgefahrene Charakterzüge lassen sich schwer ablegen. Der erste Anstoß führt kaum sofort zu einer dauerhaften Veränderung. Vielleicht kennt ihr ja diesen „inneren Schweinehund". Jedenfalls neigen Menschen oft dazu, das Erlebte eher als Ausnahme, Zufall, Missverständnis oder Einbildung zu verbuchen. Sie behandeln den Auslöser mit purer Ignoranz oder können – bei sehr dramatischen Ereignissen – nicht glauben, dass das wirklich passiert ist und verlieren das Realitätsgefühl. Auch positive Ereignisse werden erst einmal mit Ungläubigkeit aufgenommen. Doch so ganz loslassen will einen die Sache nicht. Es nagt und die ersten Zweifel kommen auf. Die Erklärungen scheinen nicht alle Ungereimtheiten zu lösen. Und die Mauer der Skepsis gibt immer mehr nach. Genauso solltet ihr euch auch mit eurem Charakter umgehen.

Stufe 3: Der Wendepunkt

Haben die Zweifel jetzt ein gewisses Maß erreicht, geschieht was geschehen muss: Die Mauer der Skepsis bricht in sich zusammen. Der Charakter kann die Augen nicht mehr verschließen und sieht der Wahrheit endlich ins Gesicht. Er erkennt an, was er zunächst nicht glauben konnte und beginnt sich für das Neue zu öffnen. Manchmal, besonders bei positiven Ereignissen, ist diese Stufe nur ein kleiner Moment ala der Lottogewinner springt begeistert auf und fährt sofort los, um den Lottoschein einzulösen. Ein anderes Mal hängt der Charakter lange in der Schwebe, ist hin- und hergerissen und weiß nicht, wie es weitergehen soll, ehe er bereit ist, sich auf das Neue einzulassen.

Stufe 4: Neuorientierung

Hat der Charakter das Neue akzeptiert, folgt jetzt eine Phase, in der er übt, in den neuen Schuhen zu gehen. Es kann sein, dass er etwas tut, was er vorher nie getan hätte oder ihm Dinge auffallen, die ihm früher entgangen sind. Hin und wieder mag er noch etwas unsicher sein. Doch er beginnt, langsam in die neue Rolle hineinzuwachsen. Der Prozess ist jetzt fast abgeschlossen.

Stufe 5: Akzeptanz und Festigung

Was noch fehlt, ist ein kleiner Akt, der zeigt, dass er das Neue endgültig unterschrieben hat. Es kann sein, dass die Figur nochmal in eine ähnliche Situation wie die Auslösesituation gerät, aber ganz anderes reagiert oder ihr Leben „entrümpelt" (z.B. einen Schlussstrich unter eine Beziehung setzt). Was auch immer, es geschieht jedenfalls noch etwas, das zeigt, dass der Charakter endgültig angekommen ist.

 

Anstoß, Widerstand und Rückfall

Soweit das Grundschema. Doch vielleicht hat sich bei euch schon der Zweifel geregt: Funktioniert das alles wirklich so glatt? Kann es nicht auch sein, dass die Figur in der Phase der Skepsis doch beschließt, dass alles nur Einbildung war und zur Ausgangssituation zurückkehrt?

Die Antwort lautet: JA

Das Grundschema zeigt, welche Phasen Entwicklung in meinen Augen durchläuft, wenn sie gut geht. Aber: Entwicklung läuft nicht automatisch ab. Es gibt in immer kritische Punkte, an denen sie steckenbleiben, rückwärtslaufen oder sogar in eine ganz andere Richtung ausbrechen kann. („Okay, der eine Zwerg ist da ist eine Ausnahme, aber alle anderen benehmen sich trotzdem wie die Axt im Walde")

Schuld daran sind Widerstände. Womit ich alles meine, was eine Entwicklung „aktiv" bremsen, stoppen, zurückzuwerfen oder aus der Bahn lenken kann. Das können äußere Erlebnisse sein. Zum Beispiel gerät der Charakter, der sich endlich traute, ein wenig über seine Lebensgeschichte zu verraten doch an jemanden, der ihn für seine Vergangenheit verurteilt. Es können aber auch Dinge sein, die aus dem Charakter selbst kommen, wenn er an einem Punkt angelangt, an dem es ihm schwer fällt, „über seinen Schatten" zu springen – womit die Widerstände eigentlich nichts weiter als noch nicht genommene Hürden sind. Vielleicht ist ja unser unfreiwilliger Dieb zu stolz um sich einzugestehen, dass seine Einstellung falsch war und verurteilt Obdachlose, die Brot stehlen auch weiterhin, obwohl er selbst mal in dieser Notlage war.

Widerstände sind als Gegenspieler nicht zu unterschätzen. Sie können dafür sorgen, dass eine Figur in der Skepsis lange hin- und her schwankt. Dass sie nicht weiß, was sie denn nun glauben soll und am Ende die ganze Sache verdrängt. Sie können einen Charakter auf Stufe 3 lange in einer verzweifelten Schwebe halten oder gar „Trotzreaktionen" provozieren. Und sie können selbst auf Stufe 4 noch Rückfälle auf eine frühere Stufe bewirken, wenn sie nur stark genug sind.

Deswegen sind Widerstände aber nicht „böse". Im Gegenteil: Sie erfüllen eine wichtige Aufgabe! Sie sind Prüfungen an denen sich die Glaubwürdigkeit einer Charakterentwicklung misst. Jeder überwundene Widerstand, einschließlich der Rückschläge, zementiert die Entwicklung! Und vielleicht wisst ihr jetzt auch, was am Eingangsbeispiel so komisch wirkte: Martina hat Veronika sofort verziehen – ohne Skepsis und Widerstand.

Von daher ist es auch in Ordnung, wenn der Charakter zwischen der Skepsis und der Neuorientierung ein wenig „schlingert". Wie viele Schleifen ein Charakter braucht, ist natürlich abhängig von der individuellen Situation. Entscheidend ist nur, dass die Figur alle Stufen durchläuft, sich das Schlingern mehr und mehr abschwächt und der Charakter irgendwann am Ende ankommt. Kurzum, dass er die Widerstände überwindet.

Und was braucht es, um Widerstände zu überwinden? Natürlich weitere Anstöße in die richtige Richtung. Also wiederholte Auslöser im Miniformat, die mal diesen, mal jenen Widerstand angehen.

Entwicklung findet dann statt, wenn die Kraft der Anstöße die Kraft der Widerstände übersteigt.

Und damit beende ich dieses Kapitel. Im nächsten gehe ich nochmal auf ein paar typische Fehler in der Charakterentwicklung ein.

So, nachdem ich euch die Grundlagen einer glaubwürdigen Charakterentwicklung vorgestellt habe, möchte ich hier nochmal die häufigsten Fehler aufzeigen, die mir in Fanfictions immer wieder auffallen.

Rufen wir uns noch mal kurz die wesentlichen Punkte des letzten Kapitels in Erinnerung. Wenn ihr einen Charakter glaubwürdig entwickeln wollt, dann solltet ihr die folgenden Punkte beachten.

Erstes: Überlegt, welche Hürden der Charakter zu überwinden hat

Zweitens: Erschafft einen Auslöser, der sein Bild über sich und die Welt ins Wanken bringt

Drittens: Beachtet das Stufenmodell.

Viertens: Baut Widerstände und erneute Anstöße ein.

Und damit wenden wir uns den Fehlern zu.

 

Fehler in der Abfolge der Stufen

Beginnen möchte ich mit ein paar Fällen, in denen die Entwicklung unstimmig wirkte, weil die Abfolge der Stufen des Grundmodels nicht berücksichtigt wurde. Dies sind auch die häufigsten Fehler.

 

Fall 1: Die Lücke

Gewiss erinnert ihr euch noch an das kurze Textbeispiel, mit dem ich das Thema einleitete. Die Dame, vor deren Tür plötzlich die Erzfeindin stand, um sich auszusprechen. Ich hatte schon kurz angesprochen, was daran falsch war. In vielen Geschichten werden wesentliche Stufen des Entwicklungsprozesses einfach übersprungen oder so kurz abgehandelt, dass man sie kaum bemerkt. Sehr anfällig hierfür ist Stufe 2 „Skepsis", wie es auch in diesem Beispiel der Fall war. Der Entwicklungsprozess sieht dann so aus:

Stufe 1: Ausgangsituation

Stufe 3: Der Wendepunkt

Stufe 4: Neuorientierung

Stufe 5: Akzeptanz und Festigung

Die Charaktere entwickeln sich zu schnell. Man hat das Gefühl, sie drehen sich wie ein Fähnchen im Wind und haben all ihre Überzeugungen, Angewohnheiten, Gefühle auf einen Schlag vergessen. Solche Verläufe lassen die Figuren naiv, oberflächlich, sonderbar oder gar als willenlose Marionetten der Handlung erscheinen. Als Leser wurmen einen beständig Fragen wie ‚und was ist jetzt mit der Wut auf die Erzfeindin '? Im schlimmsten Fall kann man mit den Figuren nicht mehr mitfühlen, da sie ihre Persönlichkeit eingebüßt haben.

Beispiele: Im Endkampf besiegt der Held am Ende endlich den Bösewicht. Viele Kämpfer auf der guten Seite sterben in der Schlacht. Doch obwohl die meisten davon enge Freunde des Helden waren, ist der Held nach dem Sieg nur noch glücklich und zeigt keinen Anflug von Trauer; Die Hauptfigur erhält einen Brief von ihrem Erzfeind, in dem er sie warnt, dass ihre besten Freunde sie hintergehen. Anstatt den Brief zu zerreißen, glaubt sie ihrem Erzfeind sofort aufs Wort und kündigt ihren Freunden die Freundschaft.

 

Fall 2: Der Reparaturversuch

In manchen Fällen scheinen Fanfiction-Schreibende selbst zu bemerken, dass die Figuren sich zu schnell entwickelt haben und versuchen die Sache noch zu kitten, indem sie die Figur durch ein dramatisches Ereignis zurückwerfen. Dabei kommen dann Entwicklungsverläufe wie diese heraus:

Stufe 1: Ausgangssituation

Stufe 3: Der Wendepunkt

Stufe 4: Neuorientierung

Stufe 5: Akzeptanz und Festigung

Stufe 2: Skepsis

Das Problem hierbei ist, dass der Entwicklungsprozess trotz Lücke eigentlich schon abgeschlossen und „zementiert" ist. Daher werden Geschütze mit der Gewalt einer Abrissbirne aufgefahren, um den Zement wieder aufzubrechen und von vorne zu beginnen. Als Leser, der sich am Ende der Entwicklung glaubt, lehnt man sich zurück in der Hoffnung, jetzt nur noch ein seichtes Plätschern zu lesen – und wird auf einmal von einer Monsterwelle überrollt. Was bleibt ist der Eindruck unnötigen Dramas. Nicht nur scheint der bisherige Entwicklungsprozess sinnlos gewesen zu sein. Man hört auch auf, mit den Charakteren mitzufühlen, weil der Konflikt hausgemacht wirkt. Außerdem entsteht großes Misstrauen in den weiteren Verlauf: Wer im Ziel eine Kehrtwende macht, kommt vermutlich niemals an.

Beispiele: Der Charakter, der lange Zeit Angst vorm Autofahren hatte, baut drei Tage nachdem er sich endlich fröhlich und frei hinters Steuer setzte, einen so schweren Unfall, dass er am liebsten seinen Führerschein abgeben würde; Der Charakter, der sich inzwischen längst verlobt hat, geht einen Tag vor der Hochzeit fremd.

 

Fall 3: Der Sprung in der Platte

Während in den letzten Fällen die Phase der Skepsis (zunächst) zu kurz kam, ist manchmal auch das Gegenteil der Fall. Die Stufe der Skepsis wird überstrapaziert. Und dann passiert das:

Stufe 1: Ausgangssituation

Stufe 2: Skepsis

Stufe 2: Skepsis

Stufe 2: Skepsis

...

Dies ist der Zustand der Stagnation. Hier tut sich nichts. Alle Impulse und Anstöße auf der Stufe verlaufen im Sande. Der Charakter dreht sich im Kreis und kommt nicht voran. Entwicklung findet hier keine statt. Geschichten dieser Art lesen sich wie ein schriftlicher Cartoon, in dem sich der Schurke zwar hundert verschiedene Möglichkeiten ausdenkt, die Helden zu überlisten und hundert Mal scheitert, aber weder etwas dazulernt (zum Beispiel sich Verbündete zu suchen) noch endlich besiegt wird. Und das mag zwar in einer Zeichentrickserie lustig sein, aber nicht in einer Longfiction. Nicht, dass ihr mich falsch versteht: Ein Paar Schleifen zwischen Stufe 2 und Stufe 4 sind okay, aber irgendwann wird es auch zu viel. Wenn ihr Schwierigkeiten habt, aus diesem Rad herauszukommen, dann wäre die erste Sofortmaßnahme, den Charakter beim nächsten Mal endlich das glauben zu lassen, was er glauben soll.

Beispiel: Ein Charakter, der in der Vergangenheit gemobbt wurde, hat jetzt Freunde, die ihm sagen, dass er toll ist. Der Charakter scheint das kurzzeitig zu glauben, fängt aber bei der nächsten Gelegenheit wieder an zu weinen, weil er sich für wertlos hält, bis seine Freunde ihm sagen, dass er toll ist. Der Charakter scheint das kurzzeitig zu glauben, fängt aber bei der nächsten Gelegenheit wieder an zu weinen,.... – und so geht es weiter bis ans Ende der Geschichte.

Was ihr tun könnt: Überprüft, ob in eurer Fanfiction alle Phasen vorhanden sind und an der richtigen Stelle stehen. Woran ihr die Phasen erkennt, habt ihr ja im letzten Kapitel gelesen. Und: schreibt nicht einfach nur drauf los, sondern plant eure Geschichten. Gerade beim Reparaturversuch ist es deutlich, dass der Fehler hier auf mangelnder Planung beruht. Habt ein besonderes Auge auf die Phase der Skepsis.

 

Fehler im Verhältnis zwischen Anstößen und Widerständen

Eine zweite Sorte von Fehlern ist weniger leicht zu fassen. Es scheinen alle Stufen vorhanden zu sein und doch wirkt die Entwicklung irgendwie unstimmig:

- Ein Macho, der noch nie über seine Art nachgedacht hat, wird von einem wildfremden Mann angesprochen, dass er so nie bei den Frauen landen wird. Zunächst tut er die Worte des Mannes als dummes Gelaber ab. Am Abend aber denkt er vor dem Einschlafen noch mal darüber nach und wird skeptisch. Er geht mit seinem Handy ins Internet auf eine Seite mit Dating Tipps und liest dort, dass Machos bei Frauen gar nicht gut ankommen. Jetzt glaubt er dem Mann und beginnt sich zu ändern.

- In einem SciFi-Fandom: Eine Menschenfrau, die große Vorurteile gegen Außerirdische hatte, gerät ins Grübeln, als ihre Firma einen Außerirdischen einstellt, der sich als zuverlässiger Mitarbeiter erweist. Dann wird ihr Dorf von Außerirdischen niedergebrannt und ihre ganze Familie getötet. Die Frau beginnt Außerirdische wieder zu hassen. Dann jedoch vermittelt ihr ausgerechnet ihr Kollege eine Unterkunft, in der sie wohnen kann, bis ihr Haus wieder steht. Und endlich glaubt die Frau, dass Außerirdische doch gut sind und zwar alle.

In diesem Fall stimmt das Kräfteverhältnis zwischen den Hürden bzw. Widerständen und den Anstößen nicht. Im ersten Beispiel wäre der Auslöser eigentlich viel zu schwach gewesen, um den Charakter „in Bewegung" zu setzen – Der Macho hätte den Typen vermutlich ausgelacht und gar nicht erst weiter über dessen Worte nachgedacht und falls doch, sich nicht gleich durch eine Datingseite bekehrt. Im zweiten Beispiel wären die Widerstände so stark, dass sie die Entwicklung eigentlich abbrechen würden. Die Ermordung der eigenen Familie sollte kein Charakter so leicht wegstecken. Allenfalls könnte die Frau in ihrem Mitarbeiter eine Ausnahme sehen. Mehr dürfte bei diesem Szenario aber nicht drin sein.

Was ihr tun könnt: Bedenkt immer, welche Konsequenzen Widerstände haben. Macht euch auch stets Gedanken darüber, wie tief die Charakterzüge, die ihr ändern wollt und die Hürden sitzen. (Ist der Charakter erst seit Kurzem so drauf oder schon sein ganzes Leben lang? Gab es im Canon schon Anstöße, die an ihm abprallten?) Und dann wählt etwas als Anstoß aus, das annähernd gleichstark ist. Ein Blick in die Kapitel zur ICnes können euch helfen. Manchmal gibt es nicht den ganz großen Anstoß, sondern viele kleine, die erst in ihrer Summe wirken. Dann braucht ihr aber auch genügend davon und nicht nur einen Mann auf der Straße und eine Datingseite.

Und das war's auch schon zum Thema Charakterentwicklung. Viel Erfolg beim Schreiben! Hier geht es weiter mit großen Gefühlen...

Im nächsten Themenblock (das heißt die nächsten paar Kapitel) wird es neben allem Ernst auch ein wenig romantisch. Denn es geht um Herzklopfen, Schmetterlinge im Bauch und große Gefühle. Oder kurz: um die Liebe. Die Frage ‚wer mit wem? ' hält Tausende von fleißigen Schreiberlingen an der Tastatur. Millionen von Fans aus allen Fandoms versinken in Geschichten zu ihren OTPs. Die Liebe ist wohl DAS Thema der Fanfictionwelt schlechthin ... und damit leider auch eines der größten Sorgenkinder! Denn so schön Romanzen auch sind - in Fanfictions lassen sie oft zu wünschen übrig.

Daher beginnt dieser Block auch anders als die letzten beiden mit dem Negativen. Also den Dingen, die man tunlichst vermeiden sollte. Und ich kann euch sagen, dass dieses Kapitel sehr ernst werden wird.  Denn wir begeben uns in ein Feld, in dem Probleme in Fanfictions nicht nur literarischer Natur sind. Zieht euch also warm an.

 

Wie man es falsch macht – die DON'Ts

Pairings gibt es in allen möglichen Konstellationen. Einige sind schon im Canon zusammen, manche hätten dort leicht zusammenkommen können, viele sind sich nie begegnet und andere kennen sich zwar – können einander aber nicht leiden. Besonders die letzte Gruppe übt auf viele eine große Faszination aus. Crackpairings sind in Fanfictions sehr beliebt. Schreibende denken sich eine ganze Menge aus, um die Figuren zusammenzubringen. Und nicht jede Idee ist gut. Im Gegenteil: Manche sind wirklich, wirklich schlecht. Und wenn ich zwei Mal wirklich schreibe, dann meine ich damit, dass sie nicht nur literarisch verbesserungswürdig sind - sondern auch ethisch sehr bedenklich.

In diese Kategorie fallen die folgenden Ideen:

· Die Charaktere haben betrunken Sex oder nehmen versehentlich Liebesdrogen ein

- Sie sind von Heiratsgesetzen betroffen

· Sie sind genetisch vorbestimmte Bindungspartner und sterben ohne den Sex miteinander

· Ein Charakter befindet sich in einer Notlage, der andere „hilft" ihm, mit einer sexuellen Beziehung als „Gegenleistung" (z.B. Stricher-Freier-Szenarien)

· Ein Charakter ist ein Entführungsopfer des Anderen

· Und vieles mehr

Ich erspare mir an dieser Stelle zu erklären, was an jeder einzelnen Idee falsch läuft und konzentriere ich mich darauf, was sie alle gemeinsam haben:

Sie zwingen die Charaktere in eine Beziehung.

Sei es durch Drogen, durch Gene, durch Gesetze oder – was am schlimmsten ist – durch Druck und Gewalt des Loveinterests selbst: In all diesen Szenarien werden die Charaktere nur deswegen ein Paar, weil der Autor sie in ein Korsett steckt, das keine andere Möglichkeit zulässt, als dass sie eine sexuelle Beziehung eingehen. Und das ist schlecht. Sehr schlecht.

Warum?

Weil unter Zwang niemals wahre Liebe entstehen kann!

Machen wir mal ein kleines Gedankenexperiment, zu dem ich alle einlade, die solche Fanfictions schreiben: Jeder kennt ja vermutlich irgendjemanden, den er nicht leiden kann, vielleicht sogar richtiggehend hasst. Denkt mal an die Person, die auf eurer Liste der unsympathischsten Menschen ever ganz oben steht. Und nun stellt euch vor, ihr würdet betrunken mit demjenigen in der Kiste landen, durch Heiratsgesetze, Gene oder andere äußere Umstände zu einer Beziehung mit ihm gezwungen sein oder gar von ihm selbst dazu erpresst werden. Wäre das ein romantischer Gedanke, der euch Wohlbehagen bereitet? Oder fühlt ihr euch bei dem Gedanken unwohl? Wärt ihr froh, zu „eurem Glück" gezwungen worden zu sein oder regen sich in euch eher Verzweiflung, Wut und Ekel? Endet dieses Gedankenspiel für euch mit Friede, Freude, Eierkuchen ? Oder damit, dass euch Fluchtgedanken überkommen und ihr alles daran setzt, diese Beziehung noch abzuwenden oder im Falle des betrunkenen ONS die Sache einfach zu verdrängen?

Wenn ihr euch für die „Oder"-Antworten entschieden habt – und ich hoffe, das habt ihr, andernfalls müssen wir noch mal über ganz andere Dinge reden - dann solltet ihr jetzt zumindest eine leise Ahnung haben, was an diesen beliebten Verkuppelungen in Fanfictions falsch läuft.

Echte Liebe heißt, dass zwei Menschen sich auf Augenhöhe begegnen, etwas aneinander finden und sich aus freien Stücken aufeinander einlassen. Selbst wenn sich Verliebtheit niemand aussuchen könnte*, ist das Eingehen einer Beziehung doch immer an den Willen beider Partner gebunden, soll daraus keine völlig verkorkste Geschichte werden. Eine aufrichtige Liebesbeziehung ist eine freie Entscheidung  füreinander, die auf gegenseitiger Zuneigung beruht. Die obligatorische Hochzeitsszene in Liebesfilmen ist nicht deswegen romantisch, weil Polizisten zwei Widerwillige, die sich gegenseitig nicht leiden können, an Handschellen vor den Traualtar zerren und ihnen erst durch Auflage von Geldbußen ein mürrisch dahingeworfenes „Ja" abringen. Sie ist romantisch, weil beide laut und deutlich mit glänzenden Augen „Ja, ich will" sagen und damit in aller Öffentlichkeit bekennen, dass ihre Entscheidung füreinander aus tiefstem Herzen kommt. Eine Unzahl von Liebesgeschichten beruht darauf, dass jemand trotz aller Widerstände zu seinem Lovinterest hält, weil er ihn oder sie liebt. Die Wahrhaftigkeit der Liebe beweist sich gerade an der Tiefe der freien Entscheidung füreinander, die solchen Stürmen trotzt.

Nun wird den Charakteren in besagten Fanfictions aber gerade die Fähigkeit zur freien Entscheidung geraubt! Wenn man unter Drogen steht oder dem Einfluss seiner Gene, wenn der Knast droht oder sogar der Tod, ist es Essig mit freiem Willen und Bekenntnissen aus tiefstem Herzensgrund. Und auch eine Notlage (wie bei z. B. Strichergeschichten) hat eine äußert unappetitliche Seite: Was würde wohl mit dem Charakter geschehen, wenn er sich nicht auf die Beziehung einließe? Würden ihm nicht Hunger, Schmerz und Elend drohen? Hat er vor dem Hintergrund überhaupt eine Wahl? Ganz zu schweigen von der direkten Gewalt wie in den beliebten Entführungsszenarien.

Dazu noch ein besonders ernstes Wort: Es gibt nichts, das so weit von Liebe weg sein könnte wie Gewalt. Beziehungen, in denen sexuelle Übergriffe stattfinden, sind keine Liebesbeziehungen. Echte Liebe respektiert immer die Grenzen des Anderen! Und ja, auch ein erzwungener Kuss ist ein Übergriff! Ebenso wie Freiheitsberaubung, Folter und Anderes, was mit dem Stichwort Entführung verknüpft ist, Gewalt ist. Und auch Stalking, Kontrollsucht, Erpressung und Drohungen haben nichts mit aufrichtiger Liebe zu tun. Es kann zwar sein, dass die Opfer solcher Grenzüberschreitungen und Gewalttaten eine gewisse emotionale Bindung zum Täter entwickeln (Stichwort Stockholmsyndrom). Aber das ist keine Liebe – es ist ein Versuch, der Psyche in einer traumatisierenden Situation zu überleben! Romantisch, nicht? Darum, wenn euer Charakter auch noch so ein großer Badboy ist – Gewalt, sei sie psychisch oder körperlich – hat in einer Romanze nichts verloren. Auch Badboys können Menschen, die sie lieben, respektvoll behandeln. Und niemand, wirklich niemand, der noch einen Funken Verantwortungsgefühl besitzt, wird eine sexuelle Beziehung mit jemandem eingehen, der von ihm abhängig ist. Fanfictions dieser Art fördern genau das Gegenteil von Liebe. Sie beschreiben puren Missbrauch und sind daher allenfalls als Angsting oder Tragödie geeignet, in denen es nicht um wahre Liebe, sondern verkorkste Verhältnisse geht.

Aber auch weniger dramatische „Verkuppelungsmethoden" erfüllen wie gesagt nicht ihren Zweck. Niemand, der sturzbetrunken mit seinem Feind im Bett landete, wird morgens mit Sternchen in den Augen aufwachen und sich denken „Mein/e Traummann/frau!" Liebe braucht Sympathie und Sympathie lässt sich nicht durch Alkohol einflößen. Ebenso wenig wie Gesetze sie vorschreiben können. Sympathie kommt von innen heraus, sie kann nicht von außen aufgedrückt werden.

Ich kann nur mutmaßen, warum solche Szenariendennoch geschrieben werden: Entweder die Charaktere zu zwingen gibt den Schreibenden einfach einen Kick. Oder es ist die pure Ratlosigkeit darüber,wie man das Pairing sonst zusammenbekommen soll. Denn sein wir ehrlich: Abneigung ist eine mächtige Hürde auf dem Weg zum Liebespaar, die gar nicht so leicht aus der Welt zu schaffen ist. Zwang erscheint als einfaches Mittel, weil es die Charaktere nun ja zwingt. Wenn der fiese Lehrer und die streberhafte Schülerin sich nicht freiwillig küssen,dann „muss" ihnen eben jemand die Pistole „Heiratsgesetz" auf die Brust setzen.Nur: Bei einer solchen Lage kommen eben leider auch nur erzwungene Pärchen heraus.

Das Sprichwort „Gefühle lassen sich nicht erzwingen" gilt auch für Geschichten. Keine gegenseitige Abneigung und erst recht kein ausgewachsener Hass werden durch die Einnahme von Drogen, durch Heiratsgesetze, durch Notlagen oder gar durch „Sex oder stirb"-Geschichten aufgelöst. Aber das wäre essenziell, um überhaupt eine Grundlage zu haben, auf der sich Liebe entwickeln kann. Zwang kann niemals „wahre Liebe" erzeugen, allenfalls ein bestimmtes Verhalten.

Wer dennoch zu solchen Mitteln greift, dessen Romanzen werden unglaubwürdig. Denn er gibt den Charakteren keine Chance, Gefühle füreinander zu entwickeln und sich aus freien Stücken für eine Beziehung zu entscheiden. Trotz Lippenbekenntnissen in rosarotem Fluff wirkt es für den kritischen Leser nur so, als wären die Charaktere vom Autor einfach so lange mit dem Zwang traktiert worden, bis sie ihre Kraft verloren und sich ihrem Schicksal gebeugt haben. Und das ist nicht romantisch. Ganz und gar nicht.

 

Was aber kann man tun?

Wie soll man Charaktere, die sich im Canon nicht lieben, denn sonst verkuppeln?

Falls ihr euch diese Frage stellt, dann ist das nächste Kapitel eure Rettung.

*Was so nicht ganz stimmt. Menschen können Verliebtheit durchaus ein bisschen steuern, zumindest dahin gehend, dass sie ihre Gefühle noch abbremsen können. Nicht jeder und auch nicht jederzeit natürlich, aber prinzipiell. Wäre dem nicht so, könnte auch niemand über Liebeskummer hinwegkommen.

 

So, haben nach dem letzten Kapitel alle mit mir zusammen tief durchgeatmet? Gut! Dann kommen wir zur anderen Seite der Medaille. Denn die gute Nachricht lautet: Es ist möglich, Charaktere auch ohne Zwang zu verkuppeln – selbst dann, wenn sie sich im Canon vielleicht nicht ganz grün sind. Doch dazu, wie man Feinde im Speziellen verkuppelt, gibt es im Anschluss noch ein eigenes Kapitel. Hier geht es erst einmal um die allgemeinen Grundlagen, die alle Pairings betreffen.

Wie man es richtig macht! – die DOs

Wenn ihr euer Pairing glaubwürdig zusammenringen wollt, dann solltet ihr euch eine Sache mit Rotstift hinter die Ohren schreiben:

Jede Liebesgeschichte ist Charakterentwicklung im Doppelpack

Und wer die Kapitel zu diesem Thema gelesen hat, dürfte jetzt schon eine vage Ahnung haben, was auf ihn zukommt. Wer sie nicht gelesen hat, sollte das schleunigst nachholen.

Damit sich eure Charaktere auch wirklich ineinander verlieben, braucht ihr erst mal etwas, was sie aneinander im wahrsten Sinne des Wortes liebenswert finden können. Oder anders gesagt: Etwas, was sie einander anziehend, begehrenswert und interessant werden lässt. Wenn ihr über zwei Feinde schreiben wollt, vergesst dafür mal für einen Augenblick, dass die Charaktere sich nicht leiden können, schaut euch bloß ihre Persönlichkeiten an.

Viele Fanfictions benutzen das Aussehen einer Figur als Aufhänger, um die Lovestory einzuläuten. Da gibt es jene Geschichten in denen sich Schülerinnen aufdonnern um ihre Lehrer zu verführen und damit sogar erfolgreich sind. Oder die graue Maus verwandelt sich in die Beautyqueen und ist auf einmal der Schwarm der Schule. Nun, ich will nicht leugnen, dass Äußerlichkeiten beim Verlieben eine gewisse Rolle spielen. Gerade wenn sich zwei Menschen zum ersten Mal begegnen, ist das Aussehen vielleicht der Anstoß, der den Stein ins Rollen bringt. Doch um euch ein Geheimnis zu verraten: Die Rolle des Aussehens wird in vielen Fanfictions überschätzt. Überlegt mal selbst: Wenn sich der Typ oder das Mädchen, die ihr nicht ausstehen könnt, in Schale werfen würde, würde das etwas an eurer Abneigung ändern? Oder würdet ihr eher denken: „Okay, sieht nicht schlecht aus, aber Arschloch bleibt Arschloch"? Der Spruch „Schönheit ist vergänglich" hat schon einen wahren Kern. So sehr Verliebte auch von süßen Grübchen oder niedlichem Lächeln ihres Objekts der Begierde schwärmen können, bei einer dauerhaften Beziehung sind andere Dinge viel entscheidender. Mitunter ist es sogar erst die Liebe, die uns Menschen schön erscheinen lässt. Und ein hübsches Äußeres ändert ebenso wenig etwas an tiefsitzender Abneigung wie ein Drogencocktail. (Und ja, ich weiß, dass Draco Malfoy Hermine Granger nach dem Weihnachtsball ganz toll gefunden haben soll. Ebenso weiß ich aber auch, dass das wohl eine der größten Hoax des Fandoms ist. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Auch in Originalwerken ist nicht alles perfekt.)

Wenn es also nicht das Aussehen ist, das zählt, was ist es dann?

Natürlich die berühmten inneren Werte.

Dazu sei jedoch gesagt: Innere Werte bedeutet nicht für jeden dasselbe. Während die einen sich Hals über Kopf in den netten Jungen von nebenan verlieben könnten, finden ihn die nächsten eher langweilig.

Allgemein, denke ich, gibt es drei „Quellen" der Anziehung:

Bewunderung: Jeder hat gewisse Eigenschaften, die er an Anderen sehr schätzt, ob er sie selbst besitzt oder nicht. Das können Humor, Mut, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Güte, Gerechtigkeitssinn, Sanftmut oder die Fähigkeit sein, gute Fanfictions zu schreiben. Was auch immer es ist: Bewunderte Eigenschaften sind ein guter Magnet.

Gemeinsamkeiten: Wenn es eine Sache gibt, die Menschen besonders zusammenschweißt, dann sind es Gemeinsamkeiten. Oder, um genauer zu sein: Relevante Gemeinsamkeiten. Also Dinge, die den Wesenskern einer Figur betreffen. Dieselbe Lieblingsfarbe mag zwar schön sein, aber wirklicher Kitt sind Dinge wie eine ähnliche Weltsicht, gleiche Ziele oder ein geteiltes Schicksal.

Ergänzung: Aber auch das Motto „Gegensätze ziehen sich an" hat seine Berechtigung. Manchmal verlieben sich Menschen auch deswegen ineinander, weil ihnen der Andere etwas bietet, was ihnen fehlt, weil er also ihre Persönlichkeit ergänzt. So kann die liebenswerte Chaotin von der Fähigkeit einer anderen Frau profitieren, ihr Leben stets in geregelten Bahnen zu halten. Und diese wiederum braucht vielleicht ein Stück von der Lockerheit der Chaotin, die ihr selbst zuweilen fehlt. Doch Achtung: Nicht jeder reagiert gleich positiv auf sein Gegenstück. Manchmal dauert es eine Weile, bis jemand registriert, dass ihm die völlig fremde Art eines Anderes auch ganz guttun kann.

Wenn ihr also eine gute Liebesgeschichte schreiben wollt, dann solltet ihr ein Auge auf diese drei Dinge werfen. Natürlich dürfen Äußerlichkeiten in einer Romanze auch eine Rolle spielen. Doch wenn ihr wirklich eine tiefe Liebe aufbauen und nicht nur einen oberflächlichen kleinen Flirt schreiben wollt, dann solltet ihr vor allem auf den inneren Werten aufbauen, während das Schwärmen für die Schönheit des anderen das Sahnehäubchen ist.

Eure Aufgabe: Schnappt euch also eure Aufzeichnungen über die Charaktere, schaut euch an, was ihr über sie wisst und überprüft, ob die Figuren a) etwas aneinander bewundern könnten, b) etwas gemeinsam haben oder c) sich ergänzen könnten. Wichtig: Achtet immer darauf, mit wem ihr es zu tun habt. Wenn Max Mustermann Badboys scharf findet, tut das Lieschen Müller noch lange nicht. Und denkt auch daran, dass die Anziehung nicht einseitig sein sollte.

Ihr seid fertig? Dann braucht ihr jetzt noch als Auslöser  Situationen, in denen die Charaktere diese Eigenschaften auch  aneinander  wahrnehmen können. Das heißt, gebt ihnen einen Grund, Zeit miteinander zu verbringen oder neue Seiten am anderen zu entdecken.

Aber: Steckt sie in kein Szenario, das sie zu einer Beziehung zwingt.

An dieser Stelle möchte ich nochmal ein paar der Beispiele aus dem letzten Kapitel aufgreifen. Denn diese sind nicht mal per se unbrauchbar. Sie werden unbrauchbar dadurch, dass sie von Schreibenden nach dem Motto „Ich zwing euch so lange bis ihr es mögt" eingesetzt werden. Aber: Man könnte sie auch ganz anders nutzen- nämlich als bloßen Aufhänger.

Erinnert euch, was ich in den vorangegangen Kapiteln schrieb: Manchmal kann das Drumherum eines solchen Zwang-Szenarios auch Entwicklung auslösen. Betrachten wir dazu beispielsweise mal das Thema „Heiratsgesetz" (und ignorieren für eine Sekunde, dass es auch eine gute Erklärung bräuchte, warum eine Regierung das einführen sollte):

Anstatt dass die beiden Feinde sich mit vielen Klagen in ihr Schicksal fügen, vor den Traualtar treten, heiraten, zusammenziehen und irgendwann doch im Bett landen, weil sie es müssen und das dann noch voll knorke finden, könnten die Charaktere auch beschließen, gegen diesen staatlichen Eingriff in ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung anzugehen. Sie könnten erst einmal alleine kämpfen, dann aber feststellen, dass sie nicht weiterkommen, ohne sich mit dem Anderen zusammenzuschließen. Sie könnten die Drohung „Heiratsgesetz" als gemeinsames Problem begreifen und an einem Strang ziehen. Genau in dieser Zusammenarbeit könnten sie feststellen, dass der Andere doch ganz interessant ist. Dass er Seiten hat, die sie so an ihm noch nicht kannten und die ihnen sympathisch sind. Sie könnten es schaffen, vor Gericht tatsächlich zu erreichen, dass das Heiratsgesetz für rechtswidrig erklärt wird. Sie könnten nach dem Sieg den Gerichtssaal verlassen und ihrer Wege gehen. Doch dann nach ein paar Tagen feststellen, dass sie sich vermissen – und dann aus freien Stücken auf einen Kaffee treffen.

Oder das Thema „Stricher": Anstatt, dass der eine Charakter den Stricher zwar von der Straße wegholt, dafür aber als persönlichen Toyboy hält, könnte er dem Anderen auch aus Mitleid helfen. Er könnte ihn, ohne dass er zum Freier wird, aus seiner Notlage befreien und dazu verhelfen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Den nun ehemaligen Stricher könnte die unerwartete Hilfe des Anderen so fasziniert haben, dass bei einer zufälligen Begegnung ein Jahr später den Anderen zum Kaffee einlädt und unbedingt wissen möchte, warum dieser ihm half. Dabei könnte herauskommen, dass der andere selbst Schlimmes erlebt hat. Und dies könnte der Beginn einer intensiven Annäherung werden.

Ihr seht also, man könnte diese Szenarien noch ganz anders nutzen.

Aber: Was diese Beispiele auch zeigen, ist, dass die so beliebten Zwänge und Notlagen austauschbar werden, sobald sie nur noch Aufhänger sind. Es braucht gar kein „sexuelles Thema" mehr. Statt dem Heiratsgesetz könnte auch jedes andere gemeinsame Problem die Charaktere zur Zusammenarbeit bewegen. Der Stricher müsste kein Stricher sein – er könnte auch auf der Straße leben und Pfandflaschen sammeln.

Das Beste ist ohnehin, wenn ihr kein Extraszenario für euer Pairing entwerft, sondern schaut, ob es im Canon oder im größeren Rahmen eurer Geschichte (falls die Romanze nur ein Nebenplot ist) Anknüpfungspunkte für ein Szenario gibt, im dem sich die Charaktere (nochmal neu) kennenlernen können. Denn eine Situation, die nur konstruiert ist, um zwei Figuren miteinander zu verkuppeln, wirkt meist auch konstruiert. Daher ist es besser, im Canon selbst nach einem Anfang zu suchen: Was haben die beiden Charaktere miteinander zu tun? In welchen Bereichen begegnen sie sich oder könnten sie sich begegnen? Gibt es vielleicht einen gemeinsamen Feind? Berufliche oder private Überschneidungen? Bestimmt findet ihr einen Weg, die Figuren Zeit miteinander verbringen oder sich über den anderen Gedanken machen zu lassen, ohne dass ihr extra dafür etwas inszenieren müsst.

Und wenn ihr einen Anfangen gefunden habt? Wenn ihr wisst, was die Charaktere aneinander anziehend finden könnten und einen Grund habt, warum sie sich mehr miteinander beschäftigen sollten als bisher - wie geht es dann weiter? Nun, dann geht es mit großen Schritten aufs Verlieben zu. Manchmal gibt es die Liebe auf den ersten Blick. Aber das ist eher selten und außerdem nur möglich, wenn die Charaktere sich noch nicht kennen. Bei allen anderen geht es langsamer voran. Sie verbringen Zeit miteinander und stellen fest, dass es doch ganz schön war. Sie entdecken, dass der andere die oder die Eigenschaft besitzt, die ihnen gefällt; dass sie sich mancher Hinsicht ähneln oder dass der Andere ihnen trotz seiner Andersartigkeit ganz gut tut; sie beginnen über die gemeinsam verbrachte Zeit nachzudenken; sie vermissen den Anderen; ihnen wird ganz warm, wenn sie an ihn denken; sie müssen dabei lächeln; und eigentlich ist der Andere ja doch ganz attraktiv, was sie vorher gar nicht so wahrgenommen haben (denn das Aussehen darf ja durchaus auch eine Rolle spielen) und tja, dann sind wir eigentlich schon dort.

Bei all dem gilt aber: Hetzt die Charaktere nicht! Lasst ihnen Zeit, sich kennen- und lieben zu lernen. Dann vermeidet ihr auch, dass eure Geschichte zu schnell zu Ende geht und ihr neues Drama braucht, um weiterzuschreiben. Natürlich darf es auch in einer Romanze ein paar innere und äußere Hindernisse zu überwinden geben. Wichtig ist nur, dass es weitergeht.

So viel zu den Dingen, die mehr oder weniger für alle Pairings gelten.

In manchen Liebesgeschichten gibt es allerdings besondere Hürden zu überwinden. Und um die geht es in den nächsten Kapiteln! Doch zuvor gibt es nochmal einen kleinen Einschub zum Thema Liebe und Klischees.

Bevor wir weitermachen mit den Härtefällen unter den Pairings will ich an dieser Stelle noch eine kleine Ergänzung einbringen. Denn mit dem Verlieben an sich ist es ja noch nicht getan. Romanzen bestehen auch aus der Beziehung des Paares. Doch leider ist nicht nur das Zusammenkommen, sondern auch die Gestaltung der Beziehungen in Fanfictions oft verbesserungswürdig.

Wenn ihr euch an die Kapitel zur ICnes zurückerinnert, wird euch sicher wieder einfallen, dass ich Liebe als Beispiel wählte, um den Fehler „Orientierung an Klischees" zu erklären. Und das nicht ohne Grund. Gerade im Bezug auf Romanzen existieren unheimlich viele kulturelle Vorstellungen darüber, wie Mann und Frau sich verhalten. Und auch im Bezug auf homosexuelle Beziehungen kennt die Fanfictionszene so einige Slashmythen. Nun ist die Orientierung an Klischees aber bekanntlich nicht die beste Wahl. Und darum möchte ich zu den beliebtesten Vorstellungen auch noch ein paar Worte loswerden und euch den einen oder anderen Denkanstoß mit auf den Weg geben.

 

Von Flirts und Eroberungen

Der erste Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist eigentlich nur eine kleine Erinnerung an bereits Angedeutetes. Aber es kann nicht schaden, es noch einmal zu wiederholen.

Bevor ein Paar zusammenkommt, vergeht erst einmal eine Zeit, in der sie sich annähern, kennenlernen und umeinander werben. Gerade um diese Phase gibt es sehr viele Klischees über viele, kleine Rituale des Flirtens. Mit solchen Ritualen meine ich zum Beispiel sich für den anderen hübsch machen, Blumen schenken, Türen aufhalten, Komplimente machen, beim Date zahlen und so weiter und so fort.

So nett diese Rituale auf den ersten Blick auch scheinen mögen, solltet ihr damit wohlüberlegt umgehen. Denn: Nicht alles passt zu allen Figuren. Auch wenn sich Charaktere verlieben, bleiben sie sie selbst. Natürlich kann Verliebtheit die eine oder andere versteckte Seite hervorkehren und das ist zuweilen auch ganz nett. Wer aber kein bisschen belesen ist, wird auch durchs Verlieben nicht plötzlich zig Liebesgedichte von Goethe, Schiller und co. zitieren. Zwar neigen unsichere oder unerfahrene Figuren manchmal dazu, sich an solche Klischees anpassen zu wollen. Das Ergebnis dürfte dann aber meist eher unbeholfen wirken.

Unbeholfenheit lässt sich natürlich auch bewusst einsetzen. Solltet ihr das aber nicht wollen und bloß keine Idee haben, wie die Charaktere sich sonst näherkommen könnten, dann schaut euch nochmal genau an, mit wem ihr es zu tun habt. Wenn ihr wisst, was ihr mit einem bestimmten Ritual erreichen wollt, gibt es in meist Alternativen, die in chracter sind.

Jemand ist eher wortkarg, aber ihr möchtet trotzdem, dass man merkt, dass er den anderen liebt? Dann macht die Figur vielleicht keine großen Komplimente, sondern zeigt ihre Zuneigung eher durch Gesten und Geschenke.

Mit anderen Worten: Behaltet die Persönlichkeit der Figuren im Auge und seid ein bisschen erfinderisch. Dann klappt es auch ohne Klischees, die nicht zu den Charakteren passen.

 

Die Rollenverteilung

Der nächste Punkt ist schon ein größeres Reizthema, das sich auch in den Ritualen schon andeutet. Es geht um die Frage, wie die Figuren ihre Beziehung gestalten, wenn sie zusammenkommen.

In vielen Köpfen herrscht leider noch immer die Vorstellung, dass Liebespaare immer  eine ganz bestimmte Rollenverteilung entwickeln, die durch das Geschlecht geprägt ist. So ist es beispielsweise bei vielen Romanzen seit Twilight wieder in, dass der Junge oder Mann der „starke" Part ist, der das Mädchen oder die Frau beschützt. Doch auch vor homosexuellen Beziehungen macht die Rollenverteilung nicht halt. In nicht wenigen Slash-Geschichten findet man das Klischee der Seme/Uke-Beziehung: Der Uke ist der schwache Part, der Seme hingegen der starke. Und im Grunde ist die Vorstellung, dass schwule Beziehungen sich stets so gestalten, auch nichts anderes als die Übertragung heterosexueller Rollenklischees auf homosexuelle Paare.

Nun wird es euch wohl nicht verwundern, wenn ich sage: Solche Klischees sind keine guten Lehrmeister, wenn ihr eine qualitativ hochwertige Romanze schreiben wollt. Und das aus zwei Gründen: Erstes verstärken sie falsche Vorstellungen darüber, wie Männer und Frauen, homo- und heterosexuelle Beziehungen sind, oder besser gesagt zu sein haben, indem sie alle über einen Kamm scheren. Und zweitens lassen sie, wie jede unüberlegte Anwendung allgemeiner Vorstellungen, Figuren schnell out of character erscheinen. Ich erinnere mich da beispielsweise an furchtbare Slash-Geschichten, in denen der Uke – im Canon allesamt Figuren, die ihren eigenen Kopf hatten – kaum noch eine Entscheidung ohne seinem Seme treffen konnte.

 

Wie sich eine Beziehung gestaltet, hängt davon ab, welche Persönlichkeiten aufeinandertreffen. Das gilt auch für fiktive Geschichten, wenn sie denn gut werden sollen. Schaut euch also an, mit welchen Charakteren ihr es zu tun habt und überlegt, wie diese ihr Beziehung wohl gestalten würden. Natürlich kann es passieren, dass sich eine eher klassische Rollenaufteilung ergibt - einfach, weil die Figuren so gestrickt sind. Das ist aber weder ein Muss, noch schließt es aus, dass die Dinge nicht auch umgekehrt sein können. Kurz gesagt: Beziehungen sind vielfältig. Und wenn ihr es mit zwei Figuren zu tun habt, die in dieser Hinsicht recht ähnlich gestrickt sind, ist es unwahrscheinlich, dass sich überhaupt eine so klare Rollenverteilung entwickelt.

Wie soll man aber eine Romanze ohne klare Rollenverteilung schreiben? Das Zauberwort heißt: Wechselseitigkeit. Jeder hat mal schwache Momente, in denen er eine Schulter zum Anlehnen oder eine helfende Hand braucht. Jeder hat mal gute Phasen, in denen er eine solche anbieten kann. Komplimente lassen sich auch gegenseitig aussprechen, Restaurantrechnungen abwechselnd bezahlen. Sich in Schale werfen können sich auch zwei. Und Blumen? Wer braucht Blumen, wenn beide an Heuschnupfen leiden?

Mit anderen Worten: Brecht die Persönlichkeit der Figuren auch nicht für eine Beziehung. Folgt nicht einfach wahllos Klischees, weil ihr glaubt, dass man das so schreiben muss. Weder Geschlechterklischees über Heterobeziehungen noch Seme/Uke bilden immer die Wirklichkeit ab. Ihr könnt natürlich das eine oder andere einbringen, wenn es zu den Figuren passt. Aber eben auch nur dann.

 

Ehe und Familie

Wenn es um die Gestaltung von Beziehungen geht, gibt es noch eine weitere Sache, die mir in Fanfictions immer wieder begegnet und zu der ich hier ein kritisches Wort loswerden möchte. Und zwar sind es die Idealvorstellungen davon, wie eine glückliche Beziehung aussieht und wohin sie führt. Es gibt zwei Dinge, die in fast allen „Beziehungsbiografien" auftauchen und für viele scheinbar der Inbegriff von Beziehungsglück sind. Und das sind Heirat und die Gründung einer Familie.

Eine Hochzeit ist für viele Schreibende wohl deswegen so romantisch, weil es ein Akt des Versprechens ist, ewig zusammenzubleiben. Und ein gemeinsames Kind gilt wahrscheinlich vielen als die Krönung der Beziehung. Nun ist es aber, wie bei vielem, so, dass auch die Vorstellungen von Glück sehr unterschiedlich sind. Und nicht alle Figuren sind so entworfen, dass sie traditionelle Vorstellungen unterschreiben würden. Nicht jeder träumt davon, seine Beziehung unter einer religiösen Segen zu stellen oder amtlich erfassen zu lassen, selbst dann, wenn er die Absicht hegt, lebenslang mit seinem Partner zusammenzubleiben. Und was für das Thema Ehe gilt, gilt noch mehr für das Thema Elternschaft.

Der Wunsch, mit einem geliebten Menschen zusammen zu sein und der Wunsch, Kinder zu haben, sind nämlich zwei Paar Schuhe. Natürlich gibt es viele, die von einer Familie mit der Liebe ihres Lebens träumen. Genauso existieren es aber auch Menschen, die zwar gerne ein Kind hätten, aber nicht unbedingt eine Partnerschaft wollen. Und ebenso viele leben zwar in einer festen Beziehung, schließen es aber für sich aus, eine Familie zu gründen. Andere wiederrum können sich soziale Elternschaft vielleicht vorstellen, aber keinen leiblichen Nachwuchs. Und dann gibt es auch noch die Gruppe jener, die mit oder ohne Elternwunsch körperlich nicht in der Lage dazu sind, gemeinsame Kinder zu bekommen, sei es weil zum Beispiel ein Part unfruchtbar ist oder einfach nicht die entsprechendende biologische "Ausstattung" besitzen.

Was macht man aber nun mit all jenen, die keine Kinder wollen oder bekommen können, wenn man sich doch ein paar knuddelige Babys wünscht? Den Widerwillen der Chraktere oder die körperlichen Hürden einfach ignorieren? Keine gute Idee! Das Eine lässt die Figuren out of character erscheinen, das Andere erzeugt Unlogik.

Wenn ein Paar zwar einen Elternwunsch verspürt, aber keine leiblichen Kinder möchte oder nicht dazu in der Lage ist, welche zu bekommen, wäre die erste Überlegung, ob es soziale Elternschaft nicht ebenso tut. Dass ein solches Paar ein Kind adoptiert wäre in so einem Fall das Naheliegenste. Es wäre der kürzeste Weg, weil die Hürden Widerwille und biologische Unmöglichkeit gar kein Thema wären und ihr so nicht in Gefahr lauft, in die OOCnes- oder Unlogik-Falle zu tappen. Überlegt euch also gut, ob es wirklich nötig ist, dass im Nachwuchs auch die Gene beider stecken.

Falls es unbedingt sein muss, dass ihr einem Pärchen mit solchen Hürden leibliche Kinder gebt, dann gilt wie immer: Alles braucht eine gute Begründung!

Fangen wir mit den biologischen Problemen an, die ich am Beispiel M-preg erklären möchte, weil das in Fanfictions am häufigsten vorkommt. Da die meisten Männer keine Gebärmutter haben, wirkt es auf Leser erst mal potentiell unlogisch, wenn bei einem schwulen Paar plötzlich ein Part schwanger ist. Und die Erklärung, dass ein Charakter, der im Canon ein Mensch war, ‚eigentlich' einer anderen Spezies angehört, bei der die Fortpflanzung anders funktioniert, verfremdet die Figur noch mehr und kappt damit ein gutes Stück Werksbezug. Dabei gäbe es mitunter Möglichkeiten, m-preg glaubwürdig darzustellen, ohne auf so etwas auszuweichen. Manche Figuren beispielsweise lassen einen gewissen Spielraum, um sie als trans* oder intersexuell auszulegen. Auch wenn es mitunter Fingerspitzengefühl brauchen kann, um zu erklären, warum dies im Canon nie bekannt wurde, wäre das eine Möglichkeit. Andernfalls gibt es in vielen Fantasy- oder ScienceFiction Welten auch Wege, Körper (vorrübergehend) anzupassen, sei es durch Magie oder durch High-Tech-Medizin. In Harry Potter beispielsweise wäre ein etwas abgewandelter Vielsafttrank eine Möglichkeit.

Nun kommt das große Aber: Wären die Charaktere auch bereit, diesen Weg zu gehen? Von den medizinischen Risiken einer OP mal abgesehen, stellt eine solche Anpassung doch eine massive Veränderung des Körpers dar, die vielleicht nicht unbedingt jeder einfach so an sich vornehmen (lassen) möchte. Genauso wie auch bei einer Schwangerschaft selbst sich viel im Körper tut und deswegen auch nicht jeder, der schwanger werden könnte, schwanger werden will. Und damit bin ich beim Widerwillen.

Wenn ihr es mit Charakteren zu tun habt, die biologische Elternschaft oder Elternschaft generell für sich eigentlich ablehnen, dann braucht ihr einen wirklich guten Grund dafür, warum sie sie doch wollen sollten. Ihr habt in den Kapitel zur ICnes und zur Charakterentwicklung gelernt, wie ihr so etwas anpacken könnt. Trotzdem solltet ihr euch überlegen, ob sich die Sache auch lohnt. Gerade eine biologische Elternschaft dort ‚durchboxen' zu wollen, wo körperliche Hürden im Weg stehen, halte ich in Anbetracht der Möglichkeit zur Adoption für übertriebenen Aufwand.

Und was Charaktere betrifft, die wahrscheinlich überhaupt keine Kinder wollen würden, wäre es sicher kein Fehler, wenn ihr darüber nachdenkt, warum ihr sie dennoch zu Eltern machen wollt. Geht es ums Familienglück an sich oder wollt ihr damit nur die Verbundenheit der beiden Figuren verstärken? Falls letzteres zutrifft, gibt es nämlich auch andere Wege. Für manches kinderlose Paar ist zum Beispiel auch ein gemeines Lebenswerk ihr „Baby".

Eigentlich würden an dieser Stelle noch die Sexklischees fehlen, doch da der Ratgeber jugendfrei ist, verzichte ich darauf. Für erwachsene Leser wird es gegebenenfalls noch eine entsprechend eingestellte Auslagerung geben, die ich dann hier verlinke.

Ansonsten war es das zu den Liebesklischees. In den nächsten Kapiteln geht es nun weiter mit den „Härtefällen" unter den Pairings. Und wir beginnen mit den Feinden...

Achtung! Dieses Kapitel wird demnächst etwas ergänzt werden. Der Hinweis verschwindet, sobald das Update erfolgt ist.

So, da wären wir also. Die allgemeinen Grundlagen für eine Romanze haben wir also hinter uns. Doch eine brennende Frage bleibt: Wie bringt man Figuren zusammen, die sich im Canon nicht leiden können? Lassen sich Feinde tatsächlich so leicht verkuppeln, wie im letzten Kapitel dargestellt? Nun, die Wahrheit ist: Nicht so ganz! Feindschaft ist ein Hindernis für sich. Und genau um diese und ähnliche Hürden soll es in den nächsten Kapiteln gehen. Denn manchmal brauchen Pairings auch noch ein bisschen mehr, um wirklich zusammenzukommen. Schießen wir also los mit dem Verkuppeln unter besonderen Schwierigkeiten.

Feindschaft und Abneigung

Wie schon erwähnt, sind Crackpairings – also Pairings, die im Canon nie zusammengekommen wären – die wohl beliebteste Sorte an Pairings. Bei vielen davon sind die Figuren im Original miteinander „verfeindet". Verfeindet in Anführungszeichen, weil ich damit nicht nur den ausgewachsenen Hass aufeinander meine, sondern alle Formen von Antipathie, also auch ein eher unbestimmtes „irgendwas gefällt mir an dem Menschen nicht".

Nun ist eine solche Abneigung eine mächtige Hürde, die der Liebe massiv im Wege steht. Je tiefer sie geht, umso mehr. Viele Schreibende versuchen dieses Problem zu umschiffen, indem sie den Charakteren unterstellen, heimlich „schon immer" ineinander verliebt gewesen zu sein und nur so getan zu haben, als könnten sie sich nicht leiden. Doch das ist, wie ihr wisst, wenn ihr das Kapitel zum Umgang mit Canonfakten gelesen habt, keine gute Idee. Was ihr braucht ist eine Charakterentwicklung der beiden Kontrahenten. Oder anders gesagt: Ihr müsst die Abneigung auflösen, ehe ihr aus ihnen ein Liebespaar machen könnt.

Dazu ist es vor allem wichtig, zu verstehen, warum die beiden Figuren eigentlich ausgewachsene Feinde geworden sind oder sich zumindest nicht so gut leiden können. Hinter Abneigung können verschiedene Gründe stecken. Zum Beispiel:

. Vorurteile („Schöne Menschen sind immer oberflächlich", „In der Familie sind nur Schnösel")

. Eigene Probleme, für die man den anderen verantwortlich macht (zum Beispiel Neid)

. Überbewertung von kleinen Charakterfehlern („Er ist so ein Besserwisser!")

. Negative Seiten, die wirklich ein Problem sind (Der andere ist ein Schläger, Rassist...)

. Sehr unterschiedliche Lebensauffassungen (Ordnung ist das halbe Leben vs. das Genie beherrscht das Chaos)

. Oder auch: Die Abneigung ist erst einseitig und der eine Charakter hasst den anderen nur, weil er von ihm gemobbt wird.

Und natürlich kann auch mehr als eine Sache zutreffen.

All diese Dinge müsst ihr aus der Welt schaffen, ehe euer Paar glaubwürdig zusammenkommen kann. Und das bedeutet, dass die Figuren ihr Verhalten und ihre Einstellung ändern müssen. Mit zwei Ausnahmen: Wenn ein Charakter den anderen bloß hasst, weil dieser ihn mobbt oder er mit wirklich fragwürdigen Charakterzügen seines Gegenübers ein Problem hat, dann wäre der Andere in der Pflicht. Denn es kann nicht das Ziel einer guten Geschichte sein, dass eine Figur sich aus Liebe in die Opferrolle fügt oder berechtigte moralische Bedenken über Bord schmeißt – zumindest nicht in einer Romanze. In allen anderen Fällen lautet die Devise: Die Charaktere müssen ihre Vorteile überwinden, ein wenig toleranter gegenüber den Fehlern anderer werden, ihre Probleme selbst beackern oder erkennen, dass ihnen ein Scheibchen von der fremden Lebensweise auch ganz gut tut. Kurzum: Sie müssen eine neue Sichtweise aufeinander entwickeln.

Die Grundlagen einer guten Charakterentwicklung habt ihr schon vor ein paar Kapiteln kennengelernt. Das Interessante hier ist nun, dass mitunter genau das, was die beiden Feinde aneinander anziehend finden könnten, ein Motor der Charakterentwicklung sein kann.

Ein paar Beispiele? Gerne!

Ein Charakter ist neidisch auf den anderen. Gleichzeitig merkt er aber auch, dass der Andere einige Eigenschaften besitzt, die er sehr schätzt, die ihm sympathisch sind. Kurzum: Der Charakter ist hin- und hergerissen und er kann den Anderen nicht mehr uneingeschränkt hassen, auch, wenn es noch ein paar andere Impulse braucht, um die „Schlacht" für die Liebe zu entscheiden. Oder: Ein Charakter lernt in dem Maße den Fehlern des Anderen gegenüber nachsichtig zu sein, je mehr er entdeckt, dass der Andere sonst eigentlich ein richtig toller Mensch ist.

Dass die Charaktere natürlich auch Raum brauchen, um sich noch einmal neu kennenzulernen, habe ich schon im letzten Kapitel erwähnt. Für zwei Feinde gilt das umso mehr. Zusätzlich dazu könnt ihr das Bild, das beide voneinander haben, auch indirekt ins Wanken bringen: Zum Beispiel, indem ihr die beiden Figuren mit jemanden konfrontiert, der ganz anders über den „Feind" denkt. Oder indem ihr sie in den Schuhen des Anderen laufen lasst, um zu verstehen, wie dieser tickt. (Selbst im Mittelpunkt stehen und einen ungekannten Erwartungsdruck spüren, kann zum Beispiel ein gutes Heilmittel gegen Neid auf Berühmtheit sein.) Kurzum: Rüttelt die festgefahrenen Vorstellungen übereinander auf. Aber Vorsicht: Abneigung kann auch dazu führen, dass jemand die „Anzeichen des Anziehenden" am Anderen bewusst verdrängt oder umdeutet. Erinnert euch an die Phase der Skepsis in meinem Schema! Deswegen kann es eine ganze Weile dauern, bis Feindschaften und Abneigungen sich „zerrieben" haben.

Habt ihr diesen aber Punkt erreicht, seid ihr aber noch immer nicht ganz über den Berg. Oftmals gibt es auf dem Weg zum Liebespaar noch eine weitere Hürde zu überwinden.

Denn sein wir ehrlich: Abneigungen und Feindschaften sind selten eine reine Kopfsache. Charaktere, die sich nicht leiden können, tun einander auch so einiges an. Seien es böse Worte oder böse Taten: Alles hinterlässt Spuren und tut weh. Diese gegenseitigen Verletzungen müssen aufgearbeitet werden. Und das bedeutet:

- Ehrliche Reue

- Entschuldigung und Wiedergutmachung

- deutliche Verhaltensänderungen

- Zeit, damit die Wunden heilen können

- Vergebung

Oder anders gesagt, die Charaktere müssen ihr Verhältnis von Grund auf bereinigen, um neu beginnen zu können. Und an diesem Punkt kommen auch wieder unsere beiden Ausnahmen von vorhin ins Spiel. Denn über Verletzungen hinwegkommen, Verhaltensänderungen anerkennen, Entschuldigungen annehmen und verzeihen bedeuten ebenfalls Charakterentwicklung. Genauso wie auch der Loyalitätskonflikt, in den jemand geraten kann, der sich in einen Menschen verliebt, der unmoralisch handelt.

Wer also Feinde verkuppeln möchte, muss es eigentlich mit bis zu drei miteinander verknüpften Charakterentwicklungen pro Figur aufnehmen:

- dem Aufgeben der Abneigung hin zu ehrlichem Bereuen

- dem Verlieben, wie im letzten Kapitel geschildert

- dem Überwinden der alten Verletzungen

Und wenn ihr jetzt denkt: „Das ist ja alles höllisch kompliziert!" – Ja, ist es. Aber das ist das, worauf ihr euch einlasst, wenn ihr zwei Figuren, die sich nicht leiden können, glaubhaft zusammenbringen wollt.

Feinde zu verkuppeln ist die Königsdisziplin!

Und: Es gibt auch Grenzen. Nicht bei allen Feinden kann das Verhältnis bereinigt werden. Hierzu gehören alle Fälle, in denen ein Charakter dem anderen etwas so Furchtbares angetan hat, dass dies nie völlig zu den Akten gelegt werden kann, wie zum Beispiel eine Vergewaltigung oder ein Mordversuch. Erinnert euch daran, was ich im vorletzten Kapitel schrieb. Wenn ihr zwei Charaktere, die in solchen Verhältnissen zueinander stehen, unbedingt verkuppeln müsst, dann geht mit eurer Fanfiction wenigstens in der Timeline vor die Tat zurück und gebt dem Täter eine so tiefgreifende Charakterentwicklung, dass es gar nicht dazu kommt.

Und mit diesem Denkanstoß schließe ich das Kapitel zur Verkuppelung von Feinden. Feindschaften sind natürlich nicht die einzigen Pairings mit besonderen Hürden. In den nächsten Kapiteln will ich noch auf ein paar weitere schwierige Konstellationen eingehen.

Das nächste Problem, auf das ich eingehen möchte, dürften vor allem Slash-Schreibende kennen. Manchmal kommt auch bei Hetero-Pairings vor, doch der Einfachheit halber bleibe ich bei beim Beispiel Slash. Übrigens, für alle, die es nicht wissen: Slash – abgeleitet vom Schrägstrich zwischen den Charakternamen – ist der Fanfiction-Begriff für homosexuelle Romanzen und Paare. Doch fahren wir fort im Text.

Wahrscheinlich haben viele euch es selbst schon einmal erlebt: Ihr wollt in eurer Fanfiction zwei Figuren miteinander verkuppeln, doch im Originalwerk gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass die Charaktere überhaupt am gleichen Geschlecht interessiert sind. Manchmal hat man Glück und der Canon erwähnt rein gar nichts über das Liebesleben der Figuren, so dass Fanfiction-Schreibende die volle Freiheit haben, sich selbst etwas auszudenken. Die Mehrzahle der Charaktere jedoch verliebt sich irgendwann, hat Beziehungen oder leidet an Herzschmerz. Und wenn das Objekt ihrer Begierde dann eine Figur des anderen Geschlechts ist, stellt sich sehr schnell die Frage:

Wäre es nicht ein Bruch mit dem Canon, wenn man die Figur verslasht?

Wenn ihr euch an die Kapitel zum Thema „wie ich schreibe ich Figuren in character" zurückerinnert, zählte ich dort auch die sexuelle Orientierung als ein Merkmal auf. Und das nicht ohne Grund. Denn auch wenn die sexuelle Orientierung kein Charakterzug wie zum Beispiel Ängstlichkeit ist, wird sie doch von etlichen Lesern als feste Eigenschaft fiktiver Figuren wahrgenommen. Und Figuren, die sich ins andere Geschlecht verlieben, werden von vielen erstmal als heterosexuell gewertet.

Dennoch bedeutet das nicht, dass Slash-Geschichten damit ein Tabu wären und nur noch Charaktere, die schon im Original nicht als heterosexuell gezeichnet waren, verslasht werden dürfen. In meinen Augen kann im Prinzip jede Figur glaubwürdig mit dem gleichen Geschlecht verkuppelt werden. Es kommt darauf an, wie die Sache angegangen wird. Denn das wie entscheidet, ob eine gleichgeschlechtliche Beziehung mit dem Canon vereinbar ist. Es gibt einen geschickten und einen ungeschickten Weg. Und es ist wohl überflüssig zu sagen, dass viele Fanfictions, denen eine Verdrehung der Charaktere vorgeworfen wird, den ungeschickten Weg wählen.

Doch worin besteht dieser „ungeschickte Weg" eigentlich?

Viele Fanfiction-Schreibende machen den Fehler, dass sie den Charakteren, die sie verkuppeln wollen, jegliches Interesse am anderen Geschlecht absprechen. Wie oft habe ich Sätze gelesen wie: „X wusste schon immer, dass sie anders war als andere Mädchen. Sie war lesbisch" oder „Y stand nicht auf Mädchen. Er mochte Kerle, er war schwul". Vorangegangene heterosexuelle Liebschaften im Canon wurden entweder ignoriert, das heißt mit keinem Wort erwähnt, oder aber zu Alibi-Beziehungen erklärt, die der Charakter nur einging, um seine Homosexualität zu vertuschen.

Wenn der Charakter nun aber wegen seines heterosexuellen Loveinterest im Canon Ewigkeiten an Liebeskummer litt, darf man sich nicht wundern, wenn Leser die Fanfiction ablehnen, selbst dann, wenn sie gegenüber einem Slashpair durchaus offen wären. Denn hier geht es nicht darum, dass die Figur eine neue, gleichgeschlechtliche Beziehung eingeht – es geht um die Leugnung eines guten Stück der Biografie des Charakters. Und ich denke, dass das sogar der Punkt ist, der viele am meisten stört: Nicht, dass die Figur in den Armen eines Charakters des gleichen Geschlechts sein neues Glück findet, sondern dass frühere Beziehungen im Canon für Null und nichtig erklärt werden.

Doch wenn es der ungeschickte Weg ist, Figuren als rein schwul oder lesbisch zu zeichnen, was ist der geschickte? Und ist eine Slash-Romanze anders überhaupt möglich? Klare Antwort: Ja. Allerdings bedarf es dazu eines kleinen Kunstgriffs.

Fakt ist: Die wenigstens Figuren, die in Fanfictions verslasht werden, werden schon im Canon klar als schwul oder lesbisch dargestellt. Fakt ist aber auch, dass sie ebenso selten explizit als heterosexuell bezeichnet werden. Die vermeintliche Heterosexualität der Charaktere schließen Leser oftmals lediglich aus den heterosexuellen Liebesgeschichten, die eine Figur erlebt. Aber: Man muss nicht heterosexuell sein, um sich als Mann in eine Frau oder als Frau in einen Mann zu verlieben. Heterosexualität bedeutet Auschließlichkeit. Sie definiert sich nicht nur über das Interesse am anderen Geschlecht, sondern auch über das Fehlen des Interesses am gleichen. Und das ist wichtig! Denn Interesse am anderen und am eigenen Geschlecht schließen sich keinesfalls aus. Es gibt sehr viele Menschen, die sich sowohl von Männern wie auch von Frauen angezogen fühlen. Und genau das ist die große Chance für Slash-Fanfictions.

Die Lösung des Ganzen lautet also: Bisexualität

Einen Charakter so zu zeichnen, dass er an mehr als einem Geschlecht interessiert ist, ist eine gute Möglichkeit, die heterosexuelle Vergangenheit des Canon und eure Slash-Romanze unter einen Hut zu bekommen. Denn solange ein Charakter im Canon nicht ausdrücklich als heterosexuell bezeichnet wird, ist es durchaus denkbar, dass er auch zu romantischen Gefühlen für das gleiche Geschlecht fähig ist. Selbst dann, wenn er in der Originalgeschichte nur heterosexuelle Beziehungen hatte.

Natürlich kann es noch etwas Fingerspitzengefühl in der Anknüpfung an den Canon erfordern. Gerade wenn ein Charakter gleich mehrere heterosexuelle Liebschaften hintereinander hatte, kann es für manche Leser mitunter noch erklärungsbedürftig sein, wo das Interesse am gleichen Geschlecht nun herkommt. Aber auch hierfür gibt es Lösungen: Es kann schlichtweg sein, dass sein gleichgeschlechtliches Interesse in den letzten Jahren einfach „schlief". Denn Bisexualität heißt nicht, mit beiden Geschlechtern gleichzeitig zusammen sein zu wollen. Es heißt lediglich, sich potentiell auch in das eigene Geschlecht verlieben zu können. Möglicherweise hat der Charakter diese Seite seiner selbst aber auch immer verdrängt und zu unterdrücken versucht oder aber er verliebt sich tatsächlich zum ersten Mal in einem Menschen des gleichen Geschlechts. Das kann auch älteren Semestern passieren. Ich kenne selbst ein paar Frauen, die erst jenseits der 30 entdecken, dass sie Frauen genauso anziehend finden wie Männer.

Übrigens: Wenn ich hier schreibe, dass der Charakter bisexuell darstellt werden könnte, meine ich damit nicht, dass der Begriff oder andere Labels für die sexuelle Orientierung in der Geschichte so breit ausgewalzt werden müssen. Gerade dann, wenn die Charaktere schon lange über sich Bescheid wissen und weder Coming out noch Vorurteile der Umwelt in eurer Geschichte eine große Rolle spielen sollen, ist es mitunter sinnvoller, wenn ihr die Liebesgeschichte einfach so entwickelt wie ihr das bei einem auch heterosexuellen Pairing tun würdet. Beide lernen sich kennen, verlieben sich und haben ihre Geschichte. Oder anders gesagt: Die vergangenen Liebschaften der Figur im Canon sollten weder Alibi-Beziehungen sein noch völlig ignoriert werden, sondern in der Fanfiction als ernstgenommener Teil ihrer Vergangenheit erscheinen. Es bricht keinem Slash-Pair einen Zacken aus der Krone, wenn die beiden früher tatsächlich mal aufrichtige Heterobeziehungen hatten. Und was den Dramafaktor angeht: Mit homophoben Anfeindungen haben auch Bisexuelle zu kämpfen und zusätzlich dazu mitunter auch noch damit, von Homosexuellen nicht ernst genommen zu werden.

Verslasht also wen immer ihr wollt, verleugnet dabei aber nicht, wenn der Charakter ins andere Geschlecht verliebt war.

Natürlich gilt das auch für den umgekehrten Fall, bei dem ein Charakter im Canon ins gleiche Geschlecht verliebt war, ihr ihn aber mit jemanden des anderen Geschlechts verkuppeln wollt.

Und was ihr tun könnt, wenn eure Figuren zum Zeitpunkt, an dem eure Fanfiction ansetzt, noch immer vergeben sind, das erfahrt ihr im nächsten Kapitel.

Bisher haben wir uns mit Fällen beschäftigt, bei denen das Verkuppeln schwierig war, weil die Charaktere im Canon entweder nicht bereit zu einer Beziehung miteinander waren oder die sexuelle Orientierung auf den ersten Blick nicht zu passen schien. Doch was ist, wenn die Charaktere gar keine Beziehung mehr brauchen, weil ihr Herz schon vergeben ist?

Nicht alle Figuren sind im Canon frei. Manchmal sind sie schon unerwidert in jemanden verliebt, der leider nicht euer Kandidat ist oder gleich an einen anderen Charakter vergeben. Für Shipper ist das natürlich eine unschöne Situation. Denn kaum eine Figur ist wohl so schwer zu verkuppeln wie eine, die bereits einen anderen Charakter liebt. Zumindest dann, wenn sie nicht polyamorös veranlagt ist. Was soll man also tun, falls man nicht gerade eine Dreiecksbeziehung schreiben will? Die Canon-Liebschaft einfach ignorieren? Sie mit Mistgabeln in die Wüste jagen? Oder mit dem Radiergummi alles Liebenswerte an ihr auslöschen, damit der Charakter von ihr ablässt?

Bitte nicht!

Es gibt eine Sache, die nicht nur mich an vielen Romanzen dezent... nennen wir es ankotzt. Und das ist Charakterbashing der lieben Konkurrenz. Manche Schreibende glauben, man könnte ein Canonpair, das dem OTP im Wege steht, nur auflösen, indem man die Konkurrenten zu Widerlingen, zu Dummköpfen, zu fremdgehenden Arschlöchern macht oder sonst irgendwie unsympathisch zeichnet. Hauptsache, die Figur gibt so ein schlechtes Bild ab, dass der Andere nichts mehr von ihr wissen will und stattdessen im vorgesehenen Loveinterest die große Liebe findet.

Aber Leute: Das ist ein riesengroßer Mist! Und das nicht nur, weil Charakterbashing unterste Schublade ist, das ein sehr schlechtes Licht auf den Autor wirft. Es ist auch schlichtweg ein Irrtum zu glauben, es ginge nicht anders.

Um ein Canonpair aufzulösen gibt es viel elegantere Lösungen!

Pärchen trennen sich tagtäglich, obwohl sie sich mögen und keine besseren oder schlechteren Menschen sind als andere. Das liegt daran, dass Liebesbeziehungen veränderlich sind. Gefühle können sich verschieben oder die gemeinsame Basis ins Wanken geraten. Und das alles ohne große Katastrophen, einfach nur weil sich die Lebensumstände ändern und die Sache nicht mehr ganz passt.

Letztendlich ist das Entlieben und Auseinanderbrechen einer Beziehung ebenso eine Charakterentwicklung im Doppelpack wie das Verlieben und Zusammenkommen. Das bedeutet natürlich, dass die Sache nicht über Nacht geht, sondern Stück für Stück. Aber es mit dem Auflösen der Canonbeziehung langsam angehen zu lassen, ist nicht nur fairer gegenüber den Fans bestimmter Figuren, die ihren Lieblingscharakter nicht bebasht sehen wollen, sondern auch realistischer. Denn immerhin hat die Figur ihr Loveinterest im Canon geliebt und das aufzulösen, das braucht Zeit.

Wenn ihr also ein Canonpair trennen wollt, dann schaut euch an, wo es in ihrer Beziehung sensible Punkte, „Sollbruchstellen", gibt, an denen ihr ansetzen könntet.

Wenn ein Paar erst seit Kurzem zusammen ist, können die Charaktere feststellen, dass eine Beziehung einfach nicht so wirklich funktioniert. Vielleicht sind sie zu verschieden, um eine gemeinsame Basis zu finden und stellen fest, dass sie nur platonisch miteinander auskommen; die Hürden, die ihnen im Canon im Wege stehen erweisen sich als zu mächtig oder aber die Gefühle gehen doch nicht tief genug, um auf Dauer mehr als Freunde zu sein.

Wenn ein Paar dagegen schon lange zusammen ist, kann es sein, dass die Liebe irgendwann einschläft. Sie sind zwar ein eingespieltes Team, doch das Herzklopfen geht nach und nach verloren und ihre Gefühle füreinander werden immer freundschaftlicher.

Wenn die Verliebtheit unerwidert ist, kann jemand einsehen, dass er keine Chance hat, anders als platonisch zurückgeliebt zu werden, die Hoffnung aufgeben und sich in sein Schicksal fügen.

In allen drei Fällen werdet ihr es mit einem Charakter zu tun haben, der um den anderen ehrlichen Liebeskummer leidet und nicht froh ist, diesen „Mistkerl" oder „die Tussi, die es nicht wert war" los zu sein.

Doch das tut eurem Pairing keinen Abbruch! Im Gegenteil: Figuren zu verkuppeln, die eine Vergangenheit haben, macht die Sache glaubwürdiger. Eure Leser wissen, bei wem der Charakter im Canon Herzklopfen bekam und werden sich fragen, was aus dieser Geschichte geworden ist. Und ist es nicht gerade ein schöner Liebesbeweis, wenn der Charakter sagen kann „Ja, X ist ein guter Mensch und ich habe ihn/sie geliebt. Aber ich habe mich für dich entschieden, denn dich liebe ich viel mehr"? Bedenkt: Jemanden aufzugeben, der es nicht wert war, ist leicht. Doch wie schwer, wenn er es wert war!

Konkurrenz ist nichts, das sofort und ohne Rücksicht auf Verluste aus der Welt geschafft werden muss. Richtig genutzt kann Konkurrenz sogar die Grundlage einer interessanten Geschichte sein. Denkt an die Kapitel zur Charakterentwicklung, denkt an das Thema Widerstände! Eine alte Beziehung, an der der Charakter noch hängt, ist eine Quelle für Widerstände. Und überwundene Widerstände zementieren wie gesagt Entwicklung erst. Demgegenüber kann das Bashing von Konkurrenzfiguren den Eindruck erwecken, dass der Charakter sich nicht aus Überzeugung und größerem Herzklopfen auf die neue Beziehung einlässt, sondern nur, um sich über seine unglückliche Canonliebe hinwegzutrösten. Wie gesagt, es muss nicht so wirken, aber es kann.

Um eine vergebene oder schon unerwidert verliebte Figur zu verkuppeln, müsst ihr also nicht mit dem Vorschlaghammer auf die Canonbeziehung einschlagen und die Konkurrenz in schlechtestes Licht rücken. Löst die Sache langsam und mit Respekt vor den Figuren auf. Lasst die eine Liebe langsam verblassen und die neue wachsen. Dann holt ihr am Ende vielleicht sogar Leser mit ins Boot, die das Pairing sonst eher kritisch beäugen, weil sie aus vielen Fanfictions nur das Charakterbashing kennen.

So viel oder auch so wenig zum Thema Konkurrenz. Und damit beende ich diesen Themenblock. Weiter geht es mit einem weiteren Dauerbrenner in Debatten über Fanfictions: Own Characters. Wir starten damit, wann ein OC sinnvoll ist und gehen dann weiter zum heiß umstrittenen Thema der Mary Sues und Gary Stus.

Own character oder kein own character – das ist hier die Frage! Vielleicht nicht unbedingt für jene, die längst geplant haben, einen OC in ihre Fanfiction einzubauen, aber für viele andere. Und darum geht es in diesem Kapitel: Um die Frage, wann sich ein OC lohnt und wann eher nicht. Doch was ist ein OC eigentlich?

Ein own character, abgekürzt OC und auf Deutsch eigener Charakter, ist eine Figur, die sich Fanfiction-Schreibende selbst ausgedacht haben. Bei vielen Lesern schrillen beim Stichwort OC die Alarmglocken, denn nicht wenige verbinden das Wort mit Mary Sues und Gary Stus - jenen Charakteren, die Lesern durch ihre aufmerksamkeitsheischende Art tierisch auf die Nerven gehen. Dabei wimmelt es in Fanfictions nur so von OCs, ohne dass diese überhaupt auffallen würden: Die Schankmaid, die den Helden ihr kühles Bier bringt; der Verkäufer im magischen Laden; die Leute in der Funkstation auf der Erde, zu der das Raumschiff Kontakt aufnimmt – sie alle hat sich der Fanfiction-Autor möglicherweise selbst ausgedacht und sie haben vielleicht noch nicht mal einen Namen.

Interessant wird die Frage nach OCs also erst, wenn sie in der Geschichte einen bestimmten Raum einnehmen und es sich nicht mehr um austauschbare Statisten handelt, die nur einen kleinen Gastauftritt haben. Dies beginnt mit etwas wichtigeren Nebenrollen, wie zum Beispiel gute Freunde von Canonfiguren und kann so weit reichen, dass der OC selbst Protagonist der Fanfiction ist. Nun sind Fanfictions aber Ergänzungen zu einem bestimmten Original und das bedeutet, dass viele Leser erwarten, dass diese sich auch um Canoncharaktere drehen. Wer also einen eigenen Charakter in eine Fanfiction schreibt, muss sich die durchaus berechtigten Fragen gefallen lassen: Was hat diese Figur dort verloren? Gibt es für OCs in guten Fanfictions überhaupt einen angemessenen Platz?

Um diesen Fragen nachzuspüren, möchte ich zwei Phänomene betrachten, die mir in Fanfictions immer wieder negativ auffallen. Sie scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben und doch halte ich sie für bloß für die beiden Enden der gleichen Stange. Das eine Phänomen zeigt sich, wenn ein Mangel an OCs herrscht und andere bei deren Überfluss oder auch: deren Überflüssigkeit.

Vielleicht habt ihr es ja selbst schon einmal erlebt: Da liest man eine Fanfiction, die eigentlich recht gut ist – bis zu jenem Augenblick, in dem herauskommt, dass hinter bestimmten Taten ein ganz bestimmter Charakter steckt und man sich denkt: ‚Oh nein, nicht schon wieder die oder der. Nicht schon wieder diese alte Leier'

Wenn ihr solche Situationen kennt, dann habt ihr bereits Bekanntschaft mit dem ersten Phänomen gemacht, das ich hier poetisch Charakterrecycling nennen möchte.

Charakterrecycling findet immer dann statt, wenn Fanfiction-Schreibende bei einem neuen Plot auf Canoncharaktere zurückgreifen, die sich aufgrund gewisser Eigenschaften für eine „Aufgabe" anbieten. Ein sehr wörtliches Beispiel für Charakterrecycling ist die teilweise sehr beliebte Wiederbelebung toter Antagonisten, damit die Protas sie in einem neuen Abenteuer erneut besiegen können. Aber auch wenn der Mentor der Hauptfigur im Original einen neuen Schützling in gleicher Weise erzieht oder der Held, der einst ein magisches Artefakt zerstörte, wieder mit der Vernichtung eines bösen Gegenstands beauftragt wird und noch vieles mehr wären Beispiele für Charakterrecycling.

Nun ist Charakterrecycling nicht per se schlecht. Es kann bis zu einem gewissen Grad funktionieren und sogar angemessen sein, denn im Leben ist es ja oft so, dass sich Dinge wiederholen. Polizisten beispielsweise haben es ständig mit der Aufklärung von Verbrechen zu tun und nicht nur ein einziges Mal.

Aber das alles gilt eben auch nur bis zu einem gewissen Grad.

Nicht selten neigen Schreibende dazu, Canoncharaktere ein wenig überzustrapazieren. Und zwar indem sie sie so oft „recyclen", dass es wirkt, als gäbe es niemand anderen „für den Job". Das kann den Eindruck erwecken, dass im Universum tatsächlich nur eine Handvoll Charaktere existieren. Und das ist nicht der einzige Nachteil, den übermäßiges Charakterrecycling mit sich bringt.

Zunächst einmal ist die Sache oftmals gähnend langweilig. In der ersten Fanfiction mag es vielleicht noch spannend sein, wenn ein tot geglaubter Bösewicht plötzlich wieder auftaucht. Doch auf Dauer führt es zur Übersättigung, wieder und wieder immer nur den gleichen Namen zu begegnen. Eine solche Wiederholung lässt die Figuren außerdem zu Klischees werden, weil sie losgelöst von ihrer individuellen Geschichte stehen. Wenn ein Erfinder eine großartige Maschine erschaffen hat, dann kann man das als sein Lebenswerk ansehen. Wenn er aber jede Maschine im Universum erfunden hat, wird es unglaubwürdig. Im Zweifelsfall kann Charakterrecycling sogar zu offensichtlicher OOCnes führen. Und zwar dann, wenn die Figuren nur aufgrund einzelner, oberflächlicher Merkmale für eine Aufgabe ausgewählt werden, ohne Rücksicht auf ihre Gesamtpersönlichkeit oder Kontexte. Unser genialer Erfinder könnte auf den ersten Blick betrachtet zwar genau der Richtige dafür sein, dem Bösewicht eine mächtige Waffe zu bauen. Wenn er jedoch eine hohe Moral besitzt, wird er es nicht tun, so sehr er es auch könnte.

Um solche Zustände zu vermeiden, sind OCs, die die Canoncharaktere „entlasten" Gold wert. Denn unangemessenes Charakterrecycling ist ein deutliches Zeichen dafür, dass hier passende Figuren fehlen.

Doch es gibt auch ein Gegenstück zum Charakterrecycling: Das fünfte Rad am Wagen. In diesem Fall wirft der Fanfiction-Autor OCs in einen Cast, der eigentlich schon besetzt ist. Mit besetzt meine ich, dass es für jede „Aufgabe" in der Fanfiction einen geeigneten Canoncharakter gibt und die Figuren auch ohne Zuwachs ganz gut zurechtkommen. Beispiele findet man meist im Umkreis der Hauptfigur des Originals. Ob die neun Gefährten in Herr der Ringe oder das „Goldene Trio" in Harry Potter, sie alle kommen in ihren Geschichten ganz gut zurecht, ohne dass sie dringend noch jemanden im Bunde bräuchten. OCs wirken hier  bestenfalls wie Anhängsel, bei denen man sich fragt, was ihre Existenz nun soll, schlimmstenfalls können sie aber auch wie Eindringliche erscheinen, die den Canoncharakteren Konkurrenz machen. Und es wird euch vermutlich nicht überraschen, wenn ich sage, dass unter anderem genau dieser Typus daran schuld ist, dass OCs gerne mit Mary Sues und Gary Stus gleichgesetzt werden.

Wenn also die Canoncharaktere nicht den Eindruck erwecken, als bräuchten sie Unterstützung, dann ist ein eigener Charakter überflüssig.

Und das beantwortet eigentlich auch schon die Frage, wann es sinnvoll ist, OCs einzusetzen und wann nicht:

Ein guter OC füllt Lücken aus, die sich im Original oder der Fanfiction ergeben und sich nicht gut mit Canoncharakteren schließen lassen.

Lücken haben dabei natürlich viele Gesichter: Wenn an einer Schule jemand fehlt, der ein bestimmtes Fach unterrichtet, ist das eine Lücke. Eine Lücke wäre es aber auch, wenn ihr einen einsamen Charakter gerne verkuppeln würdet, euch aber kein Canoncharakter als Loveinterest wirklich zu passen scheint. Und auch die Rolle des Bösewichts in einer neuen Geschichte, die nach dem Sieg über den Antagonist des Canons spielt, ist eine Lücke. Schaut euch also eure Fanfiction-Idee an und überlegt, ob es dort Raum für OCs gibt oder ob ein Canoncharakter vielleicht die bessere Wahl wäre.

Im Prinzip gilt die Faustregel ‚OCs in die Lücken' sowohl für Neben- wie auch Hauptfiguren einer Fanfictions. Doch da OCs als Hauptfiguren nochmal ein Sonderfall sind, will ich dazu noch ein paar Extraworte loswerden.

OCs als Protagonisten

Lücke klingt beim ersten Hören natürlich recht negativ, doch so ist es gar nicht gemeint. ‚OCs in die Lücken' soll nicht bedeuten, dass alle eigenen Charaktere in Fanfictions nur dann etwas verloren haben, wenn sie als Lückenbüßer infrage kommen. Es heißt lediglich, dass ihr darauf achtet solltet, den OC so in die Geschichte einzubringen, dass er den Canon-Charakteren keine Konkurrenz macht. Wenn die Protagonistin des Originals zum Beispiel schon eine beste Freundin hat, dann braucht sie keine mehr, die sich der Fanfiction-Schreiberling selbst ausgedacht hat. Canoncharaktere und OCs sollten sich nicht in die Quere kommen.

Genau hier liegt aber der Hase im Pfeffer. Wir werden beim nächsten Kapitel über Mary Sues und Gary Stus nochmal genauer darauf zu sprechen kommen, jedenfalls ist es bei sehr vielen Schreibenden sehr beliebt, OCs mitten in Hauptcast des Originals zu setzen und so Konkurrenz zu provozieren. Sei es durch „Harry Potters Zwillingsschwester", die ihren Bruder in den Schatten stellt oder „die zehnte Gefährtin" in Herr der Ringe, die mindestens die Hälfte der anderen neun nutzlos macht.

Oftmals steckt hinter solchen Charakteren der Wunschtraum „Ich und Harry Potter/Legolas/..." und diese Fantasie mag durchaus verständlich sein. Als Geschichte umgesetzt ist sie trotzdem selten gut.

Warum?

So sehr diese Charaktere auch mit Schönheit glänzen und mit Superkräften auftrumpfen können, bleiben sie blass und langweilig – denn sie kommen nie aus dem Schatten der Canoncharaktere heraus und führen kein Eigenleben. Sie sind bloß ein Anhängsel. Ein glitzerndes, grelles und damit mitunter auch nerviges Anhängsel, aber eben noch immer ein Anhängsel.

Wenn ihr eine wirklich gute Fanfiction mit einem OC in Hauptrolle schreiben wollt, dann solltet ihr euch eines merken:

Ein eigener Charakter als Prota braucht auch eine eigene Geschichte.

Das heißt nicht, dass er den Canoncharakteren am besten nie über den Weg laufen sollte und es keinerlei Berührungspunkte zu ihnen geben darf. Es heißt lediglich, dass er seinen eigenen Plot haben und den Canoncharakteren nicht wie ein Schoßhündchen folgen sollte. Ein OC, der neben den Canonfiguren her reitet, während diese im ganzen Land nach einem bösen Zauberer suchen, der ein mysteriöses Artefakt gestohlen haben soll, ist langweilig. Viel spannender wäre dagegen ein OC, der in der Nähe der Einsiedlerhütte wohnt, in der sich besagter Zauberer versteckt hält und nach und nach Dinge über ihn und das Artefakt herausfindet, die die Canoncharaktere nie in Erfahrung gebracht haben. Die Freundschaft und Herzen der Canonfiguren kann ein solcher OC noch immer gewinnen, wenn sich die Handlungsstränge treffen und er den Canonfiguren sein Wissen offenbart. Aber: Er hat ein eigenes Leben und eine Bedeutung in der Geschichte, was den so beliebten „Kletten" von OCs oft fehlt.

Wenn ihr also einen guten OC schreiben wollt, setzt ihn nicht gerade mitten in den Hauptcast – schaut euch an, wo es weiße Flecken auf der Landkarte des Canons gibt und steckt ihn dort hin. Lasst ihn an Orten oder in Millieus verkehren, die im Original schlecht beleuchtet wurden anstatt eure Figur zum Hündchen zu machen, das dem Hauptcast jederzeit hinterherdackelt. Das ist zwar noch keine Garantie dafür, dass eure Figuren keine Mary Sue oder Gary Stus werden, aber es ist ein Anfang.

Und wie es nach diesem Anfang weitergeht, darum werden sich die nächsten Kapitel drehen.

Sie sind der Schrecken der Fanfictionwelt. Ein schauerliches Phantom, das sich hinter canonfremden Namen versteckt hält, um den Leser rücklings zu überfallen. Der düstere Mythos der Badfiction, der niemals endet: Mary Sue und Gary Stu. Ihr habt euch laut Aussagen eurer Kritiker selbst einen diese Plagegeister in eurer Fanfiction eingefangen? Dann erfahrt hier, wie ihr ihn erkennt und bekämpft. Muhahaha...

Okay, beiseite mit dem Geschwafel: Wenn es in Geschichten eine Sorte von Charakteren gibt, die bei anspruchsvollen Lesern gar nicht gut ankommen, dann sind es Mary Sues und Gary Stus. Bei Fanfictions werden diese Begriffe vor allem für OCs verwendet und sie sind weniger eine Bezeichnung für konkrete Charaktertypen (wie z.B. der Badboy) als vielmehr ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Figuren. Was sie ausmacht, ist ebenso leicht wie schwer zu erklären. Denn die Bezeichnungen definieren sich über die emotionale Reaktion, die ein Charakter auslöst:

Mary Sues und Gary Stus gehen Lesern furchtbar auf den Keks!

Das ist das Merkmal, das sie alle verbindet. Und damit hört die Sache auch schon auf, einfach zu sein. Denn was Leser an einer Figur so sehr stört, dass er sie als Mary Sue oder Gary Stu empfindet, ist sehr schwer zu fassen.

In der Vergangenheit wurden viele Versuche unternommen, Mary Sues und Gary Stus klar zu definieren. Insbesondere was Mary Sues betrifft, da diese weitaus häufiger vorkommen als die männliche Variante. Wenn ihr „Mary Sue" mal als Suchbegriff bei Google und co eingebt, werdet ihr ganze Listen und Tests zu Eigenschaften finden, die eine Mary Sue angeblich ausmachen, wie zum Beispiel: „Kann alles perfekt" oder „Hat einen ungewöhnlichen, schwer auszusprechenden Namen".

Nun mag zwar einiges, was auf besagten Listen steht, durchaus richtig sein. Doch sind das alles nur Auflistungen von Symptomen. Das Syndrom, also das eigentliche Problem, können reine Auflistungen nicht wirklich gut erklären. Und so haben sich in der Zwischenzeit ganz neue Charaktere entwickelt, die zum Beispiel keinen außergewöhnlichen Namen mehr haben – aber von vielen noch immer als tierische Nervensägen empfunden werden. Und was noch schlimmer ist: Würde man diese Listen tatsächlich wörtlich nehmen und zu 100% umsetzen, wären OCs nur noch grauer Einheitsbrei, weil es keinen eigenen Charakter mehr geben dürfte, der zum Beispiel ein Ass in Mathe ist. Ich will diese ganzen Listen damit nicht verteufeln. Wie ihr weiter unten seht, komme ich auch nicht um Beispiele herum, um das Phänomen zu erklären. Und Listen können erste Anhaltspunkte bieten, wenn man sich mit Mary Sues und Gary Stus noch nie befasst hat. Aber man sollte sie vorsichtig benutzen, denn ihre Hilfskraft ist begrenzt.

Wenn es aber nur bedingt nützt, eine Checkliste an Eigenschaften zur Hand zu nehmen und Punkt für Punkt den eigenen Charakter zu überprüfen, woran erkennt man Mary Sues und Gary Stus dann am Ende wirklich?

Natürlich indem man sich anschaut, die wie ein Charakter in der Geschichte präsentiert wird!

Bei guten Charakteren existiert die Figur, um eine Geschichte zu erzählen.

Bei Mary Sues und Gary Stus existiert die Geschichte, um der Figur eine Bühne zu geben

Mary Sues und Gary Stus sind der Mittelpunkt des Universums. Sie sind wie die Sonne, um die sich alles dreht – die Welt samt ihrer Regeln, die Handlung, die anderen Charaktere. Alles, was Mary und Gary sind, was ihnen widerfährt und was sie tun, ist darauf ausgerichtet, Aufmerksamkeit zu heischen – von den Lesern und von anderen Figuren...

Sie verbiegen Welt- und Logikregeln so, dass sie davon losgelöst sind

In guten Geschichten gibt es Weltregeln, eine Logik und auch so etwas wie eine „Moral von der Geschicht'", die außerhalb der Charaktere stehen. Die Figuren sind dem unterworfen und ihre ‚Fehltritte' werden von der Geschichte entlarvt. Bei Mary Sues und Gary Stus ist das anders. Sie sind selbst der Taktgeber oder Gott der Welt. Das zeigt sich zum Beispiel dadurch, dass

-Weltregeln für sie verbogen und gebrochen werden: Man kann eine bestimmte Ausbildung erst mit der Volljährigkeit beginnen? Nicht, wenn man eine Mary Sue oder ein Gary Stu ist. Diese dürfen ausnahmsweise schon minderjährig damit anfangen.

- ihr Wissen und Können unlogisch ist: Dass man Dinge erst gelernt haben muss, scheint für Mary Su und Gary Stu nicht zu gelten. Sie zaubern Fähigkeiten aus dem Hut und scheinen fast alles zu können. Oder: Sie scheitern zwar grandios mit viel Tara – aber ohne wirklich negative Konsequenzen. Außerdem scheinen sie allwissend zu sein. Denn sie haben ohne echte Begründung Kenntnis von Dingen, über die eigentlich nur der Autor Bescheid wissen kann.

- Sie unfehlbar sind: Mary Sue und Gary Stu haben in vielen Geschichten keine falsche Ansichten. Wer ihr Verhalten nicht gutheißt oder nicht ihrer Meinung ist, bekehrt sich im Lauf der Geschichte oder ist böse.

Sie machen andere Figuren zu Statisten und zum Publikum ihres Auftritts

In guten Geschichten führen alle nennenswerten Charaktere ein Eigenleben. Sie haben ihre ganz bestimmten Charakterzüge; sie haben eigenen Ziele, Aufgaben, Interessen, Vorlieben, Abneigungen, Wünsche, Ängste und vieles mehr. Mary Sues und Gary Stus rauben den anderen Figuren dieses Eigenleben und machen sie zu Trabanten in ihrer Umlaufbahn. Beispielsweise indem...

- Figuren für sie out of character handeln: Der fiese Lehrer würde jeder rotzfrechen Schülerin Nachsitzen ohne Ende aufbrummen? Nicht bei einer Mary Sue: Von ihr ist er beeindruckt! Der König hat eigentlich ein Reich zu regieren? Nicht, wenn sein Geliebter ein Gary Stu ist – für ihn sagt er schon mal die wichtigsten Versammlungen ab.

- sie sämtlichen Charakteren den Kopf verdrehen: Der gesamte interessante, männliche bzw. weibliche Cast ist in Mary und Gary verknallt, obwohl im Canon jeder einen anderen Geschmack hat. Alle anderen Charaktere hassen, beneiden oder bewundern sie. Sie wollen sie adoptieren, mit ihnen befreundet sein oder sie aus der Welt schaffen. Die Position „die Frau/der Typ ist mir Latte" gibt es quasi nicht.

- sie Charaktere von ihrem Platz verdrängen: Die rechte Hand des Bösewichts; der Kommandeur des Raumschiffs; die Helden, die das magische Artefakt vernichten; die Auserwählte der Prophezeiung oder die besten Freund der Hauptfigur – Mary Sues und Gary Stus übernehmen oft Rollen, die eigentlich schon vergeben sind und lassen die Canoncharaktere überflüssig werden. Oft auch indem sie sie in ihren Fachgebieten übertrumpfen.

Eigenschaften und Charakterhintergründe sind als Eye-Catcher ausgelegt

Bei guten Geschichten dienen die Eigenschaften und Hintergrundgeschichten der Charaktere der Geschichte: Sie treiben die Handlung voran, sie bestimmen das Verhalten der Figuren, sie strukturieren die Beziehungen der Charaktere zueinander. Mary Sues und Gary Stus hingegen tragen viele ihrer Eigenschaften und ihre Hintergrundgeschichte oftmals wie ein glitzerndes Accessoire, das nur dazu dient, zu unterstreichen, dass sie etwas Besonderes sind und sonst keine Bedeutung hat. Wieder ein paar Beispiele dafür:

- Special-Snowflake-Syndrom: Mary Sues und Gary Stus besitzen oft ungewöhnliche Namen, Haar- und Augenfarben oder andere auffallende Merkmale, die der Figur offensichtlich nur verpasst wurden, um sie aus der Menge herausstechen zu lassen. Und nicht selten betonen Schreibende sogar explizit, dass der Charakter „anders als andere", „außergewöhnlich", „nicht normal" oder „was Besonderes" ist.

- Keine echte Schwächen: Mary Sues und Gary Stus haben oftmals viele „tolle" Eigenschaften, aber keine echten Schwächen. Das heißt, sie bringen sich selbst niemals in echte Probleme oder stehen sich selbst im Weg, allenfalls haben sie Pseudoschwächen, die sich aber doch wieder positiv für sie auswirken. Beispiel: Der Charakter ist tollpatschig – und fällt nach dem Stolpern direkt dem Loveinterest in die Arme.

- Charakterhintergründe ohne Bedeutung: Eine tragische Vergangenheit, die Verwandtschaft zu einer Canonfigur oder ähnliches, könnte sehr spannend sein, zum Beispiel um „Hürden" für eine Charakterentwicklung zu setzen oder eine Familiengeschichte aufzurollen. Mary Sues oder Gary Stus hingegen haben trotz tragischer Vergangenheit nie mit sich zu hadern, die Verwandtschaft dient lediglich als Eintrittskarte zu Privilegien und beides dazu, den Charakter außergewöhnlich erscheinen zu lassen.

Mit anderen Worten: Mary Sues und Gary Stus stehen immer im Mittelpunkt und die ganze Geschichte ist darum arrangiert, sie ins Scheinwerferlicht zu rücken. Die Charaktere schreien: „Schau mich an!". Der Autor versucht Aufmerksamkeit für sie zu heischen, wenn mitunter auch verschiedene Arten von Aufmerksamkeit. Hier mal eine sehr grobe Einteilung:

Da gibt es die klassischen Mary Sues und Gary Stus, auf die sich die meisten Listen beziehen und die sozusagen die „strahlenden Helden" unter den Sues und Stus sind. Diese Sorte ist einfach perfekt: Sie sehen toll aus, ja wirklich hinreißend; sie sind nett, bescheiden und klug. Sie können einfach alles und das auch noch aus Stegreif. Bei dieser Sorte zielt die Aufmerksamkeit auf Bewunderung. Jeder soll zu diesem tollen Charakter aufblicken!

Dann gibt es die Badass-Sues und Badass-Stus. Dies sind die Badgirls und Badboys: Sie sind rotzfrech, lassen sich nichts gefallen, trampeln auf anderen herum und sind nicht selten auch in irgendeiner Weise mit dem Hauptbösewicht verwandt oder verbunden. Wobei sie oft nicht wirklich böse sind oder ihre Taten heruntergespielt werden, denn sonst könnten sie ja Sympathiepunkte verspielen. Sie sind nur einfach Badass und umgeben sich mit dem Hauch des Ruchlosen. Die Canoncharaktere lassen ihnen meist jede Schandtat durchgehen, obwohl sie sich wie die Axt im Walde benehmen und fürchten sich auch ein wenig vor ihnen, denn sie sind ja so böse. Bei dieser Sorte geht es vor allem um furchtsamen Respekt. Der Leser erzittere vor ihrer herausgestreckten Zunge!

Die letzte Sorte sind die Tragik-Sues und –Stus, die ganz armen Töfftöffs unter den Garys und Marys. Sie haben eine furchtbare Vergangenheit hinter sich, sie scheinen von der ganzen, bösen Welt gehasst worden zu sein. Immer haben sie Pech. Kurzum: Es sehr bedauernswerte Geschöpfe. Und bedauert werden sie in der Geschichte auch ausgiebig. Denn es schwänzeln zig Canoncharaktere um sie herum, die nichts anderes zu tun haben, als ihnen zu sagen, dass sie doch ganz toll sind. Und tatsächlich ist ihr Leben objektiv betrachtet gar nicht mal so übel. Aber natürlich kommen diese Marys und Garys nicht aus ihrem Selbstmitleid heraus. Denn bei ihnen geht es vor allem darum, Mitleid zu heischen. Und das geht natürlich nur, indem sie weiterhin auf sterbenden Schwan machen. Manchmal findet man noch eine Abwandlung dieses Typs, bei denen die Charaktere tatsächlich von allem und jedem fertiggemacht werden. Und das scheinbar völlig grundlos.

Ihr seht, die Wege, Aufmerksamkeit zu heischen, sind vielfältig. Aber eines wird bei Mary Sues und Gary Stus nie geschehen: Sie hören nie auf im Scheinwerferlicht zu stehen und fügen sich als ein Puzzleteil von vielen in die Geschichte ein. Sie sind immer das Zentrum des Universums, sie stehen über der Eigendynamik von Welt und Charakten – und darum gehen sie Lesern auf die Nerven.

Aber ist dann nicht jede Hauptfigur eine Mary Sue oder ein Gary Stu?

Auf den ersten Blick mag das so erscheinen, da jeder Prota im Mittelpunkt steht. Aber es gibt einen Unterschied zwischen im Zentrum des Universums stehen und im Zentrum einer Geschichte zu stehen. Um das zu erklären, greife ich mal auf die Realität zurück. Stellt euch vor, jemand würde eine Geschichte über euer Leben schreiben, gerade so wie es ist. Ihr würdet in dieser Geschichte auch im Mittelpunkt stehen, denn sie würde sich ja darum drehen, was ihr alles so erlebt. Trotzdem gäbe es Regeln, die ihr nicht brechen könntet. Ihr könntet nicht fliegen, weil Menschen das nun einmal nicht können, es sei denn sie steigen in ein Flugzeug. Es gäbe sicher Momente, in denen ihr euch irrt und euch hinterher eingestehen müsst, dass ihr mit eurer Meinung falsch gelegen habt. Es würde sicher auch hin und wieder passieren, dass ihr euch mit euren Eigenschaften selbst im Weg steht, zum Beispiel einen Mathetest verhaut, weil ihr zu faul gewesen seid, zu lernen. Es gäbe sicher Menschen in eurem Umfeld, denen ihr am Herzen liegt – aber auch solche, die sich nicht sonderlich für euch interessieren. Und auch wenn ihr eurer besten Freundin oder euren besten Kumpel sehr, sehr, sehr wichtig seid, hätte sie oder er auch noch ein paar andere Lieblingsmenschen, zum Beispiel die Familie oder den Schwarm. Und genau diese Dinge machen den Unterschied aus zwischen ‚Mittelpunkt des Universums' und ‚Mittelpunkt der Geschichte' aus.

Im nächsten Kapitel erfahrt ihr, wie ihren euren Charakter davor retten könnt, zur Mary Sue oder zum Gary Stu zu werden und wie er trotzdem interessant bleiben und sich seine Individualität bewahren kann.

Okay, bevor wir hiermit beginne, sage ich gleich: Dieses Kapitel wird hart. Nicht nur für die Mary Sues und Gary Stus selbst, sondern vor allem für euch, ihre Erfinder. Denn um eine Mary Sue und einen Gary Stu zu vermeiden, gibt es nur einen Weg: Sie müssen herunterkommen von ihrem hohem Ross. Und das bedeutet einen Einsatz des Rotstifts bis er glüht.

Doch dieses weitreichende Streichen ist, auch wenn es auf den ersten Blick so wirkt, keine Herabsetzung der Figur auf einen langweiligen, unbedeutenden Status. Im Gegenteil: Es ist der Weg, aus einer Mary Sue oder einem Gary Stu einen interessanten Charakter zu machen, der den Lesern im Gedächtnis bleibt. Warum erfahrt ihr am Ende des Kapitels.

Zwei Punkte, die ihr befolgen solltet, sind besonders wichtig. Ein paar andere schließen sich an. Beginnen wir also mit dem Ausmisten.

Der Eigensinn der Welt und ihrer Figuren

Der erste Schritt, um Mary Sues und Gary Stus zu vermeiden, ist es, anzuerkennen, dass die Welt und die Charaktere ein Eigenleben haben und nicht nur existieren, um sich um den OC zu drehen. Dieser Sache solltet ihr euch beim Schreiben immer bewusst sein, denn sie ist das Zünglein an der Waage für so vieles, das bei Mary Sues und Gary Stus schiefgeht. Eine gute Fanfiction entsteht nicht dadurch, dass die Canoncharaktere um euren OC kreisen wie Motten um das Licht. Es geht nicht darum, dass euer Charakter einen großen Auftritt hinlegt. Eine gute Fanfiction ist immer ein Zusammenspiel. Jede Figur hat ihre Rolle und die Geschichte entsteht durch Interaktion.

Wenn ihr wollt, dass ein Canoncharakter sich für euren OC interessiert oder ihn anders behandelt als er es üblicherweise tun würde, dann gebt ihm einen Grund dafür, der etwas mit ihm selbst zu hat – und nicht mit der Instant-Tolligkeit eures OCs. Jeder Canoncharakter hat seine eigenen Ziele, Wünsche, Ängste, Weltvorstellungen, Charakterzüge – bedenkt das! Ihr habt in früheren Kapiteln gelernt, wie man Charaktere dazu bringt, Dinge zu tun, die für ihn out of character wären, ohne dass es so wirkt oder wie man Figuren weiterentwickelt. Ihr habt auch gelernt, auf was es zu achten gilt, wenn man glaubwürdiges Interesse zwischen zwei Figuren aufbauen will. Nutzt dieses Wissen und übergeht nicht die Persönlichkeit der Canoncharaktere.

Das Gleiche gilt für die Welt. Es gibt in jedem Universum, selbst in den abgefahrensten Science Fiction oder Fantasy Welten, unübertretbare „Naturgesetze" und Regeln, denen alle Charaktere unterworfen sind. Macht keine Ausnahmen für eure Figur, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Und wenn es wirklich nötig ist – dann nur mit guter Begründung. Schafft keine Unlogik!

Eine ausgewogene Persönlichkeit

Das führt mich schon zum nächsten Punkt, der nicht weniger wichtig ist. Mary Sues und Gary Sues kranken nicht nur daran, dass sie die Welt und die Charaktere verbiegen – sie sind auch selbst schlecht charakterisiert. Es fehlt ihnen ein klares Profil, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass sie oftmals gerade in kritischen Momenten Fähigkeiten aus dem Hut zaubern, die vorher nicht einmal angedeutet wurden. Ihr Können scheint nicht geplant zu sein. Mit anderen Worten sie verhalten sich genauso, wie ich es im 2. Kapitel zum Thema ICnes unter „Fähnchen im Wind" beschrieben habe. Und wie ich dort bereits erklärt habe, entsteht so ein Fehler oft, wenn den Schreibenden ein klares Bild davon fehlt, wie der Charakter ist und was er kann. Um Mary Sues und Gary Stus zu vermeiden, braucht ihr also vor dem Schreiben eine klare Vorstellung davon, wer eurer OC eigentlich ist.

Mein Tipp: Lest euch nochmal die Kapitel zur ICnes durch. Denn die gleichen Aspekte und Fragen, mit denen ihr herausfinden könnt, wie Canonfiguren „drauf sind", können euch auch helfen, eure eigene Figur zu entwerfen. Dabei gilt die Faustregel: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Das heißt euer Charakter braucht positive und negative Seiten. Seine Persönlichkeit sollte ausgewogen sein. Das heißt aber nicht, dass er in allen Eigenschaften – seien es Fähigkeiten, sei es das Aussehen oder was auch immer – dem Durchschnitt entsprechen muss. Eure Figur darf in ein paar Dingen durchaus herausragend sein, sagen wir zum Beispiel ein Ass in Mathe. Dafür muss sie auf der anderen Seite aber auch Schwächen haben, die das ausgleichen. Mit der Charakterisierung ist es nämlich wie mit einer Waage. Ihr habt zwei Waageschalen: Stärken und Schwächen. Und das Ziel ist es, sie halbwegs ins Gleichgewicht zu bringen.

Dabei heißt einem Charakter eine Schwäche zu geben, nicht einfach nur, ihm eine Eigenschaft zu verpassen, die geheimhin als Makel gilt. Schwächen sind erst dann Schwächen, wenn sie negative Konsequenzen für den Charakter haben. Eure Figur kann so frech sein wie sie will - wenn ihre Frechheit nur dazu führt, dass alle einen Heidenrespekt vor ihr haben, dann ist das keine Schwäche, sondern eine weitere Stärke! Schwächen bringen Nachteile ein. Sie führen zu Konflikten, Problemen, Schwierigkeiten. Frechheit wäre erst dann eine Schwäche, wenn der Charakter es sich bei seinen Freunden verscherzt oder mit Leuten, die am längeren Hebel sitzen. Schwächen zeigen sich also erst durch die Auswirkungen in der Geschichte. Daher kann es sogar passieren, dass eine Eigenschaft Stärke und Schwäche zugleich ist. Neugierde zum Beispiel kann von Vorteil sein, wenn jemand dadurch einen Wissensvorsprung hat, aber auch sehr von Nachteil, wenn er Dinge herausfindet, die ihn zum „gefährlichen Mitwisser" machen, der „beseitigt" werden muss. Bedenkt also immer, wie sich die Eigenschaften eines Charakters auswirken könnten.

Das waren die beiden wichtigsten Punkte. Die nächsten sind nicht ganz so tiefgreifend, da sie sich entweder aus dem ersten Punkten ableiten oder schon an anderer Stelle genannt wurden. Trotzdem sind auch sie wichtig.

Nichts übertreiben

Dies ist ein Unterpunkt von ‚Canonfiguren haben ihr eigenes Leben'. Marys und Garys ziehen, wie erwähnt, oftmals übermäßig die Aufmerksamkeit der Canonfiguren auf sich, sei es im positiven oder negativen Sinne. Bei den meisten realen Menschen ist so, dass sich 90% ihrer Umwelt nicht sonderlich für sie interessieren. Wer an einer neuen Schule zum ersten Mal die Cafeteria betritt, wird vielleicht für eine Sekunde beäugt, dann aber kehrt alles wieder zur Tagesordnung zurück, weil Schüler auch noch Anderes zu tun haben, als neue Mitschüler zu beobachten. Die meisten Menschen haben einen kleinen Kreis von Leuten um sich, die sehr an ihnen hängen, vielleicht ein paar, mit denen sie Probleme haben und sehr, sehr viele, denen sie relativ egal sind. Und bei eurem OC sollte das nicht anders sein. Ihr wollt eure Figur mit einer bestimmten Canonfigur verkuppeln? Okay! Aber dazu müssen nicht auch noch zig andere Charaktere euren OC scharf finden. Überlegt, was euer ausersehenes Loveinterest anziehend finden könnte und legt eure Figur dementsprechend an. Gebt eurem OC einen kleinen Freundeskreis, ein oder zwei Feinde und belasst es ansonsten dabei, dass er oder sie für den Rest des Casts nur ein Mensch von vielen ist. Und: Lasst es auch zu, dass Canoncharaktere ihn unsympathisch finden können, ohne ihnen deswegen gleich den Stempel „böse" aufzudrücken.

Einfach Konkurrenzlos

Auch auf diese Sache bin ich schon eingegangen, deswegen rufe ich sie nur noch einmal in Erinnerung: Jeder OC als Prota braucht seine eigene Aufgabe. Mary Sues und Gary Stus ecken an, weil sie geliebten Figuren Konkurrenz machen. Darum: Entwerft eure Charaktere so, dass sie keine Canoncharaktere in den Schatten stellen. Kopiert auch nicht deren Schicksale. Wenn Commander XYZ der Einzige ist, der je einen Photonenstrahl überlebt hat, dann ist das so. Akzeptiert den Canon. Gerade Fantasy und Science Fiction Universen sind groß genug, um euch für eure Figur eine eigene Hintergrundgeschichte auszudenken. Viele Schreibende rechtfertigen sich auf Kritik damit, dass Fanfiction doch ein Ort sei, um seiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Dann tut das doch auch. Nutzt eure Kreativität und zeigt, dass ihr es könnt!

Runter mit dem Glitzer

Und der letzte Tipp: Verpasst euren Charakteren keine Eigenschaften und Charakterhintergründe, die nur dazu dienen, sie besonders cool erscheinen zu lassen oder sonst wie Aufmerksamkeit zu heischen. Euer OC braucht keine lila-blass-blau-grün-kartierten Augen und einen unaussprechlichen Namen, um ein Individuum zu sein. Wenn ihr euch Charaktergründe überlegt, bedenkt immer die Voraussetzungen, die Konsequenzen und den Preis! Wer in seiner Vergangenheit Schlimmes erlebt hat, den kann das einholen und zum Problem werden – zum Beispiel, weil es ihm schwerfällt, anderen zu vertrauen. Aus einer angesehenen Familie zu stammen, ist nicht nur Schwelgen im Luxus, sondern bedeutet oft auch hohen Erwartungsdruck. Und Verwandtschaft mit einem Canoncharakter macht nicht nur etwas mit eurer Figur, sondern auch mit dem Canoncharakter! Es wirft viele Fragen auf, allen voran wie es sein kann, dass jemand Geschwister oder ein Kind hat, von dem man im Canon nie erfuhr. Aber auch: Was bedeutet diese Verwandtschaft für den Canoncharakter? Wie er reagiert er darauf? Wie ist das Verhältnis zwischen den Geschwistern bzw. dem Elternteil und dem Kind? Denn Verwandtschaft bedeutet nicht immer Friede, Freude und Eierkuchen. Es gibt zerrüttete Familien und es gibt leibliche Verwandte, die erst Familie werden müssen, weil sie voneinander nichts wussten. All diese Charakterhintergründe und noch andere, die ich hier nicht alle aufzählen kann, solltet ihr nur einbringen, wenn es für die Handlung bedeutsam ist und ihr dem entsprechenden Raum geben könnt. Und nicht, wenn alles nur dazu dient, eurem OC Vorteile zu verschaffen und ihn im Scheinwerferlicht zu baden. Falls euch der Preis für solche Hintergründe zu groß ist, streicht sie. Denn dann braucht ihr sie nicht.

Aber wenn ich mich an all das halte, ist mein OC ja gar nichts Besonderes mehr!

Ja, das ist er wohl nicht. Aber genau das ist ja auch der Punkt: Mary Sues und Gary Stus nerven, weil sie den Leser förmlich anschreien: „Ich bin ja so außergewöhnlich!". Und so wenig Aufmerksamkeitsheischen im realen Leben gut ankommt, so wenig kommt es bei kritischen Lesern auch in Geschichten an.

Figuren werden nämlich nicht interessant dadurch, dass besonders schnieke Dinge auf ihrer Visitenkarte stehen. Sie werden interessant durch ihre Gedanken, Gefühle und Taten. Was sie spannend macht, ist, dass sie ihre Rolle in der Geschichte spielen. Sie werden interessant durch das, was sie erleben, wie sie darauf reagieren, was sie tun. Durch die Probleme, die sie haben; durch die Krisen, die sie meistern, durch die Entwicklungen, die sie durchlaufen – in Gemeinschaft mit den anderen Charakteren und nicht als das Licht, das die Canonfiguren wie Motten umkreisen. Es sind lebendige Charaktere in mitreißenden Geschichten, die beim Leser Sympathiepunkte gewinnen. Und echt und lebendig wirkt eine Figur – so paradox das auch klingt – dadurch, dass sie nicht außergewöhnlich, sondern „ganz normal" ist. Denn Leser sind ebenfalls ganz normal. Das heißt übrigens nicht, dass sie keine Individualität besäßen. Jeder Mensch ist individuell. Aber individuell zu seinen, bedeutet nicht, ein Überflieger zu sein, der über allen anderen schwebt und Eigenschaften besitzt, die sonst keiner hat. Individualität ist mehr die ganz eigene Zusammenstellung einer Vielzahl von Puzzleteilen, die auch andere besitzen. Und nicht selten sind es gerade Figuren mit Schwächen und Charakterfehlern, die sich ins Gedächtnis der Leser einbrennen.

Wer auf Mary Sues und Gary Stus verzichtet, wird daher zwar keine Figur haben, die der Lebensmittelpunkt sämtlicher Canoncharaktere ist und die den Plot für sich entscheidet. Aber er wird eine starke, interessante Figur haben, die den Lesern in Erinnerung bleibt. Eine Figur, die durchaus großartig sein kann, nicht obwohl, sondern weil sie Ecken und Kanten hat. Und die ihre eigene Geschichte erlebt, anstatt den Canoncharakteren die ihre streitig zu machen.

Ich weiß, dass Mary Sues und Gary Stus oftmals Selfinserts sind, die Wunschträume der Schreibenden erfüllen. Doch überlegt gut: Brecht ihr euch wirklich einen Zacken aus der Krone, wenn eurer Charakter nicht mit allem, was er ist und tut, nach Aufmerksamkeit schreit? Der Preis ist der Special-Snowflake-Status eures OC, doch was ihr dafür bekommt ist eine interessante Figur und eine spannende Geschichte! Und das ist als Selfinsert doch mindestens genauso wert!

Bevor ich mit dem nächsten Themenblock fortfahre, gibt es hier mal wieder einen kleinen Einwurf. In den Kapiteln um OCs, Mary Sues und Gary Stus schrieb ich, dass das Verhalten der Figuren logisch sein sollte. Aber auch in früheren Kapiteln fiel das Stichwort „Logik" immer wieder. Da ich aber weiß, dass „Logik", zusammen mit „realistisch" und „glaubwürdig", für viele Schreibende Reizwörter sind, dachte ich mir, dass ich nochmal ein Kapitel dafür aufwende, um euch zu erklären, warum Logik so wichtig ist.

Viele , deren Geschichten wegen mangelnder Logik kritisiert wurden, scheinen zu glauben, dass am anderen Ende der Leitung jemand sitzt, der nur aus reinem Prinzip die Dinge auf die Goldwaage legt. Dem ist aber nicht so. Logik ist nämlich nicht einfach irgendeine kleine Nebensächlichkeit – sie ist die Grundlage dafür, dass jemand mit eurer Geschichte „mitgehen" kann. Letztendlich kann man so gut wie alles, was an Fanfictions schiefläuft auf einen Mangel an Logik zurückführen.

Doch bevor ich erkläre, warum Logik eine so große Bedeutung hat, möchte ich zuerst ein weitverbreitetes Missverständnis aufklären: Fiktion steht nicht außerhalb von Logik.

Wie oft habe ich es erlebt, dass Schreibende auf Kritik mit einem „Das muss nicht logisch oder realistisch sein, das ist doch bloß Fiktion!" reagierten. Solche Aussagen aber sind Unsinn. Es ist Unsinn, weil hier zwei Dinge verwechselt werden. Realistisch ist nicht dasselbe wie real. Real bedeutet, dass etwas in der Wirklichkeit vorkommt. Fiktive Welten wie sie in Fantasy oder Science Fiction Geschichten vorkommen, sind natürlich nicht real. Trotzdem können und sollten sie realistisch sein. Denn realistisch wie auch logisch bedeutet, dass eine Sache funktionieren könnte, wenn in der Wirklichkeit bestimmte Bedingungen gegeben wären. Gerade Science Fiction ist hier ein schönes Beispiel. Denn gute Werke aus diesem Genre spinnen oft die Technik unserer Zeit auf Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnisse weiter. Sie schaffen so Welten, die zwar nicht existieren, die aber durchaus denkbar und möglich wären, wenn sich Medizin, Technik und co in eine bestimmte Richtung weiterentwickeln würden. Nicht umsonst heißt das Genre übersetzt „Wissenschaftsfiktion". Und tatsächlich gibt es heute, im Jahre 2018, einiges an technischen Errungenschaften, die (in abgewandelter Version) vor einem halben Jahrhundert oder länger noch Ideen in Science Fiction Werken waren. Realistisch heißt also nicht, dass eine Sache Wirklichkeit ist – wohl aber, dass sie so logisch, glaubwürdig und nachvollziehbar ist, dass sie es sein könnte. Und das ist entscheidend für das Lesegefühl! Warum?

 

Glaubwürdigkeitsschranke und Bedingungen

Ich hoffe, in einer Sache sind wir uns einig: Eine gute Geschichte ist eine solche, in man richtig eintauchen kann, bei der man sich alles gut vorstellen kann und ein wenig vergisst, dass es bloß eine Geschichte ist.

Um aber ein solches Gefühl bei Lesern zu erzeugen, muss eine Geschichte glaubwürdig aufgezogen sein. Die Glaubwürdigkeit entscheidet darüber, ob ich dem Autor eine Geschichte „abkaufen" kann oder ob ich immer das Gefühl habe: „Mensch, du flunkerst doch!". Erst dann, wenn eine Geschichte ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit erreicht, kann ein Leser vergessen, dass ihm hier gerade ein „Märchen aufgetischt" wird und wirklich mit der Geschichte mitgehen.

Dabei hat Glaubwürdigkeit nichts damit zu tun, ob das, was der Autor erzählt, real ist oder nicht. Es kommt bloß darauf an, wie die Dinge vermittelt werden. Schreibende sind immer ein bisschen wie Reisende, die in einem fernen Land waren und nun am Stammtisch ihre Abenteuer erzählen. Erst wenn es ihnen gelingt, ihren Freunden eine stimmige Geschichte aufzutischen, wird man ihnen glauben. Dabei ist egal, ob der Reisende diese Dinge wirklich erlebt hat oder ob er lügt. Entscheidend ist nur, dass das, was er erzählt, den anderen glaubhaft erscheint.

Doch was heißt das genau?

Bleiben wir mal beim Vergleich mit den fernen Ländern, dann lässt sich sagen, dass Leser durchaus bereit sind, ein paar Abweichungen von der realen Welt durchgehen zu lassen. Denn jeder weiß, dass es an fremden Orten manchmal anders zugehen kann als vor der eigenen Haustüre. Es gilt das Motto: Andere Länder, andere Sitten. Wenn ich in Australien Urlaub mache, erwarte ich nicht, dass der alte Spruch „im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen" zutrifft. Denn da ich mich auf der anderen Erdhalbkugel befinde, weiß ich, dass ich von hier aus einen anderen Blickwinkel auf ihre Laufbahn habe. Eine Sonne im Norden überrascht mich daher wenig. Merkwürdig wird das Ganze erst, wenn sie dann doch im Süden auftaucht und ich am Erdkundeunterricht zweifeln muss. Oder wenn sie an einem Tag Norden, am nächsten im Süden und dann wieder im Norden zu sehen ist.

Und genau darum geht es!

Glaubwürdigkeit hat etwas mit Zuverlässigkeit zu tun.

Leser erwarten von einer fiktiven Welt nicht, dass dort die gleichen Naturgesetze gelten wie in der realen Welt. Aber sie erwarten, dass die Welt ihre eigenen Naturgesetze besitzt. Das bedeutet, dass bestimmte Dinge unter den gleichen Bedingungen immer in der gleichen Weise funktionieren. Wenn es im Roman heißt, dass der Zauberspruch „Libbitiqiuetsch" aus dem Nichts ein knallpinkes Badeentchen heraufbeschwört, dann erwarten Leser auch, gleich ein knallpinkes Badeentchen zu sehen, wenn jemand diesen Zauberspruch anwendet und nicht einmal ein Badeentchen, einmal einen Wackelwackel und das dritte Mal ein goldenes Garnichts.

Nun mag das mit dem Badeentchen ganz lustig klingen, doch dahinter steckt durchaus eine ernste Sache: Zuverlässigkeit ist die Grundbedingung jeden Realitätsgefühls und ein Mangel an Zuverlässigkeit verhindert das Eintauchen in eine Geschichte! Das liegt daran, dass wir alle in einer Wirklichkeiten leben, die nach Naturgesetzen funktioniert. Leser können daher auch eine fiktive Welt nur dann als „real" erleben, wenn dort ebensolche Gesetzmäßigkeiten existieren. Das Pochen auf Zuverlässigkeit seitens der Kritiker ist also keineswegs eine Haarspalterei, sondern ein Hinweis auf eine Grundsäule eines guten Lesegefühls!

Und Zuverlässigkeit ist noch aus einem weiteren Grund unverzichtbar: Nur Zuverlässigkeit bewirkt, dass Leser den Verlauf einer Geschichte einschätzen können. Warum das wichtig sein sollte? Na, stellt euch mal vor, eure Charaktere haben einen Schutzzauber falsch ausgeführt, ohne es zu merken. Eure Leser werden nun bei jeder Zeile vor Erwartung bibbern, dass den Charakteren etwas Schlimmes zustoßen wird und bange hoffen, dass sie es doch irgendwie schaffen werden, der Gefahr zu trotzen. Das Spiel mit solchen Erwartungen ist eins der wichtigsten Werkzeuge beim Schreiben. Doch um über eine Geschichte spekulieren zu können und mit diesen Spekulationen zu spielen, braucht es verlässliche Gesetzmäßigkeiten, die eine Einschätzung überhaupt erst ermöglichen.

Natürlich gilt der Aspekt Zuverlässigkeit nicht nur für Weltregeln, sondern zum Beispiel auch für Charaktere. Wir hatten bei den häufigsten Fehlern in der Charakterisierung das „Fähnchen im Wind". Damit Leser mit Charakteren mitfühlen können, brauchen auch diese ihre zuverlässigen Eigenarten.

Doch das ist noch nicht alles.

Glaubwürdigkeit hat auch etwas mit Verhältnismäßigkeit zu tun.

Dieser Punkt ist leichter zu erklären, da sich fiktive Welten hier nicht so sehr von der Realität unterschieden wie zum Beispiel hinsichtlich bestimmter Naturgesetze.

Fakt ist: Dinge stehen in der Realität in einem bestimmten Maß zueinander. Und damit etwas glaubwürdig erscheint, kommt es auch darauf an, dass dieses Maß eingehalten wird.

Ein Beispiel: Stellt euch vor, ihr tippt eurem Banknachbarn Jens so leicht auf die Schulter, dass ihr ihn kaum berührt. Plötzlich bricht Jens unter Schmerzgeschrei zu Boden, brüllt das gesamte Schulhaus zusammen, rollt sich wie vor Höllenqualen quer durchs Klassenzimmer und reibt sich dabei die Schulter. Würdet ihr sofort nachvollziehen können, dass euer Banknachbar wahnsinnige Schmerzen leidet? Oder wärt ihr erst mal völlig irritiert und würdet vielleicht sogar erwarten, dass er im nächsten Moment aufsteht und „April, April" ruft?

Wenn ein Ereignis und seine Folgen oder seine Voraussetzung nicht im richtigen Verhältnis zueinander stehen, beginnt etwas unglaubwürdig zu wirken.

Wenn jemand erzählt, dass er ...

A) von einem zehnstöckigen Hochhaus stürzte und nicht mal einen Kratzer hatte

B) kein Problem hatte ein chinesisches Buch zu lesen, obwohl er nie ein Wort Chinesisch gelernt hat

beginnen die meisten Menschen an der Geschichte zu zweifeln. Und das liegt daran, dass hier das Ereignis und seine Folgen (A) oder seine Voraussetzungen (B) nicht im passenden Verhältnis zueinander stehen. Kurzum: die Erzählung wirkt nicht echt, sie erscheint gelogen.

Und das ist Gift für eine Geschichte, die die Absicht hegt, den Leser „mitzunehmen".

Zu guter Letzt braucht Glaubwürdigkeit noch etwas, das ich Sinnhaftigkeit nennen möchte.

Wobei ich dieses Wort hier mehr als einen Sammelbegriff für weitere Phänomene verwende, die, wenn sie fehlen, beim Leser das Gefühl erzeugen, das alles keinen logischen Sinn ergibt und für die ich keine bessere Bezeichnung finde.

Eine solche Sinnlücke kann beispielsweise entstehen, wenn bestimmte Ereignisse vergessen wurden. Denken wir nur mal daran, wenn eine Zeugin eines Verbrechens die Täterin genau gesehen hat und dann in der Gegenüberstellung eine ganz andere Frau als Täterin benennt.

Solche und ähnliche Sinnlücken schaffen Widersprüche und Ungereimtheiten. Und wenn keine vernünftige Erklärung dafür auftaucht, können sie dazu führen, dass Leser entweder die Charaktere für ziemlich unterbelichtet halten oder aber die Geschichte unglaubwürdig wird.

Und was das für das Lesegefühl bedeutet, denke ich, brauche ich wohl nicht noch einmal zu wiederholen.

So viel jedenfalls zu den Beispielen und Aspekten rund um die Glaubwürdigkeit fiktiver Geschichten.

Wie ihr seht, habe ich in diesem Kapitel das Wort glaubwürdig verwendet, weil es am ehesten ausdrückt, was der Knackpunkt ist: Eine Geschichte muss so aufgezogen sein, dass sie Lesern würdig erscheint, geglaubt zu werden. Doch dieses Wort ließe sich ohne Weiteres auch durch logisch, nachvollziehbar oder realistisch ersetzen. Denn all diese Begriffe laufen in diesem Kontext auf dasselbe hinaus: Die Geschichte sollte so aufgezogen sein, dass sie dem Leser das Gefühl gibt, sie könnte tatsächlich so geschehen sein.

Muss eine Fiktion also real sein? Nein!

Muss eine Fiktion realistisch sein? Ja!

Zumindest wenn man als Schreiberling die Absicht hegt, den Leser dazu zu bringen, mit der Erzählung mitzugehen und mit dem Gefühl zurückzubleiben, tatsächlich einen Ausflug in eine fremde Welt unternommen zu haben und nicht nur einem Flunkermärchen gelauscht zu haben.

Logik ist nicht das Gegenteil von Fantasie. Sie ist der Dünger, der eine Fantasie erst zur vollen Blüte bringt!

Zumindest, was den Kopf des Lesers betrifft, den ihr mit eurer Fantasie anstecken wollt.

Natürlich könnt ihr die Kritik in den Wind schießen, wenn jemand an eurer Fanfiction fehlende Logik bemängelt. Das ist euer gutes Recht. Doch bedenkt den Preis: Eine Geschichte, die unglaubwürdig, unrealistisch, unlogisch und nicht nachvollziehbar wirkt, wird eure Leser niemals „mitnehmen". Sie werden sich veräppelt fühlen, sich langweilen oder sich die Haare raufen, aber sie werden nicht in eurer Fiktion versinken und das Gefühl haben, wirklich in einer fremden Welt zu sein.

Im nächsten Kapitel gibt es nochmal eine kleine Ergänzung, was ihr tun könnt, wenn ihr Regeln brechen müsst. Danach geht es weiter mit dem nächsten Themenblock.

Wie angekündigt, möchte ich in diesem Kapitel noch einmal darauf eingehen, was ihr tun könnt, wenn eure Fanfiction mit Weltregeln bricht.

Die meisten Weltregelbrüche in Fanfictions geschehen vermutlich dadurch, dass nicht jeder jede Regel jederzeit im Kopf hat. Dass sich hin und wieder Fehler einschleichen im Umgang mit den Regeln und Gepflogenheiten eines Universums, kann passieren. Ich denke, davor ist niemand gefeit. Meist lassen sich solche Fehler, sobald man darauf aufmerksam gemacht wurde, ganz gut korrigieren. Doch was ist, wenn es für die Handlung der Fanfiction wichtig ist, dass die Dinge anders funktionieren als sie laut dem Canon funktionieren müssten? Für diesen Fall will ich euch hier ein paar Tricks vorstellen, wie ihr den Bruch dennoch glaubhaft einbringen könnt.

Zunächst aber möchte ich zwei Dinge unterscheiden, die beide auf ihre Art wichtig sind, doch mitunter eine unterschiedliche Herangehensweise brauchen. Vielleicht ist euch aufgefallen, dass ich in der Einleitung zwei verschiedene Begriffe verwendete, die ich hier genauer erklären möchte: Weltregen und Gepflogenheiten der Welt.

Weltregeln sind die Naturgesetze eines Universums, wie zum Beispiel die Wirkweise von Zaubern oder die Auswirkungen der geologischen Eigenschaften eines Planeten. Da sie eigentlich nicht zu brechen sind, können Abweichungen nur durch Umwege glaubwürdig eingebracht werden. Doch dazu später mehr.

Gepflogenheiten der Welt sind dagegen gewachsene, das heißt soziale Spielregeln des Universums. Hierzu gehören zum Beispiel eine Gesetzgebung, die bestimmte Dinge unter Strafe stellt oder das herrschende politische System mit seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Gepflogenheiten sind nicht ganz so unüberwindbar wie Weltregeln, dennoch sind auch sie nicht ohne Weiteres außer Kraft zu setzen.

Soweit zu den Unterschieden zwischen Weltregeln und Gepflogenheiten der Welt. Kommen wir zur entscheidenden Frage, wie sich beide glaubwürdig abwandeln lassen. Wenn ihr den Ratgeber bis hier aufmerksam gelesen habt, werdet ihr die Antwort auf diese Frage sicher schon kennen:

Jede Abweichung braucht eine gute Erklärung

Wenn ihr euren Lesern keinen guten Grund für die Abwandlung liefert, dann wirkt der Regelbruch immer wie Zufall oder Willkür und damit unglaubwürdig. Die zugegeben nicht immer ganz leichte Aufgabe für euch als Schreibende ist es, die Abweichung so einzubringen, dass sie sich durch etwas im Universum selbst erklären lässt und nicht mehr als eure „künstlerische Freiheit" erscheint. Doch wie lässt sich das angehen?

Fangen wir an mit dem schwierigeren Fall: den Weltregeln. Weltregeln sind wie gesagt Naturgesetze eines Universums. Und für Naturgesetze gilt, dass sich etwas unter den gleichen Bedingungen immer gleich verhält. Wie ihr seht, habe ich hier einen Teil des Satzes in Kursivschrift gesetzt. Und das nicht ohne Grund. Denn da sich Naturgesetze für sich genommen nicht brechen lassen, sind die Bedingungen die einzige Schraubstellen, an denen ihr ansetzen könnt. Hierzu mal zwei Tricks.

Die Gegenkraft

Eine Möglichkeit ein Ereignis anders ausgesehen zu lassen, als es das Naturgesetz eigentlich vorsieht, ist es, ein weiteres Naturgesetz ins Spiel zu bringen und die beiden miteinander kollidieren zu lassen. Ein Beispiel aus der realen Welt: Gegenstände fallen nach unten, wenn man sie loslässt, das wissen wir alle. Doch lasse ich ein kleines Metallstück direkt unterhalb eines starken Magneten los, dann kann es sein, dass es nicht etwa zu Boden fällt, sondern steigt, bis es am Magneten haften bleibt. Hier hat die eine Kraft (Magnetismus) die andere (Schwerkraft) besiegt. Doch der scheinbare Bruch der Regel „alles fällt nach unten" ist kein sonderbarer Zufall, sondern noch immer mit Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Wenn ihr also eine Weltregel für eine Szene biegen oder brechen wollt, dann überlegt, ob es vielleicht eine weitere Weltregel gibt, die ihr in die Quere kommen könnte.

Unbekannte Feinheiten

Eine weitere Chance besteht darin, dass in vielen Geschichten die Bedingungen, nach denen die Weltregeln funktionieren, gar nicht so detailliert bekannt sind. Man weiß nur, wie sie sich unter Normalbedingungen auswirken. Wenn aber beispielsweise ein technisches Gerät bisher nur an Bord eines Raumschiffs mit seiner künstlichen Schwerkraft zum Einsatz kam, woher will man wissen, ob es in der Schwerelosigkeit draußen im Weltall noch genauso funktionieren würde? Dazu müsste man schon Einsicht darin haben, wie die Technik des Geräts genau aufgebaut ist. Doch vielleicht gibt die Geschichte darüber gar keine Auskunft. Wenn es der Canon also versäumt, sich über die Feinheiten einer Weltregel zu äußern, haben Schreibende durchaus die Freiheit, sich selbst Einschränkungen, Voraussetzungen und so weiter für eine Weltregel auszudenken und dieses im Sinne ihrer Fanfiction zu nutzen.

Doch egal, zu welchem Mittel ihr greift, um die Abweichung von einer Weltregel zu erklären: Gebt dem Ganzen immer einen Grund, der noch mit dem Canon vereinbar ist und tut es niemals einfach so ohne den Lesern eine Begründung zu liefern! Oder anders gesagt: Wenn ihr Sonderbedingungen für Weltregeln ausdenkt, dann denkt sie euch nicht nur, sondern offenbart sie auch dem Leser.

Und wie ist es mit den Gepflogenheiten eines Universums? Nun, hier sind gelegentliche Brüche oft von der Entscheidung bestimmter Figuren abhängig, die an den Schaltstellen der Durchsetzungsmacht sitzen, wie z.B. Richter oder Präsidenten. Wie ihr Charaktere dazu bringen könnt, sich anders zu verhalten als üblich, habe ich schon zur Genüge ausgewalzt, deswegen werde ich darauf nicht mehr eingehen. Ansonsten gilt auch für Gepflogenheiten das Prinzip „eine Kraft sticht die andere aus". Wenn man in einem bestimmten Land Angehörige des Nachbarlandes wie Menschen zweiter Klasse behandelt, aber gleichzeitig gilt, dass Königen der höchste Respekt zu zollen ist, dann kann es sein, dass die Königin des Nachbarlandes ebenfalls mit höchstem Respekt behandelt wird. Denn der Königsstatus fällt vielleicht mehr ins Gewicht als die Nationalität. Bevor ihr also ungeschriebene Gesetze übertretet, überlegt auch hier, ob sich nicht eins gegen das andere ausspielen lässt.

Soviel zu Weltregeln und Gepflogenheiten und wie man sie stilvoll bricht. Womit es im nächsten Themenblock weitergeht? Ihr werdet es sehen...

Nachdem wir uns mit Fragen der Charakterisierung, mit Pairings, OCs und mit der Abänderung von Fakten und Weltregeln befasst haben, ist es jetzt an der Zeit, eine neue Ebene zu betreten.

Es war mein Versprechen zu Beginn dieses Ratgebers, dass ich euch Tricks zeige, wie ihr eure Fanfiction verbessern könnt, ohne dabei gleich die ganze Idee in die Tonne treten zu müssen. Nun hat aber bekanntlich alles Grenzen und es gibt Geschichten, bei denen es schwierig wird, dieses Versprechen zu halten. Manche Fanfictions brauchen ein bisschen mehr als eine Überarbeitung nur vereinzelter Schwachstellen. Sie benötigen ein Überdenken der grundsätzlichen Richtung. Auch unter diesen Geschichten lassen sich so einige noch „retten", doch die Überlegungen, die hier anzustellen sind, gehen tiefer und sind ein wenig anders als alles zuvor.

Vielleicht habt ihr den Ratgeber bisher aufmerksam durchgelesen und doch festgestellt, dass euch die Tipps nicht so wirklich weiterhalfen. Möglicherweise wurde euch bei den Kapiteln zum Umgang mit Fakten oder zu ICnes und Charakterentwicklung bewusst, dass ihr eigentlich eine völlig neue Geschichte schreiben müsstet, um all dem gerecht zu werden. Oder aber ihr habt euch an alle Tipps gehalten und eure Fanfiction wurde nachwievor kritisiert.

Falls dies der Fall ist, dann könnte, neben meiner mangelnden Fähigkeit einen guten Ratgeber zu schreiben, ein Grund sein, dass eure Geschichte in die Kategorie fällt, die ich hier besprechen möchte: Fanfictions, die sich im Kern am Rande dessen bewegen, was Fanfiction im Sinne der Definition noch sein kann.

Gehen wir noch einmal zurück zu einem der ersten Kapitel dieses Ratgebers, dem Exkurs darüber, was eine gute Fanfiction ausmacht. Dort schrieb ich, dass Fanfictions im Grunde nichts anderes sind als Spin-offs, Fortsetzungs-, und Alternativgeschichten zu einem bestehenden Originalwerk. Das heißt, an Fanfictions werden bestimmte Erwartungen gestellt:

Einerseits sollen sie erkennbar zu einem bestimmten Bezugswerk gehören, denn sonst wären es keine Spin-offs, Fortsetzungs- und Alternativgeschichten, sondern Freie Arbeiten, also Originalgeschichten der Schreibenden.

Andererseits sollen sie dem Leser aber auch etwas Neues bieten, denn andernfalls wären sie ebenfalls keine Spin-offs, Fortsetzungs- und Alternativgeschichten, sondern bloße Kopien des Bezugswerks.

Zusammengefasst bedeutet das, dass Fanfiction eigentlich nur in einem bestimmten Rahmen geschrieben werden können, der durch ein gewisses Maß an Nähe und ein gewisses Maß an Ferne zum Canon begrenzt wird.

Nun gibt es aber auch Fanfictions, die sich hart auf der Grenze dessen bewegen oder diese bereits überschritten haben. Und wenn eure Geschichte trotz der Tipps hier noch immer kritisiert wird oder ihr gar nicht wisst, wo ihr anfangen sollt, dann könnte das auch daran liegen, dass eure Geschichte die Grenzen durchbrochen hat. Und zwar im Kern selbst und nicht ein paar einzelnen Aspekten.

Schauen wir uns an, wie so etwas geschehen kann, was es bedeutet und was ihr tun könnt.

 

Geschichten, die dem Originalwerk zu fern sind

Beginnen möchte ich mit den Geschichten, die sich in ihrer Gesamtheit zu weit vom Canon entfernen, um noch der Anforderung eines deutlichen Werkbezugs gerecht zu werden. Jede Geschichte besteht zunächst einmal aus drei Elementen: Der Welt, den Charakteren und der Handlung. Eines dieser drei Elemente auszutauschen oder abzuwandeln, ist kein Problem, insofern es sinnvoll durchgeführt ist, das heißt, eine Brücke zum Bezugswerk bestehen bleibt. Bei den folgenden Beispielen jedoch wird so viel verändert, dass der Wiedererkennungswert für den Leser verlorengeht.

 

Die AUsrede

Nein, das großgeschriebene U ist kein Rechtschreibfehler, sondern bewusst so gesetzt. Denn hier geht es um Fanfictions, die meist unter dem Label „AU", also „Alternate Universe" hochgeladen werden. Nun bedeutet „Alternate Univserse" übersetzt „Alternatives Universum", was darauf hindeutet, dass die Fanfiction in einer anderen Hintergrundwelt spielt als das Original. Manchmal findet man auch die Erklärung, dass AUs Fanfictions seien, bei denen im Vorfeld etwas Entscheidendes passiert sei, das den gesamten Lauf der Geschichte geändert habe, also die Handlung des Originals stark abgeändert worden sei. Während nun etliche Fanfictions das Label AU dieser Definitionen angemessen benutzen, gibt es auch einige Fanfictions, die es quasi als Freifahrtschein missbrauchen, um alles am Bezugswerk auf den Kopf zu stellen. Dies sind die von mir sogenannten AUsreden. Bei solchen Geschichten stimmt gar nichts mehr: Die Figuren benehmen sich durch die Bank out of character; Regeln werden munter gebrochen und Fakten völlig verdreht und das alles ohne Erklärung; die Welt ist nicht wiederzuerkennen und so weiter und so fort. Kurzum: Sowohl Charaktere als auch Handlung als auch Hintergrundwelt sind völlig verfremdet. Nur ein paar Fragmente des Originals, wie z.B. ein Name oder ein Gebäude entsprechen dem Canon und der Werksbezug hängt am seidenen Faden. Alles, was das Original ausmachte, ist völlig verdreht worden und der Kenner fragt sich: Wo bin ich hier nur gelandet?

 

Die Pseudo-FA

Während AUsreden das Bezugswerk entstellen, entfernt sich eine weitere Sorte von Geschichten auf ganz andere Weise vom Original. Hier wird der Canon nicht verdreht, die Fanfiction rührt ihn kaum an! Wie das zustande kommt? Nun, im Englischen gibt es den Begriff der „Elsewhere Fiction". Als solche werden Fanfictions bezeichnet, die zwar im gleichen Universum spielen, sich aber rein um OCs drehen. Dabei kann es passieren, dass der einzige verbliebene Bezugspunkt zum Originalwerk, nämlich die Welt, so sehr in den Hintergrund gerät, dass sie nur noch als austauschbares Beiwerk erscheint. Ein Beispiel:J emand hat in einer früheren Fanfiction, in denen die Canoncharaktere noch eine große Rolle spielten, zwei OCs eingeführt, die dann zusammenkamen. Die jetzige Fanfiction ist mehr oder weniger ein Briefroman, der aus den Liebesbriefen dieser beiden OCs besteht. Für den Autor ist klar, dass dieser Briefroman zu seinem Fandom gehört. Für den Leser allerdings sieht das ganz anders aus: Er liest von zwei Charakteren, die er aus dem Canon nicht kennt, die Handlung des Originals spielt keine Rolle und die Welt dürfte in Liebesbriefen auch nur am Rande vorkommen. Kurzum: Für Außenstehende liest sich eine solche Geschichte wie eine Freie Arbeit, die falsch einsortiert wurde.

 

Ideen, die dem Originalwerk zu nah sind

Auf der anderen Seite der Stange gibt es in Fanfictionarchiven auch viele Geschichten, die im Grunde genommen Kopien sind, weil sie eigentlich nur wiederholen, was das Original bereits erzählte. Die Ideen der Schreibenden nehmen in solchen Geschichten gegenüber dem Canon so wenig Raum ein, dass sie allenfalls wie Beiwerk wirken.

 

Die Nacherzählung

Dies ist der Klassiker. Fanfiction dieser Art sind so aufgebaut, dass Schreibende die ganze Geschichte nochmal in eigenen Worten herunterleiern. Und das meine ich durchaus wörtlich. Mir sind in meinem Fandom schon Fanfictions begegnet, die den Roman Kapitel für Kapitel mehr oder weniger abschrieben. Oftmals findet man in solchen Fanfictions auch einen OC der Marke fünftes Rad am Wagen, der den Hauptcast begleitet, die Ereignisse nochmal durchkaut und nur hin und wieder etwas von sich erzählt, handelt oder sich mit den Canonfiguren unterhält. 90% der Geschichte aber besteht aus Nacherzählung.

 

Die Neuauflage

Neben der Nacherzählung gibt es noch eine weitere Sorte von Geschichten, die dem Leser kaum etwas Neues zu bieten hat. Diese Fanfictions sind keine Nacherzählungen im klassischen Sinne, sie bedienen sich aber ausgiebig bei der Originalgeschichte und verwenden Versatzstücke aus deren Handlung, um sie lediglich neu zusammenzusetzen. Eine solche Fanfiction kann beispielsweise darin bestehen, dass das magische Artefakt, das am Ende einer Buchreihe zerstört wurde, doch nicht kaputt ist und nun eine neue Gruppe an Helden aufbrechen, um es auf gleiche Weise zu vernichten wie die erste Truppe. Oder dass ein Charakter exakt die gleiche Lebensgeschichte hat wie ein anderer. Obwohl die Geschichte formal gesehen neu ist, hat der Leser das Gefühl, an einer Reihe längst bekannter Puzzleteile entlang geführt zu werden und beginnt sich zu langweilen. Meist findet man in Geschichten dieser Art auch jede Menge Charakterrecycling.

 

Was könnt ihr tun?

Zunächst einmal: Wenn ihr Fanfictions zu euren eigenen Fanfictions schreibt, dann weist eure Geschichten immer als Fortsetzungen oder Ergänzungen der ersten Fanfiction aus. Auf diese Weise vermeidet ihr es, dass Leser die Geschichte für eine Fanfiction zum Original direkt halten und dann enttäuscht sind.

Ansonsten kommt es darauf an. Wenn ihr eine AUsrede oder eine Pseudo-FA geschrieben habt, gibt es zwei mögliche Wege, den Kritikstrom zu stoppen. Da eure Geschichte auf der Grenze zwischen Freier Arbeit und Fanfiction liegt und weder Fisch noch Fleisch ist, solltet ihr euch überlegen, was euch wichtiger ist: Möchtet ihr eine Fanfiction schreiben, die einen deutlichen Werksbezug aufweist oder wollt ihr lieber die Geschichte im Großen und Ganzen so beibehalten, wie sie ist? Falls ihr lieber eine gute Fanfiction abliefern wollt, dann findet ihr in späteren Kapiteln noch einige Tipps. Ansonsten gilt: Seid konsequent. Wenn eure Geschichte eh nur noch mit seidenem Faden am Bezugswerk hängt, ist es nicht so schwer, durch ein paar eigene Ideen und Überarbeitungen die Verbindungen ganz zu kappen und eine Freie Arbeit aus eurer Geschichte zu machen. Eine Freie Arbeit hat durchaus Vorteile: Ihr könntet die Geschichte regulär veröffentlichen und verkaufen. E.L. James hat in ihrer Twilight-Fanfiction auch nur ein paar Dinge verändert und bewiesen, dass man mit der Strategie sogar einen Mega-Bestseller landen kann („Fifty Shades of Grey" nämlich).

Es gibt eine essentielle Regel, die gute Elsewhere Fictions und AUs, die ich hier mal als ELSAUs zusammenfassen möchte, von AUsreden und Pseudo-FAs unterscheidet:

Bei schlechten ELSAUs steht die Idee des Schreiberlings im Mittelpunkt und er benutzt das Material des Bezugswerks nach seinem Gutdünken für deren Umsetzung

Bei guten ELSAUs steht das Bezugswerk im Mittelpunkt und der Schreiberling benutzt seine Idee dazu, um neue Aspekte daran herauszukehren.

Was das genau bedeutet, wird uns noch in den nächsten Kapiteln beschäftigen. Doch es ist ein erster Richtungsweiser.

Sollte eure Geschichte dagegen eine Nacherzählung oder eine Neuauflage sein, gibt es eigentlich nur einen Weg. Da auf der anderen Seite der Mauer bloß das Original selbst ist, könnt ihr eure Geschichte nur verbessern, indem ihr mehr Eigenleistung einbringt.

Um beides, sowohl die Rückführung von ELSAUs auf die Umlaufbahn des Bezugswerks wie auch den Aufbau größerer Eigenleistung wird es in den nächsten Kapiteln gehen.

Beginnen wir mit den Geschichten, die dem Canon zu nahe sind. Ich wies zwar schon im letzten Kapitel darauf hin, doch es kann gerne noch einmal betont werden: Jede gute Fanfiction erzählt dem Leser noch etwas Neues. Das heißt etwas, das er durch das Lesen, Hören oder Anschauen des Originalwerks nicht erfährt oder zumindest nicht direkt.

Das soll nun aber nicht bedeuten, dass sich jede Fanfiction eine komplett eigene Geschichte ausdenken muss, um gut zu sein. Neu kann zum Beispiel auch ein anderer Blickwinkel auf das Originalwerk sein. „Die Geschichte aus Sicht des Bösewichts" wäre ein Beispiel dafür. Denn der Bösewicht dürfte sich sicher ganz andere Gedanken gemacht haben als der Protagonist und vermutlich hat er auch Dinge getan, die man in der Geschichte nicht „live und in Farbe" mitbekommen hat. Obwohl die Rahmenhandlung - also das große Ganze der Geschichte – noch immer dieselbe wäre, könnte also auch eine solche Geschichte Lesern noch neue Eindrücke liefern, insofern sie entsprechend aufgezogen ist.

Die meisten Fanfictions - selbst welche, die sehr nah am Canon sind - sind auch so geschrieben, dass ihr Löwenanteil aus eigenem Text besteht. Nun gibt es aber wie gesagt auch ein paar Ausnahmen, bei denen die Fanfiction zu 90% aus der Wiedergabe des Originalwerks besteht. Sei es, weil zum Beispiel jemand einfach den Lieblingsfilm in Schriftform bringt oder sei es, weil er wie schon genannt den Roman Kapitel für Kapitel abschreibt und dann noch zwei, drei Sätze über einen OC oder Canoncharakter hinzufügt.

Das Ganze sieht dann in etwa so aus:

Original

Michelles Herz begann schneller zu schlagen. Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie suchte jeden Winkel nach einem Kellerfenster ab. Doch es schien so, als ob dieses Haus keine Kellerfenster hätte. Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Von der Angst gepackt ging sie rückwärts und stolperte über einen Müllsack. Jetzt erkannte Michelle, dass die Geräusche vom Wind kamen, der durch die Ritzen des alten Gemäuers pfiff.

Fanfiction

Mein Herz schlug sehr schnell und ich sah, dass auf Michelles Stirn Schweiß stand. „Kannst du mir helfen?", fragt sie. „Klar!", sagte ich. Wir suchten überall nach einem Kellerfenster. Doch das Haus schien keine Kellerfenster zu haben. Plötzlich hörten wir ein Geräusch. Voller Angst ging Michelle rückwärts und fiel über einen Müllsack. Jetzt erkannte ich, dass die Geräusche vom Wind in den Mauerritzen kam.

Wenn die gesamte Fanfiction so weitergeht, haben wir es mit einer Nacherzählung zu tun.

Manchmal benutzen aber auch neue Geschichten das Originalwerk wie einen Baukasten, aus dem sie einzelne Puzzleteile entnehmen und sie neu zusammensetzen. Wie schon im vorherigen Kapitel erwähnt, wäre dies der Fall der Neuauflage.

Im Original gibt es so zum Beispiel im ersten Band eine Prophezeiung über die Hauptfigur der Reihe; im zweiten Band holt der Bösewicht ein uraltes magisches Amulett aus einer versunkenen Stadt; im dritten Band kommt es zum Endkampf, wobei die beste Freundin der Hauptfigur sich mit den Worten „Das wirst du nicht tun" vor den Bösewicht wirft, um der Protagonistin das Leben zu retten.

In der Fanfiction dann gibt es über einen OC ebenfalls eine ganz ähnliche Prophezeiung; der OC holt das magische Amulett aus der versunkenen Stadt, wobei die Szene fast genauso geschildert wird und beim Endkampf wirft sich das Loveinterest des OCs mit den Worten „Tu das nicht" vor den Bösewicht, um dem OC das Leben zu retten.

Ich lasse es an dieser Stelle auf die rechtliche Seite solcher Geschichten einzugehen und betrachte nur die literarische: Fanfictions wie diese sind im Grunde sehr langweilig. Warum? Weil Leser das, was die Fanfiction erzählt auch einfach selbst nachlesen oder nachschauen könnten und die eins, zwei Sätze Eigenleistung der Schreibenden ändern daran auch nicht mehr viel. Das gilt auch für die zusammengepuzzelten „neuen" Geschichten. Eins, zwei solcher Puzzleteile kann eine Fanfiction noch verkraften. Aber wenn die komplette, angeblich neue Geschichte nur noch aus einem einzigen Puzzleteileberg besteht, fühlen sich Leser zu Recht ein wenig veräppelt.

Ich kann natürlich nur mutmaßen, wie solche Geschichten zustande kommen, doch ich glaube, dass es sich dabei – neben Begeisterung für das Originalwerk und dem Wunsch, selbst dabei zu sein - nicht selten um die ersten Gehversuche in Sachen Kreatives Schreiben handelt. Sich erst einmal an der Nacherzählung einer schon bekannten Geschichte zu üben ist ein Hilfsmittel, sich aufs Glatteis zu begeben, ohne das Ausrutschen zu riskieren. Und als Übung ist es auch völlig okay, solche Texte zu schreiben.

Problematisch wird es mit dem Veröffentlichen. Denn damit tretet ihr einer Leserschaft gegenüber, die gelinde gesagt nicht einfach eine Kopie des Originalwerks lesen will.

Doch ich will mich nicht aufs Meckern versteifen. Was also könnt ihr tun, wenn eure Geschichte zum Großteil aus Nacherzählung oder Wiederholung besteht? Um diese Frage zu beantworten, verweise ich zunächst nochmal auf den Anfang dieses Ratgebers. Genauer gesagt auf die Kapitel zum Plotten.

Eure Fanfiction braucht ein Thema

Und dieses Thema sollte ein bisschen mehr sein als zum Beispiel: „Alle Kapitel des Buchs mit meinem OC drin" oder „Ich stelle einfach den Canon etwas um".

Auch solltet ihr überprüfen, ob in eurer Fanfiction neue Szenen und Ereignisse vorkommen, die eine sehr große Ähnlichkeit zum Originalwerk haben oder sogar 1:1 abgekupfert sind. Nicht jede Wiederholung ist problematisch. Bei manchen Dingen liegt es in der Natur der Sache, dass sie wiederkehren. Wenn in der Welt von Harry Potter alle jungen Zauberer und Hexen mit dem Schulzug nach Hogwarts fahren, dann ist klar, dass auch andere Charaktere als Harry und seine Freunde das tun. Hellhörig solltet ihr aber werden, wenn Szenen und Ereignisse in dieser Form eigentlich einmalig sind. Es mögen vielleicht alle Schüler mit dem Hogwarts Express fahren, ja. Aber nicht alle Schüler werden auf dieser Fahrt von einem seelenfressenden Wesen angegriffen und dann von einem Lehrer gerettet, der zufällig im gleichen Abteil sitzt. Wenn also die Szenen und Ereignisse eurer Fanfiction denen aus dem Originalwerk ähneln, dann überlegt gut, ob diese wirklich allgemeingültig sind oder eher speziell zu dieser Geschichte, zu dieser Zeit, zu diesem Charakter oder dieser Situation gehören. Wenn sich in eurer Fanfiction viele Szenen wiederholen, die eigentlich ein einmaliges Ereignis des Canons sind, solltet ihr euch Gedanken machen, wie ihr sie ändern und umstellen könnt oder ob es sogar möglich wäre, sie ganz zu streichen. Harry Potters Sohn und seine zukünftige Freundin können sich sicher noch in anderen Situationen kennenlernen, als dass er im Schulzug von Dementoren angegriffen und vor ihren Augen vom mitfahrenden Lehrer gerettet wird.

Vor besondere Herausforderungen stellen natürlich Fanfictions, die keine neue Geschichte erzählen, sondern bloß einen neuen Blickwinkel auf den Canon werfen, wie zum Beispiel: „Die Geschichte aus Sicht von X". Hier ist die Gefahr einer Wiederholung besonders hoch. Klar, wenn X eine unwichtige Randfigur ist, die im Originalwerk gerade mal drei Worte sprach, lässt das natürlich noch recht viel Spielraum. Doch je wichtiger X im Canon war, je mehr Screentime die Figur hatte und je größer ihre Rolle war, umso schmaler wird der Grat zwischen Nacherzählung und eigener Geschichte. Eine Fanfiction über den besten Freund, der immer an der Seite des Protagonisten war, könnte tricky werden.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es mitunter sehr schwierig sein kann, solche und ähnliche Geschichten zu schreiben, ohne ins Nacherzählen zu geraten. Bestimmte Überschneidungen mit dem Original und ein gewisses Maß an Wiederholung sind bei einer bestimmten Nähe zu Haupthandlung und Hauptfigur nahezu unvermeidlich. Und ist von Seiten der Leser auch durchaus gewollt. Denn wenn ich eine Geschichte aus Sicht des Bösewichts lese, interessiert mich vielleicht auch, wie dieser den Endkampf empfand. Dennoch: Eine pure Nacherzählung vom ersten zum letzten Satz will auch hier niemand lesen.

Zum Glück gibt es Tricks, das Ausmaß der Wiederholung so niedrig zu halten, dass die Geschichte insgesamt noch Neues erzählt. Drei Tipps möchte ich euch hier mit auf den Weg geben.

Das Eigenleben der Charaktere

Das Wichtigste, ist es, immer im Hinterkopf zu behalten, dass auch Nebenfiguren ihr eigenes Leben haben. Selbst der beste Freund der Hauptfigur ist nicht bloß anwesend und tut Dinge. Er hat eigene Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen, Absichten, Wünsche, Ziele, Meinungen usw. Und: Er hat seine eigenen Plots. Das könnte zum Beispiel eine Romanze sein, die im Canon nur als Nebengeschichte angedeutet wurde. Oder liegt er mit irgendwem im Clinche? Vielleicht hat er auch ein Geheimnis zu bewahren, wer weiß? Wenn ihr eine Fanfiction ‚aus der Sicht von X' schreiben wollt, ist dieses Wissen euer wichtigstes Handwerkzeug. Lasst euch nicht von der Haupterzählung verführen. Lenkt euren Blick auf Nebenhandlungen und Nebenschauplätze und das Innenleben der Charaktere. Denn hier steckt das wahre Potential für Unerzähltes. Wenn ihr nicht gerade bewusst über Canonszenen schreibt, sollte im Zentrum eurer Geschichte keine ausschweifende Wiedergabe längst bekannter Szenen stehen, sondern die „kleinen Geschichten" am Rande. Überlegt euch also immer, was die Charaktere erlebten, wenn sie gerade mal nicht auf der „Hauptbühne" aktiv waren.

Die fehlende Szene

Wenn ihr nun aber vorhabt, nicht nur über Romanze oder ähnliche Nebenthemen des Canons zu schreiben, wird in eurer Fanfiction natürlich auch die Hauptgeschichte des Originals eine gewisse Rolle spielen. Der nächste Tipp betrifft daher vor allem die praktische Umsetzung, wenn ihr den Anschluss zur Handlung des Canons halten wollt. Ein Trick, hier am Ball zu bleiben, ist es, in die Zeitlücken zu schreiben. Was heißt das? Es gibt bei jeder Geschichte gewisse Zeiträume, die von der Erzählung bloß überflogen oder gar nicht erwähnt werden. Und es gibt bei vielen Ereignissen ein davor und danach und manchmal sogar ein dazwischen. So wird bei einer Geschichte über ein Fußballspiel sicher das Spiel selbst erzählt, aber vielleicht nicht der Moment, in dem die Mannschaft danach duschen geht. Nutzt diese Lücken für eure Fanfiction! Denn oftmals reicht es schon aus, wenn man in die Zeit direkt vor oder direkt nach einer Szene eintaucht, um die Stimmung einer bestimmten Situation einzufangen. Wenn es also im Canon einen furchtbaren Streit zwischen A und B gab und A beim Gehen die Tür hinter sich zuknallte, müsst ihr nicht noch einmal den ganzen Streit wiederholen, um auf Bs Gefühle einzugehen. Ihr könnt mit der Tür beginnen, die ins Schloss fällt und schreiben, wie es B nun geht. Überlegt euch also immer, was im Vorfeld einer Situation geschah oder wie es weiterging und ob das nicht ebenso ausreicht. Und: Wenn in einer Canonszene vereinzelt etwas wirklich Wichtiges geschah (z.B. A knallt B Dinge an den Kopf, die B nie vergessen kann), denkt auch darüber nach, ob es nicht möglich wäre, dass sich der Charakter einfach daran zurückerinnert anstatt dass die ganze Szene erzählt werden muss. Solche Erinnerungen lassen sich auch in ganz anderen Situationen einbringen, zum Beispiel beim Biertrinken mit dem Kumpel drei Tage später.

Umgang mit Canonszenen

Manchmal ist es aber auch unvermeidlich, dass eine Fanfiction eine Canonszene direkt aufgreift. Oder auch einfach nur interessant, dort ein wenig nachzubohren. Es gibt etliche Oneshots, die sich nur mit Canonszenen beschäftigen und dabei doch mehr als Nacherzählungen sind. Aber wie kriegt man das hin? Nun, vielleicht erinnert ihr euch daran, was ich zum Thema innere und äußere Handlung schrieb. Gute Oneshots dieser Art beschäftigten sich im Löwenanteil oft mit den Gedanken und Gefühlen einer Figur, also mit der inneren Handlung, wenn das Originalwerk sich auf die äußere Handlung fokussierte. Oder eben umgekehrt. Wenn ihr es also mit Canonszenen zu tun habt, achtet darauf, das zu erzählen, was das Original auslässt. Das kann die innere Handlung sein, die äußere Handlung oder die Perspektive einer bestimmten Figur, die im Canon „stumm" war. Und den Rest solltet ihr auf kleiner Flamme halten. Ein Beispiel: Der Canon erzählt eine epische Kampfszene zwischen A und B und ihr wollt darüber schreiben, wie es C, der den Kampf beobachtet, dabei geht. Dann braucht ihr nicht nochmal ellenlang aufrollen, was in diesem Kampf passiert. Reißt das Geschehen zwischendurch nur kurz an, damit der Leser weiß, um welche Szene es sich handelt und geht ansonsten voll und ganz auf Cs Gedanken und Gefühle ein. So haltet ihr die Wiederholung im Rahmen.

Das waren soweit die Tipps, die ich euch mitgeben kann, um Nacherzählungen und Neuauflagen zu vermeiden. Schauen wir uns an, wie sich auch der Rest ins Lot bringen lässt...

Nachdem wir das Thema Wiederholungen hinter uns haben, kommen wir endlich zu den Fanfictions, die dem Canon zu fern sind und der Frage, wie man sie reparieren kann. Den Einstieg macht das Genre Alternate Universe, auch bekannt als Altraverse oder kurz AU.

Bevor es losgeht, möchte ich jedoch eine Warnung vorwegschicken: Bisher sind mir (mit Ausnahme von Handlungs-AUs) Fanfictions dieses Genres, die ich selbst als gut bezeichnen würde, nur als Ideen in Diskussionsforen und co begegnet, aber noch nicht „live und in Farbe". Das macht es etwas schwierig für mich, zu bestimmen, was ein gutes Altraverse ausmacht. Dieses Kapitel und die Folgenden sind daher sehr gefärbt von meiner zwar nicht gänzlich ablehnenden, doch recht kritischen Haltung und vermutlich noch ein gutes Stück subjektiver als der Rest des Ratgebers. Dennoch hoffe ich, dass ihr trotzdem etwas aus meinen Gedanken für euch mitnehmen könnt. Zumindest ist auch das hier das Fazit einer Leseerfahrung.

Doch was bedeutet „Altraverse" eigentlich? Nun, das scheint schwer zu bestimmten zu sein. Kein anderes Fanfiction-Genre vereint in der Praxis so viele unterschiedliche Fanfictions unter einem Label und auch die Definitionen, die man in verschiedenen Fanfiction-Glossars findet, weichen zum Teil voneinander ab. Dennoch gibt es einen gemeinsamen Nenner und der lautet: Altraverse bedeutet große Abweichungen vom Bezugswerk.

Dabei gilt für diesen Ratgeber, dass mit Abweichungen Veränderung gemeint sind, die vorausgesetzt werden und sich nicht erst in der Geschichte ergeben. Ein Charakter, der im Canon ein Bösewicht war und sich in der Fanfiction durch eine langsame Charakterentwicklung zum Guten bekehrt, verändert sich zwar auch sehr, aber es ist doch etwas anders als wenn er von Beginn an als einer der Guten dargestellt würde. Das Gleiche gilt, wenn im Laufe der Fanfiction zum Beispiel eine bahnbrechende Erfindung gemacht wird und die Welt sich langsam verändert. Beides wäre für unsere Betrachtung hier kein AU, auch wenn es in der Praxis vielleicht anders gehandhabt wird.

Lassen wir uns das mal auf der Zunge zergehen, dann wird klar, dass Altraverse einiges an Zündstoff bietet. Denn Abweichungen bergen immer die Gefahr, den Werksbezug zu verlieren. Und da vom Werksbezug abhängt, ob eine Geschichte in den Augen der Leser das Label eines Fandoms verdient hat, sollte man diesen nicht leichtfertig riskieren. Zudem bricht Altraverse so einige essenzielle Regeln - bei Abänderungen von Persönlichkeitseigenschaften zum Beispiel, dass diese über Charakterentwicklung erzählt  und nicht einfach vorausgesetzt werden sollten.

Ist Altraverse deswegen verbotenes Territorium, wenn man vorhat eine gute Fanfiction zu schreiben?

Nein! Denn es gibt Ausnahmesituationen, die ein Übertreten solcher Regeln rechtfertigen. Ich denke sogar, dass Altraverse ein sehr gutes Mittel sein kann, um ein Werk nochmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Vorausgesetzt man hält sich an ein paar „Goldene Regeln". Diese Regeln möchte ich euch hier vorstellen.

Erste Regel: Ändere niemals alles

AUsreden machen den Fehler, dass sie kreuz und quer so viel verändern, dass vom Bezugswerk nur noch ein paar Fragmente übrig bleiben, die sich mit ein wenig Kosmetik leicht zu eigenen Kreationen abändern ließen. Eine gute Fanfiction dagegen kann nicht so leicht in eine eigene Freie Arbeit verwandelt werden, weil sie trotz Abänderungen noch stark am Bezugswerk hängt. Wenn ihr also den Werksbezug wahren wollt, dann solltet ihr es mit den Abwandlungen nicht übertreiben.

Wie ich im ersten Kapitel des Themenblocks schon erwähnte, setzt sich jede Geschichte aus drei Elementen zusammen: 1.) der Handlung mitsamt der Fakten und der Zeitlinie 2.) der Hintergrundwelt mitsamt ihren Weltregeln, Orte usw. und 3.) der Charaktere mitsamt ihrer Beziehungen zueinander. Wird eines dieser Elemente sehr stark abgewandelt oder gar ersetzt, liegt es an den verbliebenen Elementen, das Band zum Bezugswerk aufrecht zu erhalten. Bei einem Handlungs-AU, auch bekannt als Alternative Timeline oder Was-Wäre-Wenn-AU, müssten also Charaktere und Welt „naturbelassen" bleiben.

Nun wiegt aber nicht jedes dieser Elemente gleich viel. Gerade auf die Handlung kann leichter verzichtet werden als auf die Welt oder die Charaktere. Das liegt daran, dass Charaktere oder ein Universum auch jenseits der erzählten Geschichte existieren können. Rotkäppchen beispielsweise kann das Haus der Großmutter auch noch besuchen, wenn das Märchen längst erzählt ist. Handlungs-AUs werden daher von vielen Lesern auch nicht als so richtige AUs wahrgenommen. Immerhin gibt es kaum eine Fanfiction, die nicht irgendwo etwas an der Handlung verändert. Nichtsdestotrotz sollten auch Abwandlungen an der Handlung wohlüberlegt sein und sinnvoll erklärt werden – ich erinnere an das Kapitel zum Umgang mit Fakten.

Entscheidend für unser Thema hier ist aber vor allem das Verhältnis zwischen Welt und Charakteren. Wenn ihr die Welt stark verändert oder ersetzt, ist enorme Vorsicht geboten, was Abwandlungen am Aspekt "Charaktere" betrifft - und umgekehrt. Ein Charakter kann zwar in diesem oder jenem Universum existieren. Aber wenn die Figur dann out of character ist, bleibt vom Originalwerk kaum etwas übrig.

Es gibt zwar auch „gangbare" Mischformen, wie wir im übernächsten Kapitel sehen werden, im Großen und Ganzen ist es jedoch hilfreich, sich zwei Mal zu überlegen, ob Änderungen an beiden Elementen wirklich nötig sind. Und: Charaktere verändern heißt auch nicht, dass der komplette Cast abgewandelt oder ausgetauscht wird. Auch Abwandlungen, die nur eine Figur betreffen, wären schon Veränderungen am Element „Charaktere".

Die Frage, ob ein Altraverse gut oder schlecht ist, hängt aber nicht nur von der Gestaltung und des Verhältnisses von Charakteren, Welt und Handlung ab. Ganz entscheidend ist auch die Frage, zu welchem Zweck die Geschichte geschrieben wird. Und das führt mich zum nächsten Punkt.

Zweite Regel: Zwing dem Fandom nichts auf

Ein Vorurteil gegenüber Schreibenden von Altraverse ist, dass sie aus Faulheit ein bestimmtes Originalwerk als Ersatzteillager für eigene Freie Arbeiten missbrauchen würden. Woher kommt diese doch recht heftige Unterstellung?

Nun, ein Grund dafür ist wohl, dass AUsreden Geschichten erzählen, die auf den ersten Blick nicht sonderlich viel mit dem Bezugswerk zu tun haben. Zwischen der Reale-Welt-Krimiserie mit ihrer menschlichen Ermittlerin und einer Elbin in einem Fantasyuniversum gibt es erst mal keine Verbindung. Beides sind völlig unterschiedliche Figuren in verschiedenen Genres. Wenn dann aber die Ermittlerin der Krimiserie zur Elbin gemacht wird, wirkt das reichlich merkwürdig. Es scheint als hätte jemand dem Fandom seine eigene Originalgeschichte übergestülpt.

Der geneigte Leser fragt sich: Was soll das Ganze? Was hat das mit meinem Fandom zu tun? Warum macht jemand die Ermittlerin zur Elbin?

Das warum habe ich hier natürlich nicht ohne Grund hervorgehoben. Denn das ist die zentrale Frage. Wenn es eine kritische Reaktion auf Altraverse gibt, die mir immer wieder begegnet, dann ist es Verständnislosigkeit. Und ich denke, ich brauche nicht zu erwähnen, dass das nicht unbedingt ein Leseanreiz ist.

Eure Aufgabe wäre es, ein solches Unverständnis erst gar nicht aufkommen zu lassen. Doch was kann man tun, um hier nicht in die Falle zu gehen?

Die Lösung lautet: Immer vom Bezugswerk ausgehen

Gutes Altraverse zeichnet sich in meinen Augen dadurch aus, dass es deutlich vom Bezugswerk angeregt ist. Das heißt, es ist für den Leser nachvollziehbar, warum eine Geschichte trotz aller Verfremdungen gerade mit diesem Fandom arbeitet – und nicht mit irgendeinem anderem.

Einige Schreibende haben erst eine Idee für Geschichte und suchen sich dann erst das passende Fandom. Ich will nicht sagen, dass mit der Methode zwangsläufig Fandoms unpassende Ideen übergestülpt werden. Aber: Wenn Welt und Charaktere erst zurechtgebogen werden müssen, dann läuft etwas gewaltig schief. Natürlich kann auch eine Idee, die von einem bestimmten Werk angeregt ist, zu wenig Werksbezug haben. Die Wahrscheinlichkeit dürfte jedoch geringer sein.

Euer Schreibmotto sollte also immer lauten, nur solche Ideen umzusetzen, bei denen ihr auf die Frage „Warum schreibst du Geschichte ausgerechnet in diesem Fandom?" eine gute Antwort wisst.

Das kann bedeuten – und es tut mir leid, dass ich das hier so knallhart sagen muss – dass manche Geschichten schlichtweg einfach nicht mit einem bestimmten Fandom vereinbar sind. Wenn das Bezugswerk keinen Anlass dazu bietet, aus der Ermittlerin eine Elbin zu machen - nun, dann gibt es zwischen der Idee und dem Fandom eben keine Verbindung. Punkt. Es nützt nichts, diese künstlich herstellen zu wollen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass nur Ideen, die der Canon schon auf dem Silbertablett präsentiert, gute AUs abgeben. Ich werde mich im nächsten Kapitel noch etwas mehr mit Inspirationen und Anlässen für Altraverse beschäftigen. Klar ist aber auch, dass „ich fänd's cool, wenn meine Elbin so badass wäre wie die Kommissarin" keine ausreichende Basis für gute Abwandlung bildet. Ebenso wenig wie Ideenmangel bei eigenen Geschichten, den ihr dadurch auszugleichen versucht, indem ihr euch einfach etwas beim Bezugswerk „ausleiht" und dann alles wegschneidet, was nicht passt.

Denn zu einem sinnvollen Umgang mit dem Canon gehört, sich immer bewusst zu sein, welche Auswirkungen es auf das Gesamtgefüge hat, wenn man bestimmte Dinge verändert und entsprechend damit umzugehen.

Ist eure Entleihung also auch noch so geringfügig: Sie macht etwas – sowohl mit eurer Geschichte wie auch mit dem Bezugswerk. Erfindungen von Schriftstellern und co sind kein weißes Blatt Papier, das man wahllos bekritzeln und zurechtschneiden kann. Sie sind besetzt mit Vorstellungen und Eigenarten. Captain Kirk und die Enterprise zum Beispiel sind nicht einfach irgendein Raumschiff und irgendein Weltraumkapitän. Selbst wenn ihr beide in eine andere Welt versetzt, erwarten Leser, dass es klar erkennbar ist, warum gerade dieses Raumschiff und dieser Weltraumkapitän in der Fanfiction vorkommen anstatt irgendwelcher x-beliebiger Anderer.

Und das führt mich zum nächsten Punkt.

Dritte Regel: Ändere nichts ohne guten Grund

Denn eigentlich lässt sich das alles auch in einem Satz zusammenfassen. Einen Satz, der inzwischen schon als Mantra dieses Ratgebers gelten kann: Jede Abwandlung braucht einen guten Grund. Und zwar einen literarischen. Literarische Gründe sind solche, die sich aus der Idee der Geschichte selbst ergeben und notwendig für ihre Erzählung sind. So ist es für die Idee „Was würde Voldemort in einer Welt ohne Magie tun?" notwendig, den Charakter in eine Welt ohne Magie zu versetzen. Nicht notwendig ist des Dunklen Lords Abschied von der Zauberei aber, wenn man als Schreiberling nur keine Lust hat, sich zig Zaubersprüche zu merken.

Wer ein Jetztzeit-AU für das mittelalterliche Fantasy-Fandom schreibt, bloß um sich die Mühe einer altertümlichen Sprache zu ersparen, sollte sich die Sache also besser nochmal durch den Kopf gehen lassen. Das Gleiche gilt für Schreibende, die überlegen Superman durch ihr Self-Insert zu ersetzen, weil die Vorstellungen so reizvoll ist; die sich Gandalf ausleihen, weil sie unbedingt einen alten Mann für ihre Geschichte brauchen und selbst keine Idee haben oder oder oder.

Bevor ihr also etwas am Bezugswerk abwandelt: Geht sicher, dass eure Abänderungen einen literarischen Zweck verfolgen. Abwandlungen, für die es keine erkennbaren literarischen Gründe gibt, wirken willkürlich. Ein solcher Eindruck weckt Unverständnis und Verständnislosigkeit ist wie gesagt eins der besten Mittel, um Leser zu vergraulen.

Deswegen: Macht euch die Sache nie zu leicht. Sucht euch bei Schwierigkeiten gegebenenfalls Hilfe und baut euer Altraverse auf soliden Gründen auf. Denn:

Altraverse ist keine Entschuldigung für Bequemlichkeit.

Und was ist, wenn ich die Ermittlerin als Elbin schreiben will, weil mir nun mal der Gedanke an eine Badass-Elbin gefällt?

Dann solltest ihre eure Arbeit konsequent zu Ende führen und aus der Geschichte eine Freie Arbeit machen, deren Figuren vielleicht von bestimmten Fandoms inspiriert, aber nicht einfach daraus übernommen sind.

Merkt euch: Weder Fanfictions noch freie Arbeiten, gibt es nicht zum „halben Preis", wenn ihr vorhabt, eine gute Geschichte zu schreiben. Inspirationen sind nicht verboten. Aber ein halbherziges Abkupfern mitsamt willkürlichem Herumschnippeln kommen gar nicht gut an!

So viel zu den Grundregeln für Altraverse. In den folgenden Kapiteln werde ich euch noch ein paar Tricks zeigen, wie ihr gegebenenfalls eine Brücke zum Bezugswerk schlagen könnt. Doch zunächst möchte ich der großen Frage nachgehen, was eigentlich gute Ideen und gute Gründe sind...

 

Warum schreibt jemand sowas zu meinem Fandom? Das war die große Frage im letzten Kapitel. Und sie wird uns auch in diesem begleiten. Herzlich Willkommen also zum zweiten Teil, in dem es darum gehen wird, wann Abwandlungen am Canon Sinn machen und wann nicht. Und auch, wann eure Idee vielleicht noch ein wenig Feinschliff braucht.

Weil das letzte Kapitel recht unübersichtlich war, zu Beginn noch einmal die Regeln in Kurzform:

1. Ändere niemals so viel, dass nur noch Fragmente übrig bleiben

2. Zwing dem Fandom nicht krampfhaft Ideen auf

3. Abwandlungen brauchen literarische Gründe

Hier will ich mich noch einmal intensiver mit der zweiten und der dritten Regel beschäftigen oder besser gesagt, erklären, was passende Ideen und angemessene Gründe sind.

Vielleicht habt ihr selbst schon mal ein Altraverse geschrieben, in dem ihr gar nicht mal so viel verändert habt und trotzdem hagelte es Kritik. Es gibt eine ganze Reihe von AUs, die sich an die erste Regel halten und dennoch viel Ablehnung erfahren, zum Beispiel wenn der Prota in eine Parallelwelt gelangt, in der alles so ist wie im Canon bis auf eine Kleinigkeit: Ein eigentlich eher böser Charakter ist gut und die beiden kommen zusammen.

Warum diese und ähnliche AUs für allergische Reaktionen bei kritischen Lesern sorgen, hat etwas mit der zweiten und dritten Regel zu tun. Hier werde ich nach der Antwort auf die Frage suchen, wieso dem so ist und was ein gutes Altraverse ausmacht. Dabei werde ich mich aber hauptsächlich auf Welt- oder Charakter-AUs beziehen, denn zu den Grundlagen für Alternative Timeline habe ich schon in früheren Kapiteln genug gesagt. Los geht es also!

Das Spiel mit den Schaltknöpfen

Wie ich im letzten Kapitel betonte, sollten Abwandlungen am Bezugswerk nicht willkürlich, sondern immer nur mit gutem Grund vollzogen werden. Doch was ist ein guter Grund? Und wie lässt sich vermeiden, dass Leser sich verständnislos am Kopf kratzen?

Nun, ein klarer Werksbezug heißt, wie ich zu Beginn dieses Ratgebers erwähnte, nicht zwangsläufig ein Marschieren auf der Bahn des Canons bis zum bitteren Ende. Natürlich sollte eine Fanfiction nicht zu viel verändern. Doch in erster Linie geht es um eine sinnvolle Auseinandersetzung mit dem Werk. Und diese hat viele Gesichter. Auch das Ausprobieren der Weichen, die der Canon links liegen ließ oder das Einbringen ganz neuer Situationen können dazugehören, insofern die Sache gut aufgezogen ist.

Und damit bin ich bei Altraverse.

Denn in meinen Augen liegt das große Potential von AUs im Experimentieren mit Variablen. Das heißt, ein gutes Altraverse benutzt die Puzzleteile des Originalwerks nicht einfach und ändert ab, was nicht passt. Nein, die Abwandlungen werden bewusst gesetzt, um zu sehen, was mit der Welt, den Charakteren oder der Handlung geschieht, wenn die Dinge anders stehen. Ein gutes AU versetzt die Geschichte des Fantasyromans also nicht mal einfach so in die Reale Welt, sondern sehr gezielt, um zu sehen, ob die Geschichte auch ohne fantastische Elemente funktionieren und was sich verändern würde.

Es geht also um die berühmte Frage: „Was würde geschehen, wenn...". Und wenn ihr ein gutes AU schreiben wollt, dann solltet ihr als Erstes darüber nachdenken, ob es auch Ziel eurer Abwandlungen ist, jenem „was wäre wenn" nachzuspüren.

Letztendlich ist die Gestaltung von Altraverse als Experiment in meinen Augen der sicherste Weg, um den Eindruck von Willkür und Unverständnis zu vermeiden. Warum das so ist, darauf werde ich später noch eingehen. Fürs erste  verbleiben wir dabei, dass die Geschichte sich um die Konsequenzen der Abwandlung drehen sollte.

Wenn wir aber Altraverse als Experiment betrachten, dann gibt es auch ein paar Dinge zu beachten, damit die Sache wirklich gelingen kann. Und es wird euch sicher nicht verwundern, wenn ich sage, dass AUs, die viel Kritik einstecken, obwohl sie sich an Regel Nummer Eins halten, oftmals hier versagen. Schauen wir uns also mal an, worauf es zu achten gilt.

1.) Abwandlungen haben Folgen

Es mag zunächst vielleicht seltsam klingen, aber manche AUs wirken gerade deshalb wie AUsreden, weil sie nicht zu viel, sondern zu wenig verändern. Und das ist dann der Fall, wenn logische Konsequenzen einer Abänderung sich in der Fanfiction nicht niederschlagen. Wenn ihr zum Beispiel in einer Welt mit einer strikten Geschlechtertrennung einen Charakter genderswaped oder in einer Welt, die von Rassismus geprägt ist, die Spezies ändert, dann wäre eine logische Folge, dass die Gesellschaft ganz anders mit der Figur umgeht. Sollten die Konsequenzen der Änderungen in eurer Geschichte jedoch keine Rolle spielen, wirkt das unlogisch. Und: Der Sinn geht verloren. Denn wozu all die Änderungen, wenn doch eh alles beim Alten bleibt? Bei Charakter-AUs ist übrigens die Kritik, dass der Charakter eine Mary Sue oder ein Gary Stu ist oftmals ein Hinweis darauf, dass die Auswirkungen zu wenig berücksichtigt wurden.

2.) Abwandlungen sollten einem Selbstzweck dienen

Der nächste Punkt betrifft zugegeben eher die „Forschungsethik", trotzdem ist er wichtig. Denn das hier ist eine der Hauptquellen für den ganzen Ärger mit Altraverse. Regel zwei lautete, dass Fandoms nicht auf Teufel komm raus Ideen übergestülpt werden sollten. In vielen AUsreden werden Abwandlungen aber genau als Werkzeug dazu benutzt. Beispielsweise waren in so vielen Harry Potter AUsreden, die ich bisher lesen musste, Ron und Hermine letztendlich nur böse, damit Harry sich in Draco, Snape, Voldy-Poldy oder Luzifer verliebt. Und das ist Gift. Abwandlung sollten niemals bloß ein Mittel zum Zweck sein! Sie und ihre Auswirkungen sollten immer selbst im Mittelpunkt stehen und Taktgeber der Geschichte sein.

Bedenkt: Jede Abwandlung birgt potentiell das Risiko den Werksbezug zu verlieren. Anspruchsvolle Leser erwarten daher, dass dieses Risiko nicht leichtfertig, sondern wenn, dann aus triftigem Grund eingegangen wird. Die Bereitschaft eures Publikums, zumindest des kritischeren Teils, eure Veränderungen am Bezugswerk zu akzeptieren, ist also auch abhängig davon, wie groß deren Rolle in der Fanfiction ist.

Es gibt etliche AUs, die Abwandlungen nur als Werkzeug verwenden und damit für Augenrollen sorgen. Wer zum Beispiel einen Charakter in eine andere Zeit versetzt, nur um ihn mit einer bestimmten Figur zu befreunden, macht sich schuldig im Sinne der Anklage. Denn eine Freundschaft aufzubauen liegt nicht in der Natur einer Zeitreise ebenso wenig wie man sich automatisch liebestrunken dem Feind in die Arme wirft, wenn die Freunde einen verraten haben. Und Abwandlungen für etwas zu nutzen, das nicht in der Natur der Sache liegt, ist wie ein Pulverfass zu zünden und sich dann nicht mehr darum zu kümmern. Klar, dass das in einem riesen Krach endet. In diesem Fall im Krach mit den Lesern.

Klüger wäre es, wenn ihr die Figur in die Vergangenheit versetzen würdet, um beispielsweise herauszufinden, wie sie in der Epoche zurechtkäme. Denn das hat mit der Zeitreise direkt zu tun. Die Freundschaft kann sich durchaus als Nebenhandlung der Geschichte ergeben. Ebenso wie die Romanze sich als Nebenhandlung bei der Geschichte und den Freundesverrat entwickeln kann. Aber die Abwandlung würde nicht eingeführt, um sie zu ermöglichen. Die Veränderungen würden einem Selbstzweck dienen. Und das ist der große Unterschied.

Überlegt euch also immer, ob im Zentrum eurer Geschichte auch tatsächlich etwas steht, was mit der Abwandlung direkt zu tun hat oder ob ihr die Abwandlung bloß als Mittel für einen fremden Zweck gebraucht.

3.) Abwandlungen bedürfen einer Notwendigkeit

Der letzte Punkt ist in gewisser Weise das Fazit des zweiten, greift aber noch ein paar andere Aspekte auf. Verfolgen wir den Gedanken, dass Abwandlungen immer einem Selbstzweck dienen sollten, weiter. Dann wird klar, dass sich für Altraverse eigentlich nur Ideen anbieten, die eine Abwandlung brauchen. AUsreden lassen dagegen auch deswegen sehr viele Haare zu Berge stehen, weil die Abwandlung oftmals vorgeschoben und unnötig wirkt. Doch woran erkennt man eine solche „Notwendigkeit"?

Ausschlaggebend sind die Faktoren Logik und Platz. Das heißt, Altraverse ist dann eine Option, wenn die Veränderungen sich mit der Welt und den Charakteren wie sie sind nicht logisch entwickeln ließen oder die Entwicklung den Rahmen der Geschichte sprengen würde.

So mag bei einer Fanfiction, die die Frage verfolgt „Wie hätte der Krieg sich entwickelt, wenn die böse Königin gut gewesen wäre?" vielleicht kein Platz bleiben, um der Figur erst einmal eine ausführliche Charakterentwicklung angedeihen zu lassen, ehe die eigentliche Geschichte überhaupt beginnen kann. Solltet ihr aber eine Romanze mit der bösen Königin schreiben - sprich eine Geschichte, bei der Charakterentwicklung eine zentrale Rolle spielt – gibt es diesen Raum, selbst wenn ihr die böse Königin mit ihrer Erzfeindin shipt.

Wer hier nach dem Motto vorgeht: Ich schreibe ein Altraverse, in dem die böse Königin gut ist, damit ich sie gleich mit der Erzfeindin verkuppeln kann, darf sich nicht wundern, wenn Leser ihm Faulheit vorwerfen. Denn euer Publikum erkennt, wo Platz für eine langsame Entwicklung wäre und wo nicht. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Deswegen: Bevor ihr eine Geschichte als Altraverse schreibt, überlegt euch immer, ob es nicht Wege gäbe, die Veränderung zu entwickeln oder anderweitig sinnvoll zu erklären. Altraverse sollte niemals vorgeschoben werden, um sich die Mühe ordentlicher Begründungen und Entwicklungen zu ersparen. Denn das macht die Geschichte zur AUsrede. Ihr habt in diesem Ratgeber schon viel über den Umgang mit Fakten, Weltregeln, Charakterentwicklung und co. gelernt. Nutzt dieses Wissen, ehe ihr Veränderungen voraussetzt!

So viel zu den Grundlagen des erfolgreichen Experimentierens. Es wird euch helfen, Kritik an eurem Werk zu minimieren. Denn Fanfictions, die das Gedankenspiel „was wäre wenn" konsequent verfolgen und sich an die vorgestellten Leitlinien halten, dürften sich anders lesen als AUsreden. Das liegt daran, dass sie sich um Ideen drehen, die etwas mit dem Bezugswerk an sich zu tun haben. Ihr Ziel ist es, salopp gesagt neue Aspekte an den bekannten Charakteren und der Welt heraus zu kitzeln anstatt diese Elemente nur zu verwenden. Dabei können sich AUsreden und derartige AUs auf den ersten Blick sogar recht ähneln. Mal ein Beispiel:

In Fanfiction A versetzt der Schreiberling die Königin und den König des Feenreichs in die reale Welt, weil ihm der Gedanke gefällt, dass er ihnen so über den Weg laufen könnte. Ansonsten dreht sich die Geschichte nur darum, wie der Feenkönig und die Feenkönigin sich ineinander verlieben.

In Fanfiction B versetzt der Schreiberling die Königin und den König des Feenreichs in die reale Welt, weil er herausfinden will, wie beide zurechtkommen, wenn sie die Einzigen ihrer Art sind. Die Geschichte dreht sich darum, wie die Figuren mit ihrem Sonderstatus und den Reaktionen ihrer Umwelt umgehen.

Beide Fanfictions sind Welt-AUs, die mit der gleichen Ausgangssituation beginnen. Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Während es bei Fanfiction A für den Leser schleierhaft bleibt, was der Austausch der Welten nun soll (denn verlieben könnten die beiden sich auch im Feenreich), gibt es in Fanfiction B einen guten Grund: Die Erfahrung, anders zu sein, lässt sich nur in einer Welt machen, in der man anders ist.

Der Leser fragt nicht mehr warum - er hat eine Antwort. Die Geschichte ergibt Sinn. Und das tut sie deshalb, weil der Schreiberling der zweiten Fanfiction „erforscht", welche Konsequenzen der Austausch der Variable „Welt" hat und dies für den Leser durch den Verlauf der Geschichte sichtbar ist.

Auf die Auswirkungen der Abwandlungen einzugehen ist also ein ganz wesentlicher Punkt, damit Leser verstehen können, wieso ihr das Bezugswerk verändert habt.

AUsreden kranken daher vor allem auch daran, dass die Gründe für die Abwandlung dem Leser völlig schleierhaft bleiben oder aber die Veränderungen den Anschein erwecken, nur Mittel zum Zweck zu sein, um eine fremde Idee ins Fandom zu zwängen, die ohne Biegen und Brechen nicht hineinpassen würde. In beiden Fällen fehlt das Wesentliche: das Erforschen der Auswirkungen einer Abwandlung auf den Rest der Elemente wie sie sind.

Und damit beende ich dieses Kapitel. Im nächsten möchte ich euch noch ein paar Kunstgriffe vorstellen, mit denen ihr Leser „sanft" in eure Geschichte hinein geleiten könnt.

Achtung! Dieses Kapitel wird demnächst überarbeitet. Der Kasten hier verschwindet, sobald das Update erfolgt ist.

Nachdem wir das kleine Einmaleins der Goldenen Regeln für gute AUs und die Experimente hinter uns gelassen haben, kommen wir endlich zum Abschlussteil der Beschäftigung mit Altraverse und damit einer letzten großen Frage: Wie beginne ich ein AU eigentlich?

Und diese Frage ist ganz praktisch gemeint. Denn es geht um das erste Kapitel oder bei Kurzgeschichten um den ersten Absatz eurer Fanfiction und darum, wie ihr mit eurem Beginn die Geschichte ans Bezugswerk anbinden könnt.

Manche sind der Ansicht, dass das Genre Altraverse an sich schon davon befreit, eine Brücke zum Canon zu schlagen. Fakt ist aber, dass das Lesegefühl und der „Sturz ins kalte Wasser" meist nicht nach dem Genre fragen. Mir selbst fällt es oft schwer, mich auf eine Fanfiction einzulassen, die gleich nach dem Motto „Thomas, im Originalwerk ein Mensch des 15. Jahrhunderts, lief durch die Gänge seines Raumschiffs" beginnt. Es regt sich sofort Widerstand: „Nein, Thomas hat kein Raumschiff. Er lebt im 15. Jahrhundert und kennt bloß die Fischerboote unten am Fluss". Und während andere noch damit umgehen können, dass Thomas Raumschiff-Kapitän ist, dann ist spätestens bei der Abänderung von Charakterzügen für die meisten der Ofen aus. Deshalb ist es sinnvoll, auch bei AUs Leser „schonend" in die Geschichte einzuführen.

Am besten ist es natürlich, wenn ihr die Abwandlung durch ein Ereignis auf der Timeline einläuten könnt. Bei manchen Ideen klappt das ganz gut. Wird zum Beispiel das Geschlecht eines Charakters abgeändert, könnte die Fanfiction einfach mit einen Prolog über dessen Geburt beginnen. Leider lassen sich viele Altraverse-Ideen nicht so leicht anbinden. Warum sich beispielsweise der gesamte Cast der Geschichte im Deutschland des 21. Jahrhundert auf einmal auf einem Piratenschiff in der Südsee im 17. Jahrhundert befindet, dürfte deutlich schwerer zu erklären sein.

Eine Lösung könnte hier ein Kunstgriff sein, den ich den losgelösten Prolog nennen möchte. Anders als bei gewöhnlichen Prologen wird bei dieser Einführung keine Szene aus der späteren Handlung oder der Vorgeschichte gezeigt, sondern der Geschichte eine Einleitung vorangestellt, in der das Bezugswerk reflektiert und (zum Beispiel mittels rhetorischer Fragen) die grundlegende Abweichung der Geschichte vorgestellt wird. Das kann in der Form geschehen, dass ein anonymer Ich-Erzähler berichtet, wie ihn die Idee gerade beschäftigt; dass der Leser durch einen Du-Erzähler direkt angesprochen wird oder dass zwei fiktive Leser/Zuschauer des Bezugswerks sich darüber unterhalten und dabei auf das was-wäre-wenn zu sprechen kommen - um nur drei von vielen Möglichkeiten zu nennen. Der losgelöste Prolog lässt sich natürlich der Länge der Geschichte anpassen – von ein paar Zeilen für Oneshots bis hin zum ganzen Kapitel für romanlange Fanfictions – und ist ein gutes Mittel, um Canonfuchser wie mir den Einstieg zu erleichtern. Achten solltet ihr allerdings darauf, dass die Einführung nicht zu trocken ist. Das heißt, sie sollte nicht den Charakter eines Sachtexts haben, sondern noch immer wie eine Geschichte klingen. Eine konkrete Szene ala „Zwei Kinobesucher gehen nach dem Film noch ein Bierchen trinken und unterhalten sich", lässt sich vermutlich leichter lebendig schreiben als abstrakte Gedankengänge.

Vielleicht ist euch der losgelöste Prolog aber noch immer zu unsicher. Dann habe ich hier für euch noch ein paar besondere Tricks zusammengetragen.

Die folgenden Kniffe sind gut für „Härtefälle" geeignet, machen aus eurer Geschichte allerdings eher ein Pseudo-Altraverse. Denn sie arbeiten mit Illusion, Fantasie, Täuschung und Verwechselung. Trotzdem möchte ich sie euch als Anregung mit auf den Weg geben. Denn wenn es euch bei eurer Geschichte nur um das Gedankenspiel geht, dann könnten auch sie eine Überlegung wert sein. Bei der Umsetzung gibt es ein paar Dinge zu beachten, auf die ich am Ende des Kapitels noch eingehen werde. Ergänzungen sind vorbehalten.

Der Doppelgänger

Fandom-Eignung: Alle Arten von Fandoms

Altraverse-Eignung: Charakter-AUs

Beim ersten Trick handelt es sich um einen, den ihr anwenden könnt, wenn es für eure Fanfiction notwendig ist, dass sich eine Figur dauerhaft out of character verhält, eine ausführliche Charakterentwicklung aber den Rahmen der Geschichte sprengen würde. Anstatt dass ihr den Originalcharakter handeln lässt, übernimmt ein Doppelgänger seinen Platz, der sich in genau den Eigenschaften von der Canonfigur unterscheidet, die ihr ändern wollt. Natürlich ist dieses Unterfangen recht tricky. Es gibt einige Fragen, für die ihr euch vorher eine gute Antwort überlegen solltet: Woher kommt der Doppelgänger? Warum schlüpft er in die Rolle des Canoncharakters? Und was geschieht mit dem Canoncharakter? Bei Fandoms, in denen es keine Möglichkeit gibt, das Aussehen von Personen tiefgreifend zu ändern, kann zudem die Schwierigkeit bestehen, einen natürlichen Doppelgänger überhaupt erst zu finden. Das sind einige Hürden, jedoch nicht unüberwindbare.

Die Geschichte in der Geschichte

Fandom-Eignung: Alle Arten von Fandoms

Altraverse-Eigung: Alle Arten von AUs

Auch dieser Trick ist universal anwendbar – insofern ihr eine geeignete Figur findet. Denn hier geht es darum, dass nicht ihr das Altraverse erzählt, sondern es von einem Canoncharakter erzählen lasst. Was ihr dazu braucht ist eine Figur mit einer blühenden Fantasie, einem soliden Wissen über das, was ihr ändern wollt und einem guten Grund, sich die Geschichte anders zu denken als sie tatsächlich war. Ob ihr nun eine Figur als Erzähler einsetzt oder mehrere; ob sie tatsächlich schreiben, das Ganze tagträumen oder sich in einem Gespräch zusammenspinnen, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass für den Leser klar wird, dass das Altraverse bloß der Fantasie der Charaktere entspringt. Und wenn sich gar kein geeigneter Canoncharakter findet, lässt sich notfalls auch ein OC ins Spiel bringen. So könnte sich ein später Nachfahre Thomas', der auf einem Raumschiff arbeitet, vorstellen, wie es wäre, Thomas als Vorgesetzten zu haben. Natürlich lässt sich die Geschichte in der Geschichte auch prima als losgelöster Prolog einsetzen.

Nur geträumt

Fandom-Eignung: Alle Arten von Fandoms

Altraverse-Eignung: Welt-AUs, Charakter-AUs zum Teil (kommt auf die Art an)

Dieser Trick ist zugegeben reichlich banal, dafür ebenfalls universal anwendbar. Viele AUsreden versuchen den Canon zurechtzubiegen, indem sie ihn zur Einbildung erklären. Doch warum sollte man den Spieß nicht mal umdrehen? Auch die Änderung des Canons könnte Illusion sein. Manche Fandoms bieten Möglichkeiten zu sehr intensiven Als-ob-Situationen, man denke an das Holodeck bei StarTrek. Doch nicht nur mit High Tech, auch mit Magie lässt sich einiges anstellen. Etwas schwieriger wird es mit Reale-Welt-Fandoms. Auch hier gibt es Illusionen, ausgelöst zum Beispiel durch Drogen, Hirnschädigungen, Hypnose oder einfach Schlaf. Doch die Reichweite und Intensität von Träumen, Halluzinationen und co ist gegenüber dem Machbaren von Science Fiction High Tech und Magie oft etwas begrenzt. Nichtsdestotrotz: Machbar ist es. Und es gibt so einige Originalwerk, die damit spielen.

Reise in die Parallelwelt

Fandom-Eignung: Eher fiktive Welten

Altraverse-Eignung: Alle Arten von AUs

Der letzte Trick funktioniert zugegeben leider nur für Welten, die die Existenz eines Paralleluniversums und die Möglichkeit dort hinein zu gelangen, nicht ganz ausschließen. Das grenzt die Zahl der geeigneten Fandoms natürlich ein. Doch wenn euer Fandom dazugehört, dann wäre dies eine Anbindungsmöglichkeit, die sogar Welt-AUs und Charakter-AUs verbinden kann, ohne dass für Leser ein allzu großer Bruch entsteht. Die Idee: Durch einen technischen oder magischen Unfall gerät mindestens ein Charakter (ohne es mitzubekommen) in eine Parallelwelt. Da Parallelwelten sich in unterschiedlicher Weise von einem Originaluniversum unterscheiden können, lässt sich dieser Trick sowohl auf Charakter- wie auch auf Welt-AUs anwenden und sogar auf Kombinationen aus beidem!

Dieser Kniff bietet sich besonders dann an, wenn ihr erforschen wollt, wie sich Figuren durch die völlige Veränderung ihrer bekannten Umwelt entwickeln. Aber auch ein eher beobachtender Erzähler lässt sich in eine Parallelwelt schleusen. Bedenkt, dass die Figur, die ihr auf die Reise schickt, ihr Wissen mit an Bord hat und die Abänderungen, mit denen sie konfrontiert wird, daher nicht als selbstverständlich erleben sollte. Außerdem stellt sich auch hier die Frage, was mit dem Paralellwelt-Doppelgänger der Figur passiert.

So viel zu den Kunstkniffen der Pseudeo-AUs, die ich euch hier als Anregung mit auf den Weg geben wollte. Bevor ihr euch jetzt jedoch mit Begeisterung aufs Schreiben stürzt, gibt es auch dazu noch ein paar mahnende Worte zu sagen.

Die Grenzen des Möglichen

Erinnert ihr euch an das Kapitel darüber, wie abweichendes Verhalten einer Figur nicht out of character wirkt? Dort schrieb ich, dass ihr die Grenzen des Machbaren beachten solltet. Das Gleiche gilt auch hier. Damit eure Geschichte nicht unlogisch wirkt, solltet ihr euch immer bewusst machen, was sich mit einem Trick anstellen lässt – und was nicht. Träume beispielsweise haben nur eine gewisse „Haltbarkeit" - niemand träumt in einer einzigen Nacht die Handlung einer zehnbändigen Romanreihe. Wenn ihr also Träume für einen längeren Zeitraum einsetzen wollt, werdet ihr nicht um „Realitätspausen" herumkommen. Bei anderen Tricks ist der Kontext zu beachten. Dass Thomas, sollte er zum Geschichtenschreiber werden, sich ein großes „Fischerboot" ausdenkt, das durchs Himmelsmeer pflügt – okay. Aber dass er sich dabei ein Raumschiff vorstellt, das exakt wie die Space Shuttles des 20. Jahrhunderts aufgebaut ist, wäre vor dem zeitlichen Hintergrund reichlich merkwürdig. Wahrscheinlicher wäre wohl eine gewisse Ähnlichkeit mit Leonardo Da Vincis Flugobjekten. Oder kurz gesagt: Pseudo-AUs haben alle ihre kleinen „Realitätsmakel". Überlegt euch also gut, wo diese bei liegen, ehe ihr die Tricks anwendet.

Ein fester Platz im Plot

Die Kunstgriffe, die ich euch hier gezeigt habe, sind außerdem mit Vorsicht zu genießen, weil sie falsch angewendet auch vieles verderben können. Vielleicht habt ihr es selbst schon einmal erlebt, dass ihr eine tolle Geschichte gelesen habt, bis der Satz „und alles war nur ein Traum" euch die Sache komplett vermiest hat. So sollte es mit eurer Fanfiction natürlich nicht laufen! Ich habe euch die Ideen hier als Tricks vorgestellt, eine Brücke zum Canon zu schlagen, ja. Trotzdem gilt, dass bei einem halbherzigen Einsatz dieser Kniffe die Gefahr besteht, dass das Ganze wie ein verschämtes Anhängsel wirkt, in das der Bruch zum Canon hineingesteckt wird wie ein Gegenstand, den niemand sehen soll, in eine durchsichtige Tasche. Deswegen: Wenn ihr diese Ideen hier umsetzt, gebt ihnen auch entsprechenden Raum in eurer Geschichte. Bei einem Doppelgänger sollten dessen Motive, aufkommende Zweifel an der Identität und das Auffliegen am Ende der Fanfiction eine Rolle spielen; Bei der Reise in die Parallelwelt gilt das Gleiche für die Suche nach einer Rückkehrmöglichkeit und – sollte der Reisecharakter nicht mitbekommen haben, was passiert ist – für das Aufdecken der Reise. Träume und ähnliche Zustände zeichnen sich oft durch eine verzerrte und manchmal groteske Wirklichkeit aus und wenn ein Charakter sich immer tiefer in eine Einbildung hineinsteigert, sollte das nicht mit einem Satz abgekanzelt werden. Am „pflegeleichtesten" ist gewiss die Geschichte in der Geschichte. Doch selbst hier kann, je nachdem wie intensiv ihr diesen Trick benutzt, der Grund, warum die Figuren sich so etwas ausdenken, viel Raum einfordern. Mit anderen Worten: Verwendet diese Tricks nur dann für eure Geschichten, wenn euch die Grundidee des Pseudo-AUs gefällt. Ansonsten ist der losgelöste Prolog die bessere Wahl.

Soviel zum Thema Altraverse. Ein Thema, bei dem ich mich zugegeben ein wenig aufs Glatteis begeben habe. Trotzdem hoffe ich, dass euch meine Gedanken dazu eine Anregung waren. Und wie geht es nun weiter? Nun, eine Art Fanfictions, die sich am Rande zur Freien Arbeit bewegt, bleibt noch. Und zu dieser kommen wir jetzt...

Achtung! Dieses Akpitel wird demnächst überarbeitet. Sobald das Update erfolgt ist, verschwindet dieser Kasten.

Nun sind wir fast am Ende mit der Betrachtung der Fanfictions, die sich im Grenzbereich bewegen. Doch noch bleibt ein Kandidat übrig, den wir noch einmal genauer unter die Lupe nehmen sollten: Elsewhere Fictions.

Elsewhere Fictions? Was ist das denn?

Nun, als Elsewhere Fictions werden Fanfictions bezeichnet, die sich (fast) ausschließlich um OCs drehen. Das kann in milderen Fällen bedeuten, dass die OCs die Protas der Geschichte sind und die Canoncharaktere hin und wieder als Randfigur auftauchen. Das kann aber ebenso gut bedeuten, dass die Protas von den Canoncharakteren noch nie etwas gehört, geschweige denn sie zu Gesicht bekommen haben. Anders als bei AUs heißt das aber nicht, dass Elsewhere Fictions etwas am Canon abwandeln oder ersetzen. Sie haben eher kaum Bezug zu Handlung und Charakteren. Wie das sein kann? Nun, indem sich die OCs an anderen Orten oder in anderen Zeiten bewegen als die Canoncharaktere der Originalgeschichte. Während die Handlung des Canons also beispielsweise im Jahre 1822 im Westen des Landes angesiedelt ist, würde die Elsewhere Fiction vielleicht 1978 im Norden spielen. „Was bleibt dann noch vom Werksbezug?", lautet die berechtige Frage. Die Antwort ist: die Hintergrundwelt. Und das kann mitunter zum Problem werden...

Zwischen Welt und Charakteren

Elsewhere Fiction hat mit ähnlichen Vorurteilen zu kämpfen wie Altraverse. Den Vorwurf, dass sich Schreiberlinge aus Bequemlichkeit und Ideenmangel bei einem fremden Werk bedienen, gibt es auch hier. Im Gegensatz zu Altraverse fällt es mir hier jedoch leichter zu erklären, woher dieser Eindruck kommt.

Manche Elsewhere Fictions sind nur noch durch das geteilte Universum mit dem Bezugswerk verbunden. Wenn die gemeinsame Hintergrundwelt für die Geschichte dann aber keine große Rolle spielt, kann es sein, dass es im Grunde genommen gleichgültig ist, ob die Geschichte nun eine Fanfiction oder eine Freie Arbeit ist. Die wenigen Fragmente werden in diesem Fall ebenso leicht austauschbar wie bei AUsreden.

Insbesondere besteht diese Gefahr dann, wenn die Fanfiction eher charakterzentriert ist, wie bei Romanzen, Familiengeschichten und co.

Dazu mal ein Beispiel:

Katharina und Oliver besuchen die Babajaga Schule für Magie. Sie haben einen Stundenplan, auf dem so schöne Dinge wie ‚Elementarzauberei', ‚Weissagen' oder ‚Hexengärtnern' stehen. Doch die Fächer sind eigentlich Nebensache. Denn die Fanfiction ist ein Tagebuchroman, bei dem Oliver und Katharina abwechselnd schreiben, wie verliebt sie ineinander sind und wie sehr sie aneinander denken müssen. Nur hin und wieder taucht mal ein Satz auf, wie „als du heute den Feuerdämon beschworen hast, da hatte ich echt Angst um dich".

Im Grunde genommen ist es bei dieser Geschichte egal, ob Katharina und Oliver die Babajaga Schule besuchen oder irgendeine andere Schule für Hexen und Zauberer. Es ist sogar egal, ob sie überhaupt Zauberei lernen. Sie könnten genauso gut eine Schauspielschule besuchen oder die Realschule in der nächsten Kleinstadt. Denn die Magie ist nur Hintergrundmalerei und damit leicht zu ersetzen.

Doch selbst wenn der Zauberunterricht in dieser Geschichte häufiger beschrieben würde, ist damit noch immer nicht gesagt, dass die Fanfiction sich auf sicherem Boden bewegt. Elementarmagie zum Beispiel gibt es in mindestens jedem zweiten Fantasyroman. Und Schüler, die sie lernen, in gefühlt jedem dritten. Zwar ist der Werksbezug bezüglich der Hintergrundwelt hier technisch gesehen weniger in Gefahr als bei Abwandlungen. Trotzdem kann beim Leser Unverständnis darüber aufkommen, warum die Geschichte nicht als Freie Arbeit geschrieben wurde, wenn sie nur Dinge verwendet, die auch in jedem anderen Werk des Genres vorkommen.

Elsewhere Fiction muss sich also ebenso wie Altraverse der Frage stellen: Warum wurde die Geschichte gerade diesem Fandom zugeordnet? Und wie dort ist „weil mir bestimmte Dinge am Universum gelegen kamen" die falsche Antwort - oder zumindest nicht ganz ausreichend.

Halten wir fest: Wenn die Canoncharaktere als Bindeglied zum Bezugswerk wegbrechen, kommt es umso mehr auf den Faktor Welt an. Zwar gibt es Sonderfälle, auf die ich hier nicht eingehen werde, doch kann als prinzipielle Stoßrichtung gelten: Wenn nur die Welt übrig bleibt, sollte die Welt auch die Hauptrolle spielen. Und zwar jene Seiten der Welt, die gerade für dieses Fandom typisch sind. Bei einer guten Elsewhere Fiction steht das also Universum mit seinen spezifischen Eigenarten im Zentrum. Doch was heißt das eigentlich? Und wie kann eine Welt im Mittelpunkt stehen?

Schauen wir uns dazu mal an, wer in Elsewhere Fictions technisch gesehen die Hauptfiguren sind. Dann haben wir es mit Charakteren zu tun, die sich der Schreiberling selbst ausgedacht hat. Zu OCs gab es ja schon einen Themenblock. Doch ein wenig Wiederholung kann nicht schaden. In guten Fanfictions sind OCs in erster Linie Werkzeuge für die Geschichte. Das heißt nicht, dass sie uninteressant sein müssen, nur Nebenrollen bekommen sollten oder keine eigenen Plots wie Romanzen erleben dürften. Nein, damit ist gemeint, dass sie Teil einer spannenden Geschichte sind und die Geschichte nicht nur existiert, um die OCs zu präsentieren.

Wenn ihr euch an die Kapitel zu OCs erinnern könnt, schrieb ich dort, dass sich OCs dann anbieten, wenn sich Canoncharaktere nicht sinnvoll für eine bestimmte Aufgabe einsetzen lassen. Die andere Seite der Medaille ist, dass in OCs auch ein großes Potential schlummert. Das Potential nämlich, das Universum und die Geschichte aus einem Blickwinkel zu betrachten, der anders nicht möglich wäre. OCs sind wie gemacht dafür, ihre Nase in Angelegenheiten zu stecken, von denen die Canoncharaktere, wenn überhaupt, nur am Rande Wind bekamen. Wer in einer anderen Zeit lebt, an einem anderen Ort wohnt und in anderen Kreisen verkehrt, hat Gelegenheit, Dinge zu sehen, zu hören und zu erleben, die anderen entgehen.

Und damit bin ich bei Elsewhere Fictions.

Gemäß des Mottos, dass gute Fanfictions dem Leser noch etwas Neues über das bekannte Werk erzählen und dass die Welt hier im Mittelpunkt stehen sollte, lässt sich die Quintessenz guter Elsewhere Fictions in einem Wort zusammenfassen: Ergänzung.

Und zwar geht es um eine Ergänzung des Wissens über die Hintergrundwelt. OCs sind die idealen Schlüssel, um ein Wissen über die Welt ans Licht zu bringen, das den Canoncharakteren und somit auch dem Leser im Bezugswerk verschlossen blieb.

Weil das alles sehr abstrakt war, mal ein Beispiel:

In einem Science Fiction Roman gibt es eine Alienrasse, die sich Hooklouks nennen und über die kaum mehr bekannt ist als ihr Aussehen und dass seit vielen Jahrhunderten ein Raumschiff im All unterwegs ist, das andere Planeten auskundschaftet. Die Fanfiction dreht sich um Boldan, einen Hooklouks-Jungen, der auf dem Raumschiff aufwächst. Der Leser erfährt einiges über Boldans Leben: persönliche Dinge, wie über den Konflikt mit seinem Vater oder seine unerwiderte Liebe zum Jungen aus der Nachbarunterkunft, aber auch über die Lebensweise der Hooklouks – dass sie eine Königin haben, was ihre hohen Festtage sind, welche Aufgaben die Männer und welche die Frauen haben und letztendlich auch, warum sie fremde Planeten auskundschaften. Denn die Hooklouks haben es geschafft, ihren Heimatplaneten zu zerstören und suchen nun ein neues Zuhause. Und diese Suche ist das Kernthema der Geschichte.

In diesem Beispiel dient die Fanfiction zwei Zwecken: Zum einem, um Boldans persönliche Geschichte zu erzählen. Zum anderen aber auch, um Licht ins Dunkel zu bringen, was das Leben und die Ziele der Hooklouks angeht. Damit erzählt sie etwas Neues über die Hintergrundwelt und beantwortet eine offene Frage: Warum reisen die Hooklouks durchs All und kundschaften Planeten aus?

Und so wie mit unserem Beispiel, sollte es auch mit anderen Elsewhere Fictions sein. Gute Fanfictions dieses Genres werfen ein Licht auf Aspekte der Welt, die im Canon im Schatten geblieben sind. Dabei kann „Hintergrundwelt" sehr vieles bedeuten: Die Lebensweisen bestimmter Völker gehören beispielsweise ebenso dazu wie die Entstehungsgeschichten entscheidender Erfindungen oder politische Umbrüche in der Chronik des Bezugswerks. Falls ihr euch nicht vorstellen könnt, wie das genau aussehen soll, keine Sorge: Im Anschluss an dieses Kapitel, wird es noch eine Ergänzung mit zahlreichen Anregungen geben, die genauer erklären dürften, was „Hintergrundwelt" so alles umfassen kann.

Jedenfalls lassen sich Elsewhere Fictions, die darauf ausgelegt sind, solche oder ähnliche Lücken zu schließen, schwerer in eine Freie Arbeit umwandeln. Denn Geschichten, die sich im Kern darum drehen, offene Fragen zu beantworten oder sich anzusehen, wie Dinge, die der Canon andeute, sich weiter entwickeln, verlieren ohne das Bezugswerk ihren Sinn.

Die eher unbefriedigenden Elsewhere Fictions, die ich bisher gelesen habe, benutzen das Universum dagegen mehr als Bühne für ihre Geschichte. Das heißt, sie stellten die Welt zwar mehr oder weniger korrekt dar, aber es spielte im Grunde genommen keine Rolle, dass die Geschichte gerade in diesem Fandom angesiedelt war. Statt um neue Erkenntnisse und Entwicklungen in der Welt drehten die Geschichten sich maßgeblich um die „Privatplots" der Protagonisten und das Universum war nicht mehr als ein schönes Hintergrundbild wie im Eingangsbeispiel.

Was ihr tun könnt?

Nun, wenn ihr eine gute Elsewhere Fiction schreiben wollt, solltet ihr euch eines merken:

Elsewhere Fictions sind dazu da, neue Aspekte des Universums ans Tageslicht zu bringen

Das kann in der Form geschehen, dass die OCs ganz neue Geschichten erleben (zum Beispiel einen politischen Umsturz) oder Hintergründe der Geschichte des Canons aufgedeckt werden (siehe das Beispiel um die Hooklouks). Persönliche Plots eurer Charaktere, wie Romanzen oder Familiengeschichten, sind natürlich okay – aber nicht ausreichend.

Bedenkt: Nur um eine Liebes- oder Familiengeschichte zu erzählen, braucht ihr kein bestimmtes Universum, das über seine ganz speziellen Eigenarten verfügt. Herzklopfen lässt sich sowohl auf der Brücke eines Raumschiff wie auf den Planken eines Piratenseglers empfinden. Etwas anderes ist es natürlich, wenn zwei hochranginge Angehörigen verfeindeter Alienrassen sich ineinander verlieben und ihr Kampf um ihre Liebe den Krieg beendet. In diesem Fall hat es einen erkennbaren Grund, warum die Geschichte gerade in diesem Fandom spielt.

Die Eigenarten des Universums sollten also mindestens eine ebenso große Rolle in eurer Geschichte spielen. Falls ihr euch unsicher seid, könnt ihr eure Fanfiction mit folgender Frage selbst überprüfen:

Dreht sich meine Geschichte um etwas, das es wert wäre, in einem Reiseführer, Geschichtsbuch ect. über die Welt abgedruckt zu werden?

Lautet eure Antwort nein, dann heißt es zurück ans Reißbrett und weitere Ziele und neue Handlungsstränge plotten. „Neue Aspekte" bedeutet natürlich nicht, dass ihr das komplette Universum so auf den Kopf stellen sollt, dass man es nicht mehr wiedererkennt. Neu heißt in diesem Fall einfach nur eine sinnvolle Ergänzung der Welt, wie sie das Bezugswerk darstellte. Offene Fragen, schwelende Konflikte oder unabgeschlossene Entwicklungen beispielsweise können ein guter Anhaltspunkt sein. Und falls ihr noch Anregungen sucht, folgt jetzt in der Ergänzung noch ein ganzes Kapitel mit Denkanstößen.

Ansonsten schließe ich hier den offiziellen Teil dieses Themenblocks und mit ihm die Beschäftigung mit den inhaltlichen Aspekten von Fanfictions. Im nächsten Themenblock wenden wir uns einem völlig neuen Themengebiet zu. Seid ihr schon gespannt? Ich auch!

Bis demnächst!

Wie versprochen gibt es zum Abschluss hier noch einige Anregungen, wie ihr eure Elsewhere Fiction „pimpen" könnt, falls sie noch ein paar Verbesserungen bedarf. Wie ich im letzten Kapitel schrieb, liegt das große Potential von Elsewhere Fictions in meinen Augen vor allem darin, die Welt zu ergänzen. Ergänzung heißt natürlich nicht nur Lückenfüllen - auch eine Weiterentwicklung des Universums ist denkbar. Und weil die Welt sich aus vielen Puzzleteilen zusammensetzt, habe ich die Ideen hier ein wenig sortiert. Ich hoffe, dass dadurch auch einigen, die vielleicht noch nicht wissen, was sich mit Elsewhere Fictions anstellen lässt, die Sache etwas klarer wird. Unter „sonstige Anregungen" findet ihr auch ein paar Anstöße zu den Sonderfällen, auf die ich im letzten Kapitel nicht eingegangen bin. In diesem Sinne: Auf eine produktive Zeit!

Anregungen zur Chronik des Universums

Gibt es ungeklärte Rätsel in der Geschichte der Welt?

Gibt es in der Chronik der Welt politische oder gesellschaftliche Umbrüche, die im Canon zwar erwähnt aber nie auserzählt wurden? (Zum Beispiel wie Frauen das Wahlrecht erstritten)

Gibt es in der Chronik des Universums „dunkle Zeitalter", über die nur Vages bekannt ist?

Wie sah die Welt wohl in grauer Vergangenheit aus?

Wie wird die Welt in ferner Zukunft aussehen?

 

Anregungen zu Gesellschaft, Kultur und Politik

Gibt es Völker, über deren Kultur/Gesellschaft/Geschichte man nur wenig weiß?

Gibt es gesellschaftliche Strukturen, die zu Problemen, Konflikten und Umbrüchen führen könnten (zum Beispiel, eine unterdrückte Gruppe wagt den Aufstand)?

Gibt es Gepflogenheiten, deren Ursprung unklar ist (Zum Beispiel, warum ein bestimmtes Fest gefeiert wird)?

Herrschen in allen Teilen des Universums die gleichen Gesetze und Gepflogenheiten? Oder geht es im Westen ganz anders zu als im Osten?

Gibt es Systeme im Universum, deren Hintergründe im Canon noch unklar sind (Zum Beispiel, wie die Rechtsprechung funktioniert oder wie ein neuer Herrscher bestimmt wird)?

Gibt es im Canon irgendwelche besonderen Gruppen, bei denen es spannend wäre, mehr über ihr Leben zu erfahren? (Zum Beispiel die Zunft der Raumfahrtkonstrukteure oder ähnliches)

 

Anregungen zu Erfindungen

Gibt es irgendwelche außergewöhnlichen Artefakte, Gerätschaften oder andere Erfindungen, bei denen es spannend wäre, mehr über ihre Geschichte zu erfahren?

Gab es im Canon irgendwelche Forschungen, die in Zukunft zu bahnbrechenden Erfindungen führen könnten?

Wie könnte die Magie, Technik, Medizin ect. der Welt sich weiterentwickeln?

 

Anregungen zu Orten, Natur und Weltregeln

Gibt es irgendwelche Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Welt, deren Hintergründe im Canon nicht ganz klar wurden? (Zum Beispiel: Warum Silber Magie isoliert)

Gibt es im Universum Pflanzen oder Lebewesen, über man noch mehr erfahren könnte?

Gibt es im Canon mysteriöse Orte, deren Geheimnisse nicht gelüftet worden sind?

 

Sonstige Anregungen

Gab es in der Handlung des Bezugswerks Ereignisse, deren Folgen nicht genügend belichtet wurden? (Zum Beispiel: Der Wiederaufbau nach dem Krieg)

Gab es in der Handlung des Bezugswerks Ereignisse, deren Vorbedingungen nicht ganz klar wurden oder die jenseits der Bildfläche stattfanden?

Hat ein Canoncharakter ein Geheimnis, das ein OC in einer anderen Zeit ans Tageslicht bringen könnte? (Z.B. Enkelin wühlt die Jugend ihrer verstorbenen Großmutter auf)

Das war es soweit mit den Anregungen, um eure Fanfiction wieder ins Boot des Werksbezugs zu holen. Bleibt nur noch eine Frage: Wie setzt man das Ganze nun um? Wie kann man mit diesen Ideen die eigene Geschichte aufpeppen? Nun, ein Beispiel gab es ja schon im letzten Kapitel. Ziel ist es, sowohl die persönlichen Plots eurer OCs wie auch die nennen wir sie Weltthemen miteinander zu verknüpfen.

Vielleicht sind die Protagonisten eurer Liebesgeschichte ja Zeitzeugen eines Aufstands und finden erst durch diese politischen Wirren zueinander?

Oder die Mutter aus eurer Familiengeschichte ist die Erfinderin eines magischen Artefakts und erfindet es überhaupt erst, um ihre Familie zu retten?

Mit anderen Worten: Legt etwas, was ihr über das Universum wissen wollt als ein Thema eurer Fanfiction fest und überlegt, welche Anknüpfungspunkte es zwischen beiden geben könnte. Dann plottet ihr darauf aufbauend eure Geschichte.

Natürlich klingt das in Theorie viel einfacher als es in der Praxis ist. Doch wenn ihr Geduld habt, werden euch sicher ein paar Ideen kommen.

So viel zu den Anregungen für Elsewhere Fictions. Viel Spaß beim Schreiben!

Nachdem wir den Themenblock „Besondere Fanfictions" abgeschlossen haben, der zugegeben schon ein bisschen Stoff für höhere Semester war, seid ihr sicherlich gespannt, um welches Thema ich mich als nächstes kümmern werde. Bevor ich jedoch im Programm weitermache, habe ich entschieden, an dieser Stelle eine kleine Pause einzulegen, um euch auf das Kommende einzustimmen. Denn wir haben an dieser Stelle einen entscheidenden Wendepunkt in diesem Ratgeber erreicht:

Die inhaltliche Beschäftigung mit Fanfictions ist beendet.

Das heißt, sollte mir einfallen, dass ich dazu noch ein paar inhaltliche Themen vergessen habe, werden diese als Exkurse oder Ergänzungen zwischen die bisher veröffentlichten Kapitel eingefügt, wirklich weiter geht es damit jedoch nicht.

Ich sehe die Fragezeichen in euren Augen. Ihr überlegt euch: „Soll das heißen, dass der Ratgeber jetzt zu Ende ist und dies das letzte Kapitel war?"

Die Antwort darauf lautet: Nein, natürlich nicht.

Doch ich werde mich jetzt einem ganz neuen, ganz anderem Thema zuwenden, das aber für eine gute Geschichte ebenso wichtig ist wie der Inhalt:

Im nächsten Themenblock geht es um Stilfragen

Wir werden uns in den folgenden Kapiteln also ansehen, wie ihr eure Fanfiction nicht nur nachvollziehbar aufbauen könnt, sondern ihr auch eine schöne Form gebt, Spannung hinein bringt und vieles mehr. Dabei bleibt es durchaus fanfictionspezifisch. Denn es gibt tatsächlich Stilsünden, die ich bisher nur bei Fanfictions gesehen habe - oder sagen wir besser bei virtuellen Geschichten wie man sie auf Plattformen wie Wattpad findet. Andere Tipps, Tricks und Themen betreffen dagegen eher das Geschichtenschreiben im Allgemeinen. Und an manchen Stellen werde ich noch einmal Dinge aufgreifen, die ich in früheren Kapiteln nur gestreift habe.

Allen, die sich vom letzten Themenblock ein bisschen überfordert fühlten, kann ich sagen, dass der Stoff jetzt wieder etwas leichter werden wird, zumindest vorerst. Denn auch Stil hat mitunter seine Tücken, doch dazu kommen wir erst später. Themen, die euch hier erwarten werden, sind unter anderem:

Worauf sollta man bei Kurzbeschreibungen achten?

Wie gestaltet man Sichtwechsel am besten?

Was unterscheidet einen Cliffhanger von einem offenen Ende?

Und noch vieles mehr. In welcher Reihenfolge ich welche Themen behandeln werde, möchte ich an dieser Stelle noch nicht preisgeben. Doch seid sicher: Es werden noch etliche Kapitel voller Tipps, Tricks und Ratschläge folgen. Freut euch also auf einen ebenso interessanten neuen Teil des Ratgebers.

Den Beginn macht eine jener Stilsünden, die mir bisher nur in Fanfictions und Konsorten begegnet ist und die Haare so etlicher Fanfictionleser zu Berge stehen lässt. Ihr zittert? Nicht mehr lange, denn schon beim nächsten Klick geht es los!

Willkommen zurück zum ersten Kapitel des neuen Themenblocks „Stil". Schlechten Stil gibt es in gedruckten Büchern ebenso wie in E-Books, bei verlegten Werken ebenso wie bei Hobbyliteratur. Manche Stilsünden jedoch werden erstaunlicherweise fast ausschließlich von Fanfiction-Schreiberlingen begangen. Heute möchte ich mich einer dieser Stilsünden annehmen, die mir schon in so unendlich vielen Fanfictions begegnet ist und die jede Geschichte unnötigerweise verdirbt. Wovon ich rede? Vom Hang zu Sonderzeichen und Codes.

Meist beginnt es schon mit einer Legende im Vorwort, die in etwa so aussieht:

„" = normal sprechen

** = flüstern

‚' = denken

~~ = Italienisch

++ = telepathisches Gespräch

Liest man sich dann in die ersten Kapitel ein, wird man von Erscheinungen überrannt, die man eher in einem Handbuch für Programmiersprache vermutet hätte: Rückblenden werden von „FLASHBACK" und „FLASHBACK ENDE" oder sogar „/FLASHBACK" eingerahmt, Perspektivenwechsel durch „Figur Xs POV" eingeleitet.

Der Fließtext sieht dann in etwa so aus:

Ich saß am Tisch und starrte auf meine Erbsensuppe. Ich hatte keinen Appetit. Meine Oma Renate beugte den Kopf zu ihr herüber.

Renate: *Gibst du mir das Salz, Liebling?*

Ich: ‚Alles doof'.

Missmutig reichte ich meiner Oma das Salz. Eigentlich wollte ich nicht hier sein. Viel cooler wäre es, wenn ich bei Luigi sein könnte.

----- FLASHBACK ------

~He, alles klar?~ Der Junge, der aus dem Wasser steigt, ist bestimmt schon 18, muskulös und braungebrannt. Er lächelt mich an und ich merke, wie meine Knie weich werden. „Ja, ich warte nur auf meine Eltern", sage ich und werde rot, weil ich mich schäme. Der Junge scheint das nicht zu bemerken. Er lächelt noch immer. ~Dann sehen wir uns also noch öfter?~, fragt er.

----- FLASHBACK ENDE ------

Wenn ihr selbst so schreibt, werdet ihr euch jetzt vielleicht fragen, warum das falsch sein soll. Nun, ich will es euch sagen:

Eure Geschichten werden dadurch unleserlich.

Das heißt, natürlich lässt sich aus einem solchen Text noch der Sinn entziffern. Aber: Ein Wust an Sonderzeichen und Codes bremst den Lesefluss aus. Und das ist tödlich für jedes Lesevergnügen.

Bedenkt Folgendes: Bei einem guten Leseerlebnis vergisst man nach einer Weile, dass man liest. Man nimmt die Worte zwar auf, in Gedanken jedoch formen sie sich zu Bildern, Geräuschen, Szenen. Oder anders gesagt: Man tagträumt, während das eigentliche Leser mehr oder weniger beiläufig und automatisch geschieht. Um diesen Zustand zu erreichen, ist es aber wichtig, dass der Text leicht zu lesen ist. Dazu bedarf es runder Sätze und Worte, die die Fantasie anregen. Ist ein Text flüssig, gleitet man dahin wie auf Schlittschuhen. Das eigentliche Lesen gerät in den Hintergrund und das Träumen beginnt. Sonderzeichen und Codes dagegen, wie das beliebte FLASHBACK, sind wie Stolpersteine auf der Eisbahn. Sie transportieren keine oder die falschen Bilder und die auffällige Schreibweise sticht heraus wie ein Felsbrocken aus der Oberfläche eines zugefrorenen Sees. Man gerät ins Schlingern und muss sich neu orientieren. Das Ergebnis: Man kommt nicht in den Fluss hinein und das Lesen wird mühsam. Zudem ist ein solcher Text auch optisch einfach unschön und strengt die Augen an. Auf Dauer können diese Mühen dazu führen, dass jemand die Geschichte komplett abbricht.

Und das nur wegen einer beliebten Marotte, die oft noch nicht einmal ihren Zweck erfüllt!

Denn sein wir ehrlich: Kaum jemand merkt sich über einen längeren Text hinweg die Bedeutung von zig Sonderzeichen, nicht einmal alle Schreibenden selbst. In etlichen Fanfictions tauchen diese ganzen Sterne, Kreuze, Schlangenlinien und co. erstaunlicherweise nur sporadisch auf, wenn jemand flüstert, denkt, italienisch spricht oder Telepathie benutzt. All diese Sonderzeichen und Codes sind demnach nur schädlich und unnütz.

Was könnt ihr tun?

Wenn ihr eine schöne Geschichte schreiben wollt, solltet ihr euch eines merken: Euer wichtigstes Werkzeug ist Sprache, nicht die Tastatur. Es gibt ein begrenztes Maß an optischen Markern, die in einer Geschichte okay sind, wie zum Beispiel Kursivschrift und sehr, sehr selten vielleicht auch vereinzelte Textpassagen in Großbuchstaben (zum Beispiel als Überschrift eines Zeitungsartikels). Ansonsten gilt: Finger weg von solchen Spielereien.

Geschichten müssen auch dann wirken, wenn sie vorgelesen werden. Beim Vorlesen allerdings werden Satzzeichen nicht mitgesprochen und so auch nicht all die Gänsefüßchen, Schlangenlinien, Kreuze oder welche Zeichen auch immer ihr für eine bestimmte Sprechweise einsetzt. Vorlesen ist sowieso ein gutes Stichwort. Wenn ihr wissen wollt, wie flüssig eure Geschichte ist, dann lest sie euch laut vor. Oder noch besser: Lasst sie euch von einer Freundin oder einem Freund laut vorlesen. Ich bin mir sicher, dass auch ihr merken werdet, dass „Ich wäre lieber bei Luigi Fläschbäck He alles klar" irgendwie nicht ganz rund klingt.

Doch lassen wir die Kritik und schauen wir uns an, wie ihr Sichtwechsel, Rückblenden und verschiedene Sprechweisen eleganter einbringen können. Den Anfang machen verschiedene Sprechweisen.

 

Von Gedanken, Gesprächen und wörtlicher Rede

Vorab: Markierungen für Gesprochenes und Gedachtes sind natürlich nicht per se schlecht. Wörtliche Rede wird beim Schreiben mit Redezeichen markiert. Das haben wir alle in der Schule gelernt und hat auch seinen Sinn. Denn ohne ein gewisses Maß an Satzzeichen wären Texte ein heilloses Chaos.

Doch mit den Redezeichen bei wörtlicher Rede hat sich die Sache auch schon fast wieder erledigt. Manchmal kann es zugegeben Sinn machen, auch Gedanken zu markieren. Beispielsweise dann, wenn eine wörtliche Rede im Geiste ergänzt wird oder um zu verhindern, dass bei der allwissenden Perspektive die Gedanken der Charaktere mit der Stimme des Erzählers verwechselt werden. Doch schon der Personale Erzähler und die Ich-Perspektive kommen oft auch gut ohne das aus.

Hier ein Beispiel: Olaf wandte sich ab. Konnte Ben ihn nicht einmal in Ruhe lassen? So ein Arsch!

Jeder, der diese Passage liest, weiß, dass es sich beim zweiten und dritten Satz um Olafs Gedanken handelt. ‚Ich könnte auf Redezeichen verzichten', dachte der Fanfictionautor – Sätze wie dieser sind also nur in ganz bestimmten Situationen notwendig.

Noch überflüssiger sind verschiedene Sonderzeichen aber, wenn es um wörtliche Rede geht. Es gibt es keinen einzigen Fall, in dem es nötig wäre, Sterne, Kreuze und co. zu bemühen, um verschiedene Sprechweisen darzustellen.

bellen, brüllen, flüstern, hauchen, krächzen, murmeln, nuscheln, lallen, lispeln, plappern, rufen, schwafeln, schnarren, schreien, stottern, wispern, zischen

All diese Verben und noch viele mehr beschreiben bestimmte Arten des Sprechens. Und sie alle passen, entsprechend dekliniert, vor, hinter und zwischen eine wörtliche Rede mit gewöhnlichen Gänsefüßchen, wie ihr es in der Schule gelernt habt. Ihr braucht also keine zig Sonderzeichen, um zum Beispiel anzuzeigen, wann ein Charakter flüstert und wann er in Zimmerlautstärke spricht. Sonderzeichen verwirren hier nur. Und was noch schlimmer ist: Sie vermitteln keine Atmosphäre. „Wir sehen uns wieder", hauchte John – ein solcher Satz erzeugt Gänsehaut. Man spürt den Hauch fast selbst im Nacken. Tauscht man die Redezeichen jedoch gegen Sterne aus und streicht das Verb, sieht der Satz nur merkwürdig aus. John: *Wir sehen uns wieder* - das ist trocken wie Stroh und weckt keinerlei Emotionen.

Deswegen: Schmeißt die Sonderzeichen in den Mülleimer und macht euch mit der Vielfalt der Verben für menschliche Sprache vertraut. Falls eines davon euch noch nicht ganz passen sollte, könnt ihr es ja mit einem Adjektiv ergänzen: „Alles nicht so toll", murmelte Jens betrübt.

Und ganz besondere Arten zu kommunizieren, wie zum Beispiel Telepathie, lassen sich auch umschreiben:

„Achtung, er hat uns bemerkt", erklang Jennys Stimme in meinem Kopf. Ihre Lippen hielt sie fest verschlossen. Wir konnten es in der Öffentlichkeit nicht riskieren, tatsächlich miteinander zu sprechen.

„Ja, das sehe ich", antwortete ich in Gedanken und beobachtete wie ihr Gesicht sich verdüsterte.

Von hier ab kann das Gespräch einfach weiterlaufen, bis es beendet ist oder durch tatsächliche Rede unterbrochen wird. Denn der Leser hat durch die Informationen im Text verstanden, dass es hier um einen telepathischen Dialog geht.

Und was ist mit dem Italienisch aus unserem Beispiel?

Nun, auch Sprachen lassen sich ganz simpel und ohne Sonderzeichen einbringen: „He, alles klar?", sprach mich jemand auf Italienisch an. Seht ihr: Geht ganz easy!

Ihr habt alle in der Schule gelernt, wie wörtliche Rede und Dialoge aufzubauen sind und sicher auch mehr als ein Verb für Sprechweisen kennengelernt. Dann nutzt dieses Wissen doch auch in euren Geschichten!

 

Die richtige Rückblende

Das Gleiche gilt für Rückblenden. Ich möchte das Deutschbuch sehen, in dem steht, dass Rückblenden durch ‚Flashback' in Großbuchstaben eingeleitet werden. Ich bin mir sicher, es existiert nicht. Wie also funktioniert die Sache richtig?

Zunächst solltet ihr euch wieder ein paar Verben und Formulierungen merken:

Sich erinnern, zurückdenken, einfallen, in den Sinn kommen, an etwas denken, in Erinnerungen schwelgen, ins Gedächtnis rufen und so weiter, sowie das kleine Wörtchen wieder in Kombination mit hören, sehen, riechen und co.

Diese Worte und Formulierungen sind die Bausteine für eine wesentlich elegantere Einleitung einer Rückblende. Ihr braucht kein riesiges ---- FLASHBACK ---, wenn ihr einen Satz wie „Ich schloss die Augen und dachte zurück an den letzten Sommer" habt. Jeder, der so etwas liest, weiß, dass nun eine Rückblende folgt. Diese könnt ihr dann mit einem neuen Absatz beginnen, um ihren Beginn klar zu markieren.

Eure Rückblende müsste nun, wenn ihr eure Geschichte in der ersten Vergangenheit schreibt, korrekterweise in der dritten Vergangenheit verfasst werden: Der Junge, der aus dem Wasser gestiegen war, hatte mich angelächelt.

Nun ist die dritte Vergangenheit zugegeben nicht sonderlich attraktiv. Ein Text, der in einem Meer aus ‚war' und ‚hatte' ertrinkt, schreibt sich schwer und liest sich nicht schön. Vor allem liest er sich umständlich und hemmt daher auch schnell den Lesefluss. Deswegen ist es meiner Meinung nach erlaubt, bei Rückblenden ein wenig zu tricksen. Zum festen Fundus solcher Tricksereien gehören Zeitangaben, konkrete ebenso wie vage: damals; vor einem Jahr; früher; an diesem Tag; am 6. März 2002, in meiner Kindheit; vor langer Zeit usw.

Mit dem Einsatz solcher Zeitangaben lässt sich ein Textabschnitt als der Vergangenheit zugehörig markieren, auch dann, wenn er im Präteritum oder gar in Gegenwartsform geschrieben ist. Und wer ganz sicher gehen will, dass seine Rückblende auch als Rückblende verstanden wird, kann sie in Kursivschrift schreiben. Das würde ich allerdings nur empfehlen, wenn eure Geschichte nicht zu viele Rückblenden enthält. Denn ein ständiger Wechsel zwischen Kursiv- und Normalschrift ist auch anstrengend.

Am Ende der Rückblende folgt, nein kein unsägliches --- FLASHBACK ENDE ---, sondern wieder nur ein simpler Absatz und es geht weiter im Text.

Ihr seht also, auch Rückblenden sind gar nicht so schwer und gehen ganz ohne Codes.

Und wie sähe unser Beispieltext nach diesen Tipps aus? Nun, vielleicht so:

Ich saß am Tisch und starrte auf meine Erbsensuppe. Ich hatte keinen Appetit. Meine Oma Renate beugte den Kopf zu mir herüber.

„Gibst du mir das Salz, Liebling?", säuselte sie. Missmutig reichte ich ihr das Salz. So doof war das alles! Eigentlich wollte ich nicht hier sein. Viel cooler wäre es, wenn ich bei Luigi sein könnte. Ich schloss für einen Moment Augen und sah wieder den Strand vor mir.

Es ist der letzte Tag der Sommerferien. „He, alles klar?", ruft mir jemand auf Italienisch zu. Der Junge, der aus dem Wasser steigt, ist bestimmt schon 18, muskulös und braungebrannt. Er lächelt mich an und ich merke, wie meine Knie weich werden. „Ja, ich warte nur auf meine Eltern", sage ich und werde rot, weil ich mich schäme. Der Junge scheint das nicht zu bemerken. Er lächelt noch immer. „Dann sehen wir uns also noch öfter?", fragt er, wieder in seinem süßen Italienisch.

Fazit: Wenn ihr wollt, dass eure Leser mit eurer Geschichte „mitschwimmen" können, dann formuliert Rückblenden aus und verwendet für wörtliche Rede passende Verben und Adjektive. Aber stört niemals den Lesefluss durch einen Wust aus Sonderzeichen und Codes! Das gilt auch für Autorenkommentare und Links. Diese haben im Fließtext nichts zu suchen. Wenn ihr das Verhalten einer Figur kommentieren oder euren Lesern unbedingt einen Link zeigen wollt, dann schreibt das nicht in Klammern hinter den Satz, sondern in einen Extraabsatz an den Anfang oder das Ende eures Kapitels!

So viel zum Thema Sonderzeichen, Codes und Lesefluss. Sicher werdet ihr bemerkt haben, dass ich gar nicht auf Perspektivenwechsel eingegangen bin. Das werde ich jedoch gleich nachholen. Denn da das Thema Perspektivenwechsel ein wenig komplexer ist, gibt es dafür ein eigenes Kapitel.

Der Sichtwechsel ist ein besonderes Sorgenkind und das nicht nur, weil „Charakter Xs POV“ ebenfalls aus dem Lesefluss reißen kann. Denn in Fanfictions gibt es mit Sichtwechseln oftmals noch mehr Probleme, als dass sie durch unschöne Codes angezeigt werden. So nehme ich bei vielen Fanfictions oft eine große Unsicherheit darüber wahr, was aus wessen Sichtweise erzählt werden soll. Und oft endet das Ganze in langweiligen Wiederholungen.

Doch bevor wir zu einer besseren Alternative kommen, stellt die eine große Frage:

Wozu ist ein Sichtwechsel überhaupt nötig?

Das heißt, warum sollte die Schilderung von einem Charakter zum anderen schwenken und der Wechsel noch groß durch ein „Charakter Xs POV“ angekündigt werden?

 

POV und Erzählperspektiven

Denn, um ehrlich zu sein: Viele Probleme mit Sichtwechseln scheinen mir hausgemacht zu sein. Hausgemacht durch eine unglückliche beziehungsweise falsche Anwendung von Erzählperspektiven. 

Erinnern wir uns zurück an das Kapitel über die verschiedenen Erzählperspektiven zu Beginn des Ratgebers, dann fällt auf, dass in vielen Erzählperspektiven gar keine Perspektivwechsel vorgesehen sind. Der Ich-Erzähler, der personale Erzähler und der neutrale Erzähler – sie alle schildern die Geschichte aus einer Perspektive. Der allwissende Erzähler hat zwar Zugang zu den Innenwelten aller Charaktere, was als Sichtwechsel empfunden werden kann, ist letztendlich aber auch nur eine Perspektive. Die einzige Erzählperspektive, die tatsächlich mit verschiedenen Erzählern aufwartet, ist der multipersonale Erzähler.    

Nun gibt es aber etliche Fanfictions, die mit zwei oder gar noch mehr Figuren in der Rolle des Ich-Erzählers aufwarten. Oftmals sind es die Beteiligten eines Pairings, die als Erzählcharaktere auftreten. Warum aber ist das ein Problem?   

Nun, wenn ihr euch an meine Ratschläge zum Thema Erzählperspektiven erinnern könnt, schrieb ich dort, dass die Ich-Perspektive für Geschichten mit mehreren Erzählcharakteren ungeeignet sei, weil sie dort Verwirrung stifte. Die Sache mit dem Sichtwechsel ist ein Paradebeispiel für die Probleme, die durch mehrere Ich-Erzähler entstehen. Denn wenn „Ich“ verschiedene Figuren sein können, dann braucht es einen klaren Marker, um zu unterscheiden welcher Ich-Charakter gerade spricht: 

Um 19 Uhr betrat ich das Schlafzimmer im Turmgeschoss und zog einen dicken Wälzer aus meinem Schrankkoffer. In zwei Wochen standen die Prüfungen an und ich hatte noch nicht alle Bücher gelesen, die in den letzten fünfzig Jahren jemals als Schullektüre verwendet worden waren. Erwartungsvoll schlug ich die erste Seite auf und ließ mich auf meinem Bett nieder.

Um 19 Uhr stieg ich  die Treppe hinab zu meinem Kellerbüro und entzündete im Kamin ein Feuer unter dem großen Kupferkessel. Es würde eine lange Nacht werden. Die Großinquisitorin der Schule erwartete eine neue Fuhre Veritaserum und ich musste sie brauen. Was für ein herrlicher Abend!

So geschrieben stehen beide Absätze im Widerspruch. Denn wenn Ich eine Person ist, kann sie nicht gleichzeitig im Keller und im Turmgeschoss sein, von den Tätigkeiten ganz zu schweigen. Ergo braucht es hier ein Mittel zur Unterscheidung. Genau an diesem Punkt greifen viele Fanfiction-Schreibende zu jenem unsäglichen POV, hier zum Beispiel „Hermines POV“ über dem ersten, „Snapes POV“ über dem zweiten Absatz. Und damit haben wir den Salat!

Dabei ist die unschöne Optik dieses Codes noch das geringste Problem so dargestellter Sichtwechsel. Das weitaus größere liegt in der Ich-Perspektive selbst. Denn auch mit Angabe des POVs können Leser gerade bei längeren Abschnitten hier leicht vergessen, wer gerade spricht. Ein ‚Hermines POV‘ gerät schnell aus dem Blick. Und umso mehr Ich-Erzähler existieren, umso verwirrender wird das Ganze.

Deswegen: Verwendet besser keine Ich-Perspektive, wenn ihr mehr als einen Erzählcharakter habt. Die bessere Wahl ist der multipersonale Erzähler.

Denn die multipersonale Perspektive bietet, da der Name des Erzählcharakters häufiger fällt, nicht nur im Fließtext eine größere Klarheit darüber, wer gerade ‚spricht‘. Nein, auch Perspektivenwechsel lassen sich hier sehr viel leichter gestalten. Wenn ganze Absätze in der Perspektive eines bestimmten Charakters geschrieben werden, kann der Erzählcharakter hier ganz einfach dadurch angezeigt werden, dass zu Beginn sein Name genannt wird. Und zwar in den Fließtext eingebunden:

Um 19 Uhr betrat Hermine Granger das Schlafzimmer im Turmgeschoss und zog einen dicken Wälzer aus ihrem Schrankkoffer. In zwei Wochen standen die Prüfungen an und sie hatte noch nicht alle Bücher gelesen, die in den letzten fünfzig Jahren jemals als Schullektüre verwendet worden waren. Erwartungsvoll schlug sie die erste Seite auf und ließ sich auf ihrem Bett nieder.

Um 19 Uhr stieg Severus Snape die Treppe hinab zu seinem Kellerbüro und entzündete im Kamin ein Feuer unter dem großen Kupferkessel. Es würde eine lange Nacht werden. Die Großinquisitorin der Schule erwartete eine neue Fuhre Veritaserum und er musste sie brauen. Was für ein herrlicher Abend!

Mit der Nennung des Erzählcharakters kann die Geschichte einfach weiterlaufen bis zum nächsten Sichtwechsel, der auf die gleiche Weise markiert wird. Denn durch die Namensnennung ist klar, aus wessen Sicht ein Textabschnitt geschrieben ist.  Beim multipersonalen Erzähler ist es also unnötig, ein dickes „CHARAKTER Xs POV“ über den jeweiligen Textabschnitt zu schreiben. Der Sichtwechsel lässt sich hier ganz einfach und elegant im Fließtext abhandeln.

Schwieriger wird es zugegeben dann, wenn beide Erzählcharaktere aufeinandertreffen und es eine gemeinsame Szene zu gestalten gilt. Und damit wären wir beim nächsten Punkt, bei dem etliche Fanfiction-Schreibende sich unnötige Mühen aufbürden und doch zu einem eher unglücklichen Ergebnis kommen.

 

Die geteilte Szene

Bei einer gemeinsamen Szene stellt sich nämlich unweigerlich die Frage: Aus wessen Sicht soll sie eigentlich erzählt werden? Viele Schreibende entscheiden sich dafür, sie aus der Perspektive aller beteiligten Erzählcharaktere zu schildern. Und das ist ein Fehler. Doch alles der Reihe nach.

Schauen wir uns erst mal an, wie solche Szenen häufig aufgebaut sind. Hier ein Beispiel:

 

--- Martinas POV ----

Fröstelnd lief ich den Flur hinab und drückte die Klingel. Ein greller, kopfschmerzerregender Ton erschallte und mir brach der Angstschweiß aus. Immerhin streifte ich nicht jeden Tag splitterfasernackt durch unser Mietshaus und stattete unbehelligten, alten Damen Besuche ab. Endlich war das Knarren von Dielen in der Wohnung zu hören und Sekunden später öffnete sich die Tür. Für einen Augenblick sah Frau Heiner geradeaus als ob nichts wäre. Dann wanderte ihr Blick nach unten. Sie riss die Augen auf und zuckte jäh zusammen. Wahrscheinlich hielt sie das für einen schlechten Scherz.

„Gu… Guten Tag“, stotterte ich verlegen und spürte, wie die Hitze mir ins Gesicht stieg.

„Frau Wüttinger! Na, wie sehen Sie denn aus?!“, rief Frau Heiner empört.

„Mei…mein Sohn…Die Badezimmertür“, haspelte ich und merkte, wie falsch das klang. Dann schluckte ich und kratzte den Rest meines Stolzes zusammen.

„Dürfte ich kurz telefonieren?“, fragte ich kühl, „Ich muss den Schlüsseldienst bestellen“. 

Frau Heiner nickte. „Kommen sie herein, Sie müssen ja frieren bei dem Wetter“, entgegnete sie ruhig, schloss die Tür hinter uns und trat in die angrenzende Küche, wo sie eine Kanne Tee für uns aufwärmte.  

 

--- Frau Heiners POV ---

Ich hörte, wie es an der Tür klingelte, ein greller, kopfschmerzerregender Ton. Verwundert legte ich meinen Roman beiseite und trat in den Flur. Die Dielen knarrten, während ich auf die Tür zuging. Als ich öffnete, sah ich nur das Gesicht meiner jungen Nachbarin, Frau Wüttinger. Dann aber mustere ich sie genauer und mich traf fast der Schlag. Sie war ja splitterfasernackt!  Sowas hatte ich ja meinen Lebtag nicht gesehen. Ich riss die Augen auf und zuckte zusammen.  

„Gu… Guten Tag“, stotterte meine Nachbarin mit hochrotem Kopf.

„Frau Wüttinger! Na, wie sehen Sie denn aus?!“, entgegnete ich geschockt.

„Mei…mein Sohn…Die Badezimmertür“, haspelte sie, dann schien sie sich wieder zu fangen.

„Dürfte ich kurz telefonieren? Ich muss den Schlüsseldienst bestellen“, fragte sie kühl.  

Ich nickte. „Kommen sie herein, Sie müssen ja frieren bei dem Wetter“, erwiderte ich. Inzwischen hatte ich mich von dem Schreck erholt, schloss die Tür hinter uns und trat in meine Küche, um dem armen Ding etwas vom Tee aufzuwärmen.

 

Soweit dazu, wie diese Sache in vielen Fanfictions aufgezogen wird. Das Problem dabei nun ist die Wiederholung.

Bis auf einige Gedanken, Gefühle und das, was die Beteiligten vor der Begegnung taten, sind die Absätze hier nahezu identisch. Es ist die gleiche Szene, die hier doppelt geschildert wird. Der Textabschnitt in Frau Heiners Perspektive ist damit im Großen und Ganzen eine Nacherzählung dessen, was uns schon der erste Absatz berichtete.  Und das ist langweilig. Wenn ich bereits erfahren habe, dass Frau Wüttinger nackt an der Wohnung ihrer Nachbarin klingelt und wie jene darauf reagiert, brauche ich das nicht noch einmal vorgesetzt bekommen.

Doch wie lassen sich solche Wiederholungen vermeiden? Natürlich indem ihr euch für einen Erzählcharakter entscheidet, aus dessen Sicht die Szene geschildert werden soll. Überlegt euch also gut, wessen Gedanken, Gefühle und Eindrücke im Moment wichtiger sind.

Das ‚Innenleben‘ der jeweils anderen Figur(en) könnt ihr indirekt einbringen, indem euer Erzählcharakter alle nach außen hin sichtbaren Reaktionen seines Gegenübers - also dessen Gestik, Mimik und Verhaltensweisen - beschreibt. Dies ist auch in unserem Beispieltext im Abschnitt aus  Martinas Sicht der Fall: 

Dann wanderte ihr Blick nach unten. Sie riss die Augen auf und zuckte jäh zusammen.

Es braucht hier keinen direkten Einblick in Frau Heiners Gedanken, um zu wissen, dass sie in dieser Situation sehr erschrocken ist. Jeder, der ein bisschen Ahnung von Emotionen hat, kann das aus der geschilderten Reaktion schließen. Zudem kann auch der Erzählcharakter das Verhalten seines Gegenübers interpretieren und über dessen Gefühle und Gedanken spekulieren:

Wahrscheinlich hielt sie das für einen schlechten Scherz.

Ob eine solche Schlussfolgerung richtig oder falsch ist, steht natürlich auf einem anderen Papier. Erzählcharaktere dürfen sich in der Einschätzung ihres Gegenübers auch irren.

Die Aufklärung darüber, ob der Erzählcharakter richtig lag sowie weitere wichtige Gedanken und Gefühle des ‚stummen‘ Charakters lassen sich dann beim nächsten Sichtwechsel in einer neuen Szene unterbringen, in der der andere Erzählcharakter die Geschehnisse kurz reflektiert. So könnte Frau Heiner aus unserem Beispiel später, wenn Frau Wüttinger gegangen ist, das Teegeschirr wegräumen und dabei darüber nachdenken, wie überrascht sie im ersten Moment war, ehe die Szene mit ihrem ‚eigenem Kram‘ fortfährt.

Auf diese Weise lassen sich die wesentlichen Gedanken und Gefühle aller Erzählcharaktere einfangen, ohne dass die Schilderung der Rahmenhandlung sich zigmal wiederholen muss.

Zumindest gilt das für 90% aller gemeinsamen Szenen.

Manchmal jedoch kommt es vor, dass eine geteilte Szene so bedeutend ist und so viel darin passiert, dass die Perspektive aller beteiligten Erzählcharaktere in gleichem Maße wichtig sind. In solchen Fällen gilt ebenfalls die Grundregel: Schreibt die gleiche Szene nicht doppelt.

Sinnvoller ist hier ein eher kürzerer Wechsel zwischen den Erzählern, mit beispielsweise der wörtlichen Rede in einem Dialog als Wendepunkt:

„Er lügt! Tamara, du musst mir glauben, Ich habe dich mein ganzes Leben lang geliebt“, beteuerte Daniel unter Tränen. Dann wandte er sich von seiner Liebsten ab, die ihn noch immer kalt anstarrte und ließ sich in den Sessel fallen. Wie sollte er ihr nur beweisen, dass seine Gefühle aufrichtig waren? Die Frau, der er liebte, sie glaubte ihm kein Wort.

„Ist das wahr? Ist es wirklich wahr?“, hauchte Tamara. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Sie spürte, wie ihre Nackenhärchen sich aufrichteten. Noch immer stand sie stocksteif im Wohnzimmer, den Blick auf ihren Gatten gerichtet. Der Anblick seiner Tränen traf sie.         

In solchen Szenen durchbricht der multiperosnale Erzähler oftmals die Wand zum auktorialen. Doch das ist weniger problematisch als eine ständige Wiederholung bereits erzählter Szenen.

Darum: Schmeißt das unsägliche ‚Charakter Xs POV‘ in den Papierkorb. Ihr braucht es nicht! Und schreibt Geschichten mit mehreren POV-Charakteren nicht in der Ich-Perspektive, dann macht ihr euch die Sache leichter.  

So viel zu Sonderzeichen, Codes und Sichtwechseln. Im nächsten Kapitel wende ich mich einer weiteren Stilsünde zu: der Synonymflut.  

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GreenQuills Profilbild GreenQuill

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Kapitel: 33
Sätze: 2.534
Wörter: 54.156
Zeichen: 334.427

Kurzbeschreibung

Wie kann man seiner Fantasie freien Lauf lassen, ohne dass dauernd jemand meckert? Was tun, wenn scheinbar niemand die Bedeutung von ‚Don't like don't read' kennt? Und womit lassen sich diese kleinen, bösen Teufelchen austreiben, die einfach kein gutes Haar an der Geschichte lassen wollen? Dieser Ratgeber will euch helfen, eine Lösung für all diese Probleme zu finden. Nicht indem er den Exorzismus ausruft. Auch nicht, indem er euch eure Ideen verbietet. Nein, indem er euch zeigt, wie ihr sie so umsetzen könnt, dass ihr auch kritische Geister überzeugt. Denn manchmal ist ein wenig Feinschliff alles, was eine Fanfiction dafür braucht.

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