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Kapitel: | 2 | |
Sätze: | 564 | |
Wörter: | 7.729 | |
Zeichen: | 45.273 |
Hängende Schultern und schwarze Anzüge füllten den Platz. Verschwommen spielte sich die Prozedur vor seinen Augen ab. Seine Hand hielt eine weiße Lilie, auch wenn er sie nur gerade so halten konnte. Während eine Träne auf den Boden tropfte, löste sich ein Blütenblatt, welches ein eiskalter Windhauch mit sich in die Ferne riss. Eigentlich wollte er laut aufschreien, aber sein seelischer Schrei war laut genug um seine Lunge zu zerfetzen und ihm weitere Tränen zu rauben. Er konnte nur wie verwurzelt an einer Stelle stehen und zusehen, wie der Sarg langsam an sein Ziel getragen wurde. Andere Menschen schmissen Blumen und Erde auf ihn, nachdem der Sarg in das erbarmungslose Loch eingelassen wurde.
Blumen und Erde, sollte das den Hinterbliebenen etwas nützen oder ihr? Er spürte alle Blicke auf ihn ruhen, als er an der Reihe war, die Tradition zu erfüllen. Mit steinschweren Füßen kämpfte er um jeden Schritt und sah dann hinab. In die letzte Ruhestätte seiner Liebsten.
Schweißgebadet erwachte Remai von seinem Traum. Erstmal blieb er liegen, denn all die Eindrücke von vor 2 Jahren prasselten auf ihn ein. So lange war es schon her, seit sie ihn verlassen hatte und doch erinnerte er sich an sie, als wäre es erst gestern..., erst vor einer Stunde gewesen. Seit dem Unfall distanzierte er sich immer mehr von seinen Freunden, seiner Familie, bis sich keiner mehr um ihn scherte. Zuerst waren sie noch besorgt, aber nach fast zwei Jahren verloren auch die Hartnäckigsten die Hoffnung auf Besserung. Jetzt hatte Remai sich ein kleines Häuschen gekauft, wie es eigentlich keiner mehr besaß. Ein kleines Häuschen und einen kleinen Abschnitt Rasen mit Blumen, wie es wirklich keiner mehr besaß. Sie wurden alle in dafür geschaffene Gewächshäuser angepflanzt und keiner empfand es als normal, einen kleinen Garten vor dem Haus zu haben. Doch Remai entspannte es, in sein kleines Paradies zu gehen und es zu genießen. Das bisschen echte Grün, was man in dieser Gegend noch fand war eine wahre Oase. Doch weder seine Familie noch seine Freunde verstanden ihn, immerhin kam sein Stück Natur keinen Zweck nach. Es war einfach nur ein Fleck verwildertes Grün und ein weiteres Anzeichen dafür, dass er mit seiner Liebe auch seinen Verstand verloren hatte. Natürlich wollten es alle abreißen und das nächste, riesige graue Gebäude an seiner Stelle dorthin stampfen, aber Remai weigerte sich. Bisher noch erfolgreich, doch wie lange er sein Haus halten konnte war ungewiss. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er den Platz räumen musste.
Remais Wecker klingelte laut im schlecht nachgemachten Vogelgezwitscher, was ihn nur dazu brachte, sein Kissen über seine Ohren zu halten und zu grummeln. Es war eine sehr kurze Nacht für ihn geworden, denn er musste noch seinen Polizeibericht zu Ende schreiben, ehe ihn sein Boss nach Hause gelassen hatte.
Geschlagen streckte er einen Arm aus seiner Decke und legte den Schalter um, der das nervtötende Geräusch endlich abschaltete. Dann ergab er sich seinem Schicksal und machte sich für seine Arbeit fertig.
Er liebte seinen Job. Altmodisch durch die Gegend zu streifen und nach Verbrechern ausschau zu halten, die zu schnell fuhren oder Geschäfte ausraubten, sie zu fangen und den Mitmenschen damit Helfen zu können. Jedoch hatten die meisten Verbrecher keine andere Möglichkeit oder wurden von Drogen und anderen Mitteln regelrecht dazu gezwungen. Das hinterließ immer einen bitteren Beigeschmack, auch wenn sein Boss ihm immer wieder vergewisserte, dass er alles richtig machte. Remai war sich manchmal nicht so sicher. Vielleicht gab es eine andere Möglichkeit, als Verbrecher in Gefängnisse zu sperren. Möglicherweise musste die uralte Form der Regierung verändert werden? Aber immer wenn er mit so etwas ankam, bekam er nur skeptische Blicke als Antwort. Alle, denen er bisher begegnet war, wollten nichts von Veränderung hören. Sie waren so zufrieden, wie es war. Veränderung war etwas zu Außergewöhnliches für sie.
Remai zog seinen Polizeihut tief über seine braunen Haare und ging aus dem Haus. Nach dem Traum war ihm nicht mehr nach Frühstück zumute, aber er hatte sich vorgenommen, sich ein großes Mittagessen zu gönnen. Sein Atem gefror im kalten Morgen, aber der Morgennebel hatte in der endlosen Stadt etwas magisches an sich. Kurz genoss er den Raureif auf seinem Rasen und entdeckte sogar ein Spinnennetz, das durch tausende Tröpfchen wunderschön aussah. Er ließ den Moment auf sich wirken, streifte mit den Augen über seinen Rasen und das Netz.
Dann ging er auf die graue Straße, seiner Arbeit entgegen.
Seine Arbeit war nicht immer ehrenhaft. Remai saß mit gekrümmten Rücken auf einer Bank, seine Hände stützten sein verzogenes Gesicht. Ein paar mal lugte ein Kindergesicht von einem abgehenden Flur zu ihm, verschwand aber schnell wieder, wenn es das Geschrei im Raum gegenüber vernahm. Seit einigen Minuten ging das nun schon so und eigentlich wollte Remai nur reinplatzen und der schreienden Frau die Meinung geigen.
Aber er war hier, um dem Jungen ebenfalls einzuschärfen nicht immer vom Kinderheim abzuhauen, immerhin verringerte das seine Chancen zur Adoption. Seine Akten zeigten jetzt schon, dass es sich um ein richtiges Problemkind handelte und so jemanden würde wohl kaum einer adoptieren wollen. Aber rechtfertigte das Kinder anzuschreien?
Gedankenversunken wippte Remai langsam vor und zurück und bemerkte kaum, als die Tür vor ihm aufschwang. Empört stand eine kräftige Frau vor ihm und stamm ihre Hände in die Hüften.
"Sind sie noch hier, Herr Thalis?", fragte sie und ihre Augen funkelten wütend. "Oder sind Sie ins Märchenland ausgewandert?" Remai blinzelte kurz, bevor er aufstand und sich räusperte um eine kurze Zeit zu haben, wieder in seine Rolle des Polizisten zu finden. Dann stand er so aufrecht und seriös wie möglich und musterte den kleinen Jungen neben der Dame. Auch wenn ihn seine ungewöhnlich matten, dunkelgrünen Haare sofort ins Auge stachen, ließ er sich seine Verwunderung nicht ansehen. Seine Aufgabe heute war es zu belehren und eigentlich nur ein Respektfaktor zu sein. Wenn ein Polizist jemanden direkt sagte, man solle etwas nicht machen, wirkt es gleich viel besser, als wenn es eine Pflegerin tat. Vor allem beeindruckte es, wenn ein großer, schlanker Polizist wie Remai es tat.
"Du bist ein kleiner Ausbrecher, habe ich gehört", fing Remai an und kniete sich vor den Jungen. Er hob einen Zeigefinger direkt vor das kleine Gesicht und stockte. Er sah direkt in die violetten Augen des Jungen, die ihn genervt, aber irgendwie Weise anstarrten. In ihr spiegelte sich eine Lebendigkeit, die Remai noch nicht gesehen hatte. Bei niemanden. Die Augen des Jungen schrien nach Leben, nach Natur, nach Tieren, nach Wildheit. Wildheit, die in dieser Welt komplett verschwunden war. Wildheit, die er selbst mit einem kleinen Rasen ein wenig wiederherzustellen versuchte. Wildheit, die in dieser korrekten, verbauten Welt völlig in Vergessenheit geraten war.
In ihm brach ein Gefühl aus, was lange in ihm schlummerte, aber nie den Platz fand, sich bemerkbar zu machen. Eigentlich wollte er laut aufschreien, als ihm bewusst wurde, in was für einer Welt er lebte. Sein Herz schmerzte, als er an die ganzen kahlen Wände draußen dachte. An die ganzen Hochhäuser, grau in die Luft ragend. An die endlosen Straßen, die grau ins endlose Häusermeer führten. An die Wurzeln des Menschen, die ausgerissen worden waren und von denen nichts mehr übrig war. Die Wildheit, die gänzlich verschwunden war und nur noch in diesen kleinen Augen vor ihm den Platz fand, hell zu strahlen.
Das Rütteln an seiner Schulter brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Vor ihm war immer noch der Junge, seine Augen aber hatten sich verändert. Sie waren weit aufgerissen, so als hätte Remai etwas außergewöhnliches getan.
Kurz blickte er in die genervten, irgendwie toten Augen der Frau, die ihm auffordernde Gesten entgegen schleuderte, wandte sich dann aber wieder dem Kind zu. "Also", fing Remai noch einmal an, "mach dir klar, was solche Aktionen für deine Zukunft bedeuten können! Du willst doch sicher eine liebevolle Familie finden, aber dafür musst du dich ein wenig anstrengen und ihnen zeigen, was für ein guter Junge du bist!"
Remai verstand nicht viel von Kindern und der scharfe Blick des Jungen zeigte ihm, dass er wohl irgendetwas falsch gemacht hatte. Wirklich konzentrieren konnte er sich auf das gesprochene Wort auch nicht, sein Herz hämmerte vor Aufregung. Der Junge besaß etwas, nach dem er sich sehnte. Die Freiheit, Wildheit, die er für unmöglich in dieser Welt hielt.
"Warum willst du ständig weglaufen?", fragte Remai nach. Um wirklich frei sein zu können?, vermutete er still.
Der Blick des Jungen schien etwas abzuwägen und schließlich antwortete eine selbstsichere Kinderstimme. "Ich habe nach etwas gesucht, kann es aber nirgends finden." Die Pflegerin klappte den Mund auf. "Das ist das erste Mal, dass er etwas sa...", fing sie an, wurde aber von Remai unterbrochen, der ihren Einwurf gar nicht mitbekommen hatte.
"Wonach suchst du denn?"
"Ich suche nach einem Ort, der mich an mein Zuhause erinnert."
Remai wartete, aber da nichts weiter kam, hakte er nochmal nach. "Dein Zuhause?"
Der Junge nickte, seine Augen wurden ein winziges bisschen trübe. "Ja. Es war Grüner dort. Bäume, Blumen, Tiere... wenn ich rausgehe sehe ich nur Häusermeere und Straßen."
Remai konnte nicht glauben was er da hörte. Woher sollte dieses kleine Kind von Dingen wie Blumen und Tieren wissen? Er war viel zu Jung um von solchen Zeiten Erinnerungen haben zu können. Verwundert fuhr sich Remai durch die Haare und ließ seinen Blick nicht von dem Jungen ab.
"Lebtest du im Zoo?", fragte Remai verwundert nach, denn das war der Einzige Ort, wo es solche Dinge doch noch gab.
"Nein! Es war freier. Die Bäume wuchsen, wo sie wollten und die Tiere waren wild", widersprach der Junge sofort.
"Ich kann dir eine Wiese zeigen, die vor meinem Haus wächst... Es ist die Einzige, von der ich weiß. Oder du kannst in Museen gehen, meistens haben sie dort den ein oder anderen Baum zu Austellungszwecken stehen. Allerdings sind die auch nicht wild."
Die Augen des Jungen weiteten sich noch einmal, dann griff er nach Remais T-shirt. "Zeig mir diese Wiese!"
"Jetzt?!" Remai raufte sich mit einer Hand die Haare. Eigentlich musste er zurückgehen und weiterarbeiten. Aber die Augen des Kindes deuteten eine Freude und Hoffnung an, die Remai nicht zerstören wollte. Daher zerriss es ihn schon fast das Herz, als die Pflegerin den Jungen packte und einige Schritte zurück zog. "Nicht so schnell, Freundchen. Der nette Polizist hier hat noch andere Dinge zu tun." Der Junge schlug um sich und befreite sich vom Griff der Pflegerin.
"Ich will den Rasen sehen. Jetzt!"
Remai sah erstaunt in die violetten Augen. Sein Pflichtgefühl meldete sich. Er war Polizist. Er konnte nicht einfach einem Problemkind in einem Kinderheim spontan seinen Garten während seiner Arbeitszeit zeigen. Aber die Pflicht wurde von dem Gefühl der Wildheit unterdrückt, als die großen Kinderaugen vor ihm leuchteten. Kurz schloss er die Augen um den vielleicht dümmsten Beschluss seines Lebens zu machen, aber jedenfalls darauf vorbereitet zu sein.
"Ich werde mir den kleinen Jungen hier kurz mal ausleihen, wenn das gestattet ist."
Remai musste beinah lachen, als er den Blick der Pflegerin sah. Ihre Augen vielen schon fast aus ihren Höhlen. "Sind Sie sich sicher? Ich weiß nicht ob das dabei hilft, ihm bessere Manieren beizubringen...", wandte sie stotternd ein.
"Keine Sorge, er wird sich danach sicher viel besser Benehmen", versicherte Remai ihr, auch wenn er ganz und gar nicht überzeugt war. Die Autorität eines Polizisten wirkt bei sowas jedoch immer Wunder, weshalb die Frau sogar wiederstrebend nickte. Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht fügte Remai hinzu: "Wir werden auch so schnell wie möglich wieder zurück sein."
Remai fühlte sich etwas unwohl. Der Blick von Mamero, wie er sich vorgestellt hatte, klebte auf ihn und nur bei Straßenüberführungen oder sonstigen Hindernissen schweifte der Blick für einen Moment von ihm weg.
Schließlich hielt Remai es nicht mehr aus und drehte sich zu Mamero. "Was ist denn los? Liegt dir etwas auf dem Herzen?"
"Wer bist du?"
Remai lächelte. "Ich bin ein einfacher Polizist, hast du noch nie einen gesehen? Wir versuchen, Dieben und anderen Ver..."
"Ich weiß schon, was ein Polizist ist", unterbrach ihn der Junge kühl. "Aber wie kommt es, dass deine Augen nicht tot sind?"
Remai blieb stehen. Schemen anderer Menschen wurschtelten um ihn herum, doch er bekam sie gar nicht mit.
Als der Junge bemerkte, dass Remai stehen geblieben war, drehte er sich langsam zu ihm um. Seine violetten Augen glühten vor Leben. Wie ein Tiger sprang seine Wildheit auf Remai zu und packte ihn, zog ihn mit sich. Ein Gefühl breitete sich in Remai aus, ein Gefühl der Sehnsucht. Der Sehnsucht nach seinem Ursprung, der Natur.
Remai versuchte, sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Es schrie danach, in einen Wald zu rennen und die Stille zu genießen. Das Grün zu genießen. Das Leben zu genießen. Er schluckte schwer.
"Wie meinst du das?", fragte Remai verbissen, auch wenn er eigentlich wusste, was der Kleine meinte. Doch er wollte es noch nicht wahrhaben.
Mamero trat einen Schritt auf Remai zu. "Ist es dir etwa wirklich noch nicht aufgefallen? Bisher bin ich keinem Menschen begegnet, der auch nur einen Funken Leben in sich trug. Deshalb ging ich davon aus, dass alle Menschen diesen Teil verloren haben, doch jetzt treffe ich auf dich. Deine Augen sprühen vor Leben." Er ging einen weiteren Schritt auf Remai zu und musste zu ihm rauf sehen. "Wer bist du?"
Verwirrt schwieg Remai. Keiner um ihn herum lebte? Er dachte an seine Familie und früheren Freunde. Sie alle sollten keinen Lebensfunken besitzen? Angestrengt rief Remai ihre Gesichter in Erinnerung. Als er in ihre Augen sah, setzte sein Herz kurz aus. Schwarze Löcher anstatt Augen sahen auf ihn, totes Lächeln füllte ihre Gesichter.
Erschrocken schüttelte er seinen Kopf. Was war jetzt denn los?
"Hör zu. Ich weiß nicht, warum du meinst ich sei anders", erwiderte Remai eindringlich. "Ich bin ein ganz normaler Mensch, genau wie jeder andere auch." Mamero wollte etwas antworten, doch Remai griff seine Umhängetasche fest in seiner Hand und lief weiter. Er wollte nicht mehr denken. Alle Gesichter die durch seinen Kopf huschten starrten ihn nur noch mit toten Augen an. Seltsam, zuerst musste er sich anstrengen, sie in Erinnerung zu rufen und jetzt würde er alles machen, damit sie wieder verschwanden. Doch sie kamen ununterbrochen, ein Gesicht nach dem anderen durchflutete seinen Kopf, doch sie alle hatten diesen schrecklichen Blick. Sein Schritt beschleunigte sich, so als würde er damit vor seinen eigenen Gedanken davon laufen können. Aber es half nichts. Die Gesichter prasselten auf ihn ein und zeigten sogar... sie.
Plötzlich blieb Remai stehen. Eine Träne kullerte seine Wange hinab. War seine Frau etwa auch leblos gewesen? Seine Gedanken zeigten nur noch Bilder, wie sie ihn mit schwarzen Augen ansah. Ihre Liebe war einfach ein körperliches Verlangen gewesen? Es stand kein Leben dahinter? Es konnte kein Leben dahinter stehen, wenn sie kein Leben besaß.
Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Es war so lange her und doch schmerzte es bei ihr am Meisten.
Seine Figur musste ganz schön Elend gewirkt haben, jedenfalls trat ein Mann zu ihm und fragte Remai, was los sei. Der Polizist blickte panisch auf. Doch die Augen des Mannes waren keine schwarzen Höhlen. Es waren ganz normale Augen. Ganz normale, leblose Augen.
"Alles gut", lehnte Remai seine Hilfe ab und lächelte zur Bestätigung schwach, ohne dem Mann ins Gesicht zu sehen. Zum Glück wandte er sich ab und ging wieder seines Weges.
Remai lehnte sich an eine der grauen Hauswände und sah zum Himmel hoch. Die Wolken zogen an den Häusern vorbei. Genau. Dort oben war immer noch ein wenig Natur übrig geblieben, was den Menschen unerreichbar blieb. Genau wie das blaue Meer, das unberührt war. Ein verzweifeltes Lächeln schob sich auf Remais Gesicht. Jedenfalls der Himmel und das Meer blieben wie sie waren. Vielleicht sollte er zum Meer ziehen.
Ein warmer Finger tippte auf Remais Oberarm, woraufhin er sich schwach umdrehte. Vor ihm stand ein Feuer im ewigen Eis. Mamero sah zu ihm auf. "Es hat eine ganze Weile gedauert dich zu finden, ich konnte nicht schritthalten. Tut mir Leid, habe ich dich so sehr verunsichert?" Zweifel zeigte sich in Mameros Augen.
Remai schüttelte den Kopf. Der kleine Junge hatte ihm die Wahrheit unverschönt ins Gesicht geklatscht, was ihn mehr als nur aus der Fassung brachte. Aber er stand einem kleinen Kind gegenüber, dem er seine Verfassung nicht so deutlich zeigen wollte. "Mir war das alles nicht so bewusst, aber es wird schon", versicherte Remai dem Jungen, auch wenn sein ganzer Körper bebte und er nur schwer daran glauben konnte, dass wirklich einfach alles wieder gut werden würde.
"Ich bringe dich für heute wieder zurück in das Kinderheim", entschied er und nahm Mameros Hand. Sie hatte eine ungewöhnliche Wärme. Die Wärme eines lebendigen Kindes?
"Ich wollte aber die Wiese sehen!", protestierte Mamero.
Eine kurzes Lächeln wollte sich auf Remais Züge legen. Es war das erste Mal, dass Mamero sich wie das Kind benahm, das er war. Doch der Schmerz in seiner Brust wollte es nicht zulassen. "Ich komme wieder und zeige es dir", versicherte Remai dem Jungen und machte kehrt, um schnell wieder zum Kinderheim zurückzukommen. "Das ist ein Versprechen.", fügte er hinzu, als er bemerkte, dass Mamero sich keinen Zentimeter bewegte.
Zögernd folgte Mamero Remai nun doch.
Der Regen donnerte ans Fenster als würde die Welt davon erschlagen werden sollen. Die grauen Wolken verdeckten jeden noch so kleinen Sonnenstrahl, weshalb die ganze Stadt nur vom toten Licht der Glühlampen beleuchtet wurde. Dennoch rannten einige Menschen in fetten Regenjacken eilig die nassen Straßen entlang, um irgendwelchen Aufgaben nachkommen zu können. Sie liefen zielsicher in die grauen Hochhäuser, als gäbe es zwischen ihnen irgendeinen Unterschied. Sie verrannten sich nie. Sie beschwerten sich nie. Sie träumten nie. Sie gingen einfach jeden Tag aufs neue ihrer Arbeit nach. Wie immer.
Und wie immer liefen die Menschen einfach an dem einen Haus vorbei, das sich von den ganzen grauen Klötzen unterschied. Es war ihnen im Grunde gleich, aber den Platz könnte man für etwas besseres gebrauchen, als mit einem sinnlosen Stück Gras. Zum Beispiel könnte man darauf ein weiteres graues Hochhaus stellen. Und deshalb machten sie so einen Druck, es abreißen zu lassen, um einen weiteren ununterscheidbaren Klotz an seine Stelle zu stampfen. Und der Bewohner des Häuschens könnte einfach in das viel größere Haus einziehen und von dort aus jeden Tag aufs neue seiner Arbeit nachkommen.
Ein stiller Beobachter des Hauses hätte bemerkt, dass in ihm keiner mehr irgendeiner Arbeit nachzugehen schien.
Denn in dem kleinen Häuschen war es seit Tagen dunkel, obwohl es seit etwa einer Woche ununterbrochen regnete. Niemand ging in es hinein oder hinaus. Es wirkte beinahe so als würde wirklich keiner mehr dort leben. Doch jemand der sich die Zeit nehmen würde tatsächlich mal einen Blick hineinzuwerfen, würde in dem dunkelen Haus eine Person ausmachen können, die stundenlang nur elendig gebäugt an seinem Schreibtisch saß. Vielleicht blieb niemand stehen, um sich so eine langweilige Szene im strömenden Regen anzusehen, immerhin musste Arbeit erledigt werden. Aber vielleicht kam auch jemand jeden Tag dorthin um über die elende Person zu wachen und immer zu hoffen, dass sich an der Haltung der Person am Fenster irgendetwas ändern würde.
Remai saß an seinem Schreibtisch und hörte dem Regen zu. Jedenfalls versuchte er es mit all seiner Konzentration, wenn auch ohne Erfolg. Jedesmal wenn er sich soweit beruhigte, um wirklich Regentropfen zu hören, flammten wieder bekannte Gesichter auf, die ihm verloren gegangen waren. Denen er nie wieder begegnen konnte, ohne dass sich sein Herz so sehr zusammenzog, dass er sich sofort wieder von ihnen zurückziehen würde. Jeder einzelne, den er zu lieben geglaubt hatte war nur eine hohle Masse gewesen, ein Ding, das sich nach Instinkt und Erziehung bewegte. Wie ein Roboter.
Remai schlug verzweifelt auf den Tisch, wie er es in den vergangenen Wochen schon so oft getan hatte. Schmerzlich pochte seine bereits wunde Hand, doch genau danach hatte er sich so sehr gesehnt. Dadurch hatte er einen winzigen Moment Ruhe im Kopf, weil er sich so angemehm auf den Schmerz konzentrieren konnte. Wie ein Glas Wasser nach einer tagelangen Wüstenwanderung saugte er die Ruhe in sich auf. Doch sobald der Schmerz verblasste, knallten die Gesichter zurück wie ein Hammerschlag. Verzweifelt rammte Remai wieder seine Hand auf den Tisch, aber der Körper gewöhnte sich langsam an den Schmerz und je öfters er es wiederholte, desto mehr ignorierten die Gedanken es einfach. Wieder und wieder rammte er darauf, doch es half schließlich gar nichts mehr. Geschlagen sackte die Hand flach auf den Tisch und Remai ergab sich den Gedanken.
Regenwolken verdeckten weiterhin die Sonne als würde sie nicht existieren. Doch die Glühlampe hatte Remai ausgeschaltet. Das tote Licht bereitete ihm Kopfschmerzen, so perfekt wie es den Raum beleuchtete, ohne irgendein Anzeichen von Leben zu besitzen. Es besaß kein gelegentliches Flackern, sanften Schein oder leises Knistern. Es war einfach nur hohl, wie der Rest der Welt. Aber die Dunkelheit tat Remai gut. Er konnte kaum erkennen wo seine Möbel standen, so eine Schwärze hatte sich über sein Haus gelegt. Er fühlte sich blind und er war es dank der Dunkelheit auch. Blind, weil er nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Ob es überhaubt weitergehen konnte.
Blind, weil er das Wichtigste in einem Menschenleben verloren hatte; die Gesellschaft anderer Menschen. Anderer lebender Menschen. Eigentlich hatte er sie nicht verloren, er hatte sie nie gehabt. Mit seinen teilweis verrückten Gedanken, seinen neuen Ideen oder einfach seinen ehrlichen Gefühlen, die niemand verstanden hatte war er doch immer allein gewesen.
Es zeigte sich doch schon an seinem Haus. Einsam stand es zwischen diesen riesigen grauen Klötzen, dieses kleine, von einem Grasstreifen umrahmte Haus, dass seine Farben nur ängstlich zeigen konnte. Es besaß ein blassrotes Spitzendach, nur ein Hauch von Blau an den Wänden schimmerte hindurch. Remai war wie sein Haus: beengt in einer Welt voller grauer Klötze, mit verblassten Farben, weil es niemanden gab der sie polieren könnte. Und es würde nie jemanden geben.
Warum lebte er eigentlich noch?
Er war damals Polizist geworden, damit er den Menschen ein besseres Leben geben konnte. Doch warum sollte er das versuchen, wenn diese Menschen keinen einzigen funken Freude empfinden konnten? Wenn ihnen nichts daran lag, die Welt zu einem besseren Ort zu machen? Welchen Lebenssinn konnte ein einziger lebender Mensch auf dieser Welt schon haben? Nichts hatte einen Wert, wenn man es nicht mit anderen teilen konnte. Keine wahre Liebe konnte sich bilden, wenn das Gegenstück nichts fühlen konnte. Schmerzend dachte er an seine Frau. Sie hatte nie etwas für ihn empfunden, doch warum fühlte er sich ihr so hingezogen? Wieso hatte sie eingewilligt ihn zu heiraten? Remai verstand nichts mehr. Die ganze Welt ergab keinen Sinn, hatte nie einen ergeben und würde es nie tun. Es wäre das Beste einfach in der Dunkelheit zu bleiben. Nichts mit den Augen und dem Herzen sehen zu können und nie wieder hinaus in die kaputte Welt gehen zu müssen. Und doch konnte er seine Gedanken nicht ausstellen. Sie erinnerten ihn einfach immer und immer wieder an diese schmerzliche Wahrheit.
Erschöpft hatte Remai seinen Kopf seitlich auf den Tisch gelegt, während seine Augen langsam zuvielen. Die Dunkelheit und das Prasseln des Regens begleiteten ihn in einen unruhigen Schlaf voller Gesichter.
Ein Sonnenstrahl erwärmte kastanienbraune Haare und weckte Remai. Er bemerkte, wie sich seine Verzweiflung in Ärger gewandelt hatte und setzte sich dementsprechend genervt auf um mit verzogenen Augenbrauen nach draußen zu sehen. Nichts hatte sich verändert, immer noch liefen Leute wie blöd an das kleine Haus vorbei, mit ihren sinnlosen Arbeitsdingen beschäftigt, als wüssten sie genau, dass ihre Leben genauso unsinnig wie ihre Arbeit war. Immer noch ragten diese verdammt grauen Häuser auf, als müssten sie auch noch den Himmel erobern. Immer noch war er allein. Und doch schien frech die Sonne, als ob sich irgendetwas verändert hätte. Als würde diese Welt noch einen Lichtstrahl brauchen. Sie hatte es doch tatsächlich gewagt, ihm seine beruhigende Dunkelheit zu nehmen. Mit einem Schnauben erhob sich Remai so schnell von seinem Stuhl, um nach der Gardine zu greifen, dass dieser scheppernd zu Boden viel. Und dann sah er es.
Es hatte sich etwas geändert.
Noch bevor Remai den zarten Stoff berührte gefror seine Hand. Er sah direkt in zwei violette Seen.
Auch wenn es draußen nur noch hier und dort tröpfelte, schien die Person vor Remais Haus immer noch mitten im Regen zu stehen. Doch auch wenn sie bis auf die Haut durchnässt war, wirkte sie wie die Ruhe in Person und sah Remai ohne sich einen Millimeter zu bewegen in die Augen.
Remai traf seine Engstirnigkeit wie im Schlag.
Die gesamten vergangenen Wochen hatte er jenen hinterhergetrauert, die er nie gehabt hatte und doch tatsächlich den Einen vergessen, den er in Wirklichkeit dazugewonnen hatte. Was waren denn schon tausende von Seelenlose im Vergleich zu einem Lebenden? Hatte er wirklich diese unglaubliche, bisher einmalige Begegnung einfach ausgeblendet? Vielleicht war der Hoffnungsschimmer zu klein gewesen, ihre Begegnung zu kurz als dass er dadurch der negativen Welle entkommen konnte, die ihn danach überkam.
"Mamero...", hauchte Remai und die Zeit tickte wieder. Der kleine Junge lächelte. Es sollte jedenfalls wahrscheinlich ein Lächeln sein, doch es hatte genau den gegenteiligen Effekt, den es normalerweise erzielte. Es war so erbärmlich, dass Remai dadurch geschockt realisierte, was ihm bisher entgangen war. Mamero war zutiefst niedergeschlagen. Vielleicht kein Wunder, so nass wie er dort stand, doch etwas sagte Remai, dass noch etwas anderes an das Herz des Jungens nagte. Doch konnte Remai sich nicht ausmalen, was es sein konnte. Immerhin traf er Mamero erst zum zweiten Mal.
Schnell wollte Remai zum Fensterknauf greifen um ihn fragen zu können. Vielleicht konnte er ihm ja sogar helfen...? Doch sobald er nur seinen Arm gehoben hatte, drehte sich der Junge von ihm weg. Verwirrt beschleunigte Remai seinen Vorgang und hatte das Fenster schon aufgerissen, als Mamero den ersten Schritt tat. Remai rief nach seinem Namen, doch der Grünhaarige stoppte nicht. Ohne ein einziges Wort gesagt zu haben, ohne einen weiteren Augenkontakt zu ermöglichen ging Mamero. Massen von Menschen schoben sich vor den Jungen und verschluckten ihn. Fassungslos rutschten Remais Finger vom Fensterrahmen und sackten willenlos dem Boden entgegen. Er konnte seinen Blick noch nicht von der Stelle losreißen, an der Mamero verschwunden war. Was war das? Nach wochenlanger Depression ein Lichtstrahl, der sich nach einem Sekundenbruchteil von selber wieder in Luft auflöste?! Es ergab keinen Sinn! Mamero ergab keinen Sinn! Der Junge musste das Haus selber gesucht haben, Remai hatte es ihm nie gezeigt. Und nachdem er es gefunden hatte stand er einfach vor dem Eingang und starrte durch das Fenster? Selbst wenn es regnete? Und dann machte er sich sofort aus dem Staub als Remai ihn gesehen hatte?
Remais Hand verkrampfte sich, als würde er etwas festhalten wollen. Mamero war das Einzige, was ihn in dieser toten Welt blieb und er hatte zu viele Fragen an den Jungen, dass er ihn einfach gehen lassen konnte.
Was hatte ihn so traurig gemacht?
Remai stob aus seinem Haus und auf die Straße. Noch in Socken rannte er so schnell ihn seine Füße tragen konnten in Mameros Richtung.
Auch wenn seine Ausdauer nach dem wochenlangen herumsitzen nicht ansatzweise so gut war wie früher, biss er sich die Zähne zusammen und rannte im vollen Tempo. Seine Augen scannten ununterbrochen die Menschenmasse nach auffällig mattgrünen Haaren ab. Irgendwo musste der Junge sein. Remai konnte ihn nirgendwo erkennen, doch so schnell gab er seine Hoffnung nicht auf. Vielleicht war Mamero ganz in der Nähe. Probehalber erhob Remai immer noch im vollen Tempo seine Stimme. "Mamero! Mamero, ich..." Remai stockte. Urplötzlich blieb er stehen. Ein Mann knallte in Remai rein, als er wie erstarrt an einer Stelle verharrte und einfach greadeaus starrte. Das genervte Grummeln des Mannes bekam Remai gar nicht mit.
Was sollte er Mamero sagen? Was konnte er sagen? Sie hatten sich bisher einmal wirklich getroffen, noch nicht einmal lang genug, dass sich daraus irgendeine Freundschaft hätte bilden können. Eigentlich waren ihre Namen und dass sie zufälligerweise eine Seele besaßen alles, was sie voneinander wussten. Und diese Gemeinsamkeit machte sie nicht gleich zu Freunden. Konnte er sich denn anmaßen, einem Siebenjährigen hinterherzurennen, der ihn ignoriert hatte?
Verzweifelt biss sich Remai die Zähne zusammen und verkrampfte seine schmerzenden Hände. Noch lange sah er in die Richtung in der er Mamero vermutete.
Der Junge hatte so verletzlich gewirkt. Das komplette Gegenteil zu ihrer letzten Begegnung. Es brannte in ihm Mamero hinterherzurennen, nach den Grund für seine Trauer zu fragen und ihm so gut es ging zu helfen. Doch Remais Entscheidung war bereits gefallen. Es war die einzige Entscheidung, die er treffen konnte.
Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf drehte er sich um und machte sich auf den Rückweg.
Er watete durch den grauen Sumpf. All seine Kleidung, sogar sein Gesicht waren mit der grauen Masse befleckt. Kaum ein anderer Farbton strahlte hindurch. Doch es machte ihm nichts aus. Er bemerkte die klebrige Masse an sich nicht einmal mehr, so gewohnt war er sie. Mit der Zeit hatte er begonnen die verschiedenen Grautöne wie Farben zu sehen. Das dunkelgrau, das etwas dunkeler noch war als das leicht blaugraue, war seine Lieblingsfarbe. Wie immer watete er durch den endlosen Sumpf und freute sich über die unterschiedlichen Farbtöne, die ihm diese Welt schenkte... Und doch fühlte er sich, als hätte er ein riesiges Loch im Herzen. Doch er konnte sich nicht ausmalen, warum er so fühlte. Ihm fehlte doch nichts.
Nachdenklich sah er eine Zeit auf den Boden, fand aber keine Lösung für sein Problem, schluckte und versuchte wie immer, es zu ignorieren.
Doch dann sah er etwas, was sein Leben veränderte. Es war eine Farbe. Eine reine, violette Blume erblühte weit weg am Horizont. Sein Herz klopfte laut. So etwas wunderschönes hatte er noch nie gesehen. Es passte nicht in diese Welt und doch machte genau das sie so viel wertvoller.
Er rannte los. Der Matsch an seinem Körper wurde von den schnellen Schritten abgerissen, doch er merkte es kaum. Nur die Blume, die Farbe, hatte sich in seinem Kopf festgesaugt und er konnte es nicht mehr erwarten, endlich vor ihr zu stehen. Der eintönige, graue Matsch stob in alle Richtungen, als er mit rasenden Schritten darüber hinwegeilte.
Dann ertönte ein lauter Krach und er blieb schockiert stehen. Die Blume war verschwunden, vergraben von einem riesigen Hochhaus, das darauf gefallen war. Es war Grau, wie alles andere und so groß, dass es bedrohlich auf ihn hinabzustarren schien.
Sein Herzschlag setzte aus. Er kannte dieses Gebäude. Auch wenn es jedem anderen noch so ähnlich war, hatte er gelernt die winzigsten Unterschiede sofort zu erkennen.
Es war das Kinderheim.
Remai schreckte hoch.
Sein Blick huschte kurz orientierungslos durch das Zimmer, bevor Remai sich sicher war, wo er sich befand. Der Traum hatte so echt gewirkt. So als ob er wirklich durch diese wiederwärtig klebrige, graue Masse gegangen war. Er zog eine Grimasse, als er an die ganzen Grautöne dachte, die er im Traum hochgelobt hatte. Und dann zerstörte das Hochhaus die letzte und erste Blume.
Remais Augen weiteten sich, als er an diese Szene dachte. Das Hochhaus, was plötzlich auf die Blume gefallen war. Remai erinnerte sich düster an einen alten Artikel, den er einmal gelesen hatte. Auch wenn er sich nicht mehr im Detail darin erinnern konnte, ging es um zukunftsandeutende Träume. Jedenfalls behaubtete der Autor, dass Träume solche Fähigkeiten haben konnten. Doch seine Frau empfand den Artikel als uninteressant, weshalb Remai ihn schnell weggelegt hatte. Und doch... der heutige Traum hatte sich so real angefühlt und so wichtig.
Vielleicht steckte Mamero in Schwierigkeiten.
Remai sprang aus seinem Bett und zog sich blitzschnell seine Klamotten an. Gestern hatte er sich dazu entschieden, Mamero ziehen zu lassen, aber einen schnellen Blick ins Kinderheim zu werfen konnte keine Straftat sein.
Er wollte nur wissen, ob mit dem Jungen alles in Ordnung war.
Er stülpte seine Schuhe über und rannte auf die Straße. Auch wenn der Regen aufgehört hatte, hatten sich riesige Fützen auf dem Asphalt gesammelt, die Remai weitesgehend ignorierte und einfach mitten hindurch stürmte.
Mamero hatte den Kopf gesenkt, als der Mann vor ihm stand. Zufrieden tänzelte die Kinderheimsmutter vor dem Mann herum und präsentierte Mamero stolz, als wäre er ein Ausstellungsstück. "Er ist ein sehr lieblicher Junge, wenn man ihn einmal ins Herz gefasst hat", versicherte sie, woraufhin Mamero sie nur mit einem giftigen Blick betrachtete. "Ein bisschen wortkark, aber das ist sehr gut. So stört er Sie nie beim Fernsehen."
Der Mann ging um Mamero herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Mamero fühlte sich tatsächlich wie ein Zootier, das gerade die Chance hatte, in ein neuen Käfig zu kommen. Wenn er nur diesen kleinen Test bestand. Aber er hatte sich entschlossen, keine Probleme mehr zu bereiten, daher stand eigentlich schon fest, welcher der tausend leblosen Fische sein Vater auf Papier werden würde. Mamero konnte sich nur einen Grund ausmalen, warum ihn so jemand adoptieren wollen würde. Es bescherte einem doch immer Ansehen, wenn man anderen erzählen konnte ein Problemkind adoptiert zu haben, das sich in ihrer Familie wie ein Engel verhielt. Doch das natürlich nur, wenn sich das Kind wie ein Engel verhielt.
Verbissen ließ Mamero seine Schultern hängen. Er hatte geschworen sich ab jetzt ruhig zu verhalten!
Angewiedert verzog Mamero das Gesicht, blieb jedoch still stehen, auch wenn die Blicke des Mannes unangenehm auf ihn lagen. Seine Frau stand nur daneben und lächelte Mamero an, als würde sie ihm Mut machen wollen. Oder Hoffnung, oder irgendwas, was sie selber offensichtlicherweise noch nie gespürt hatte. Es wirkte einfach alles an ihr falsch, wie bei all diesen Leuten. Als der Mann wieder vor Mamero stand nickte er. "Gut, wie lange dauert so ein Prozedere, bis wir ihn..." Durch das Donnern der Tür gegen die Wand wurde er unterbrochen. Verwundert drehte er sich um, um den Ruhestörer zu erblicken.
Mamero war nicht interessiert. Es war sicher wieder nur irgendeine sinnlose Unterbrechung, weil ein Interessent für ein anderes Kind aufgetaucht war.
Endlich stand er vor dem Kinderheim. Erschöpft stemmte er seine Hände auf die Knie und rang nach Atem. Nächstes Mal sollte er wirklich sein altes Fahrrad nehmen. Warum musste er eigentlich immer rennen? Als hätte er einen Termin, den er einhalten müsste. Vielleicht hatte er ja auch einen, obwohl man das nach nur einem Traum nicht sagen konnte. Entschlossen sah Remai zum Kinderheim, als wäre es sein schlimmster Feind. Mit festen Schritten stapfte er in das graue Hochhaus hinein. An der Rezeption stand niemand. Schulterzuckend ignorierte Remai die Anmeldepflicht und ging einfach weiter. Er hatte keine Zeit!
Vielleicht hatte er sie, aber vielleicht auch nicht. Nachdem Mamero sich gestern so verhalten hatte, konnte alles los sein. Selbst wenn sein Traum nichts mit Mameros Problemen zu tun haben könnte, Remai fühlte sich einfach unwohl. Es war wirklich besser schnell zu checken ob alles klar war.
Er ging dieselben Wege, die er auch bei seinem ersten Besuch hier eingeschlagen hatte. Seltsamerweise hörte er keine Kinder spielen, toben, oder was die kleinen Racker sonst so anstellen mochten. Es war zu still für ein lebendiges Kinderheim. Wie in einem Horrorfilm.
Remai blieb stehen, als er von einer Tür aus Stimmen vernahm. Von Neugierde getrieben schlich er näher an das entsprechende Zimmer ran.
Als er die Heimmutter hörte weiteten sich seine Augen. Mamero sollte von jemanden adoptiert werden?! Von einer Familie verschlungen, die genauso grau wie der Rest der Welt war?! Und Mamero spielte mit?!
Mit hämmernden Herzen und einem einzigen Gedanken riss Remai die Tür auf.
Außer Atem keuchte Remai ein "Stopp", das nicht ansatzweise so imposant klang wie er geplant hatte. Schweißgebadet suchte sein Blick Mamero und fand ihn. Alle Blicke lagen auf den plötzlichen Störenfried, doch der Junge hatte Remai anscheinend noch nicht gesehen, er stand einfach von ihm abgewandt mitten im Raum wie eine Austellungsstatue.
Die Hausmutter ergriff das Wort. Ihr Ton klang ruhig, wohl um wie eine nette Person in Anwesenheit von potentiellen Adoptionseltern dazustehen. "Herr Polizist, ich weiß nicht was in ihnen gefahren ist, hier einfach plötzlich reinzustürmen, aber wie sie sehen ist hier gerade eine Adoption im Gange. Daher bitte ich Sie inständig ihre Angelegenheit auf später..."
"Ich adoptiere ihn", schoss es aus Remai heraus. Überrascht über seine eigenen Worte sah er mit dem gleichen erstaunten Gesichtsausdruck zurück, der ihm auf diese Worte hin geschenkt wurde. Mameros Augen hatten sich jedoch noch stärker geweitet als bei dem Rest, als er zum ersten Mal in Remais Richtung sah und sein Mund war weit nach unten gefallen. Fassungslos sah er auf Remai.
"Du willst was?", fragte ihn die Frau empört und verwundert gleichzeitig. "Wie Sie sehen hat Mamero bereits jemanden gefunden, der ihn adoptiert und zwar Herrn Pall hier. Sie kommen leider zu spät, Herr Polizist. Daher bitte ich Sie noch einmal, zu gehen.
Verzeihen sie die Unannehmlichkeiten, Herr Pall." Damit warf sie einen auffordernden kühlen Blick auf Remai.
"Ich glaube, Mamero selber hat noch keine direkte Zustimmung für diese Adoption gegeben.", merkte Remai an, und sah auf den gecknickten Jungen, "Lassen wir ihn doch entscheiden, zu wem er ziehen will. Immerhin geht es um seine zukünftige Familie."
"Er ist erst sieben", warf die Frau energisch ein, "was kann man da schon groß entscheiden? Der erste kommt, der erste bekommt, Herr Polizist!"
Wütend sah Remai auf die Pflegemutter. "Mamero ist kein Tier", erwiederte er mit einer Stimme, die von Gift nur so tropfte. Daraufhin sah ihn die Mutter nur herausfordernd in die Augen.
Währenddessen hatte sich Frau Pall vor Mamero gekniet und räusperte sich demonstrativ. "Ich schließe mich dem Polizisten an. Lassen wir den Jungen entscheiden. Ich bin mir sicher, dass er weiß bei wem er es besser haben wird." Auffordernd lächelnd sah sie den Grünhaarigen an. Sie wollte wohl so freundlich wie möglich wirken, doch ihre toten Augen konnten ihre Seelenlosigkeit nicht verstecken.
Zögernd sah der Junge auf Remai. Doch sobald sich ihre Blicke trafen, schnallte Mameros Kopf wieder nach vorne.
Als sich Mamero von ihm abwand, sackten Remais Schultern enttäuscht nach unten. Irgendwie musste Remai ihn beleidigt haben, dass der Junge den Kontakt mit ihm so mied. Hoffnungslos schüttelte er den Kopf und sah geschlagen zu Boden. Es hatte von Anfang an keinen Sinn ergeben, aber die Worte hatten sich selbstständig gemacht. Es war so klar, dass Mamero nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, auch wenn Remai sich nicht erklären konnte warum. Das einzige was aich Remai denken konnte war, dass er sein Versprechen an Mamero nicht eingehalten hatte. Er war nie aufgetaucht und hatte ihm seinen Garten gezeigt. Remai hatte einfach nicht daran gedacht.
Mamero murmelte etwas. Sofort lagen alle Blicke auf ihn, obwohl keiner verstanden hatte, was Mamero von sich gegeben hatte. Nur Remais Kopf war immer noch gesenkt. Die Luft schien zu knistern, als alle angespannt auf weitere Worte warteten. Frau Pall strahlte, als wüsste sie genau was gleich kommen würde. Ihre Sicherheit verunsicherte Remai umsomehr.
Ungeduldig keifte die Heimmutter: "Jetzt noch mal in lauter! Wir wollen dich verstehen!" Hoffnungslos rollte sie mit den Augen, als Mamero noch immer schwieg. Aber nach ein paar Sekunden erhob er abermals die Stimme. "Wenn... Wenn es wirklich in Ordnung ist, nach allem, was ich dir angetan habe, Remai...", verunsichert sah er Remai in die Augen. Verwirrt begegnete dieser Mameros Blick. Es hatte nichts mit seinem Versprechen zu tun? Aber was hatte Mamero ihm angetan?
Mameros Blick wandte sich wieder von Remai ab und er schüttelte traurig den Kopf.
"Ich verdiene es nicht bei dir zu Leben... Immerhin habe ich dein Leben zerstört." Seine Worte erreichten Remais Ohr nur als ein leiser Hauch, aber sie schlugen ein wie eine laute Explusion. Die drei Menschen um ihn herum waren für Remai zu Eis erfroren, sie spielten keine Rolle. Mit feurigen Schritten ging Remai auf Mamero zu und kniete sich vor ihn. Sanft berührte er seine Schulter. "Wann hast du mein Leben zerstört? Ich kann mich nur an eine Begegnung mit uns erinnern, als ein willensstarker Junge mir die Welt zeigte", erklärte Remai mit ehrlicher Verwirrung in der Stimme.
Panisch schüttelte Mamero den Kopf, als würde er Erinnerungen wegschütteln wollen. "Du saßt Wochenlang in deiner Wohnung. Jeden Tag unverändert! Und das alles nur, weil ich nicht begreifte, was ich dir angetan habe!" Eine Träne rollte über Mameros Auge, sie war der Anfang eines ganzen Stroms. "Ich habe dir die Wahrheit gesagt, die dein Leben zerstörte und ich habe es noch nicht einmal bemerkt! Erst als ich nach tagelanger Suche dein Haus fand und dich im Fenster sah... Du warst so traurig, so ohne jegliche Hoffnung... Da habe ich erst begriffen, was du durchstehen musstest! Natürlich warst du ohne Hoffnung, als du bemerktest, dass keiner deiner Liebsten tatsächlich existiert! Dass du ihr Leben dir nur eingebildet hattest! Wie konnte ich diese Illusion so einfach zerstören und dir die gleiche Einsamkeit geben wie mir?" Nach dem Redefluss legte sich eine Pause ein, in der beide schwiegen. Remai konnte Mamero nur überrascht und traurig in die Augen sehen, während sich der Junge versuchte ein wenig zu beruhigen. Über so vieles hatte der kleine Junge nachgedacht. So viele Laster hatte er sich aufgelegt. Er glaubte, ein Leben zerstört zu haben. Er war erst sieben.
"Als ich dich dort sitzen sah... habe ich mir geschworen solange über dich zu wachen, bis sich etwas ändert. Bis du aufsiehst und die Sonne bemerkst, oder bis du aufstehst und aus dem Haus zu deinem Rasen gehst. Solange wollte ich kommen und dann endlich für immer aus deinem Leben verschwinden. Derjenige, der das einzige Leben zerstört, dass er jemals neben seinen eigenem gefunden hat, hat nicht das Recht mit ihm zu leben. Und jetzt bist du hier... Natürlich sagt mir mein Herz, dass ich bei dir leben will, aber ich habe kein Recht darauf." Mamero ging einen Schritt auf Frau Pall zu. Doch ehe er einen weiteren gehen konnte, umarmte Remai ihn.
"Mamero... Du hast nie mein Leben zerstört, hörst du? Niemals! Als ich dich getroffen habe, wurde mir klar in was für einer Welt ich lebe. Und das traf mich wie im Schlag. So sehr, dass ich nicht damit fertig wurde, da hast du Recht. Aber es ist niemals deine Schuld gewesen. Wenn man in einer Wüste ohne Tiere lebt, ist dann der erste kleine Vogel den man sieht daran Schuld, dass man realisiert, in was für einer Welt man eigentlich lebt? Ist der kleine Vogel nun böse, weil er die Sehnsucht nach etwas anderen in einem geweckt hat? Mamero als wir uns das erste mal begegneten warst du wie ein Vogel für mich. Du weißt doch, was das ist? Du warst so frei, hast deine Flügel ausgebreitet und hast dich nicht mit der Gesellschaft mitreißen lassen. Du warst einfach so, wie du sein wolltest. Auch wenn du ganz allein auf der Welt warst, bist du deinen Weg gegangen. Während ich meine Augen verschlossen habe und einfach mit den Rest mitgeschwommen bin. Immer mit dem unterbewussten Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Alles was du tatest war mir die Augen zu öffnen, das Plakat vor mir wegzureißen und mir die Welt zu zeigen. Ich danke dir dafür. Auch wenn ich eine Zeit lang brauchte, es zu bemerken, ist diese Welt nicht nur schlecht. Sie hat dich und mich. Und wenn wir uns gefunden haben, zwei lebende Seelen, dann bin ich sicher, dass wir auch noch andere finden werden. Irgendwo da draußen wird es Seelen geben, die auch nach anderen Suchen. Und wenn wir uns alle gefunden haben, dann ziehen wir an einen Ort und bauen einen Stadtteil nach unseren Vorstellungen.
Mamero, du warst der Anfang für mich, solche Gedanken haben zu können. Dafür muss ich dir danken. Du hast mir ein Leben geschenkt, nicht genommen."
Remai löste sich von dem Jungen, ließ seine Hände aber noch auf der kleinen Schulter liegen und lächelte ihn an. "Möchtest du zusammen mit mir auf die Suche gehen?" Mameros Augen waren immer noch geweitet. Doch während Remai auf eine Antwort wartete, bildeten sich weitere Tränen in Mameros Augen.
Wahrscheinlich sie zu verbergen, auch wenn er dadurch nur Remais Hemd durchnässte, klammerte sich Mamero wieder an Remai. Zwar erwiederte Mamero immer noch nichts auf seine Frage, doch spürte Remai deutlich an seiner Brust ein Nicken.
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Elenyafinwe M • Am 28.03.2018 um 8:44 Uhr
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Hallo, Ich war zunächst ein wenig abgeschreckt, dass du in den Text mit dem berühmtberüchtigten Single Teardrop einsteigst. Zudem auch noch mit einer sehr überladenen Sprache, dann aber schnell einen Stilbruch hast. Dann aber hat mich die Handlung doch schon neugierig gemacht, wohin der Weg führen wird und was es mit der Welt auf sich hat. Genretechnisch würde ich es zunächst als Dystopie einstufen. Derzeit kann man noch nicht allzu viel sagen, weil einfach noch nicht so viel da ist. Daher: mach was draus, das Potenzial ist da! Nur soviel: stilistisch könnte man an einigen Stellen noch etwas feilen. Lg Auctrix Mehr anzeigen |
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Wörter: | 7.729 | |
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