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Sätze: | 35 | |
Wörter: | 823 | |
Zeichen: | 5.124 |
Manchmal hatte Ondina das Gefühl, dass der Himmel mit jedem Tag, der verging, vollkommener wurde. Es tat fast weh, ihn anzuschauen: Tagsüber makelloses Blau, tief, leuchtend, wolkenlos. Die Sonnenauf- und -untergänge in flammendem Rot, die Sonne selbst unwirklich groß und klar. Und nachts, so wie jetzt eben, erschienen Millionen Sterne, von Horizont zu Horizont dicht aneinandergedrängt.
Es war herzzerreißend.
Ondina richtete sich in der daunenweich gepolsterten Gartenliege wieder auf, einen Blick auf ihre goldene Armbanduhr werfend. Gleich müsste sie hineingehen, gleich würde es anfangen, aber ein Moment des Träumens blieb ihr noch. Gedankenverloren ließ sie ihre Augen über die Aussicht schweifen, der sich, fast ebenso glänzend perfekt wie die Sterne, ihr anbot: Der auf Hochglanz polierte weiße Marmor und die schimmernden Glasskulpturen der Terrasse, auf der sie saß, funkelten im kühlen Licht. Weiter hinten wechselten sich Wege aus glattgeschliffenen Kieseln und Felder aus teurem, importiertem Kunstrasen in fantasievollen Mustern ab. In der Mitte all dessen prunkte der krönende Abschluss des Gartens: ein silberner Springbrunnen, aus dem aus glitzerndem Kristall gemeißelte Strahlen, in ewiger Schönheit erstarrt, gleichsam hervorsprudelten. Erst vor Kurzem hatten Ondinas Eltern die gesamte Fläche bis zur marmornen Grundstücksmauer von einem berühmten Landschaftsdesigner neugestalten lassen, sodass sie nun fast – fast – die prachtvolle Villa selbst übertraf.
Wieder auf ihre Uhr schielend nahm das Mädchen zur Kenntnis, dass es wirklich sehr bald so weit wäre, erhob sich, und trat durch hohe Glastüren von der Terrasse ins Wohnzimmer. Weicher Plüschteppich umschmeichelte Ondinas Füße; Blumen aus feinster Seide, von Hand geformt, bemalt und zu ausladenden Arrangements zusammengesteckt, dufteten ihr aus Porzellanvasen entgegen. Ihr Blick blieb am übergroßen schwarzen Bildschirm hängen, der, gerahmt von zwei aus teuerstem Rosenholz geschnitzten Bäumen, fast die gesamte Wand einnahm. Der Fernseher, mit seinem futuristischen Soundsystem und seinem Hochleistungsempfänger, war wohl der beste, den es bisher überhaupt auf dem Markt gab.
Gleich würde es losgehen. Ondina eilte weiter, den Flur entlang zur Küche, wo sie ihre Mutter vermutete.
Sie freute sich so darauf, dass es lief. Jeden Abend kam es, pünktlich um dieselbe Uhrzeit, doch sie hätte es um nichts auf der Welt auch ein einziges Mal verpasst. Wie alle, groß und klein, sich Schulter an Schulter zusammenquetschten und gespannt, ja süchtig, zusahen, den Atem vor Aufregung angehalten – es war jedes Mal aufs Neue wie Magie.
„Da bist du ja, ich hatte schon fast gedacht, du lässt es heute mal ausfallen“, sagte ihre Mutter, als Ondina die hochpolierten Mahagoni-Dielen der großen, tadellos sauberen Küche betrat. Offensichtlich der Versuch eines leichtherzigen Scherzes – aber ihre Stimme klang flatterig und heiser, und ihre Tochter schnaubte nur. Als ob.
Nervös spielte die Frau mit ihren langen Perlenketten, ihre Absätze klackten auf dem Edelholz des Bodens, während sie unruhig hin- und hertapste. Auch in diesem Raum war alles mit größtem Aufwand eingerichtet – üppige Kunstblumengestecke, prächtige Kronleuchter, jedes Gerät und jedes Utensil bis hin zu dem hohen Kanister, der im Spülbecken stand, spiegelglatt verchromt. Auch hier prangte ein gewaltiger Flachbildfernseher mitsamt riesigen Lautsprechern an einer Wand.
Gleich, gleich würde es angeschaltet werden.
„Ihr seid ja schon da, na wunderbar!“, rief Ondinas Vater, leicht außer Atem, als er eintrat. Ihm folgten Mortimer und Fontaine, ihre jüngeren Brüder, mit erwartungsvoll geweiteten Augen. Ihre Vorfreude fand sich auch in den Gesichtern ihrer Eltern wieder.
„Gleich geht‘s an, gleich beginnt‘s...“, flüsterte Ondina fieberhaft vor sich hin. Sie stand schon an der Spüle bereit, beide Hände stützend um den Kanister gelegt.
Eine unheimliche Stille fiel über die Familie, als die Wanduhr die volle Stunde ankündigte. Und dann –
Lief es.
Mit einem leisen Keuchen beugte sich die Mutter noch weiter vor, sich unsicher an der Kante der Küchentheke festhaltend. Die Söhne drängelten um den besten Platz, wandten jedoch nie den Fokus ab. Kein Auge blinzelte, kein Muskel lockerte sich, während die Familie das Geschehen verfolgte, als hätte sie noch nie etwas Vergleichbares gesehen,
gebannt,
gefesselt,
gierig –
Gab es nicht noch ein anderes Wort dafür, das Ondina mal gekannt hatte?
Dann hörte es auf.
Als ob sie aus einer Hypnose erwachte, riss Ondina ihren Blick los und schaute in die Runde ihrer Familie. Sie sah, wie sie zögernd ausatmeten, in sich zusammensanken, und wie erst nach und nach etwas in ihre Gesichter zurückkehrte – oder war es eher ein Verschwinden?
„Eintausend-achthundert-ein-und-fünfzig Milliliter“, las ihre Mutter sorgfältig an den Markierungen ab. Tapfer lächelte sie ihren Mann an, doch die rotgeschminkten Lippen zitterten.
Ondina wandte sich von ihrer Familie ab, trat an das offene Fenster und starrte zum nächtlichen Himmel hinauf.
Wie immer konnte sie jeden einzelnen Stern zählen. Kein Wölkchen, kein Nebelfetzen versperrte ihr die Sicht.
Es war herzzerreißend.
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SiononBladesong • Am 29.06.2018 um 2:03 Uhr | |
Ich meine, ich hätte verstanden woraus das Abendprogramm besteht, aber wenn es so ist, wie ich vermute, frage ich mich, wie die Familie überhaupt überleben kann. Schöne Idee, ich mag Geschichten, bei denen man nachdenken muss. |
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Larlysia • Am 13.04.2017 um 11:14 Uhr | |
Die Geschichte ist echt super. Ich wünschte, ich könnte so gut schreiben wie du! Ich finds toll, wie du die verschiedenen Charaktere beschreibst, ich kann sie gut aueinanderhalten (was nicht bei allen anderen Kurzgeschichten der Fall ist). Mich würde es total interessieren, wie viele Leser die Geschichte verstehen, ich hab ja ewig dazu gebraucht! |
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