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Earth

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06.05.18 13:59
16 Ab 16 Jahren
Bisexualität
In Arbeit

Langsam und auf Zehenspitzen schleiche ich durch den Wald, immer darauf bedacht auf keinen der vielen am Boden liegenden Äste zu treten. Der Wind fährt durch meine kleinen schwarzen Flechtzöpfe, die wild vom Kopf abstehen. In meiner rechten Hand befindet sich eine hölzerne Armbrust, die ich sich, schon seit ich klein bin, in meinem Besitz befindet. Auf der dünnen Sehne liegt ein dünner Pfeil mit einer eisernen Spitze fest eingespannt. Das Holz ist schwarz und einige Zentimeter von den dem Eisen entfernt, habe ich meinen Namen mit einem kleinen Messer so sauer wie möglich eingraviert. Mich selbst habe ich in einen schwarzen Anzug einhüllt. Den Mantel, den ich sonst immer getragen habe, habe ich heute weggelassen, da ich sonst zu oft darüber gestolpert bin. Aus Fehlern lernt man eben. Plötzlich nehme ich ein Geräusch nur wenige Meter von mir entfernt wahr. Zweifellos ist es ein Islar. Das ist ein fuchsartiges Wesen mit weißem seidigem Fell. Dieser Pelz wird oft zum Weben von besonders wertvollen Mänteln genutzt. Das wird mir viel Geld bringen! Ich muss ihn erwischen. So eine Chance bekomme ich in den nächsten Tagen vielleicht nicht nochmal. Vielleicht nicht einmal in den nächsten Wochen oder Monaten. Das Herz schlägt mir bis zum Hals und das Blut rauscht durch meine Adern. Ich liebe diesen Adrenalinstoß, der mich jedes Mal mit Energie vollpumpt, wenn ich auf der Jagd bin. Dieser Nervenkitzel ist einfach nur grandios.

Plötzlich packt mich jemand feste und zieht mich zu sich. Mit der anderen Hand hält die Person mir den Mund zu. Es ist mein bester Freund Blake, doch er ist mehr als das. Erst ist auch mein Partner, mit dem ich mich so oft es geht, auf die Jagd begebe, um meiner Familie bei der Ernährung zu helfen und nebenbei selbst ein wenig Spaß zu haben. Das Gefühl des Holzes in meiner Hand ist atemberaubend und ich will es nie mehr aus der Hand legen.

"Nicht so schnell, Schätzchen", flüstert der braunhaarige Junge mir ins Ohr. Seine Stimme jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken und zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen: "Ich soll also warten, bis er weg ist?" "Nein, du sollst einfach warten, bis es sich in der richtigen Position befindet", mahnt er. "Vergiss es, ich warte nicht mehr", ich reiße mich von ihm los und laufe still und heimlich durch den Wald auf das Tier vor uns zu. Als ich mich jedoch fast in der perfekten Position befinde, um zu schießen, werde ich plötzlich in die Luft gerissen und baumele kopfüber in der Luft. Ich schreie laut auf, woraufhin der Islar verschwindet, was in diesem Moment aber mein kleines Problem ist. Verzweifelt versuche ich mich zu wehren, doch nichts geschieht. Das Metall schlingt sich nur noch fester um meinen Knöchel und schneidet in das Fleisch ein. Das rote Blut tropft mein Bein hinunter und fällt langsam auf den Boden. "Blake!", rufe ich feste zappelnd. Schweiß läuft mir die Stirn hinunter. Ich bin darüber verwundert, wie es dazu gekommen ist. Meine Brust hebt und senkt sich nun schneller: "Blake, bitte komm und hilf mir!" "Alles gut", versucht Blake mir gut zuzureden und rennt zu mir herüber, doch das ist leichter gesagt als getan.

Wie von Zauberhand beginnt die Erde von der einen auf die andere Sekunde zu beben. Die Bäume schütteln ihre Äste noch wilder als der Wind es je tun könnte. Die Kiesel und Äste auf dem Boden hüpfen im Sekundentakt auf und ab als würden sie einem Rhythmus folgen. Nun läuft das Blut nur noch mehr und ich bin kurz davor ohnmächtig zu werden, wodurch die Erde nur noch mehr zu beben scheint. Was ist hier los?

Jetzt ist Blake endlich bei mir und nimmt mein Gesicht in seine Hände: "Versuch dich bitte nicht zu bewegen. Ich regel das." Der Grauäugige zieht einen seiner eigenen Pfeile aus seinem Köcher und rammt ihn in das kleine Loch, was wohl wie ein Schloss funktioniert. Dadurch schließt es sich jedoch nur noch enger um mich und hält mich wie eine Würgeschlange fest in seinem Griff. Nun wird mir immer wieder schwarz vor Augen, doch ich versuche mich weiter zu konzentrieren, was in Anbetracht der Situation gar nicht so leicht ist. "Bitte beeil dich, Blake", flüstere ich. Bei den letzten Worten versagt meine Stimme beinahe komplett.

Die Erde bebt noch stärker und auf einmal teilt der Boden sich an einigen Stellen. Die Erde wirkt nun wie Stoff, der einer zu hohen Belastung ausgesetzt wird, sodass er einfach zerreißt. Was zum Teufel geht hier vor sich?

Plötzlich wackelt auch der Stein, auf den sich Blake gestellt hat und er fällt hinab auf den Boden. Zu meinem Schrecken muss ich tatenlos mit ansehen, wie er unkontrolliert mit dem Kopf voran auf einem großen Felsen ankommt. Es knallt laut und eine helle Blutlache ergießt sich auf der Kante, auf die seine Stirn getroffen ist. Obwohl der Boden noch bebt, interessiert mich das nicht mehr wirklich. Meine ganze Aufmerksamkeit ist auf meinen Partner gerichtet, der dort liegt und keine einzige Regung mehr zeigt. Nun beginnt auch das Metall an der Falle zu zittern und auseinander zu springen, sodass ich mich selbst nun wieder befreien kann. Mit zitternden Händen öffne ich die Falle und stürze zu Boden, doch auch das stört mich nicht, da mein Partner in dieser Situation vorgeht. Erst als ich bei Blake ankomme, merke ich, dass ich weine. Meine salzigen Tränen rinnen meine Wangen hinunter und tropfen auf seine helle Haut, die so einen wunderschönen Gegensatz zu seinen dunklen Haaren und Augen bilden. Schnell reiße ich ein Stück meines Oberteils ab und verbinde damit die Wunde am Hinterkopf des Jungen. Seine Augen hat er geschlossen und sein Atem geht flach. Für einen Moment denke ich, dass er gar nicht mehr atmet. Mein ganzer Körper zittert und die Angst sitzt mir tief in den Knochen. Das Beben ist nun stärker geworden und rüttelt mich durch. Schwach legt er seine Hand an meine Wange und versucht mir die Tränen wegzuwischen. Dann öffnet er seinen Mund langsam und versucht etwas von sich zu geben, doch es ist nur ein leises Flüstern: "Ich liebe dich, Schätzchen." Der Spitzname, den er immer für mich verwendet, bringt mich nur noch mehr zum Weinen. Bei unserem ersten Treffen hat er mich so genannt und seitdem hat er diese Gewohnheit nicht mehr abgelegt. Nun laufen auch ihm die Tränen hinunter. Meine Stimme klingt kratzig, als ich erwidere: "Ich liebe dich auch." Sanft lächelt er sein typisches Lächeln, was mich jedes Mal zum dahin schmelzen bringt. Als auch ich seine romantischen Worte wiederholt habe, schließt er seine Augen und sein Kopf rollt auf die Seite. Mein fester Griff schließt sich um seine Arme und so fest ich kann, beginne ich ihn verzweifelt zu schütteln: "Nein, bitte geht nicht, Blake! Bleib bei mir!" Doch er kommt meiner Bitte nicht nach, sondern zeigt keine Regung mehr. Ich lasse meinen Kopf auf seine Brust sinken und weine bitterlich. Das kann er mir doch nicht antun. Ein Baum bricht um mich herum zusammen und löst eine Kettenreaktion aus. Ich ziehe Blake in meine Arme und will ihn nie wieder loslassen. Wieso geht er einfach und lässt mich hier zurück?

Der Regen plätschert auf die Erde einige Meter unter mir hinab und der Wind zehrt an den Blättern der Bäume um mich herum. Die Blätter lösen sich von den Bäumen und tänzeln durch die Luft, bis sie dann auf der Erde landen und vom Regenwasser weggespült werden. Der Stein der Fensterbank unter meiner Haut fühlt sich angenehm kalt an. Dieser Anblick beruhigt mich wie immer von innen heraus. Den Geruch des Regens kann ich auch durch das geschlossene Fenster riechen, da er mir so vertraut ist. Mein Kopf ruht gegen die helle Tapete gelehnt. Meine Gedanken ruhen auf dem neuen Mädchen, was nur vor wenigen Stunden hier angekommen ist. Auf dem Mädchen, dass sich als meine Schwester vorgestellt hat. Ich würde es gerne glauben, aber es wirkt so abwegig. Meine Familie wollte mich nicht, meine Eltern sind tot und eine Schwester habe ich nicht. Jedenfalls habe ich keine an die ich mich erinnern kann. Mein dunkelbraunes Haar fällt locker über meine Schultern und meine Haut wird von einem weißen Nachthemd, welches Hilley gehört hat, als sie noch klein war, bedeckt. Meine Füße liegen nackt gegen den Fensterrahmen gelegt. Der Mond scheint durch das Fenster und auch die Sterne erleuchten in dieser Nacht mein Zimmer. Kein Geräusch ist im ganzen Haus zu vernehmen. Es wirkt, als würde alles um mich herum schlafen, nur ich nicht.

Plötzlich ist doch ein Geräusch zu hören. Es klingt wie Schritte auf dem knarrenden Holz im Flur. Dann sehe ich plötzlich, wie die Türklinke hinuntergedrückt wird. Ich halte instinktiv die Luft an. Wer kann das sein? Irgendwie fühle ich mich nicht mehr sicher, seit dieses fremde Mädchen bei uns eingezogen ist. Hilley hat sie natürlich sofort aufgenommen und ihr ein Zimmer gegeben. Das hat mir eher weniger gefallen. Schließlich wissen wir nicht, ob sie es wirklich ist. Dieses Mädchen könnte auch einfach irgendwer sein, der sich als Sarah Montgomery ausgibt. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie unmöglich meine Schwester sein kann, aber in meinem Kopf ist dieser kleine Gedanke, dass es vielleicht doch sein könnte. Vielleicht haben meine Eltern sie ja abgegeben als sie noch klein war, aber das passt auch nicht wirklich zu meinen Eltern. Sie haben mich geliebt und hatten meine Schwester sicher nie abgegeben, wenn ich eine gehabt hätte. Außerdem hätte ich dann doch sicher gewusst, dass ich eine Schwester habe, oder? Schließlich scheint Sarah in dem gleichen Alter zu sein wie ich. Wenn es um das Alter geht, könnten wir sogar Zwillinge sein.

Meine Zimmertür öffnet sich langsam und ich erkenne, wer da gerade hereingekommen ist. Es ist Aria. Das Mädchen, dem ich hier am meisten Vertraue. Ihre hellbraunen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und trägt ebenfalls ein Nachthemd. Es ist jedoch ihr eigenes und keines von Hilleys Alten. "Hey", grüßt sie leise. Das Mondlicht beleuchtet ihr Gesicht und ihr Schatten landet auf dem hölzernen Boden des Flures hinter ihr. Mein Lächeln huscht über meine Lippen: "Hey." "Kann ich hereinkommen?", flüstert sie leise. Ich nicke, woraufhin sie eintritt und die Tür leise hinter sich schließt. Dann kommt sie langsam zu mir herüber und setzt sie gegenüber von mir auf die Fensterbank. Schnell nehme ich meine Beine weg und setze mich im Schneidersitz hin, damit sie sich richtig hinsetzen kann. Auch Aria verschränkt ihre Beine, sodass sie im Schneidersitz sitzt und mich aus ihren hellgrauen Augen ansieht. "Du bist noch wach?", fragt sie leise. Wieso flüstert sie? Hier kann uns doch niemand hören und selbst wenn, würde es keinen stören. Es ist ja nicht verboten nachts wach zu sein. Ich nicke, kann meinen Blick aber nicht von ihren wunderschönen Augen abwenden. "Du anscheinend auch nicht", stelle ich fest: "Sag mal, was hältst du von der Neuen?" Sie atmet tief: "Sei nicht böse, ja? Ich vertraue ihr nicht, Stella!" Es beruhigt mich, dass ich nicht die Einzige bin, die so empfindet. "Ich bin nicht böse", erwidere ich und blicke nach draußen: "Ich denke auch, dass sie nicht die ist, die sie vorgibt zu sein." "Echt?", fragt sie verwundert: "Wieso denkst du das?" "Hätte ich je eine Schwester gehabt, wüsste ich das doch, oder?", ich lehne mich ein Stück nach vorne. Sie zuckt mit den Schultern und beugt sich, genau wie ich, vor: "Vermutlich, aber vielleicht erinnerst du dich auch einfach nicht mehr daran." Ich lasse meinen Kopf wieder gegen die Wand hinter mir sinken und atme tief durch: "Kann sein." Da zuckt plötzlich ein Gedanke durch mich hindurch: "Ich hätte da aber eine Idee." "Echt? Welche?", fragt Aria nun ziemlich interessiert und blickt nach draußen. Langsam lasse ich meine Hand in die Tasche meines Nachthemds geleiten und greife nach der Kette, die ich schon seit längerem bei mir trage: "Hilley hat mir heute gesagt, dass Sarah möglicherweise Erdkräfte hat." Aria sieht mich weiterhin interessiert an, weshalb ich die Kette nun aus meiner Tasche ziehe und weiterspreche: "Und auf der Liste mit möglichen Erben, die Hilley mir einmal gezeigt hat, stehen die Namen der Seraphinen, die als Erben infrage kommen." "Ja, diese Liste habe ich auch gesehen", erwidert sie nachdenklich. Ich lege ihr die Kette mit dem braunen Kristall daran in die Hand und beginne weiter zu erklären: "Wie du ja weißt leuchten diese Ketten, wenn sie vom Erben getragen werden, also könnten wir sie ihr umlegen, um zu testen, ob sie vielleicht wirklich die Erdkräfte geerbt hat. Wenn die Erd- und Wasserkräfte in der Familie liegen und die Kette bei ihr dann leuchtet, ist sie meine Schwester. Wenn nicht, dann nicht." Aria spielt mit der Kette, während sie ruhig darauf blickt: "Das klingt, mehr oder weniger, logisch."
"Also müssen wir ihr die Kette einfach nur umlegen?", fragt sie.
"Ja, aber vielleicht sollten wir sicher gehen, dass es wirklich in der Familie liegt!"
"Und wie?"
"Wir könnten Hilley fragen", schlage ich vor: "Oder wir könnten nochmal auf die Liste blicken."
"Wann sollen wir das denn machen?"
"Keine Ahnung. Einfach dann, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt", ich nehme die Kette wieder in meine Hände und steckt sie in meine Tasche zurück.

Für wenige Sekunden blicken wir uns einfach nur kurz an. Dann wende ich meinen Blick wieder aus dem Fenster: "Wirst du mir helfen?" "Natürlich", erwidert sie und nimmt meine Hand. Diese legt sie dann in ihre eigene. Allein diese Berührung gibt mir den Mut, den ich brauche.

Die Sonnenstrahlen erwärmen mein Gesicht und bringen mich zu blinzeln. Innerhalb von wenigen Sekunden wache ich auf. Ich schlage meine Lieder langsam auf und gebe mir selbst kurz Zeit. Die Decke liegt zerknittert über mir und eines meiner Beine hat sich um den hellblauen Stoff geschlungen. Mein Haar liegt wild durcheinander gewirbelt auf den Kissen und die Spucke tropft mir leicht am rechten Mundwinkel hinunter. Schnell wische ich den Tropfen weg und erhebe mich dann auf dem Bett, nachdem ich ein paar Mal geblinzelt habe. Diese Leute, die am Morgen aufwachen und sofort aus dem Bett aufspringen, um sofort ans Werk zu gehen, kann ich gar nicht verstehen. Ich selbst brauche immer erste einige Minuten, bis ich aufstehe und an die Arbeit gehen kann.

Als ich in meinen Beinen wieder genug Kraft habe, setze ich mich auf und gehe zum Fenster, um es zu öffnen. Mein Bett mache ich nicht sofort, da ich irgendwo mal davon gelesen habe, dass es nicht gut ist das sofort nach dem Aufstehen zu machen. Stattdessen stütze ich meine Ellenbogen auf die steinerne Fensterbank, auf der ich in der letzten Nacht noch mit Aria gesessen habe, und atme die frische Morgenluft ein. Das fühlt sich einfach nur super an. Ich liebe die Luft am Morgen fast so sehr wie die in der Nacht. Einige Raben kreisen über dem Wald und ihr Krächzen schrillt über das Land. Die hohen Grashalme der Felder um das Haus herum bewegen sich im Wind hin und her. Mein Blick wandert weiter zu den Pferden, die sich ruhig über die Wiese stampfen und gedankenverloren grasen. Auch das Pferd, auf dessen Rücken ich beim Ritt zum Rat saß, kann ich erblicken. An den Namen des grauen Hengstes mit der wunderschönen seidig schwarzen Mähne kann ich mich noch erinnern. Hoffentlich werde ich eines Tages noch einmal die Chance bekommen auf Columbus zu reiten. Plötzlich höre ich das Geräusch eines Scheunentores und mein Blick wandert weiter zu Hilley, die gerade aus der Scheune herauskommt. Sie hat ihr fließend langes dunkelbraunes Haar zu einem hohen Knoten gebunden und ein gefaltetes rot-weißes Tuch um ihren Kopf geschlungen. Ihr Körper wird von einer Latzhose, die sie mit einem weißen T-Shirt kombiniert hat, bedeckt, während ihre Füße in hohen schwarzen Reitstiefeln stecken. In diesem Moment fällt ihr Blick auf mich und sie ruft mir einen morgendlichen Gruß zu: "Guten Morgen, Stella! Komm nach unten. Es gibt gleich etwas zu essen."

Auf ihre Bitte hin entferne ich mich vom Fenster und läuft mit nackten Füßen zum Kleiderschrank herüber. Dort angekommen öffne ich die Türen und atme den Geruch der frisch gewaschenen Kleidung im Inneren des Schrankes ein. Spülmittel und frisches Wasser. Ein wunderbarer Geruch, der meine Nase verwöhnt und mich an einen warmen Frühlingsmorgen erinnert. Wie diese Assoziation zustande kommt, weiß ich selbst nicht, aber schlimm finde ich sie nicht. Mit ruhigen Händen nehme ich ein weißes Hemd und eine blaue Hose heraus. Auch zwei Stiefel finden ihren Platz auf dem Fußboden. Ich lege mein weißes Nachthemd ab und falte es ordentlich, nur um es dann in den Wäschekorb aus Cord zu werfen, der neben der Tür platziert ist. Schnell werfe ich mir das helle Hemd über. Der Stoff ist leicht, was beim Kämpfen sicher hilfreich wäre. Dann lege ich auch meine Hose an und schlüpfe in die Stiefel. Mein dunkles Haar kämme ich schnell mit einem dunklen Kamm, der auf meinem Nachttischchen lag, und flechte sie dann zu einem Zopf, damit sie mich nicht ständig stören können. Bevor ich mein Zimmer wieder verlasse, schließe ich das Fenster und mache nun mein Bett, schließlich habe ich jetzt lange genug frische Luft hineingelassen. Dann spurte ich die Treppe hinunter, um mich zu Hilley zu gesellen. Unten angekommen nehme ich aus der Küche heraus ein leises Pfeifen wahr, weshalb ich den Kopf kurz in den Raum stecke, um zu sehen, wer der Verursacher dieses Geräusches ist.

Hilley steht in der Küche vor dem Waschbecken und schrubbt scheinbar gut gelaunt den hartnäckigen Schmutz von einigen Tellern. Durch eines der großen Fenster sehe ich, dass die Pferde immer noch auf der Wiese sind und entspannt herum tollen. Ach, ein Pferd müsste man sein. Dann wären einige Probleme gleich nicht mehr da. Als Hilley mich näher kommen hört, fährt sie herum und lächelt mich freundlich an: "Hast du gut geschlafen?" Ich nicke kurz und entscheide mich dann der Frau ein wenig zu helfen. Flink öffne ich einen Schrank über dem Induktionsherd und nehme einige Teller heraus, da ich vermute, dass auch die Anderen bald herunterkommen und Hunger haben werden. Hilley öffnet den Ofen und der Geruch von frisch gebackenen Brötchen steigt mir in die Nase. Als ich den Tisch fertig gedeckt habe, bittet Hilley mich etwas Wasser aus einem Brunnen in der Nähe der Scheune zu besorgen, was ich auch sofort tue.

Schnellen Schrittes kehre ich zum Haus zurück, nachdem ich, mit meinen Kräften, genug Wasser, um eine ganz Karaffe zu füllen, aus dem Brunnen geholt habe. Auf meinem Weg habe ich mir eine Strategie, mit der ich Sarah möglichst effektiv ausfragen kann, überlegt. Als ich in die Küche zurückstolpere, sitzen bereits alle am Tisch und sehen mich erwartungsvoll an. Schnell stelle ich das Wasser auf den Tisch, setze mich auf meinen Platz und lege eines der Brötchen auf meinen Teller, welches ich dann mit einem Messer in zwei Hälften trenne. Hilley nimmt die Karaffe und gießt mir etwas in ein Glas: "Du musst viel trinken, damit deine Kräfte möglichst stark bleiben." Ich schaue sie verwundert an. Das wusste ich ja noch gar nicht. Als Antwort auf ihre Worte lege ich die Lippen an das Glas und beginne langsam zu trinken. Das Wasser rinnt meine Speiseröhre hinunter und lässt mich die Kraft spüren, die dadurch in mich einkehrt. Als ich den Becher wieder abstelle, wende ich mich scheinheilig an die Person, die sich meine Schwester nennt: "Und? Hast du gut geschlafen?" "Ja, und du?", fragt sie sofort wie aus der Pistole geschossen. "Auch", erwidere ich und blicke kurz zu Aria, die einen verwirrten Blick aufgesetzt hat: "Willst du uns nicht etwas von dir erzählen?" "Äh ...", die schwarze haarige Blick durch die Runde. Ihr Blick bleibt an Ruby hängen. Die Blonde sieht sie mit einem Ausdruck an, den ich nicht zu deuten vermag und der mir ein ungutes Gefühl im Bauch beschert. Was hat das zu bedeutet? Sarah scheint den Blick jedoch deuten zu können und schaut mich direkt an, als sie den Mund wieder öffnet: "Vielleicht später." Ich bin noch nicht bereit dazu nachzugeben: "Und wann ist später?" Nachdem ich meine Frage gestellt habe, erwischt mich plötzlich Arias Fuß am Schienbein. Ich sehe sie fragend an, doch sie schüttelt einfach nur still den Kopf. Habe ich etwa was falsch gemacht? Man wird ja wohl fragen dürfen. Sie nickt in Richtung Sarah und ich schenke ihr wieder meine Aufmerksamkeit. In den Augen des Mädchens haben sich Tränen gebildet und sie wirkt traurig. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Lippe. Ups, ich wusste ja nicht, dass sie gleich weinen würde. "Sie wird mit uns reden, wenn sie dazu bereit ist, Stella", sagt Ruby. In ihrer Stimme schwingt etwas Bedrohliches mit, was mir zu verstehen gibt, dass ich jetzt einfach mal die Klappe halten sollte. Mein Blick geht zu Sarah zurück. Also entweder macht sie der Gedanke an ihre Vergangenheit total traurig oder sie macht nur eine Show. Letzteres ist meiner Meinung nach aber auf jeden Fall wahrscheinlicher, da ihre Vergangenheit mit Sicherheit nicht so schrecklich gewesen sein kann, dass sie sofort in Tränen ausbricht, wenn sie nur daran denkt. So schlimm war ja nicht mal mein bisheriges Leben!

Sobald das Frühstück beendet ist, verschwinden Miles, Sarah und Ruby sofort ins Wohnzimmer, nachdem ich einfach kurzer Hand Aria und mich selbst zum Abwaschen eingeteilt habe, worüber meine Freundin weniger erfreut ist. Aria reicht mir in diesem Moment einen nassen Teller. Ich trockne das tropfende Geschirr mit dem Tuch ab und stelle es dann neben mich auf den Tisch. Dort habe ich bereits einige der anderen Teller aufgestapelt. Als ich zur Spüle zurückkehre, stellt sich Aria so eng neben mich, dass ich hören kann, was sie mir zuflüstert: "Was sollte das gerade beim Frühstück?" "Ich habe doch nur Fragen gestellt", ich klinge scheinheilig und versuche so zu tun, als würde ich kein bestimmtes Ziel verfolgen. "Du lügst schlecht!", sagt sie hart und ehrlich. Leider hat sie in diesem Punkt recht: "Na gut, ich habe versucht etwas über sie herauszufinden. Vielleicht hätte es sich ja irgendwie verraten oder sowas." Aria verdreht die Augen: "Das kannst du aber doch nicht vor allen am Frühstückstisch tun." "Wieso nicht?", frage ich verwundert: "Wie hättest du es denn gemacht?" "Ich hätte mich nach dem Essen mit ihr unauffällig unterhalten. Von Schwester zu Schwester", das Wort 'unauffällig' betont sie besonders. "So habe ich aber auch etwas herausfinden können", erwidere ich daraufhin. Sie wirkt überrascht. Hat sie es etwa nicht mitbekommen. Ich wasche weiter ab: "Sie hat eine Show gemacht!" "Wann?" "Als sie kurz davor war in Tränen auszubrechen. Sie hat zu Ruby geschaut. Fast so als müsste sie diese erst Fragen, wie sie reagieren soll und hat dann fast angefangen zu heulen", erkläre ich leise: "Außerdem gibt selten eine Vergangenheit, die eine Person bei dem Gedanken daran sofort zum Weinen bringt. Selbst ich bin in diesem Punkt nicht so, obwohl ich meine Eltern verloren habe." Skeptisch zieht das Mädchen, was schon in so vielen Situationen meine treue Partnerin war und dem ich grenzenloses Vertrauen schenke, die rechte Augenbraue in die Höhe und legt den Kopf schief. "Was ist?", frage ich: "Hast du es etwa nicht bemerkt?"

Erst jetzt fällt mir auf, dass Aria gar nicht mehr mich ansieht. Es wirkt, als würde sie durch mich hindurch, auf jemand anderem starren, was mich irgendwie stört, weshalb ich mich umdrehe. Arias Blick ruht auf Sarah, die im Schneidersitz auf dem Teppich sitzt und auf ein Papier schreibt, welches auf dem Wohnzimmertisch vor ihr liegt. Den Füller in ihrer Hand hält sie fest umklammert und verziert das Blatt mir geschwungenen schwarzen Buchstaben.

Ruby und Miles scheinen sich, im Gegensatz zu uns, nicht für die Neue zu interessieren. Stattdessen haben scheinen sie in ihrer eigenen Welt zu stecken und sich nur für ihr Gespräch zu interessieren. Miles hat sich, zu meiner Verwunderung, in den vergangenen Tagen sehr intensiv mit Ruby beschäftigt. Es wirkt, als hätte sie ihn regelrecht in ihren Bann gezogen. Erst habe ich mich darüber ziemlich gewundert, aber wenn man genauer darüber nachdenkt, ergänzen sie sich perfekt. Der Junge hat seine Schulter und Knie in ihre Richtung gedreht und hält mit ihr ununterbrochenen Augenkontakt. Ruby sitzt fast genauso dort und betrachtet Miles aufmerksam. Sie hat ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und hat ein glückliches Lächeln auf den Lippen.

Da fällt mein Blick plötzlich auf etwas anderes. Es ist ein dickes Buch auf Hilleys dunklen Holzschreibtisch. Heraus guckt ein vergilbter Zettel, den ich sofort erkenne. Es ist Hilleys Liste. Mein Blick wandert zu Aria zurück, die nun ebenfalls wieder mich ansieht: "Hilley ist oben, richtig?" "Ja, wieso?" "Wirst du gleich sehen. Überleg dir schonmal eine Notlüge", erwidere ich und lege das Geschirrtuch auf den Tisch neben mir. Dann mache ich mich auf ins Wohnzimmer.

Ohne die anderen anzusehen, laufe ich hinüber zu dem Tisch und schlage das Buch mit zwei Fingern auf. Ich erwische genau die beiden Seiten zwischen, denen das Papier steckt und falte des auf. Zu meinem Glück ist es genau das, was ich gesucht habe. Es ist die Liste mit den Namen der möglichen erben.

Plötzlich ruft jemand meinen Namen: "Stella? Was tust du da an Hilleys Sachen?" Es ist Sarah, deren Blick ich brennend in meinem Nacken spüre. "Ich ... Ich ...wollte nur", stammele ich. Aria hat Recht. Ich bin eine miese Lügnerin. "Sie wollte sich nur ein Buch ansehen", Aria springt für mich ein: "Ist das jetzt etwa verboten?" Langsam drehe ich mich um. Währenddessen falte ich das Papier hinter meinem Rücken. Als Sarah antwortet, lasse ich es in meinem Ärmel verschwinden: "Ich denke nicht, dass Hilley es gerne hat, wenn man ihre Sachen durchwühlt." Als ich Aria einen Blick zu werfe, fährt sie glücklicherweise fort: "Woher willst du das wissen? Du kennst Hilley schließlich nicht. Du bist erst seit wenigen Tagen hier, als spiel dich nicht so auf." Die kurze Zeit nutze ich, um einen letzten Blick in die Buchseiten zu werfen. In das Buch wurden immer wieder neue Zeichnungen eingetragen, die verschiedene Gegenstände zu zeigen scheinen. Auch einige Zeichnungen der Kristalle sind mit Bleistift gezeichnet und dann mit Pinsel und Farbe ausgemalt worden. Mein eigener Kristall fällt mir in die Augen und ich erinnere mich an den Platz, an dem er sich gerade befindet.

Hilley hatte mich eines Morgens, als noch alle anderen schliefen, mit in einen Raum im Keller genommen, wo es mehrere Kraftfelder, die über Podesten errichtet worden waren, gab. In einem dieser Felder wurde mein Kristall, der Wasserkristall, festgehalten und sicher verwahrt. Als ich fragte, ob es wirklich der sicherste Platz ist, erklärte Hilley mir, dass nur ein Erbe mit guten Absichten ihn herausnehmen kann. Das hatte mich beruhigt und das tut es immer noch.

Schnell schließe ich das Buch wieder geräuschlos und drehe mich zu den beiden Mädchen, die sich nun gegenseitig in einen handfesten Streit verwickelt haben, um: "Okay, das reicht. Beim nächsten Mal werde ich Hilley einfach fragen, wenn ich ein Buch lesen möchte, so können wir alle sicher sein, dass sie nichts dagegen hat, aber bitte misch dich nicht mehr in meine Angelegenheiten ein, Sarah." Die Schwarzhaarige will noch etwas erwidern, doch ich laufe einfach davon, ohne auf sie einzugehen. Ich habe keine Lust mit ihr zu diskutieren, obwohl ihre Reaktion mir doch etwas Neues gezeigt hat. Sie ist niemals wirklich dieses weinerliche traurige Mädchen, welches sie am Esstisch gegeben hat. Stattdessen hat sie sich in meine Angelegenheiten eingemischt. Richtige Schwestern unterstützen sich, anstatt einander zu verraten. Glaube ich jedenfalls. Aus Erfahrung kann ich leider nicht sprechen!

Als ich mit Aria im Schlepptau nach oben verschwinde, werfe ich noch einen letzten Blick auf das Papier, was Sarah bereits komplett vollgeschrieben hat. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es wichtig ist und der Umschlag neben dem Papier, dass es ein Brief ist. Kurzerhand fasse ich einen Entschluss. In der Nacht werde ich wieder kommen und ihn stehlen!

Es ist bereits tiefste Nacht, als ich die Augen aufschlage. In meinem Zimmer ist es eisig kalt und ich will mich fast weigern aus dem samtig warmen Bett zu steigen, aber es ist nötig. Leise murrend schiebe ich die Decke zur Seite und setze mich auf. Wenn ich mich beeile, kann ich sicher schnell wieder hierher zurück. Ich nehme meine Socken vom Nachttisch, wo ich sie zuvor postiert habe, und ziehe sie an. Sie sind aus grauer Wolle und ziemlich kratzig, aber das ist nicht so wichtig. Auf Zehenspitzen schleiche ich über den Boden zum Schreibtisch, um dort einen Gegenstand hinunterzunehmen, den ich zuvor präpariert habe. Es ist ein weißer Briefumschlag, den ich mit einem unbeschriebenen Blatt, gefüllt habe. Darauf habe ich die gleiche Briefmarke geklebt, wie die auf Sarahs Umschlag. Hoffentlich bemerkt niemand den Unterschied. Dann müsste ich mir nämlich eine verdammt gute Ausrede einfallen lassen und die habe ich momentan noch nicht. Schnell greife ich nach einer Strickjacke und setze die Kapuze auf. Wenn mich jemand erwischt, habe ich so wenigstens mehr Zeit mir eine Lüge zu überlegen.

Leise schleiche ich die Treppe hinunter und bleibe im Flur stehen. Langsam laufe ich zum Türrahmen des Wohnzimmers weiter und schaue um die Ecke. Leer! Perfekt, schnell husche ich still und heimlich in den großen Raum. Drinnen angekommen schließe ich die Augen und horche. Mein eigener Atem ist das einzige Geräusch hier und zerschneidet die Luft wie eine Klinge aus Metall. Doch das ist nicht das Einzige, was ich wahrnehme. Meine Muskeln sind genauso angespannt wie mein Geist. Ich weiß, dass es falsch ist, was ich tue, doch es ist nicht zu ändern. Ich muss wissen an wen der Brief adressiert ist und was darin steht. Der Inhalt kann uns Aufschluss über die Identität des Mädchens und ihre Absichten geben. Verdacht darf sie aber trotzdem nicht schöpfen, da sie dann die Flucht ergreifen könnte und das wäre verheerend. Trotzdem hat sich in meinem Bauch ein ungutes Kribbeln eingenistet, das sich anfühlt, als würden eine Million Insekten in meinem Magen herumkrabbeln. Als ich meine zitternden Finger nach dem Umschlag ausstrecke, spüre ich fast, wie die Luft erwartungsvoll knistert. Als ich das dünne Papier berührte, halte ich aus einem Instinkt heraus den Atem an. Dann stecke ich das Papier blitzschnell in die Tasche meiner Jacke. Mein Blick wandert erneut aufmerksam durch den Raum. Gleich habe ich es geschafft. Nun nur noch die Fälschung hinlegen und dann habe ich geschafft. Mit zittrigen Fingern platziere ich die Attrappe genau an der Stelle, an der zuvor auch das Original gelegen hat. Plötzlich erklingt ein lauter Knall und ich zucke zusammen. Instinktiv ducke ich mich hinter den Tisch, obwohl das wohl wenig bringt, wenn man das Licht anmachen würde. Schwer atmend warte darauf, dass jemand die Treppe hinuntergestürzt kommt und mich einer Tat bezichtigt, doch das geschieht nicht. Stattdessen lassen meine Ohren mir die Information zukommen, dass jemand im Zimmer über mir wohl den, gerade umgeworfenen, Gegenstand wieder aufhebt und dann zum Bett zurücktapst. Kurz überlege ich wem das Zimmer gehört und komme dann zu einem Ergebnis: "Oh man Miles." Meine leise Stimme zittert genauso sehr wie der Rest meines Körpers. Langsam normalisiert sich mein Atem wieder und ich beginne mich an den Plan, den ich eigentlich hatte, zu erinnern. Ich glaube, dass ich, nachdem ich die Briefe vertauscht hatte, in Arias Zimmer gehen wollte. Jedenfalls hatte sie mich darum gebeten. Vielleicht will sie mir ja etwas zeigen.

Das Zimmer verlasse ich schnell, aber mit Bedacht darauf niemanden zu wecken und möglichst wenige Geräusche zu erzeugen. Die Treppenstufen knarren unter meinen Füßen, weshalb ich bald nur noch jede Zweite kurz betrete. Wieder oben angekommen, schleiche ich weiter zu Arias Zimmer, in dem sie um diese Zeit wahrscheinlich schlafen müsste. Schließlich steht nicht jeder mehr oder weniger freiwillig nachts auf, um Sachen anderer Leute zu stehlen. Vor der Tür bleibe ich stehen und lege mein Ohr kurz an das Holz. Durch die Tür ist nichts zu hören, obwohl ich eigentlich ein sehr gutes Gehör habe. Ein letztes Mal sehe ich mich verstohlen um, bevor ich die Klinke hinunterdrücke und eintrete.

Zu meinem Erstaunen ist das Zimmer leer. Das Bett ist vollkommen zerwühlt und ein kalter Wind weht durch den kleinen Raum. Erstaunlicherweise ist das Zimmer genauso aufgebaut wie meines. Der einzige auffällige Unterschied ist die Farbe des Holzes, aus dem so gut wie alle Möbel hier bestehen. Der Wind wirbelt mein Haar durcheinander und lässt mich erzittert. Schnell husche ich zum Fenster, welches weit offen steht. Der Rahmen schwingt im Wind hin und her. Ist Aria etwa abgehauen? Ein kurzer Moment des Schocks ergreift mich. Was wenn sie das wirklich getan haben sollte? Würde sie mir das antun? Bei dem Gedanken entsteht ein Kloß in meinem Hals, den ich nicht herunterschlucken kann. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen und ich muss mich auf die Fensterbank stützen. Sie war meinen vertrauteste und wichtigste Person hier. Wenn sie mich nun verlassen hat, habe ich mein Vertrauen in die Seraphinen und die Leute, die sich meine Freunde nennen, wirklich für immer verloren. "Aria? Wo bist du?", meine Stimme zittert unsicher und heiser. "Ich bin hier", flüstert plötzlich jemand von draußen. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Diese wunderschöne Stimme ist nur mir allzu bekannt. "Wo ist hier?", flüstere ich ebenfalls.

Da erscheint Arias Kopf plötzlich am Fenster und mir wird bewusst, dass sich auf dem Dach befindet. Sie reicht mir ihre Hand, die ich ergreife und auf die Fensterbank steige: "Wieso sitzt du auf dem Dach?" Sie antwortet mit einer geschickten Gegenfrage: "Warum nicht? Jetzt komm schnell neben mich." Ziemlich ungelenkig klettere ich auf das Dach neben ihr, woraufhin sie noch ein Stück von Fenster abrückt, um mir mehr Raum zu lassen. Sie sieht so sicher aus. Fast so als würde sie öfters auf Dächern verweilen. "Was tust du hier draußen?", frage ich erneut. "Ich beobachte den Nachthimmel", erwidert sie und deutet auf einen der Himmelskörper, der wunderschön erstrahlt: "Sieh mal dort." "Was ist das?", frage ich interessiert und rücke ein Stück weiter an das Mädchen neben mir heran, um es aus ihrem Winkel sehen zu können. "Die Erde", erklärt sie. Wow, schon oft habe ich davon gehört, aber den Planeten noch nie gesehen. Ich habe gehört, dass der Planet nur wegen der vielen Lichter der Menschen leuchten kann. Aus einem Grund, den ich nicht ganz benennen kann, blicke ich in den Himmel ohne meinen Blick abwenden zu können, bis Aria meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zieht: "Hast du es geschafft die Liste zu stehlen?" Ich beiße mir auf die Lippe: "Sag nicht stehlen. Ich bringe sie ja wieder zurück." "Was soll ich dann sagen?" "Einstecken. Ich habe sie nur kurz eingesteckt, um einen Blick darauf zu werfen und mehr nicht", versuche ich zu erklären. Ich hatte schließlich nie vor die Liste zu behalten. Jedenfalls glaube ich das. Mit flinken Fingern greife ich in die Tasche, in der sich auch der Brief befindet, und reiche ihr die Liste: "Hier! Danke übrigens, dass du mich vorhin gerettet hast." "Gerettet? Ich habe einfach nur gelogen mehr nicht", erwidert sie: "Außerdem machen Freunde das eben so." Freunde! Das Wort klingt aus ihrem Mund wie ein Gebet, doch trotzdem verleitet es mich nicht dazu ihr den Brief, dessen Verfasser meine Schwester ist, zu zeigen. Erst muss ich selbst einen Blick hineinwerfen, bevor sie ihn sehen darf. Nicht dass es nur ein Liebesbrief oder so ist. Das wäre höchst peinlich für mich und auch für sie. Ich reiche ihr das gefaltete Papier, welches sie interessiert entgegennimmt. Bevor sie es jedoch auseinander faltet, stellt sie mir eine Frage, die ich gar nicht erwartet hatte: "Erinnerst du dich an deine Familie?" Mir ist der Schock ins Gesicht geschrieben, doch ihr zu liebe antworte ich, egal wie sehr es weh tut: "Äh ...nicht mehr so richtig. Ich habe ja nur drei Jahre lang mit meinen Eltern erlebt und an eine Schwester kann ich mich ganz und gar nicht erinnern. Und du? Erinnerst du dich an deine?" Sie nickt nachdenklich: "Ja, ich erinnere mich an jede Einzelheit. Besonders an meinen Bruder." Sie wirkt verträumt und komplett in ihre Erinnerungen versunken. "Du hattest einen Bruder?", frage ich überrascht. Davon hat sie nie etwas erzählt. "Habe", berichtigt sie: "Er ist nicht tot." Ich runzele die Stirn: "Wieso bist du denn dann nicht zu deiner Familie zurückgekehrt?" Sie blickt niedergeschlagen auf den Boden hinunter: "Ich wurde verraten!" Am liebsten hätte ich weiter gefragt, doch ihr abschweifender Blick verdeutlicht mir, dass sie keine Fragen mehr hören und beantworten möchte. Sanft hebe ich ihr Kinn mit der rechten Hand an, sodass sie mich ansehen muss. Ihre Augen sind dunkel und voller Trauer. "Ich werde dich nie verraten", verspreche ich aufrichtig. Sie blickt mir tief in die Augen und streicht dann mit ihren Fingern über meinen Arm. Ihre Berührung hinterlässt einen prickelnd warme Spur auf meiner Haut: "Und ich verspreche das Gleiche!" Sie wird mich also nicht verlassen. Mich nie enttäuschen. Jedenfalls würde sie es mit Sicherheit nie absichtlich tun. Unterbewusst nehme ich wahr, wie sie näher an mich heranrückt und spiegle ihre Bewegung. Plötzlich treffen sich unsere Lippen und alles um mich verschwimmt. In meinem Bauch fliegen eintausend Schmetterlinge und richten ein Chaos der Emotionen an. Ich lege meine Hand an ihre Wange, um den Kuss zu vertiefen und Aria lässt es zu, doch wenige Sekunden später lösen wir uns wieder voneinander. Aria starrt mich mit großen Augen an. Sie wirkt überrascht und stammelt: "Tut ...tut ...mir leid. Ich wollte ..." "Schon gut!", erwidere ich nur und sie senkt den Blick. Diese peinliche Stimmung zwischen uns wieder loszuwerden, nehme ich ihr die Liste aus der Hand und falte sie auseinander. Darin stehen mehrere Namen untereinander aufgelistet. Als ich bemerke, dass Aria mir nicht ihre volle Aufmerksamkeit schenkt, stoße ich sie sanft an: "Konzentrier dich bitte. Das ist wichtig." "Ich weiß", ihre Stimme klingt glasig, wovon ich mich aber nicht ablenken lasse. Wir sollten später darüber reden, was gerade passiert ist und uns jetzt lieber konzentrieren. Egal wie schwer es mir fällt. Mit dem Finger fahre ich über das Papier und bleibe an einigen der Namen stehen. Stella Valerios! Aria Martin! Ruby Smith! An einem bestimmten Namen bleibt mein Finger dann stehen und ich tippe darauf: "Hier! Ich habe den Namen gefunden." Dort steht es schwarz auf weiß in Hilley über ordentlicher Handschrift. Nun scheint sich Aria auch wieder besonnen zu haben und blickt auf den Zettel hinab: "Sarah Montgomery!" "Das heißt, dass sie die Erdkräfte hat, wenn Wasser, Luft und Feuer schon vergeben sind, oder?", frage ich nachdenklich: "Jetzt müssen wir ihr nur noch die Kette umlegen und können dann ein letztes Mal testen, ob sie die Kräfte hat." Ich nicke und blicke dann zum Fenster: "Ich sollte jetzt in mein Zimmer zurückgehen. Schon die halbe Nacht ist vorbei und ich brauche genügen Schlaf, um unsere Pläne durchziehen zu können." Niedergeschlagen nickt sie. Es tut mir weh sie so zu sehen, weshalb ich nochmal ihre Hand nehme und sage: "Wir sehen uns morgen wieder, okay?" Sie hebt den Kopf und schenkt mir ein kurzes Lächeln: "Natürlich!" Bevor ich meine Meinung ändere und doch hier bleibe, klettere ich über das Dach zurück auf die Fensterbank und verlasse, dann klang heimlich das Zimmer.

Der Umschlag reißt unter meinen Fingern in zwei Hälften und der Inhalt landet auf dem Boden. Achtlos werfe ich die Stücke weg und betrachte den Inhalt genauer. Es ist lediglich ein Zettel, der mit vielen schwarzen Buchstaben bestückt ist. Unter Geschriebenen befindet sich etwas, was mich sehr stutzig macht. Langsam lasse ich mich an meiner Zimmertür hinunter auf den Boden sinken, um morgendlichen Eindringlingen keinen Einlass zu gewähren. Bald wird Hilley uns wohl zum Frühstück rufen und bis dahin muss ich hiermit durch sein. Allem Anschein nach wurde der Brief am Ende mit einem besonderen Symbol unterzeichnet. In einem beißenden Giftgrün wurde es auf das Papier aufgetragen und scheint es wie eine Schlange zu vergiften. So ein Zeichen habe ich noch nie gesehen. Langsam befeuchte ich meinen Finger mit etwas Spucke und reibe damit über das Papier, doch das Symbol weigert sich zu verwischen. Wann hatte Sarah das Zeichen aufgetragen? Das hätte ich doch mitbekommen. Als meine Finger die Farbe berühren, zucke ich plötzlich zurück. Ein leichter Schmerz durchzuckt meine Haut und lässt mich zusammen zucken. Oh man, was war das denn jetzt? Ich werfe einen Blick auf die Stellen an der sich die Farbe und mein Körper berührt haben. Die Fingerkuppen sind leuchtend rot und pochen leicht. Auf meiner Stirn bilden sich Sorgenfalten. Der Adressat am Anfang wurde einfach weggelassen und durch eine einfaches "Guten Tag" ersetzt, was mich wundert. Ich schreibe zwar ziemlich selten wirklich richtige Briefe, da mir der Postweg einfach zu lange dauert, aber soweit ich weiß, beginnt man so keinen Brief. Die nächsten Zeilen zaubern noch mehr Falten auf meine Stirn. Sie schreibt in einer merkwürdigen Sprache, die ich aber merkwürdigerweise zu kennen scheine. Diese besteht aus mehreren Zeichen, die sich in meinem Kopf zu normalen Worten zusammenfügen. Geistesgegenwärtig nehme ich einen roten Stift von meinem Nachttisch und taste nach etwas worauf ich es schreiben kann, während die Worte in meinem Kopf wieder zu verschwimmen beginnen. Mist, was ist denn jetzt los. Schnell öffne ich den Stift und schreibe die Worte, an die ich mich noch erinnere auf den Boden vor mir. Ich kann es ja später irgendwohin sich übertragen. Bis dahin muss das reichen. Es fühlt sich so an, als würde meine Hand von einer magischen Kraft geleitet werden. Jedes gerade aufgeschriebene Wort leuchtet kurz in meinem Geist auf und ist dann verschwunden, während sie die Farbe immer wieder in den Holzboden gräbt und Buchstaben hinlässt. Als ich das letzte Wort auf dem Holz niedergeschrieben habe, leuchten alle Buchstaben kurz auf. Der Stift fällt mir aus der Hand, als jedoch auch das, von mir, Niedergeschriebene verblasst und ganz langsam verschwindet. Ich fahre mit meinen Fingern darüber und will das Wissen, was darin möglicherweise niedergeschrieben wurde zurückholen, doch vergeblich. Der Brief findet den Weg zurück in meine Finger und erneut versuche ich den Inhalt so zu lesen wie ich es zuvor getan habe, doch stattdessen entsteht nur lediglich ein komplettes Durcheinander in meinem Kopf. Ist das irgendeine magische Schrift, die man nur einmal lesen kann? Ratlos lasse werfe ich das Papier in irgendeinen Ecke und stütze mich mit den Händen auf dem Boden ab. Aus Zufall landen diese auf genau dem Stück Boden, auf das ich zuvor geschrieben hatte, und schließe die Augen. Sobald sich der Boden und meine Hände einige Sekunden berührt haben, fühlt es sich plötzlich so an, als würde Storm hindurchfließen. Schnell öffne ich meine Augen wieder und erschrecke. Die verblasste Schrift auf dem Boden leuchtet plötzlich wieder rot auf. Testweise nehme ich die Hände wieder weg und die Schrift verblasst wieder. Scheinbar verblasst sie Schrift immer dann wieder, wenn ich meine Hände wegnehme. Ich weiß zwar nicht wie das passiert ist, aber das kann ich als Vorteil nutzen. Dafür müsste ich nur testen, ob es auch bei anderen oder nur bei mir funktioniert.

Plötzlich klopft es an der Tür: "Stella? Bist du wach? Es gibt Frühstück." Arias Stimme weckt in mir die Erinnerungen an die letzte Nacht auf dem Dach. Hoffentlich hasst sie mich jetzt nicht. "Ah, ja ich bin wach. Ich komme gleich runter", schnell halte ich meine Hände wieder auf dem Boden und beginne zu lesen, was im Brief steht. Der Inhalt macht mich stutzig. Sie schreibt etwas darüber, dass alles bisher gut läuft und dass sie sich weiter unauffällig verhält. Jetzt wäre es vorteilhaft, wenn es einen Absender gäbe. Wenn Sarah weiterhin so tun will, als hätte sie nichts zu verbergen, wird sie sicher nichts dagegen haben mir Fragen zu beantworten. Schnell husche ich die Treppe hinunter, ohne mich umzuziehen.

Unten angekommen sehe ich schon, dass alle anderen bereits am Tisch sitzen. Habe ich etwa so lange gebraucht? Schnell setze ich mich dazu und nehme mir eine Scheibe weiß Brot, die frisch gebacken zu sein scheint. Der Geruch von frischem Früchtetee steigt mir in die Nase und mein Blick wandert zur Teekanne: "Darf ich mich ein wenig Tee eingießen?" Hilley nickt und Ruby reicht mir die Kanne. Als ich sie dann entgegennehme, lasse ich sie aber fast fallen. Das ist ja kochend heiß. Wieso hat sie mich nicht vorgewarnt? Mein wütender Blick trifft auf ihren Belustigten. Obwohl ich ihr gerne meine Meinung gegeigt hätte, nehme ich einfach nur erneut die Kanne in die Hand und gieße mir konsequent Tee ein. Der helle Dampf steigt auf und erzeugt ein Bild von einem Weihnachtsabend vor dem Kamin mit Tee in der Hand in meinem Kopf. Ohne irgendwelche Skrupel und ohne den Blick von meiner Tasse zu heben, frage ich Sarah: "An wen war der Brief, den du gestern geschrieben hast, eigentlich?" Aus dem Augenwinkel sehe ich wie alle Leute am Tisch den Kopf heben und mich ansehen. "An die Familie, die mich bei sich aufgenommen hat, nachdem unsere Eltern gestorben sind", antwortet Sarah sofort und nimmt einen Bissen von ihrem Brot. Ich ziehe eine Augenbraue hoch: "Und ...hast du vor den Brief per Post zu verschicken?" "Wieso willst du das wissen?", fragt sie misstrauisch. Schnell überlege ich mir eine Ausrede und spiele meinen miesen Trumpf aus: "Darf ich mich für meine Schwester etwa nicht interessieren?" Sie schluckt: "Nein, ich verschicke den Brief nicht mit der Post, sondern bringe ihn nachher selbst weg." Ich runzele die Stirn. Glücklicherweise bin ich da nicht die Einzige. Allen anderen, abgesehen von Ruby, geht es auch so. "Eigentlich wollte ich fragen, ob du mit mir und Hilley heute trainierst. Du hängst sicher ziemlich hinter uns her", sagt Aria schnell und Hilley nickt zustimmend. Fragend sehe ich die Frau an. Wieso ist sie eingesprungen? Sarah zuckt gleichgültig mit den Schultern, was mit ziemlich stutzig macht: "Dann frage ich eben jemand anderen, ob er ihn für mich wegbringen kann." Ihr Blick wandert durch die Rund: "Ruby? Würdest du das bitte machen?" "Klar", erwidert Ruby genauso gleichgültig: "Kann ich Miles mitnehmen?" Diese Konversation macht mich so stutzig, dass ich den Kopf fragend schief lege. "Meintewegen." Auf Miles Lippen erscheint ein zufriedenes Lächeln. Will er das etwa? Ich hatte mich schon eher gefragt, ob er etwas von ihr will. "Kann ich das nicht machen?", frage ich verwundert: "Oder vertraust du deiner Schwester nicht?" "Doch klar, aber du hast doch sicher noch was Besseres zu tun, als meine Sachen zu erledigen", erklärt meine Schwester. Ich knirsche mit den Zähnen, kneife meine Augen zusammen und sage dann langsam: "Ja, das stimmt wohl." Mittlerweile ziemlich mies gelaunt kaue ich an meine Brotscheibe herum und überlege mir, wie ich jetzt weiter vorgehen soll. So leicht wird man mich nicht los. Ich brauche einen Plan!

Der Rest des Frühstücks vergeht schleichend langsam und in vollkommenem Stillschweigen. Hin und wieder sind nur das Knacken des Brotes und ein mehr oder weniger lautes Schlürfen zu hören. Meine Ellenbogen ruhen schwer auf der Tischplatte, während ich Sarah mustere, als wäre ich eine Raubkatze und sie meine Beute, deren Verhalten ich studiere, bis ich sie dann endlich erlege. Missmutig knirsche ich mit den Zähnen. Das tue ich immer, wenn ich mir schnell etwas Neues überlegen muss, weil der ursprüngliche Plan missglückt ist. Sie ist zwar gut, doch ich bin besser. Als alle aufgegessen haben, stehen Ruby und Sarah schnell vom Tisch auf. Beide scheinen ein besonderes Ziel zu verfolgen. Bevor die Mädchen nach oben verschwinden, zieht Ruby auch noch Miles mit sich, während ich meine Tasche langsam abstelle und vom Stuhl aufstehe. Hilley dreht sich zu Aria und mir um, als wir gerade beginnen wollen den Tisch abzudecken: "Schon gut. Ich schaffe das auch allein. Geht lieber hoch und zieht euch erst mal etwas Richtiges an." Diese Entlassung aus meinen Pflichten kommt mir nur allzu gelegen, weshalb ich mich einem leisen 'Danke' auf zu den Treppen mache. Auf der Hälfte der Treppenstufen höre ich Aria, die es anscheinend nicht so eilig hat: "Kein Problem! Ich helfe dir gerne." Dann sind das Klirren von Geschirr und das leise Geräusch von plätscherndem Wasser zu hören.

Im Flur ist keiner zu sehen und ich weiß genau wo Miles Zimmer ist, also öffne ich einfach seine Zimmertür und stürze hinein. Drinnen angekommen schlage ich die Tür zu und setze ich mich auf sein Bett: "Du musst mir helfen!" Miles starrt mich fassungslos an und erst jetzt fällt mir auf, dass er fast keine Kleidung trägt. Der Junge versteckt sich bei meiner Ankunft hinter der Schranktür, sodass nur noch seine Beine zu sehen sind. Miles lügt geschockt hinter der hölzernen Tür hervor: "Hast du noch nie was vom Anklopfen gehört?" "Doch, aber es ist dringend", erwidere ich und werfe ihm ein blaues T-Shirt zu, welches neben mir über der Bettkante hängt. Er fängt es auf und schaut mich fragend an: "Na gut, dieses eine Mal war es noch okay, dass du einfach hereingekommen bist, aber das nächste Mal, egal wie wichtig es sein mag, klopfst du." "Okay, einverstanden. Hilfst du mir jetzt?" "Kommt darauf an. Sag mir erst wobei ich helfen soll", er zieht sich weiter um. "Nein, du musst es erst versprechen", ich spiele mit meinen Fingern an der Bettdecke herum. Er zieht eine Augenbraue hoch: "Du willst meine Hilfe, also gibt mir alle Informationen, die ich haben will." Ich verdrehe die Augen und stehe vom Bett auf: "Dann werd fertig. Ich muss dir was zeigen." Miles tritt, vollkommen bekleidet, hinter der Schranktür hervor und geht zu Tür, die er mir aufhält. Mit dieser Geste zeigt er mir, dass er fertig ist und mit mir mitgehen würde, wenn ich bereit dazu bin. Ich nehme seine Hand und ziehe ihn mit mir in mein Zimmer.

Dort angekommen, schlage ich die Tür schnell wieder zu und setze mich dann auf den Boden, wo ich die Schrift erwarte: "Stell dich vor die Tür." Er kommt meinem Befehl nach und blickt mich dann erwartungsvoll an. Kurz versuche ich den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, doch es misslingt: "Pass jetzt einfach gut auf." Mit einem Nicken gibt er mir zu verstehen, dass er tun wird, was ich von ihm will. Ich richte meinen Blick wieder auf den Boden und lege meine Hände langsam auf den Boden. Sofort leuchten die Buchstaben wieder. Miles lauter Atem durchschneidet die Stille, als er dieses außergewöhnliche Schauspiel erblickt und dann folgt ein leises "Wow, wie hast du das gemacht?". "Das erkläre ich dir irgendwann später", erkläre ich. Als er mich misstrauisch ansieht, füge ich noch etwas hinzu: "Versprochen und jetzt lies bitte einfach, was da steht." Seine Augen huschen über die Worte, bis er am Ende angelangt ist: "Was ist das?" "Das", ich stehe auf und krame den Brief aus dem Schrank, wo ich ihn platziert habe: "Ist der Inhalt von Sarahs Brief." Ich gebe ihm das Papier in die Hand, warne ihn dann aber: "Pass aber auf, dass du dieses grüne Zeichen dort nicht berührst." Er scheint noch nicht ganz zu verstehen, was ich will, stimmt aber trotzdem zu mir zu helfen: "Okay, jetzt sag endlich, was ich für dich tun soll. Ich werde dir helfen." "Echt? Wie kommt es zu der Entscheidung?", frage ich ein wenig belustigt. "Ich kann so vielleicht einen kleinen Vertrauensbonus euch bekommen", erklärt er nachdenklich. "Perfekt, ich will, dass du für mich nachschaust, wo der Brief hingebracht wird und wenn möglich auch für wen genau er geschrieben wurde", erkläre ich meinen Plan. "Gut, aber ich will, dass du mir permanent folgst", fordert er: "Wenn ich durch diese Sache in Schwierigkeiten gerate, solltest du in die gleiche Situation kommen." Ich kaue auf meiner Lippe, stimme dann aber zu und reiche ihm die Hand: "Einverstanden!" Mein Verbündeter schlägt ein. Damit ist unser Pakt besiegelt.

Miles Sicht
Unsere Finger verschränken sich ineinander, als wir auf die Kutsche zugehen, die an der Straße wartet. Der Wind durch wirbelt mein Haar dunkelbraunen Haaren, deren Spitzen lila gefärbt sind. Mein Blick ruht auf dem Mädchen neben mir. Auch ihr macht der heftige Wind zu schaffen. Ihre wunderschönen blonden Haare werden durch die Luft geweht und sie hat Mühe ihr Gesicht von der wilden Mähne zu befreien. Als ihr mein Blick auffällt, schaut sie mich aus ihren feurigen Augen fragend an: "Ist was?" Schnell schüttele ich den Kopf und blicke woanders hin. So gerne hätte ich ihr gesagt, dass sie gerade einfach nur wunderschön aussieht, aber dafür würde sie mir wahrscheinlich eine reinhauen. Ich hätte es vor Stella nicht zugeben, als sie, frecherweise, einfach in mein Zimmer gestürmt ist, aber ich wollte nicht nur Sympathiepunkte bei Hilley, sondern auch bei Ruby und ich hätte dem Mädchen, das das Feuer kontrollieren kann, niemals den Wunsch abgeschlagen mit ihr zu gehen. Seit ich hier angekommen bin, habe ich die meiste Zeit mir ihr verbracht. Zwar habe ich mich auch mit Aria und Stella nach einigen Tagen gut verstanden, aber nicht so gut wie mit Ruby. Hilley hingegen mochte mich noch nie und das hat sich auch nicht wirklich geändert. Sie hat eben einen Grund mir nicht zu vertrauen und der ist durchaus berechtigt, obwohl ich das, was sie befürchtet, niemals tun würde. Verstehen kann man sie aber trotzdem auf jeden Fall. Seit Sarah aber hier angekommen ist, hat auch Ruby viel weniger Zeit für mich und verschwindet stattdessen oft mit Stellas Schwester in dessen Zimmer. Zwar habe ich meine Freundin mal gefragt, was sie darin treiben, doch diese Frage hat sie sich geweigert zu beantworten und sich aus meinem, eher freundlichen, Verhör herausgewunden. Leider kann ich ihr nach solchen Aktionen auch nicht richtig böse sein. Wer kann das schon wirklich? Sie ist einfach zu ...besonders! Besonders? Sowas sollte ich nicht denken.

Als wir an der Straße angekommen sind, öffne ich ihr die Tür und reiche ihr meine Hand, damit sie einsteigen kann. Den Kutscher, Taylor heißt er glaube ich, grüße ich kurz. Bevor ich einsteige, lasse ich meinen Blick noch ein letztes Mal durch die Landschaft wandern. Zwar habe ich mit Stella besprochen, dass sie uns heimlich folgt, doch bisher ist sie noch nicht zu sehen, was mich ein wenig nervös macht. Hätte sie nicht hinter uns her reiten oder wenigstens schon mal mit dem Pferd hinterm Haus warten können? Hoffentlich hat sie es nicht vergessen. Wenn das der Fall sein sollte, könnte ich in gigantische Schwierigkeiten geraten.

Mit einem schlechten Gefühl steige ich in die Kutsche ein und setze mich auf einen der Sitze. Innen riecht es nach Orangen und ich betrachte die Kutsche. Ich bin zwar noch nie in Hilleys Kutsche mitgefahren, aber auf den Kutscher bin ich bereits einmal getroffen, woraufhin wir uns für eine Weile nett unterhalten haben.

"Hast du den Brief überhaupt eingesteckt?", frage ich meine Sitznachbarin. "Natürlich, was denkst du denn? Dass ich genau das vergesse, weswegen wir überhaupt unterwegs sind?", fragt sie skeptisch. Ihre Stimme klingt belustigt. "Nein, natürlich nicht", antworte ich schnell. In letzter Zeit ist sie irgendwie öfters mies gelaunt. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich deshalb auch dagegen ihr weitere Fragen zu stellen. Besonders eine Frage stelle ich mir seit dem Frühstück nun. Wieso war Sarah heute Morgen so darauf versessen, dass ausgerechnet Ruby den Brief für sie wegbringt. Es schien, als dürfe sie ihrer eigenen Schwester nicht einmal das Geschriebene anvertrauen. Wenn man jedoch bedenkt, was genau sie geschrieben hat, ist das auch nicht verwunderlich. Schließlich redet sie in ihrem Brief fast so, als wären wir alle ihre Feinde, bei denen sie sich Undercover eingeschlichen hat. Diese Worte haben nicht nur Stella, sondern auch mich stutzig gemacht. Auch das giftgrüne Zeichen am Ende war höchst seltsam. Glücklicherweise hat Stella mich ja noch rechtzeitig, vor was auch immer passieren mag, wenn man es berührt, gewarnt. Wahrscheinlich wäre nichts sonderlich Gutes geschehen. Diese Vermutung habe ich, seit dem mir bei unserem Handschlag die roten Fingerkuppen des Mädchens aufgefallen sind. Mein bester und auch einziger Freund im Institut der Nexus hätte und wahrscheinlich als "Partner in Crime", also "Partner im Verbrechen" bezeichnet. Schließlich schnüffeln wir gerade in den Angelegenheiten einer anderen Person herum und haben sogar einen Brief geöffnet, der für keinen von uns bestimmt war. Der Gedanke an das Institut und meinen Freund verursacht, mal wieder, einen schlimmen Schmerz in meinem Herzen. Niemals hätte ich gedacht, dass die Menschen, die mich am meisten Lieben sollten, mich einfach abschieben, sobald sich herausstellt, dass ich nicht ganz normal bin, um mich zu einem Soldaten zu machen. Wer erwartet sowas auch?

Als die Kutsche nach etwa einer halben Stunde anhält und ich Ruby helfe aus dem Gefährt zu steigen, wandert mein Blick nervös umher. "Alles gut?", fragt meine Partnerin deshalb. Ich blinzele kurz: "Was hast du gesagt?" Ich war zu sehr darauf konzentriert nach Stella zu suchen, dass ich ihr gar nicht richtig zugehört hatte. Mir zu liebe wiederholt sie das eben gesagte: "Ich habe gefragt, ob bei dir alles gut ist. Du wirkst so angespannt und nervös." Dieses Mal habe ich zugehört: "Ja, alles gut. Mach dir keine Sorgen." In ihrem Blick liegt etwas Besorgtes und Wehmütiges. Sie scheint sich wirklich Sorgen zu machen, weshalb ich ihr erneut meine Unversehrtheit bestätige. Damit scheint sie zwar noch nicht zufrieden zu sein, doch sie lässt mich lieber in Ruhe, da sie weiß, dass ich es hasse, wenn man mir mehrmals die gleichen Fragen stellt. Auf sie könnte ich aber nie wirklich lange böse sein und irgendwie ist es ja auch unglaublich süß, dass sie sich um mich sorgt. Um genauer darüber nachdenken zu können, habe ich aber keine Zeit, da Stella nach wie vor nicht in Sichtweite ist und möglicherweise auch nicht mehr kommen wird. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen und ich bekomme Angst. Hat sie mich wirklich so im Stich gelassen? Vielleicht waren meine Erwartungen und meine Meinung von ihr einfach zu hoch. Enttäuschung macht sich nun in mir breit und nimmt seinen Platz neben der Angst an, doch ein kleiner Teil traut es ihr nicht zu mich im Stich zu lassen. Schließlich haben Stella und Aria mich mit zu Hilley genommen, obwohl ich nicht gerade freundlich war und ohne dass sie mich richtig kannten. Mit gesenktem Kopf laufe ich über die geteerte Straße und schaue auf meine Schuhe hinab. Da fällt plötzlich ein Stein genau zwischen meinen Füßen mit voller Kraft auf den Boden. Schnell hebe ich den Kopf und schaue mich verärgert um. Als ich den Werfer erblicke, fallen jedoch alle negativen Gefühle von mir ab und machen der Erleichterung platz. Ich muss die Brünette gar wirklich sehen, um zu wissen, dass sie dort auf dem Dach sitzt und auf mich aufpasst. Schnell blicke ich wieder weg, damit Ruby nicht auffällt, doch aus dem Augenwinkel sehe ich Stellas Hand, die sie so hält, dass man sie gerade noch sehen kann. Ihren Daumen und Zeigefinger hat sie zu einem "Okay"-Symbol geformt und zeigt mir damit, dass sie nun da ist und auf mich aufpasst. Ich wiederhole die Geste mit meiner Rechten hinter meinem Rücken, um ihr zu bestätigen, dass ich sie gehen habe und dass ich ihr voll und ganz vertraue. Dann schenke ich Ruby wieder meine volle Aufmerksamkeit. Diese sieht mich verschmitzt an und setzt die Kapuze ihres bordeauxroten Umhangs auf. Auch meinen eigenen Kopf bedecke ich, um mich vor den neugierigen Blicken der Einheimischen zu schützen und folge Ruby, die zielstrebig auf ein riesiges Gebäude zu geht, dann.

Stellas Sicht
Miles Daumen und Zeigefinger formen sich zu einem kleinen "Okay"-Symbol, welches mir sofort die Sicherheit gibt, dass er mich gesehen hat. Leider hatten wir einige Probleme damit Aria und mich selbst vom Training mit Sarah und Hilley zu befreien. Sarah bestand nämlich darauf, dass sie unbedingt mit ihrer, ich zitiere, "endlich wieder gefundenen Schwester" trainieren muss, um mal einen Einblick in meine Kräfte und mein Leben zu bekommen. Ich selbst hätte deshalb fast zu viel bekommen, da ich darauf wenig Lust hatte und Miles versprochen hatte hier zu sein. Irgendwie hat Aria es dann geschafft uns beide aus der Schlinge zu ziehen, in dem sie das Argument, dass wir auch mal Zeit abseits des Hauses unter Menschen haben sollten, angeführt hatte. Hilley war jedoch noch nicht einverstanden, weshalb meine Partnerin, die ich kurz vorher eingeweiht und gebeten habe mit mir zu kommen, dann darauf hingewiesen hat, dass Ruby und Miles auch in die Stadt dürfen und dass es ungerecht ist, wenn wir nicht auch mal Zeit für uns haben können. Daraufhin hat Hilley eher widerwillig zugestimmt, Sarah aber glücklicherweise auch einen Riegel vorgeschoben, als sie mit uns gehen wollte. Wir haben Hilley nämlich heute schon viel zu oft angelogen und wollten die Anzahl unserer Lügen an diesem Tag nicht unbedingt noch weiter in die Höhe treiben. Sarah hatte daraufhin zwar ziemlich geschmollt, aber damit konnte ich sehr gut leben.

Nun sitzen sowohl Aria als auch ich selbst auf einem Flachdach in meiner, um unsere Mitbewohner zu beobachten und uns gleichzeitig vor den Blicken der Einwohner von Luxxan, der Stadt in der wir uns momentan befinden und die auch meine Heimatstadt ist, zu verbergen. Als die anderen durch die Gasse schlendern, in der ich fast entführt worden wäre, dreht sich mir der Magen regelrecht um und schreckliche Bilder aus diesen Minuten durchzucken meinen Geist. Das ganze Blut kommt mir in den Sinn und beinahe verspüre ich den Drang mich zu übergeben. "Geht's dir gut?", fragt Aria besorgt. Ich blinzele kurz, um in die Gegenwart zurückzukehren: "Ja, alle bestens. Wir müssen weiter!" Ich deute auf eines der Dächer in der Nähe, das gerade so weit entfernt ist, dass wir mit Hilfe unserer Kräfte nicht hinübergelangen könnten. Zwar könnten wir auch noch eine Weile hier bleiben, aber dann ist die Chance, dass wir Miles und Ruby verlieren würden. Es wundert mich, dass Ruby ganz genau weiß, wohin sie muss. Ganz zielstrebig führt sie ihren Begleiter durch die Straßen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie von Sarah so genaue Informationen bekommen hat. Respekt!

Ich strecke meine Hand aus und schaue zu Aria herüber: "Bereit?" Diese nickt zustimmend: "Jederzeit!" Langsam lege ich meine Hand an die Kette um meinen Hals. Hoffentlich klappt es dieses Mal so wie gewollt und nicht erst Sekunden später in einer komplett anderen Form. Meine Augen fallen zu und ich versuche alles zu spüren. Das Sonnenlicht geht in jede einzelne Zelle meines so seraphinischen Körpers über und gibt mir Kraft. Das Einzige, was ich wirklich höre, ist das Plätschern des Wassers im Brunnen auf einem Platz einige Meter von uns entfernt. Meine Gedanken widmen sich nur dem Wasser und dem, was ich damit vorhabe. In meinem Geist entstehen mehrere in der Luft schwebende Plattformen aus Wasser über die ich sicher laufen kann, um zum neuen Dach zu gelangen. Als sich meine Augen wieder öffnen, entstehen gerade mehrere kleine Plattformen, die vor mir in einem gewissen Abstand, in der Luft schweben. Mein Blick wandert weiter zu Aria: "Cool, oder?" Sie blickt mich fasziniert an:"Ich wusste gar nicht, dass du das kannst." "Ich auch nicht", gebe ich ziemlich stolz zu und werde ein wenig rot. Dann stehe ich jedoch schnell von meinem Platz auf dem steinernen Dach auf und mache mich zum ersten Sprung bereit. Als meine Füße sich vom Stein lösen und daraufhin auf dem harten Wasser ankommen. Es ertönt ein leises Platschen, was mich an wenig an das Geräusch erinnert, das entsteht, wenn man in eine Pfütze springt. Ich liebe dieses Geräusch. Es erinnert mich an meine Kindheit. Leider ist das einer der wenigen Teile, an die ich mich erinnere. Kurz überkommt mich die Trauer, doch als das Geräusch erneut ertönt und Aria wenig später ihre Hände auf meine Schultern legt, überkommt mich stattdessen ein angenehmer Schauer. So geht es mir seit unserem Kuss nun jedes Mal, wenn sie mich berührt. Schnell springe ich weiter zur nächsten Platte, um meinen Gefühlen nicht zu unterliegen. Zu einem anderen Zeitpunkt gerne, aber nicht jetzt. Aria ist dicht hinter mir. Auf dem nächsten Dach angekommen, habe ich Miles und Ruby wieder im Blick. Zu meiner Verwunderung werden sie aber langsamer und bleiben dann sogar stehen. Um jedoch besser sehen zu können, deute ich auf ein anderes Dach und sage ihr dann: "Du bist jetzt dran!" Aria versteht, was ich meine und streckt ihre Hand aus. "Was genau muss ich machen?", frage ich ein wenig ängstlich, versuche es aber zu unterdrücken. "Springst du", sie schubst mich vom Dach. Mit aller Kraft versuche ich mir einen Schrei zu unterdrücken und schaffe es auch halbwegs, da mein Flug, oder eher gesagt mein Todessturz, nach wenigen Zentimetern abgebremst wird. Ich halte mir ängstlich den Mund zu, um weitere Geräusche zu unterdrücken, als Aria mich mit ihren Kräften auf das nächste Dach hebt. Dann folgt sie mir, in dem sie einfach mit riesigem Abstand über die Lücke springt. Als sie nun auch neben mir angekommen ist, werfe ich ihr einen wütenden Blick zu: "Schubs mich nie wieder von irgendwelchen Hausdächern, verstanden?" "Tut mir leid", erklärt sie: "Ich verspreche es dir, aber darüber können wir uns auch später streiten. Jetzt ist es erst mal wichtig, dass wir uns auf diese Aufgabe konzentrieren!" Ich verdrehe meine Augen ein wenig genervt und blicke auf den Platz unter uns, auf dem sich unsere Ziele gerade noch aufgehalten haben. Nun gehen sie gemeinsam auf ein riesiges Haus zu, das viel prunkvoller ist als all die anderen in der Stadt. Schon als ich hier die ersten drei Jahre meines Lebens gewohnt habe, hätte ich eine gewisse Ehrfurcht davor. Schnell wende ich meinen Blick ab und starre stattdessen auf Ruby und Miles hinunter, die anscheinend zu streiten angefangen haben. Miles scheint Ruby den Brief abnehmen zu wollen, aber diese scheint das nicht zulassen zu wollen. "Als ob die jetzt anfangen werden zu streiten", spricht Aria meine Gedanken aus. "Sieht so aus", erwidere ich zustimmend.

Miles Sicht
"Gib mir den verdammten Brief", sagt Ruby so laut, dass jeder um sie herum es hören kann. "Nein, ich mach das", erwidere ich daraufhin. Sie schaut mich wütend an, doch das ist mir egal:"Ich nehme an, dass wir den Brief dort ablegen müssen, also lass mich das einfach machen. Du musst nicht alles selbst tun. Wir sind Freunde, also vertrau mir und gibt ein wenig Verantwortung an mich ab." Sie verdreht die Augen: "Na gut, dann mach es. Leg den Brief auf die Stufen und dann gehen wir wieder, aber wehe du vergeigst es." Ihre Worte tun weh: "Ich vergeige es nie!" In meinen Gedanken füge ich noch "Jedenfalls nicht die Mission, die ich mir mit Stella überlegt habe" hinzu. Ob ich die Mission, die ich mit Ruby abgemacht habe, so erfüllen kann, wie sie es will, kann ich aber eher nicht sicher sagen, doch ich weiß ganz genau, dass Ruby danach verdammt wütend auf mich sein wird. Zwar will ich das echt nicht, aber hier geht es doch um etwas Wichtigeres, oder? Ich habe keine Ahnung, was es mit Sarah auf sich hat, aber Stella ahnt scheinbar nichts Gutes und ich muss das Richtige tun. Trotzdem fühle ich mich aber schuldig. Noch schuldiger als in dem Moment, in dem ich Stella und Aria den Code gesagt habe, um den Wasserkristall zu stehlen und ich weiß, dass ich Ruby enttäuschen werde. "Wir werden sehen", antwortet sie frech, woraufhin ich nur kurz ein gekünsteltes Lächeln aufsetzt. In jeder anderen Situation hätte ich wahrscheinlich wirklich gelächelt, aber die Situation ist eben nicht optimal: "Ja, das werden wir." Instinktiv nehme ich ihre Hand in meine und ziehe sie dann mit mir zu dem Haus vor mir. Es ist riesig und passt nicht in das Viertel. Die Fenster werden von großen Vorhängen verhängt und die Haustür besteht aus dunklem Holz, welches mich an bittere Schokolade erinnert. Vor der Tür angekommen, lege ich den Umschlag ab und schaue Ruby fragend an: "Das war's?" "Ja, das war's wohl", erwidert Ruby schulterzuckend. Das ist meine perfekte Gelegenheit. Ohne genauer darüber nachzudenken, drücke ich, mit dem in meiner Brust kräftig hämmernden Herzen, auf die Klingel neben der Tür. Obwohl ich gelegentlich, okay zugegebenermaßen ziemlich oft, keine Ahnung habe, wieso ich bestimmte Dinge tue, weiß ich es bei dieser Sache zu einhundert Prozent. Ich klingele, damit die anderen beiden sehen können, wer herauskommt. Dann wissen wir auch wer dort wohnt und mit großer Sicherheit auch an wen er adressiert war. Als das laute Geräusch ertönt, sind zwei Emotionen zu sehen. Einmal Angst, die sich in ihr ausbreitet wie ein großer Virus, der in kurzer Zeit ihren ganzen Körper befallen haben wird, und als zweites Wut auf mich, die sie nicht zu verstecken bereit zu sein scheint. Trotzdem entscheiden sie sich scheinbar nicht sofort mich anzuschreien, sondern zieht mich stattdessen mit sich über eine Hecke, hinter der wir beiden uns dann auch verstecken, als jemand aus dem Haus kommt und sich umsieht. "Na toll, jetzt muss ich Plan B durchführen. Danke dafür", beginnt meine blonde Partnerin sofort loszuschimpfen, als sich die Person zurückgezogen hat, die im Haus wohnt: "Dieses Mal übernehme ich die Aufgabe!" "Aufgabe?", frage ich verwirrt. Sie zieht mich hoch, um mich weiter zu ziehen. Oh man, heute habe ich etwas mehr als wichtiges über sie gelernt. Mache Ruby Smith niemals, wirklich niemals, wütend.

An einem Friedhof bleibt sie stehen und endet ihr Schimpftirade fürs Erste: "Du wartest hier." "Nein, das tue ich nicht", erwidere ich zielstrebig: "Du hast mir gar nichts zu sagen." Ohne ein weiteres Wort bewegt sich Ruby über den Hauptweg des Friedhofes, auf dem ich noch nie zuvor war. So schnell ich kann, folge ich ihr.

An einem kleinen Springbrunnen bleibt sie stehen und schaut sich nervös um. Ich kann ihr Unbehagen nur zu gut verstehen. Auch ich fühle mich auf einem Friedhof nicht wohl. Dann zieht sie mit einer Hand einen Beutel aus dem Mantel und greift hinein. Heraus zieht sie einen kleinen Stein, den ihr wohl Sarah gegeben hat, da ich ihn noch nie zuvor bei Ruby gesehen habe. "Was ist ...?", frage ich, doch sie bedeutet mir mit einem Handzeichen, dass ich den Mund halten soll. Widerwillig lasse ich es zu und schaue ihr interessiert zu. Was hat sie nur vor? Ich sehe genau zu, wie sie ihre Hände um den Stein schließt und für einige Sekunden die Augen schließt. Diese Geste erinnert mich sehr an die, die die anderen Erbinnen immer machen, wenn sie ihre Kräfte auf einen bestimmten Gegenstand in ihren Händen anwenden. Als meine Freundin ihre Augen wieder öffnet, brennen diese von innen heraus. Den Stein, der nun so aussieht, als würde er, genau wie das Innere des Mädchens auch, von innen heraus brennen, legt sie in eine kleine Nische in den Steinen, aus denen der kleine Brunnen gemacht wurde. "Gut", sagt sie, als sie fertig ist: "Wir gehen!" Ich verdrehe die Augen, stelle aber keine Fragen, da sie sowieso schon viel zu wütend ist. Hoffentlich haben Stella und Aria das gerade gesehen, damit sie hierherkommen und sich den Stein holen können.

Stellas Sicht
Meine Füße treffen feste auf dem Boden auf und erzeugen ein leises Knirschen unter den Sohlen meiner ledernen Stiefel. Während meine Füße durch den Sprung ordentlich weh tun, schwebt Aria neben mir einfach sanft zu Boden und macht mich schon wieder ein wenig neidisch auf ihre Kräfte. Zwar hätte ich sicher auch weicher landen können, aber in vielen Situationen denke ich gar nicht immer daran sie zu nutzen. Wahrscheinlich liegt es in diesem Moment daran, dass meine Gedanken bei dem Friedhof sind, den Ruby und Miles so eben wieder verlassen haben. Er hat einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen und in meinem Kopf. Am liebsten würde ich einfach einen großen Bogen darum machen und nicht mehr zurückkehren, doch das geht nicht. Wieso mussten sie unbedingt den Lafayette Friedhof von Luxxan betreten? Meine Erinnerungen schmerzen wie ein scharfer, tot bringender Glassplitter, der sich tief in mein Herz eingräbt. Schnell versuche ich mich auf etwas Neues zu konzentrieren und dem Schmerz zu entgehen. Die restlichen Stücke meiner gerade zerbröckelnden Maske, die mich sonst immer vor meiner Vergangenheit schützt, versuche ich so gut es geht zusammen zu halten. Sobald meine Partnerin neben mir gelandet ist, laufe ich los ohne wirklich auf sie zu warten, da ich das hier eigentlich nur schnell hinter mich bringen will. Sie eilt hinter mir her: "Kanntest du die Person, die da aus dem Haus gekommen ist?" "Nein", erwidere ich knapp:"Du?" "Woher denn? Ich war vorher noch nie in dieser Stadt", erklärt Aria und hetzt neben mir her. Dank meines schnellen Schrittes, kommen wir nach wenigen Sekunden am Friedhof an. Ich will es einfach schnell hinter mich bringen und dann wenn möglich nicht mehr wieder kommen. Die Jahre, in denen ich immer an einem bestimmten Tag herkommen bin, sind endlich vorbei und ehrlich gesagt habe ich wenig Lust darauf, dass es wieder von vorne losgeht. Ich will kein zweites Mal um Jahre zurückgeworfen werden und in das Loch zurückfallen, in dem ich so lange gelebt habe. Das war eine der schlimmsten Zeiten in meinem Leben und seit ich bei Hilley lebe, geht es mir endlich besser. Ungern werde ich mir das wieder nehmen. "Geht es dir gut?", fragt Aria mich nun. Ich nicke still und versuche an etwas andere, als an den Friedhof zu denken. Stattdessen konzentriere ich mich auf die Person, die aus der Tür getreten ist. Tatsächlich kannte ich sie nicht. Ihre Haare waren silbern, was jedoch kaum an ihrem Alter liegen konnte, stattdessen sah sie so aus, als wäre sie gerade einmal um die dreißig Jahre alt. Es war eine, in schwarze Gewänder gehüllte, Frau, die noch keinerlei Falten hatte. Sie hatte sich kurz genervt umgeblickt und war dann, mit dem Brief in der Hand, wieder ins Haus hinein verschwunden. Hoffentlich hat Miles es geschafft noch in Hilleys Haus den echten Brief gegen den Fake zu tauschen, sonst wird sich diese Frau ganz schön wundern und vielleicht auch Sarah anschreiben, die dann mit Sicherheit wissen wird, dass einer von uns etwas damit zu tun hat. Schließlich sollten die Anderen ja den Brief wegbringen und sie könnte ihnen die Schuld für die Verwechslung geben.

Am Friedhof angekommen, hält Aria mich am Arm fest:"Bitte warte mal auf mich. Ich habe keine Lust ständig hinter dir her zu hetzen. Wenn es für dich ein Problem ist, dass wir uns geküsst haben, sag es mir ruhig, aber sei nicht so abweisend zu mir." Obwohl gerade mein Inneres und meine Gefühle mich mehr beanspruchen, tut sie mir leid und ich entscheide mich, mich zusammen zu reißen:"Nein, daran liegt es nicht. Ich fühle mich nur einfach nicht wohl dabei auf eben diesen Friedhof zu gehen." "Hat es mir deinen Eltern zu tun?", fragt sie feinfühlig. Ich blicke traurig zu Boden und nicke zustimmend: "Ja, aber darüber sollten wir später reden. Jetzt ist es erst wichtig mal auf den Auftrag zu beenden." "Da hast du wohl recht, aber später sprechen wir darüber. Versprich mir das", bittet sie laut. Ich verdrehe die Augen und hebe die Hand zum Schwur: "Ich verspreche ist." Dann setze ich meine Kapuze auf und schaue mich dann nervös um. Leider ist es nicht sich hier um zu sehen, da speziell auf diesem Friedhof viele hohe, kastenförmige Gräber nah aneinander gebaut sind und nur wenige Blicke auf die Dinge dahinter zulassen. Von oben war alles viel leichter zu erkennen, aber jetzt hat sich der Blickwinkel verändert. Schnell setze ich meine Kapuze auf und ziehe sie mit mir. Beim Brunnen angekommen, knie ich mich hin und betrachte den Brunnen. Auf den Stein sind mehrere wunderschöne Fragmente aufgetragen, die schon wahnsinnig alt sein müssen. Ich weiß nicht wie lange es den Friedhof schon gibt, aber viele bedeutende Familien aus der Umgebung wurden hier begraben und haben auch noch Gräber für die Familienmitglieder, die noch folgen werden. Mein größter Wunsch war es immer neben meinen Eltern begraben zu werden, doch nun wünsche ich mir so viel mehr für mein Leben. Endlich verspüre ich das Gefühl von Geborgenheit und Liebe um mich herum. "Kennst du diese Zeichen?", fragt Aria mich. "Irgendwo habe ich sie mal gesehen, aber ich weiß nicht wo oder was sie bedeuten", erwidere ich nachdenklich: "Es ist eine Erinnerung aus meiner Kindheit." In meinen Erinnerungen erscheint ein dickes Buch mit einem braunen, verstaubten Einband und vergilbten Seiten. "Denkst du, dass du herausfinden könntest, was sie bedeuten?" "Ich bin mir nicht sicher", erwidere ich ehrlich und greife lieber vorsichtig zwischen die Steine, zwischen die Ruby den besonderen Stein gelegt hat. Aria beugt sich über meine Schulter und schaut mir gespannt zu. Langsam und mit zitternden Fingern ziehe ich den Stein heraus. Als ich ihn herausgeholt habe, spüre ich eine vom Stein ausgehende Wärme, die meinen ganzen Körper durchzuckt und sich im ersten Moment gut anfühlt, doch dann wird es auf einmal heiß und ich verbrenne mich fast. Instinktiv lasse ich den Brocken los, woraufhin er, von der Schwerkraft getrieben, zu Boden segelt. Aria stellt jedoch ihre guten Reflexe mal wieder unter Beweis, in dem sie ihn, kurz vorm Zerschellen auf dem Boden, auffängt. Überrascht blicken wir uns an:"Was war das denn?" Sie spricht genau das aus, was ich denke. "Ich bin mir nicht sicher, aber der Stein hat erst nur eine angenehme Wärme auf mich übertragen, doch dann wurde er so heiß, dass ich mich fast verbrannt habe", erkläre ich nachdenklich. Heute überschlagen sich die merkwürdigen Ereignisse irgendwie auf unerklärliche Weise. Seufzend lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Besorgt legt Aria einen Arm um mich:"Du wirst gerade irgendwie zerstreut. Liege ich da richtig?" "Ja, du liegst doch immer richtig", sanft lehne ich mich gegen sie, um ihre Wärme und Geborgenheit zu spüren. Ihr süßlicher Geruch steigt mir in die Nase und ich entspanne mich sichtlich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich den ganzen Tag über total verspannt war und mir kaum Zeit für mich selbst genommen habe. Stattdessen habe ich mich nur darum gekümmert, endlich heraus zu finden, ob Sarah wirklich meine Schwester ist, oder ob sie uns angelogen hat und nun ausspioniert. Dabei ist ein wenig Zeit für mich doch genauso wichtig. Unsere Blicke treffen sich und erneut spüre ich dieses Kribbeln tief in mir, welches immer weiter wächst und sich bald in meinem ganzen Körper ausgebreitet hat. Ohne groß nachzudenken, küsst sie dieses Mal sie und nicht anders herum. Auf ihrem Gesicht erscheint der gleiche überraschte Gesichtsausdruck, wie auf meinem eigenen, als wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Einige tausend Schmetterlinge scheinen in mir zu fliegen und regelrecht explodierende Gefühle in mir zu erwecken. Es ist, als würde alles um uns herum für wenige Sekunden still stehen und mein Gehirn blendet alles um mich herum aus. In diesem Moment fühle ich mich unbesiegbar und fast so als könnte mich nie wieder etwas im Leben aus der Bahn werden, denn diesen wunderschönen Moment kann uns nie wieder irgendwer nehmen. Er wird sich in mein Gehirn einbrennen und eine neue Erinnerung sein, die ich mit diesem Friedhof verbinde. Dieser Moment wird es mir so viel leichter machen hierher zurückzukehren, um meine Eltern zu besuchen. Mein Herz schlägt so wild, dass ich das Gefühl habe, dass es jede Sekunde aus meiner Brust herausspringen würde. Das Adrenalin strömt ungehindert durch mich hindurch und lässt mein Blut rauschen. Das ist einer der besten Momente in meinem Leben. Als wir uns atemlos voneinander lösen, blicken wir unsern Gegenüber überrascht an. "Müssen wir darüber noch großartig reden?", frage ich, um die Stille zu brechen. "Nein, ich denke, dass sich das gerade geklärt hat", erwidert sie, woraufhin ich kurz zustimmend nicke. Dann werde ich jedoch wieder etwas ernster, da ich eine wichtige Bitte habe: "Wir haben doch noch etwas Zeit bis die Sonne untergeht, oder?" Hilley hatte uns nämlich darum gebeten spätestens dann zurück zu sein. "Ja, wieso?" Langsam spreche die Worte aus, die mir schon seit wir hier angekommen sind, auf der der Zunge brennen: "Würdest du mit mir zum Grab meiner Eltern gehen?" Diese Worte endlich aussprechen zu können sind wie Balsam für meine Seele. So lange hatte ich keinen, dem ich genug Vertrauen entgegengebracht habe, um ihn darum zu bitten. Sie hat mir in der letzten Zeit oft genug bewiesen, dass ich ihr vertrauen kann. Wahrscheinlich würden viele nicht verstehen, wieso ich damit so viele Probleme habe, aber für mich ist es nicht leicht diesen Ort mit einer anderen Person zu besuchen. Wenn ich meine Eltern und somit auch meine Vergangenheit besuche, präsentiere ich meinem Begleiter mein verletzlichstes Ich, um das ich mit der Zeit eine starke Schutzmauer errichtet habe und dem ich eine neue Maske aufgesetzt habe. "Natürlich", erwidert sie, entgegen meiner Erwartungen, liebevoll und schaut mich glücklich an. Sie scheint wohl zu wissen, dass es ein großer Schritt für mich ist sie darum zu bitten. Und das ist es leider tatsächlich. Höllisch schwer!

Auf dem Weg zum Grabmal macht sich ein beklemmendes Gefühl breit. Ich habe Angst wieder dort zu sein. Mit aller Kraft versuche ich das Gefühl loszuwerden und meine Maske zu wahren, doch letztendlich schaffen kann ich es nur kurz wegschieben und ich muss fürchten, dass es später nur umso stärker über mir zusammenbricht und mich wie eine Welle mit sich reißt. Als wir am Grab ankommen, schaut sich Aria nervös um, doch ich schenke meine ganze Aufmerksamkeit nur dem, was vor mir liegt. Meine Eltern wurden, im Gegensatz zu vielen anderen, in keinem großen Kastengrab, sondern direkt unter der Erde begraben. Sie hatten schon als ich geboren wurde ein gemeinsames Grab. Das hat mir meine Tante jedenfalls mal erzählt. Der Stein ist bereits ein wenig mit Moos bedeckt, doch die Namen sind noch gut lesbar. Es macht mich mehr als traurig, dass keiner aus meiner Familie mal hergekommen und sich darum gekümmert hat. Auch der dunkle Stein vor dem beschriebenen Stein ist mit Blättern und Moos bedeckt. Der Duft der Natur um mich herum steigt mir in die Nase, doch in diesem Moment gibt er mir keine Kraft, sondern unterstützt stattdessen meine Trauer nur noch mehr. Es ist dieser gewohnte Geruch, den es nur hier gibt. Als ich noch kleiner war, habe ich meine Zeit im Sommer meistens hier verbracht und geschrieben oder gezeichnet. Aria scheint aufgefallen zu sein, dass es mir nicht so gut geht, weshalb sie eine Hand beruhigend auf meine Schulter legt und die andere langsam in die Richtung des Grabes streckt. Andere Leute würden nicht verstehen, was diese Bewegung bedeutet, aber ich weiß genau was sie tut. Auf ihre Bewegung folgt ein starker Windstoß, der die Blätter und sogar das Moos vom Grab meiner Familie hinunterweht. Ich versuche ihr einen dankbaren Blick zu schenken, doch anscheinend versage ich auch hier kläglich. Stattdessen wirke ich wahrscheinlich traurig, denn meine Körpersprache ist in den meisten Fällen eine direkte Verbindung zu meiner Seele. Wehmütig lasse ich mich auf die Knie sinken und stütze meine Hände auf den Stein. Der massive, kalte Stein unter meinen Fingerknöcheln angenehm an. Als mir eine Träne still und heimlich die Wange hinunterläuft, beginnt es plötzlich leicht zu tröpfeln und ein lautes Grummeln ist am Himmel zu hören. Mal wieder spricht mir das Wetter aus der Seele und weint mit mir um die verlorenen Seelen, die hier ihren Frieden gefunden haben. Immer mehr salzige Tränen beginnen zu laufen und werden immer schneller. Auf ihrem Weg verbinden sie sich mit dem Regen und bilden eine Einheit. Der Stoff meiner Kleidung beginnt sich mit Wasser voll zu saugen und nach wenigen Sekunden tun meine Wangenknochen von dem Zusammenspiel aus Tränen und Kälte weh. Kaum spüre ich Arias Arme, die das Mädchen sanft und gleichzeitig beschützend um mich gelegt hat. Die Geste berührt aber trotzdem mein Herz und lässt mich zu meiner Freundin aufblicke: "Danke, dass du hier bist und auf mich aufpasst." Sie wischt meine Tränen weg und legt ihre Hände an mein Gesicht: "Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst!" Eine unbekannte Wärme beginnt mein Herz zu umgeben und ich lehne mich sanft gegen sie. Sie drückt gegen, um mich zu stützen. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich nur auf sie. Dann reißt sie mich plötzlich aus meinen Gedanken, in dem sie fragt: "Stella, sieh mal!" Auf ihre Bitte hin öffne ich meine Augen und sehe meine Partnerin fragend an: "Was ist denn?" Als sie nicht antwortet, folge ich einfach ihrem Blick, der auf einer großen Pfütze neben mir haftet. Auch meine Aufmerksamkeit zieht sie nun auf sich. Aus irgendeinem Grund ist dieses Wasser mehr als merkwürdig. Es wirkt viel härter als normales. Fast wie Gelee! "Was ist das?", fragt Aria. "Ich habe keine Ahnung", erkläre ich schulterzuckend und will mich eigentlich gar nicht weiter damit befassen, sondern einfach nur die einzigen wirklich ruhigen Minuten seit langem genießen. Diese Minuten scheinen mir jedoch nicht vergönnt zu bleiben, da Aria wieder ein wenig Abstand von mir nimmt und sich stattdessen der merkwürdigen Ansammlung von Flüssigkeit widmet. Also lasse auch ich von meinen Eltern ab und schaue, Aria zu liebe, auf das merkwürdige Wasser. Auf einmal wird mir für wenige Sekunden schwarz vor Augen. Als mein Blick sich wieder schärft, strecke ich meine Hand, wie von einem tiefer Willen oder Instinkt geleitet, nach der Flüssigkeit aus. In dem Moment, in dem sich meine Finger und das Wasser berühren, durchzuckt mich so etwas wie ein elektrischer Schlag, der Gelee löst sich auf und zerfällt wieder zu Wasser. Ich erschrecke mich fürchterlich und zucke, genau wie Aria, zurück. "Was war das denn?", fragt ich mit laut schlagendem Herzen und warte auf eine Antwort, doch diese kommt nicht. Ich drehe mich verwundert zu Aria um. Erneut schaut sie nur auf das Wasser: "Sieh mal!" Ich schaue ebenfalls wieder auf das Wasser, was sich nun langsam über den Boden bewegt, ohne irgendeinen Grund dazu zuhaben. Kein anderes Wasser vermischt sich mit dem in der Pfütze. Es wirkt, als hätte sich ein Schutzwall darum aufgebaut, der die kleine Pfütze davor schützt. Fast wirkt es, als würde das Wasser sich in eine bestimmte Richtung bewegen.

Als es fast um eine Ecke gebogen ist, wirkt es, als würde diese magische Flüssigkeit einem bestimmten Weg folgen und sich nicht davon abbringen lassen wollen. "Sollen wir ihm folgen?", fragen wir einander gleichzeitig. Beide lassen die Frage unbeantwortet und laufen hinter dem Wasser her. Ich selbst brauche etwas länger, da ich mich erst von meinen Knien erheben muss, auf die ich mich gestützt hatte. Unsere Füße trappeln schnell auf dem Boden, damit wir die Fährte nicht verlieren. Obwohl ich nicht sicher bin, was bei dieser Sache falsch laufen könnte, habe ich irgendwie ein merkwürdiges Gefühl und bin ziemlich unentschlossen. Mein Magen hat sich bereits bei den ersten Schritten ein wenig zusammen gezogen. Nun nach einigen weiteren fühle ich mich als würde dieser nun von einer Würgeschlange zusammengezogen werden. Auch das Atmen fällt mir zunehmend schwerer. Was werden wir finden, wenn das Wasser anhält? Da es sich hier um Wasser handelt, hat es sicher mit meinen Kräften zu tun, aber wohin wird es mich führen?

Dann bleiben wir tatsächlich stehen und mein Blick fällt sofort auf das vor uns. Der Atem bleibt mir weg und meine Kehle zieht sich zusammen. Vor mir erhebt sich eine große Wand aus mehreren aneinander gereihten Steinplatten. Auf jeder von ihnen steht ein tief eingeritzter Name, den ich jedoch nicht entziffern kann. Nur einer von ihnen ist komplett reingewaschen. Als ich weiter herantrete, schlage ich die Hand vor den Mund. Dort steht in Druckbuchstaben 'Sarah Valerios'.

Der Atem bleibt mir weg und meine Kehle zieht sich zusammen. Vor mir erhebt sich eine große Wand aus mehreren aneinander gereihten Steinplatten. Auf jeder von ihnen steht ein tief eingeritzter Name, den ich jedoch nicht entziffern kann. Nur einer von ihnen ist komplett reingewaschen. Als ich weiter herantrete, schlage ich die Hand vor den Mund. Dort steht in Druckbuchstaben 'Sarah Valerios'.

Valerios? Wieso steht dort auf dem Stein mein Nachname? Mein Mund wird ganz trocken und ich greife nach Arias Hand. "Ist das nicht dein Nachname?", fragt Aria vorsichtig. Langsam nicke ich und trete dann näher an den Stein heran. Die Hand, mit der ich nicht Aria berühre, lege ich auf die Platte und streiche sanft darüber. Wieso ist das der einzige saubere Stein? Hat jemand ihn geputzt? "Was sind das für Leute, die hier begraben wurden?", frage ich wissbegierig. Es fällt mir schwer zu schlucken oder gar zu atmen. Aria legt ihre Hände auf meine Schultern: "Diese Gräber sind für Kinder, die sehr jung gestorben sind." Sehr jung gestorben? Also ist sie nicht alt geworden. Mein Blick wandert weiter zum Datum, welches unter dem Namen steht. Das Geburtsdatum ist mit meinem Deckungsgleich. Auch dieses Mädchen wurde am 12. Dezember 2018 geboren. Ein Todesdatum wurde ebenfalls eingetragen. Es ist der 22. Januar 2021. In diesem Moment brauche ich zu lange zum Rechnen. Fast fühlt es sich so an, als wäre mein Gehirn gelähmt. So als könnte ich nicht mehr klar denken. Dieses Mädchen, meine Schwester, ist mit drei Jahren gestorben. Wenn das nicht geschehen wäre, wäre sie jetzt 16 Jahre alt. Sie wäre jetzt im gleichen Alter wie ich. So etwas wie mein Zwilling. Wir waren Zwillinge! Bei dem Gedanken laufen mir wieder die Tränen runter. Wie kann es möglich sein, dass ich eine Schwester habe, mich aber nicht an sie erinnere. Man kann einen anderen Menschen, besonders keine Schwester, einfach so vergessen. "Was ist los?", fragt mich Aria und versucht mich umzudrehen. "Sie hat am gleichen Tag wie ich Geburtstag", erwidere ich: "Sie ist ..." Die Stimme bleibt mir weg und ich kann meinen Satz nicht beenden. "Sie ist dein Zwilling", sagt sie für mich: "Also ist die Sarah bei uns zu Hause nicht deine Schwester?!" Ich will antworten, doch ich bin nicht fähig eine vernünftige Antwort zu finden: "Ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Das ist alles so ...verworren!" Sie legt ihre Hände an meine nassen Wangen: "Willst du denn die Wahrheit herausfinden?" "Ja, natürlich will ich das", erwidere ich und spüre, dass meine Wangenknochen vom Weinen schon schmerzen. "Dann entwirren wir das ganze", schlägt sie vor: "Ich verspreche dir, dass wir die Wahrheit finden." Ich will ihr wirklich mit aller Kraft Glauben schenken, aber sie sieht genauso durcheinander aus wie ich: "Wo steht immer die Todesursache?" Nun tritt Aria auch vor und schaut auf den Stein: "Eigentlich direkt unter dem Datum, aber ich irgendwie gibt es hier keines." Schnell versuche ich mich zusammen zu reißen und schaffe es sogar für einen kurzen Moment: "Dann sollten wir die Ursache herausfinden!" Langsam dreht sich Aria wieder zu mir um und umfasst meine Schultern fest: "Stella? Du musst aber trotzdem damit rechnen, dass sie möglicherweise doch nicht tot ist. Sie könnte es überlebt haben, schließlich ist, seit wir alle auf Hilley getroffen sind, alles nicht mehr so wie es auf den ersten Blick scheint. Wir sollten immer damit rechnen, dass sich die Dinge wieder ändern und damit rechnen, dass das Mädchen bei Hilley vielleicht trotzdem deine Schwester ist." Ich nicke nachdenklich. Sie hat Recht! Alles hat sich seit Hilley verändert und nichts ist, wie es scheint. Trotzdem trete ich an den Stein heran und knie mich hin, um nach jeglichen Hinweisen zu suchen, doch mehr ist nicht zu finden. Keine weiteren Fakten oder Zahlen. Plötzlich weht ein starker Wind und eine Zeitung wird zu uns herübergeweht. Mit, vor Kälte, zitternden Händen hebe ich das leicht aufgeweichte Papier auf und werfe einen Blick auf die Titelseite. Sie scheint vom 22.01.2021 zu sein. Als ist sie schon 13 Jahre alt. Wie kann sie dann noch hier einfach so durch die Luft schweben? Nachdem dem Datum fällt mein Blick auf das große Bild auf der Seite. Darauf sind drei Menschen zu sehen. Ihre Gesichter sind weiß und um sie herum liegen mehrere kleine Erdkrümel. Diese Details schaue ich mir ganz genau an, um nicht in die Gesichter der Personen sehen zu müssen. "Sind die Leute auf dem Bild?", fragt Aria misstrauisch. Als ich die Worte, die ich eigentlich nicht aussprechen wollte, sage, klingt meine Stimme rau und gebrochen: "Meine Familie, an dem Tag, an dem sie gestorben sind."
Zu meinem Leidwesen ist das einer der Tage, an die ich mich noch erinnere. Schließlich hat er mein Leben für immer geprägt und verändert. Das war der Tag, an dem ich ein Waisenkind wurde und zwei, oder nun wohl eher drei, geliebte Menschen verlor. Meine Verwandten hatten mir immer gesagt, dass sie von einem Mann mit einer Waffe erschossen wurden, doch mittlerweile glaube ich das nicht mehr. Sie haben mir schließlich auch nie erzählt, dass ich in Wirklichkeit eine Schwester habe. Langsam weiß ich echt nicht mehr, was ich glauben soll! Wurde ich etwa mein ganzes Leben lang nur angelogen? Wie kann ich jetzt noch jemandem glauben, wenn er mir von der Vergangenheit erzählt? Vielleicht war dort ja nicht mal ein Kerl mit einer Waffe. Wieso sollte er mich denn schon am Leben gelassen haben? Das tut doch kein Mörder! Ein Mörder erschießt doch sonst alle Zeugen, um nicht erkannt zu werden.
Mit meinem Zeigefinger beginne ich den Artikel darunter zu lesen. Dort wird vom rätselhaften Tod dreier Mitglieder der "Valerios" – Familie geschrieben. Es scheint nirgends irgendeinen Tatwaffe oder einen Verdächtigen zu geben. An diesem Tag gab es eine Parade in der Stadt, die so gut wie jeder besucht hat und es konnte nachgewiesen werden, dass dort nur vier Menschen waren. Meine Eltern und ihre beiden Kinder. Sarah und Stella Valerios!
Langsam hebe ich den Blick zu Aria und schiebe meine dunkelbraunen Haare zur Seite: "Ich will es wissen! Hilf mir herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Nur so können wir herausfinden, ob unsere Sarah Montgomery meine Zwillingsschwester Sarah Valerios ist." Ich tippe immer wieder unterbewusst auf das Papier in meiner Hand, wenn ich mich drauf beziehe. "Natürlich, aber wie willst du es herausfinden?", fragt sie ratlos. Bevor ich antworte, suche ich nach einem guten Weg es zu sagen. Als ich keinen finde, sage ich es einfach gerade heraus: "Ich will die Unterlagen der Autopsie haben!"  

Der Wind weht sanft durch die Straßen und zehrt an meiner Kleidung. Meine Hände habe ich in den Taschen meines Mantels vergraben und schaue nervös umher. Aria läuft, in der gleichen Position, neben mir her und wirkt genauso nervös. Erneut haben wir uns für einen Tag vom Kampftraining befreit, um weiter zu forschen. Ich hatte die Zeit zu Hause genutzt, um mich noch ein wenig weiter mit Sarah auseinander zu setzen und herausfinden, ob wir wirklich Gemeinsamkeiten haben. Schließlich sind sich Zwilling, soweit ich weiß, ziemlich ähnlich. Ein paar Sachen habe ich gefunden, in denen wir uns ähneln, aber auch viele, die mich nicht überzeugt haben. Ich atme ruhig die frische Nachmittagsluft ein und entspanne mich. Das was wir jetzt vorhaben, wird nicht leicht, aber wir werden es versuchen. Nein, nicht nur versuchen. Wir werden es schaffen. Entweder tut man es oder man lässt es. Es gibt kein Versuchen. Diese Gedanken spulen sich in meinem Kopf, wie bei einer kaputten Kassette, ab und wirken sogar ein wenig bestärkend. Das Stadtkrankenhaus, mit seinen beiden großen Flügeln, ragt hoch vor mir auf. Unser Plan ist es ins Krankenhaus zu gehen und in die Leichenhalle zu gelangen, um die Unterlagen über meine Schwester zu finden, schließlich werden alle Leichen erst mal hierher gebracht, damit die Todesursache festgestellt werden kann.

Als sich die großen Türen vor uns automatisch öffnen, schlägt mir eine Lärmwelle entgegen. Überall wuseln Leute durch die Gegend und reden lauthals miteinander. Die Luft ist wie elektrisiert. Alle wirken aufgeregt und unruhig. Die Stimmung lässt mich noch nervöser werden, als ich meinen Blick langsam durch die große Eingangshalle wandern lasse. Auf mehreren Stühlen sitzen Seraphinen, die sich angespannt umblicken und unterhalten sich mehr oder weniger angeregt mit ihren Angehörigen. Nur wenige von ihnen Blicken starr gerade heraus. Es wirkt, als würden sich diese wenigen bereits innerlich auf den Schlag, der sie mit einer, zuvor nicht abschätzbaren, Wucht treffen wird und ihnen den Boden unter den Füßen nehmen wird. Aria steckt ihre Hand in meine Manteltasche und ergreift dann die Meine. Bevor wir los geritten sind, habe ich ihr erzählt, wie sehr ich Krankenhäuser verabscheue und nun hält sie ihr Versprechen an meiner Seite zu sein. Diese Angst hat mich auch dazu gebracht die ganze Nacht wach zu liegen, sodass ich ziemlich wenig Schlaf bekommen habe. Generell ist die ganze Situation also schwierig. Der Geruch von einem Gemisch aus mehreren verschiedenen Cremes steigt mir in die Nase und lässt mich diese rümpfen. An der Rezeption, am Ende des Raumes, angekommen, bleiben wir stehen. Dort, auf einem Stuhl an der Rezeption, sitzt eine Frau mit langem schwarzen Haar, welche ihr ungewaschen am Kopf kleben. Ich verziehe das Gesicht, woraufhin Aria mich sanft mit ihrem Ellenbogen anstupst. Als Aria sich laut räuspert, schaut die Frau von ihren Papieren auf und schaut uns über den Rand ihrer schwarzen Lesebrille, die stark an die einer Oma erinnert, zu uns hinauf. Sie trägt Bürokleidung und scheint ziemlich gestresst zu sein, dabei kann ich mir den Job als Rezeptionistin im Krankenhaus gar nicht so stressig vorstellen. Schließlich kann sie, im Gegensatz zu den Ärzten und Krankenschwestern hier, ständig herumsetzen und Akte lesen oder Leuten Auskunft geben. "Was kann ich für sie tun?", fragt die Frau laut. Ihre Stimme klingt kratzig und gereizt. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie genervt mit dem Stift in ihrer rechten Hand auf dem Tisch herum trommelt. Das soll wohl ein Zeichen dafür sein, dass wir uns ein wenig beeilen sollen. "Äh ...wir würden gerne Einsicht auf die Akten der Familie Valerios erhalten", erkläre ich schnell, bevor ich den Mut verliere. Die Frau bricht daraufhin jedoch sofort in lautes Gelächter aus, welches dafür sorgt, dass sich einige Leute zu uns umdrehen: "Wer sind sie denn, dass sie denken das Verlangen zu können? Die Präsidentin?" "Nein, ich bin Stella Valerios. Die Tochter von Mr. und Mrs. Valerios, die ja leider verstorben sind", erkläre ich verwundert. "Und deswegen denkst du, dass du Einsicht in streng vertrauliche Akten bekommst?", fragt sie aufgebracht: "Ganz sicher nicht und jetzt schert euch hier raus. Das ist kein Spielplatz! Es gibt hier Leute mit echten Problemen und welche, die wirklich arbeiten, also lasst die Erwachsenen weiter arbeiten und geht ein Eis essen." Die Wut pulsiert plötzlich in meinen Knochen und ich spüre wie sich meine Fingernägel in das Fleisch meiner Hände graben, als ich meine Hände zu Fäusten zusammenballe? Echte Probleme? Meine Eltern sind tot und ich will herausfinden, ob da wirklich noch ein direktes Mitglied meiner Familie ist und das geht nur, wenn ich diese Akten sehen kann. Wenn das kein ECHTES Problem ist, möchte ich echt gerne mal eins sehen. Ich muss mich stark zusammenreißen, damit ich mich nicht über den Tresen vor uns beuge und dieser schrecklichen Person meine Faust ins Gesicht ramme. Normalerweise bin ich kein Mensch, der so etwas leichtfertig tut, doch in diesem Moment ist es mehr als schwer mich zusammen zu reißen. Sie sollte lieber ein Eis essen gehen und einer kompetenten Person den Job überlassen, den sie gerade tut. Tränen treten mir in die Augen. Wieso muss es mir immer noch schwerer gemacht werden, als es sowieso schon ist? Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie das Wasser im Glas neben den Papieren der Frau stark zu wackeln beginnt, doch es ist mir egal.

Auch Aria scheint es bemerkt zu haben, weshalb sie ihre Hand langsam um meine Faust schließt und einen Finger zwischen meine eigenen stark zusammengepressten drückt. Instinktiv öffne ich meine Faust und das Wasser hört auf sich wie das Meer, welches gleich von einem Hurrikan durchgeschüttelt wird, zu verhalten. "Natürlich, sie haben absolut Recht", pflichtet sie der Frau bei, woraufhin mein verwirrter und wütender Blick auf ihren zufriedenen trifft: "Eine Frage hätte ich aber noch." Die Schwarzhaarige verdreht die Augen, erlaubt meiner Freundin aber eine einzige Frage. Erwartungsvoll sehe ich Aria an. "Wo sind die Toiletten?", fragt sie mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Mir fällt die Kinnlade hinunter. Das hat sie gerade nicht wirklich gefragt, oder? Ich dachte, jetzt kommt irgendwas richtig clever, aber stattdessen fragt sie nach Toiletten. Enttäuschung macht sich in mir breit. Meine Knochen werden schwer und in meinem Gehirn breitet sich eine unbeschreibliche Leere aus. Aria jedoch scheint glücklich, als die Frau auf einen Gang rechts von sich zeigt und sich dann wieder ihrer Arbeit zuwendet, was ich gar nicht verstehe. Wieso ist sie so scharf darauf jetzt sofort auf die Toilette zu verschwinden? Mit einem leisen 'Danke' zieht mich meine Freundin mit sich zum Gang.

Für einige Sekunden hetzen wir still durch den Gang. Ich weiß echt nicht, was sie vorhat, doch scheinbar scheint es wichtig zu sein. Nach wenigen weiteren Metern bleibt Aria stehen und sieht sich um. "Kannst du mir mal erklären, was das gerade war?", frage ich leise, da ich keine Lust habe dabei erwischt zu werden, wie ich hier durch irgendwelche Gänge renne. Zwar haben wir noch nichts Verbotenes getan, aber das ist genauso wie im Supermarkt ohne etwas gekauft zu haben, an der Kasse vorbeizugehen, man fühlt sich immer ein wenig schlecht. "Wenn man uns die Sachen nicht freiwillig gibt, müssen wir sie eben kommen und jetzt halt die Klappe, sonst werden wir erwischt", flüstert sie mir ins Ohr: "Einfach ganz cool rein und dann wieder raus!" In ihrem Mund klingt das so viel leichter, als es ist, doch ich schlucke kurz und nicke dann. Aria scheint jedoch nicht einmal auf mein Einverständnis gewartet zu haben, da sie mich bereits wieder mit sich zieht. Ein leichtes Kribbeln entsteht in meinem Bauch. Ob aus Angst oder aus Aufregung kann ich nicht genau sagen.

An einem Aufzug angekommen, der ziemlich versteckt liegt, bleiben wir stehen und Aria drückt auf den Knopf, der den Aufzug zu uns herrufen soll. Es schien den ganzen Weg über so, als würde sich Aria hier merkwürdig gut auskennen. Wäre ich hier allein gewesen, hätte es sicher Stunden gedauert, bis sich hierher gelangt wäre. "Warst du schonmal hier?", frage ich deshalb vorsichtig. Mir fällt sofort auf, dass das Mädchen, welches mich zuvor angeblickt hatte, schnell den Blick abwendet und nervös mit ihren Fingern herumzuspielen beginnt. Falten bilden sich auf meiner Stirn. Sie muss die Frage gar nicht beantworten. Das hat ihre Körpersprache schon zur Genüge getan. Aria scheint das jedoch anders zu sehen, als sie ihren Kopf wieder hebt und mich ansieht. Langsam öffnet sie ihren Mund und will zu einer Erklärung ansetzen, doch das 'Ping' des Aufzuges unterbricht sie, was ihr ziemlich recht zu sein scheint. Schnell huscht sie in das Metallgehäuse und zieht mich mit sich. Drinnen angekommen schließen sich die Türen sofort, was für einen normalen Aufzug ziemlich untypisch ist. Als ich jedoch den seichten Wind spüre, wird mir klar, woran es liegt. Ich blicke zu Aria und kann gerade noch sehen, wie sie auf den Knopf drückt, der mit einem merkwürdigen Zeichen bedruckt ist, welches ich nicht kenne. Genau in diesem Moment wird mir klar wie groß die Schwierigkeiten sein werden, in die wir uns gerade begeben!

Als das leise 'Ping' erneut ertönt, halte ich den Atem an, gespannt, was mich wohl hinter dieser Tür erwarten wird. Aria hat die ganze Zeit nur still neben mir gestanden und wirkte sehr nachdenklich. Sie scheint die Frage, wieso sie sich hier so gut auskennt, nicht beantworten zu wollen, also werde ich auch nicht nach harken. Schließlich will ich ja auch nicht, dass man mir ständig irgendwelche Fragen stellt, über die eigentlich nicht reden will. Langsam gleiten die Türen vor uns auf und ich blicke nach draußen. Leider gibt mir das auch keinen Aufschluss über das unbekannte Territorium vor mir, da alles komplett dunkel vor uns ist. Als ich ausatme, zittert mein Atem und ich spüre das Vibrieren meiner Brust. Mein Blick wandert zu meine Partnerin, die den Fahrstuhl bereits verlassen hat und nun, nach irgendwas in ihrer Manteltasche kramend, gerade so vor den Metalltüren steht. Vorsichtig steige ich auch aus und schaue mit einem mulmigen Gefühl in die Schwärze hinein. Um mich selbst abzulenken und der Anspannung nicht hinzugeben, schaue ich zu Aria hinüber, deren Anblick eine beruhigende Wirkung auf mich hat: "Was suchst du?" Meine Frage hallt in dem Gang, in dem wir stehen, laut wieder und ich schlage mir die Hände vor den Mund. Wir sollten lieber nicht so laut sein, sonst werden wir sofort erwischt, wenn hier noch andere Leute sind. Nun scheint meine Freundin auf das Ziel ihrer Suche gestoßen zu sein und zieht den Stein heraus, den sie bereits im Institut, in das wir eingebrochen sind, genutzt hat. Er erstrahlt in einem milchigen Weiß, welches dem des Mondes fast aufs Haar gleicht. Die kleine Lichtquelle erhellt die Umgebung um uns herum nur dürftig, doch es reicht, um nicht unbedingt gegen jede Wand zu laufen, was für mich ganz praktisch ist, da ich mich im Dunklen echt schlecht zurechtfinde. Es wäre also nicht das erste Mal, dass ich gegen eine Wand laufe. Aria lässt ihre Finger sanft meinen Arm hinuntergleiten, bis sie an meiner Hand ankommt und verschränkt ihre freien Finger in meinen. Ob sie es tut, um mich oder sich selbst zu beruhigen, weiß ich nicht.

Bedächtig beginnen wir genau im selben Moment den ersten Schritt zu machen und bewegen uns dann im Gleichschritt weiter. Unsere ledernen Stiefel erzeugen laute Geräusche auf dem steinernen Boden, die dadurch, dass der Flur fast komplett leer ist, nur noch verstärkt wird. Das ganz hat eine angsteinflößende und gleichzeitig berauschende Wirkung auf mich. Wäre ich hier allein, würde ich wahrscheinlich schon ängstlich in einer Ecke hocken und mich nicht trauen einen weiteren Schritt zu machen, aber mit Aria an meiner Seite fühle ich mich stark. Wenn man von dem Schreckensfaktor, den das Ganze hat, absieht, ist es ganz schön spannend Akten aus einem Krankenhaus zu stehlen. Zwar nicht wirklich löblich, aber es muss sein.

Vor einer hölzernen Tür bleiben wir stehen und Aria zieht einen kleinen Schlüssel aus ihrer Tasche. Ich hebe instinktiv beide Augenbrauen. Woher hat sie den denn? Vielleicht hat sie den ja irgendwem gestohlen. Das denke ich aber eher nicht. So eine Aktion wäre total untypisch für sie. Mit einer einzigen Handbewegung stößt sie die Tür auf und drückt dann auf den Lichtschalter. Eine kleine Glühbirne an der Decke entzündet ihr Licht. Mit starken Schritten begibt sie sich ins Zimmer und schlägt die Tür hinter uns zu. Dann geht sie weiter zu einem der Schränke am Ende des Raumes. "Was wird das?", frage ich sie, doch das Mädchen entscheidet sich mir nicht zu antworten, sondern den Schrank zu öffnen und einige Sachen herauszunehmen. In ihren Händen hält sie zwei zusammengefaltete Bündel mit Kleidung, die hier normalerweise die Schwestern tragen. Woher wusste sie, dass sie hier sind? "Zieh das an", erwidert sie ruhig und beginnt dann selbst sich umzuziehen. Ich tue es ihr gleich, ohne weitere Fragen zu stellen. Sie weiß sicher, was sie tut und wir haben nicht genug Zeit, um lange zu diskutieren. Stattdessen ziehe ich mir schnell den Mantel aus und streife dann schnell meine Sachen ab. Ich drehe mich zur Wand und lege die Schwesternkleidung an. Sie besteht aus einer weißen Hose, sowie einem ebenso weißen T-Shirt. Meine Haare binde ich dann, wie alle anderen hier, mit einem Haargummi, welches ich um mein Handgelenk gebunden hatte, zu einem Pferdeschwanz. Dann drehe ich mich wieder zu Aria um, die ebenfalls fertig zu sein scheint. "Fertig?", frage ich. Sie nickt zufrieden: "Ja, komm jetzt. Wir müssen uns immer noch beeilen." Tief einatmend, folge ich ihr, weiter zu einer großen, sehr schwer wirkenden, Metalltür. "Das ist die Leichenhalle", erklärt Aria flüsternd und richtet ihre Hand auf ein Tastenfeld links vom Türrahmen. Dann tippt sie schnell einen Code ein, dem ich so schnell aber nicht folgen kann. Als sie ihre Hände wieder wegnimmt, gleitet die Tür mit einem lauten Zischen zur Seite. "Du wartest hier und lenkst die Leute ab, wenn jemand kommt", frage ich vorsichtig. Ich will echt nicht, dass sie nur meinetwegen in Schwierigkeiten gerät, weil sie in der Leichenhalle erwischt wurde. Zwar scheint Aria nicht sofort einverstanden zu sein, doch das ist mir egal. Ohne auf eine Antwort zu warten, will ich durch die Tür huschen, doch sie hält mich am Handgelenk fest und zieht mich dann in eine kurze Umarmung. "Pass auf dich auf", flüstert sie mir ins Ohr. "Mach ich", erwidere ich ebenso leise und befreie mich dann von ihr. Mit einem nervösen Blick durch den Gang hinter uns und einem flauen Gefühl im Bauch husche ich in die Leichenhalle.

Mit zitternden Gliedern bewege ich mich durch die Halle. Mehrere lange Röhrenlampen erhellen meine Umgebung flackernd und erleichtern mir die Sicht. Die Wände sind in hellgrün und die Möbel weiß. Als ich den großen, metallenen Operationstisch entdecke, habe ich große Mühe den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. Vorsichtig komme ich näher und schlage die Hände vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Auf dem Tisch liegt ein Mann. Seine blauen Augen hat er weit aufgesperrt und die roten Haare hängen ihm schlaff vom Kopf herab. Die Haut ist fast so weiß wie das Laken, mit dem der Leib zugedeckt wurde. Tief im Schädel steckt ein glänzendes Messer, welches wohl für kurze Zeit zurückgelassen wurde. Wahrscheinlich kommen die Ärzte bald wieder und werden mich entdecken, wenn ich mich nicht beeile. Mir dreht sich bei dem Anblick der Magen um, weshalb ich mich schnell abwende. Mein Blick wandert an der Wand weiter und bleibt an einem Schreibtisch hängen. Schnell husche ich herüber und lasse meinen Blick darüber wandern. Auf dem hölzernen Tisch liegen mehrere dicke Papierakten, die in mehrere braune Ordner gepackt wurden. Jeder der Ordner ist mit einem Namen beschriftet und ich beginne zu lesen. Zu meiner Enttäuschung ist nirgendwo mein Nachname zu lesen. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit und sorgt dafür, dass meine Hände zu zittern beginnen. Als ich alle Akten durchgegangen bin, lehne ich mich resigniert gegen die Wand. Mit dem Gedanken aufgeben zu wollen im Hinterkopf, springt mir ein weiteres Schild mit der Aufschrift "Unbearbeitet" ins Auge. Es hängt über dem Schreibtisch und ich wundere mich, dass es mir nicht sofort aufgefallen ist. Das heißt also, dass die Akten meiner Familie hier nicht sind. Schließlich sind sie schon seit Jahren tot und wenn das Krankenhaus nicht komplett mit der Arbeit hinterher hängt, werden die Akten, die ich suche, sicher nicht hierbei sein. Aus genau diesem Grund lasse ich vom Schreibtisch ab und schaue weiter umher. Wo können diese verdammten Akten nur sein? Langsam packt mich eine leichte Verzweiflung. Es könnten jederzeit irgendwelche Leute kommen und mich entdecken. Dann wäre ich komplett erledigt. Dann erblicke ich ein anderes interessantes Möbelstück. Es ist ein großer Schrank, der ebenfalls aus weißem Holz besteht. Nun kommt es ganz auf mein Glück an! Entweder sind die Akten, die ich so sehr brauche, hier oder in einem ganz anderen, wahrscheinlich Stockwerke entfernten, Raum. Beim Schrank angekommen versuche ich die beiden großen Türen zu öffnen, doch leider sind die mit einem Schloss verriegelt, welches ich mit meinen Händen nicht zu öffnen vermag. Meine Zähne mahlen angestrengt. Dann kommt mir eine eher schlechte Idee und meine Hände wandern wie automatisch zu einem kleinen Tischchen neben dem OP-Tisch, auf dem eine Packung mit Handschuhen liegt. Schnell streife ich diese über meine weiche Haut, um mir die Hände nicht schmutzig zu machen. Dann nehme ich all meinen Mut zusammen und versuche einen Brechreiz zurückzuhalten. Dann strecke ich meine behandschuhte Hand aus und greife nach dem Skalpell, welches im Kopf der Leiche steckt. Meine Finger schließen sich um den Griff und ein lautes Flutschen ist zu hören, als ich es herausziehe. Mich beschleicht das Gefühl, dass ich mich gleich übergeben werde. Mit spitzen Fingern strecke ich das Messer von mir weg und laufe damit zur Schloss, welches beide Schranktüren zusammenhält. Bedächtig stecke ich das Messer in das große Schloss. Glücklicherweise passt es. Mit einer lockeren Bewegung drehe ich das scharfe Werkzeug herum, bis es aufspringt. Zum Glück hatte ich im Waisenhaus genug Übung, um das hier zu üben. Mit einem lauten 'Klick' springt das Schloss auseinander und die Türen schwingen auseinander. Nun muss ich mich wirklich beeilen, da es nicht mehr lange dauern kann, bis irgendwer hier runter kommt, um an der Leiche weiter zu arbeiten. Bevor ich damit beginne den Schrank zu durchsuchen, lege ich das Skalpell weg und schaue dann in das Möbelstück hinein. Dort liegen, genau wie auf den Schreibtisch, ganz Aktenstapel, die ebenfalls beschriftet wurden. Schnell gehe ich einige von ihnen durch, bis ich ein System entdecke. Die Unterlagen wurden nach den Anfangsbuchstaben der Vornamen geordnet, sodass "Valerios" nun weit hinten zu finden ist. Als ich die Akten gerade herausziehen will, sind von draußen stimmen zu hören. Die Angst packt mich. Kurzerhand greife ich nach der Akte, die mit dem Namen meiner Schwester beschriftet wurde und will sie unter meinem Oberteil verstecken, was zugegebenermaßen kein gutes Versteck ist. Dann sehe ich jedoch etwas noch interessanteres und verwerfe meinen Plan wieder. Unter dem Namen "Valerios" sind nicht nur die Untersuchungen, sondern auch die von zwei weiteren Familienmitgliedern zu finden. Innerhalb von wenigen Sekunden baut sich in meinem Kopf ein neuer Plan zusammen, der mich dazu verleitet selbst in den Schrank zu steigen und die Türen zu schließen. Mein Herz pocht schmerzhaft gegen meine Brust, doch ich versuche mich einfach zu beruhigen und ruhig durchzuatmen, als sich die Tür öffnet. Meine Hände zittern und ein wenig Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Hoffentlich entdeckt mich keiner!

Gerade als ich die Tür geschlossen und mich wenigstens ein Stück weit an die Enge um mich herum gewöhnt habe, öffnet sich die schwere Tür des Raumes, in dem ich mich befinde und sofort höre ich vor Angst sofort auf zu atmen, was aber dazu führt, dass ich laut prustend ausatmen muss, was ich aber so gut wie möglich zu unterdrücken versuche. Durch den Spalt zwischen den beiden Schranktüren kann ich sehen, dass zwei Leute in den Raum treten und sich langsam umsehen. Sie tragen weiße Kittel, ihre Hände sind behandschuht und alle von ihnen tragen Namensschilder, die an ihrer Kleidung festgemacht sind. Von meiner Position aus kann ich die Namen leider nicht lesen, was ziemlich schade ist, da ich einen von ihnen vielleicht kennen könnte. Der Schweiß läuft mir langsam die Stirn hinunter und mein Kopf schmerzt, weil ich mich so sehr anstrenge kein Geräusch zu machen. Mein Magen zieht sich zusammen und die Angst sitzt mir in den Knochen, doch in diesem Moment ist sie viel schlimmer als sonst. Einer von ihnen greift nach dem Messer, welches ich vorhin noch in der Hand hatte und steckt es zurück in den Schädel. Mit meiner Hand halte ich den Brechreiz zurück, als einer von ihnen das Messer zurück in das Gehirn stößt. Langsam beginnen die Ärzte an der Leiche weiter zu arbeiten und so schnell ich kann wende ich meinen Blick ab, sonst muss ich mich vielleicht tatsächlich übergeben. Ich konnte noch nie bei Operationen zusehen. Schließlich wird mir schon von einem toten Eichhörnchen auf der Straße schlecht. Mein Herz klopft wie verrückt, als ich die Geräusche des Messers höre, welches die Haut in zwei Teile teilt und den metallenen Geruch des Blutes und des Papiers um mich herum wahrnehme. Hoffentlich muss ich so eine Mischung nie wieder riechen, denn dann steigt mir immer das Bild dieser Halle in den Kopf.

Nach einer gefühlten halben Stunde, obwohl sicher nicht so viel Zeit vergangen sein kann, kommt plötzlich jemand auf den Schrank, in dem ich immer noch hocke, zu und mein Atem stockt vor Überraschung. Was soll ich tun, wenn mich hier jemand findet? Ich hätte keinerlei Fluchtmöglichkeiten! Ängstlich schließe ich meine Augen, um den Blick des Arztes, wenn er die Türen aufreißt und mich erblickt, nicht sehen zu müssen. Das Beben der Türen, als die Person wenige Zentimeter von mir entfernt, ihre Hände an die Türgriffe legt, doch zu meiner Überraschung werden die Türen nicht aufgerissen. Stattdessen wird die Aktion von einem lauten Klirren unterbrochen, was mich aufatmen lässt und dafür sorgt, dass ich meinen Kopf in den Nacken fallen lasse. Das war knapp!

Für wenige Sekunden schaffe ich es mich zu beruhigen und meinen Herzschlag zu verlangsamen. Dann frage ich mich jedoch, woher das Geräusch gekommen ist und öffne meine Augen so schnell, dass mir kurz unscharf vor Augen wird. Was war das für ein Geräusch? Mit einem Auge blicke ich durch den Schlitz hindurch und erfahre, dass ich nun endlich alleine hier bin. So schnell ich kann, stoße ich die Türen auf und springe regelrecht aus meinem Versteck. Mit flinken Händen greife ich alle drei Akten, die ich im Blick hatte und werfe die Handschuhe mit einem lauten Gummigeräusch in den Mülleimer, der links vom Schreibtisch steht. Dann ziehe ich mit aller Kraft die Tür auf und husche nach draußen, kann es aber nicht lassen nach der Quelle des seltsamen Geräusches zu suchen. Ein lauter Ruf schrillt durch den Gang: "Hey, was tun sie da?" Ich zucke zusammen und erst jetzt fällt mir auf, dass ich ungeschützt mitten im Gang stehe. Die Ärzte stehen mir gegenüber und haben ihre wütenden Gesichter nur auf mich gerichtet. Als sie mich ansprechen, zucke ich erschrocken zusammen. Mist, das lief ganz und gar nicht so wie ich es wollte. "Diese Akten wurden von einer anderen Ärztin anfordert. Ich soll sie nach oben bringen", erwidere ich, doch das scheint mir keiner von ihnen zu glauben. "Ich habe sie aber gerade gar nicht in die Halle kommen sehen und außerdem haben sie dort gar keinen Zutritt. Wie sind sie hineingekommen?", fragt einer von ihnen. "Ähm ...ja, das stimmt, aber ich ...", stottere ich. Oh man, wieso bin ich nur eine so schlechte Lügnerin? "Sie dürfen hier nicht sein. Ich werde sie melden müssen", einer von ihnen zieht ein kleines Gerät heraus und will gerade auf einen Knopf, da fällt er einfach so zu Boden, als hätte er keine Knochen. Als die anderen beiden es ihm dann gleich tun, erblicke ich auch den Grund dafür. Hinter ihnen steht Aria, die eine ihrer Hände in die Luft gehoben hat. Sofort ist mir klar, was sie getan hat. Ich schlage meine Hände vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken, doch Aria scheint mir keine Zeit geben zu wollen. Sie stürmt auf mich zu und packt mein Handgelenk: "Du kannst dich später bedanken. Jetzt müssen wir erst mal los, sonst werden wir noch erwischt." Ohne auf meine Antwort zu warten, doch ich komplett perplex bleibe ich stehen und schließe sie in meine Arme. Ich bin so froh, dass es nicht danebengegangen ist, sonst würde ich sie jetzt wahrscheinlich nicht in meinen Armen halten können. "Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist", flüstere ich ihr durch ihre Haare hindurch ins Ohr. Ihre sanften Arme, die sie um meine Schultern geschlungen hat, geben mir Sicherheit und sorgen dafür, dass ich für einen Moment vergesse in welch angespannter Situation wir gerade stecken. Dann lässt sie mich jedoch los und zieht mich in den Raum, in dem wir uns nur kurz vorher umgezogen haben. Mit einem starken Wurf wirft sie mir meine Kleidung rüber und dreht sich dann um, um sich selbst umzuziehen: "Wow, starker Wurfarm!" "Danke", erwidert sie, als sie sich weiter anzieht. Auch ich beginne mich umzuziehen. "Was hast du gefunden?", fragt sie leise und schaut über die Schulter zu mir herüber. "Sarahs Akte", erwidere ich genauso leise und verstecke die Akten meiner Eltern unter dem Mantel, den ich gerade übergestriffen habe. Sie muss ja nicht unbedingt alles wissen. Vielleicht werde ich es ihr später erklären, aber nicht jetzt. Wir müssen jetzt lieber schnell von hier verschwinden und Einzelheiten können wir auch später klären. Jedenfalls sage ich mir das in Gedanken immer wieder, doch ein kleiner Teil meines Gehirns schreit laut, dass ich es ihr sagen sollte und dass sie mich hassen wird, wenn ich es nicht tue. Ohne ein weiteres Wort greift Aria nach der Krankenhauskleidung, die wir beide nun endlich wieder ausgezogen haben, und packt sie an den Platz, an dem sie sich bereits befunden hat, bevor wir sie uns kurz 'ausgeliehen' haben. Als ich alle Akten unter meinem Mantel versteckt habe, drehe ich mich wieder komplett zu ihr herum und lächele sie freundlich an: "Wir sollten jetzt verschwinden oder?" "Auf jeden Fall", erwidert sie und schaltet das Licht hinter uns aus, als wir den Raum verlassen und zum Aufzug eilen. Die Absätze meiner Lederstiefel klirren auf dem Boden und mein Atem hat sich endlich wieder beruhigt, doch mein Herz klopft immer noch.

Der Mond leuchtet hell am Himmel und schickt sein weißes Licht auf die Oberfläche unseres Planeten hinab. Meine Finger sind in ihre Verschlungen und Arias wundervoller Geruch steigt mir in die Nase. Die Knochen in meinem Leib fühlen sich an wie Gummi, schmerzen aber trotzdem höllisch. Eine wichtige Sache habe ich heute auf jeden Fall gelernt. Quetsche dich niemals zu einem Stapel Akten in einen Schrank in einer Leichenhalle, wenn du mit den Gelenkschmerzen nicht klar kommst. Die Veranda knarrt unter unseren Füßen, als wir hinauf steigen und dann auf Zehenspitzen hinüber zu schleichen versuchen, was eher weniger gut funktioniert. Mit einer Hand drehe ich den Türknauf herum und schaue mich vorsichtig um. Auf den ersten Blick scheint kein anderer hier zu sein, weshalb ich den Knauf herumdrehe und die Tür langsam öffne. "Sieht aus als würden alle schlafen", verkünde ich leise. "Ja, scheint so", bestätigt sie: "Und jetzt sollten wir lieber nach oben verschwinden, dann merkt schon keiner was."

Als ich jedoch meinen Fuß auf die erste Stufe stelle, geht plötzlich das, zuvor ausgeschaltete, Licht an und Aria und ich zucken genau im selben Moment zusammen. Mein Blick huscht blitzschnell zum Lichtschalter, um zu sehen, wer es angeschaltet hat. Das war aber leider ein Fehler, denn mein erster Eindruck scheint mich getäuscht zu haben. Im Türrahmen stehen Ruby und Sarah, die ihre Arme vor der Brust verschränkt und einen vorwurfsvollen Blick aufgesetzt haben. "Wo wart ihr?", blafft Sarah und Ruby, die genau neben ihr steht, zuckt, genau wie Aria und ich zuvor, zusammen. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie uns sofort so anfährt. "Wir waren nur draußen, okay?", versucht Aria uns aus der Situation herauszuboxen: "Darf man heutzutage keine frische Luft mehr schnappen gehen?" "Belügen kann ich mich auch selbst", faucht Sarah. Ich frage mich echt, was mit ihr los ist. In diesem Ton hat sie noch nie mit uns geredet. "Perfekt, dann kannst du das ja jetzt auch einfach tun und uns in Ruhe lassen. Gute Nacht!", provoziert Aria gekonnt. Schnell greift Aria nach meinem Handgelenk und will nicht die Treppe hochziehen, doch Sarah greift das andere und hält mich auf der ersten Stufe fest. Das ist doch nicht deren ernst! Ich bin doch kein Seil, mit dem man Tauziehen spielen kann.

Genau im richtigen Moment kommt Miles mit Hilley im Schlepptau die Treppe hinuntergepoltert und blickt fragend in die Runde. Für einige Momente bleibt sein Blick an Ruby hängen und er wirkt fast verträumt, bis sein Blick zu unserer Tauziehaktion weiter wandert. Seine rechte Augenbraue wandert in die Höhe und er sieht uns alle fragend an:"was ist denn das hier?" "Aria und Stella waren die ganze Nacht weg", erwidert Ruby nun und Aria und ich schicken ihr genau im selben Moment einen Todesblick. Wieso muss sie uns nun auch noch in den Rücken fallen? Das ist doch nicht fair! Das meine Schwester mich enttäuscht hat, ist schon schlimm genug, aber nun auch noch Ruby. Wir kennen uns schon viel länger, als Sarah und sie, obwohl wir uns ehrlich gesagt noch nie ausstehen konnten. "Was? Wieso?", fragt Miles überrascht und starrt uns überrascht an. "Sarah. Aria. Lasst Stella bitte auf der Stelle los", bittet Hilley laut. Widerwillig lösen beide den festen Griff von meinem Gelenk und treten ein Stück von mir weg. Die roten Abdrücke auf meiner Haut entgehen mir nicht, doch darum werde ich mich später kümmern. Dann fährt Hilley, mit vor der Brust verschränkten Armen, fort: "Es ist nicht schlimm, dass ihr in der Stadt wart, aber trotzdem würde ich gerne wissen, weshalb ihr erst so spät zurück seid." "Wir haben uns einfach einen schönen Abend gemacht und dann die Zeit aus den Augen verloren", lügt meine Partnerin allgegenwärtig und wie aus einem Instinkt heraus. Ich bin so froh, dass sie so gute Reflexe hat und immer weiß, wann es angebracht ist die Wahrheit zu ihren Gunsten zu verdrehen. "Achtet beim nächsten Mal bitte auf die Zeit", erwidert Hilley und klingt dabei fast wie eine Mutter, die ihre sechsjährige Tochter tadelt. "Natürlich", sagen wir gleichzeitig und Erleichterung macht sich in mir breit. "Das ist doch nicht dein Ernst", sagt Sarah laut und funkelt Hilley wütend an: "Die beiden planen etwas. Das sieht doch selbst ein Blinder!" Plötzlich spüre ich eine leichte Vibration unter meinen Füßen. "Sarah", mahnt Ruby laut und versucht sie aufzuhalten: "Beruhig dich!" Hilley hält sich am Treppengeländer fest: "Okay, ich würde sagen, dass wir nun alle hoch in unsere Zimmer gehen und uns aus schlafen." Ruby und Miles wollen protestieren, doch Hilley fügt noch etwas hinzu: "Kein aber! Sofort!" Stinksauer schiebt Sarah uns alle zur Seite und stürmt die Treppe hinunter. Im oberen Stockwerk angekommen stampft sie über den Holzboden und schlägt ihre Zimmertür hinter sich zu. Das schallende Geräusch klingelt in meinen Ohren. Wir alle zucken im selben Moment zusammen. Nun folgt auch meine Augenbraue der von Miles in die Höhe und eine kleine Sorgenfalte, die mich sehr stört, bildet sich auf meiner Stirn. Mein Kiefer beginnt nachdenklich zu mahlen. Das war gerade irgendwie mehr als merkwürdig. So einen Wutausbruch habe ich nicht erwartet und bisher auch noch nicht erlebt. Es wundert mich, dass meine eigene Schwester vermutet, dass ich einen Plan gegen sie schmiede. Zwar tue ich das, aber das kann sie nicht wissen. Wutausbrüche und Stimmungsschwankungen liegen, soweit ich weiß, nicht in meiner Familie und die Vermutung, dass sie nicht meine Schwester, sondern eine Fremde, ist, wächst und gedeiht in meinem Hirn immer weiter. Es wirkt, als hätte sie uns gerade eine Seite von sich gezeigt, die sie bisher gut versteckt und niemandem gezeigt hat, weil sie nicht zu der Sarah gehört, die sie sich für uns überlegt hat. Mit schnellen Schritten husche ich, gefolgt von den anderen, die Treppe hinauf und reiße meine Zimmertür auf. Wie müde ich eigentlich bin, merke ich erst, als ich die Akten unter meinem Bett verstaut habe und dann, ohne mir etwas Vernünftiges anzuziehen, ins Bett falle. In Sekundenschnelle bin ich eingeschlafen.

Miles Sicht
Ziemlich übermüdet ziehe ich mein graues T-Shirt aus und werfe es in die Richtung meines Schrankes. Ob es auch im Schrank landet, sehe ich nicht und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Ich will nur noch meine Augen schließen und einschlafen, doch ich werde von einem leisen, vorsichtigen Klopfen an meiner Tür unterbrochen. Mit einem lauten Seufzen reiße ich wieder die Augen auf. Wer will denn um diese späte Uhrzeit noch was von mir? Ich selbst will auf jeden Fall einfach nur schlafen. "Herein", sage ich ein wenig lauter und genervter als gewollt. Daraufhin wird die Tür langsam geöffnet und ein blondes Mädchen steckt ihren Kopf in mein Zimmer hinein. Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen und ich frage mich, was los ist. Wieso kommt sie zu so später Zeit in mein Zimmer, wenn sie sich doch eigentlich eins mit Sarah teilt? Andererseits würde ich in der Stimmung, in der Sarah sich gerade befindet, auch kein Zimmer mit ihr teilen wollen. Auf der Treppe wirkte sie so, als würde sie in der nächsten Minute einen Mord begehen. "Kann ich heute bei dir schlafen?", fragt Ruby leise flüsternd. Langsam nicke ich. Erst will ich "Nein" sagen, da es sicher unangebracht wäre, aber danach wird mir bewusst, wie gerne ich möchte, dass sie sich zu mir legt: "Ja klar, komm her." Vorsichtig öffnet sie die Tür ein Stück weiter und kommt auf Zehenspitzen hinein. Bei meinem Bett angekommen, schaut sie mir neugierig und tief in die Augen. Schnell rücke ich zur Seite, damit sie auch genug Platz zum Liegen und Schlafen hat. "Danke", erwidert sie und setzt sich hin. Dann streift sie ihre Lederstiefel ab und stellt sie neben den Nachttisch. Mit meinem Blick folge ich jeder ihrer Bewegungen und versuche mein dummes, wie wild hämmerndes Herz zu vergessen, welches jedes Mal, wenn ich das Mädchen sehe, tausendmal schneller schlägt. "Du kannst immer zu mir kommen, wenn du willst. Mein Zimmer ist auch dein Zimmer", erkläre ich und klopfe dann sanft auf die Matratze. Glücklicherweise versteht sie das Zeichen und legt sie vorsichtig neben mich. Es scheint, als hätte sie für die Nacht ihr ganzes Selbstvertrauen abgelegt und es in einen Schrank gepackt, um es am Morgen wieder heil zurückgewinnen zu können. Sie legt sich hin und blickt mich grinsend an. Ihre Wangen werden rot, als ich sie sanft an mich ziehe. Meine Finger prickeln, als sie ihre Haut berühren und bringen mein Blut in Wallungen. Wieso hat dieses Mädchen nur so einen starken Einfluss auf mich? Einerseits ist es berauschend, doch auch andererseits schrecklich. Ihr Rücken zittert unter meiner Berührung und ich schaue sie fragend an: "Geht es dir gut?" "Nein", gibt sie zu: "Irgendwie hat Sarah mir vorhin ein wenig Angst gemacht." "Ja, mir auch. Ich hätte nicht erwartet, dass sie sofort so wütend reagiert. Der Boden hat ja regelrecht zu beben begonnen", merke ich an und erschaudere bei der Erinnerung. "Ist dir kalt?", frage ich sie sanft und stülpe meine Decke über ihren kleinen Körper. Sie schlingt den weichen Stoff enger um sich und legt ihren Kopf in die Kuhle zwischen meinem Hals und meiner Schulter. Ihr Kopf passt perfekt hinein und ich lege total unbeholfen einen Arm um sie. Die erhebt sich kurz, um es mir leichter zu machen. In dieser Position liegend, kann ich ihr Herz laut schlagen hören. Fühlt sie also genau das Gleiche wie ich? Mit einer Hand streiche ich ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht. So sehr ich mich aber auf sie zu konzentrieren versuche, muss ich nebenbei immer daran denken, was die anderen heute getan haben, denn nicht nur Sarah, sondern auch Aria und Stella haben sich komisch verhalten. Es wirkt, als hätten sie alle drei unterschiedlich Pläne. Ob gegen den jeweils anderen, weiß ich zwar noch nicht, aber das werde ich schon noch herausfinden. "Ruby?", frage ich leise. "Ja?", fragt sie neugierig. Ich beuge ich mich zu ihrem Ohr hinunter und flüstere: "Weißt du, was Sarah vorhat?" Für einen kurzen Moment ist es still, doch dann haucht sie: "Nein." Doch obwohl sie mir eine Antwort gegeben hat, habe ich das Gefühl, dass sie lügt. Doch meine Gedanken werden von der Müdigkeit überrollt und in wenigen Sekunden bin ich mit dem Gedanken an das wundervolle Mädchen, in meinem Arm, eingeschlafen.

Stellas Sicht
Als ich aufwache, schmerzt mein Kopf schrecklich und erst dann merke ich, dass ich mit dem Schädel auf dem hölzernen Schreibtisch in meinem Zimmer liege. Mein Mund ist ganz trocken, meine Augen sind noch verschlossen und an meiner Wange klebt ein Blatt Papier. Schnell entferne ich das, an meiner Wange klebende, Papier. Langsam gähne ich und versuche meinen Mund wieder zu befeuchten. Ich brauche ganz dringend was zu trinken. Mehrmals blinzele ich und blicke mich dann nach einer Wasserflasche um, die ich aber nicht finde. Na toll, dann muss ich nach unten gehen und welches holen. Da kommt mir aber noch etwas anderes in den Sinn. Ich könnte auch einfach meine Kräfte benutzen. Die zweite Möglichkeit gefällt mir viel besser. Mit flinken Fingern hebe ich die Platte des Schreibtisches an und nehme den Stein aus seinem Versteck. Den Stein drehe ich zwischen meinen Fingern und konzentriere mich.

Das Bild eines hohen Wasserfalles, der vor mir aufragt, erscheint vor meinem inneren Auge. Das Wasser stürzt schnell und kräftig hinunter auf die Steine und spritzt in alle Richtungen. Einige Tropfen treffen meine Kleidung und meine Haut und sorgen dafür, dass mein ganzer Körper von Energie durchflutet wird. Es ist einfach wunderbar.

Als ich die Augen wieder öffne, schwebt eine faustgroße Wasserkugel vor mir in der Luft und ein zufriedenes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Das war ja mehr als leicht. Wenn ich noch besser werde, brauche ich den Kristall bald nicht mehr. Durstig reiße ich den Mund auf und lenke den Ball hinein. Dort angekommen platzt sie wie ein "Nimm 2"-Bonbon, wenn man darauf beißt und die Flüssigkeit schwappt in meiner Mundhöhle herum. Die Energie durchflutet mich und endlich ist mein Mund nicht mehr so trocken. Schnell schlucke ich alles hinunter und putze mir den Mund mit dem Handrücken ab. Dann fällt mir endlich ein, wieso ich überhaupt hier sitze. Zwar hatte ich mich in der Nacht ins Bett fallen lassen, doch beim Morgengrauen bin ich wieder aufgestanden und habe mich dazu entschieden damit anzufangen die Akten zu lesen. Bevor ich jedoch überhaupt einen Satz lesen konnte, bin ich eingeschlafen. Dann ist alles schwarz und ich erinnere mich an rein gar nichts mehr. Ich weiß jedoch, dass ich die Akten wegräumen wollte, aber davor eingeschlafen bin und es nicht mehr geschafft habe. Mit einem kurzen Blick prüfte ich nach, ob noch alles da ist. Zum Glück weiß ich, was genau in die Akten gehört, da ich selbst schonmal so eine Akte hatte. Das weiß jeder im Waisenhaus. Grinsend erinnere ich mich daran, dass ich mit zehn Jahren einmal ins Büro der Leiterin eingebrochen bin und einen ganzen Tag lang, meine Akten lesend, unterm Schreibtisch gehockt habe, bis es Mittagessen gab. Nun sortiere ich jedoch alle Papiere nach Themen und beginne dann Sarahs Akte gewissenhaft zu lesen.

Dort steht, dass das Mädchen, welches bei meinen Eltern gefunden wurde nicht klar als Sarah Valerios identifiziert werden konnte, da es keine Person gab, die sie hätte identifizieren können. Die Verwandten wurden aus irgendeinem Grund nicht um ihre Hilfe gebeten. Als Todesgrund wird angegeben, dass bei ihrem Tod Erde in der Lunge hatte. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Erde? Wie kann sie denn Erde in die Lunge bekommen haben? Schließlich erinnere ich mich daran, dass meine Eltern erschossen wurden und nicht, dass sie lebendig begraben wurden oder vorher ein Getränk mit viel Erde darin getrunken haben. Nun stellt sich mir die Frage, ob meine Erinnerungen an die Todesnacht vielleicht falsch sind. So schnell ich kann, lese ich alle Einzelheiten, die im Autopsiebericht geschrieben stehen, durch, doch es will nicht wirklich in meinen Kopf hinein. Wenn die Leiche aber nie identifiziert wurde, kann es sein, dass das schwarzhaarige Mädchen mit den Dreadlocks, welches nun schon lange in diesem Haus residiert, meine Schwester ist. Vielleicht ist die Leiche ja ein Mädchen, welches nur eine große Ähnlichkeit zu ihr hat. Einerseits wäre es super, wenn ich eine Schwester hätte, die noch am Leben ist, aber andererseits bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich will, dass das Mädchen, welches sich nur einige Zimmer weiter befindet, meine Schwester ist. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich mit einem Mädchen, welches unter schrecklichen Wutanfällen, wie wir sie gestern Nacht gesehen haben, leidet. Sie hat mir ein Gesicht von sich gezeigt, dass sie vorher gut versteckt gehalten hat. Wenn ich jedoch die Wahl gehabt hätte, hätte ich es lieber nicht gesehen. Schon lange habe ich gedacht, dass sie uns ihr wahres Selbst noch nicht gezeigt hat.

Als ich die Seite umschlage und die ersten Zeilen zu lesen beginne, erstarre ich regelrecht zu einer Eisskulptur. Dort steht, dass die Leiche meiner Schwester verschwunden ist. Und zwar nach genau einem Jahr. Am 22.01. 2021 ist sie gestorben und am 22. 01. 2022 ist ihre Leiche verschwunden. Zufall? Möglich, aber ich glaube nicht an Zufälle. Damit muss es etwas Besonderes auf sich haben. Misstrauisch werfe ich einen Blick in die Akten meiner Eltern und finde auf Anhieb, was ich gesucht habe. Ich schlage mir die Hände vor den Mund und Tränen steigen mir in die Augen. Alle drei Menschen sind am 22.01. 2021 gestorben und alle drei Leichen sind am 22.01.2022 verschwunden. Das kann unmöglich ein Zufall sein. So viele Zufälle gibt es gar nicht. Was kann nur mit ihnen geschehen sein? Möglicherweise hat jemand die Leichen gestohlen oder sie wurden weggeschafft. Beides klingt mehr als abwegig. Wenn Leichen gestohlen wurden, muss es auch jemanden geben, der sie gestohlen haben. Doch welcher gesunde Mensch würde so etwas tun? Und vor allem warum? Vielleicht waren Spuren an den Körpern zu sehen, die zeigen, dass es Mord oder etwas Ähnliches war. Das Krankenhaus hätte aber auch alles wegschaffen können. Auch das wäre dann ein Zeichen dafür, dass etwas an den Leichen war, was keiner sehen sollte. Tränen laufen mir die Wangen hinunter. Wieso sollte jemand sowas tun? Ich weiß nicht, wer auf so eine Idee kommen sollte, aber es ist einfach nur schrecklich und ich hätte niemals erwartet, dass ich so etwas finde, wenn ich ein wenig tiefer in meiner Vergangenheit grabe. Ich hatte gedacht, dass ich entweder die Bestätigung dafür finde, dass das Mädchen, welches gestern Nacht fast einen Wutausbruch hatte, meine Schwester ist oder nicht. Niemals hätte ich gehofft etwas von meinen Eltern herauszufinden, sondern lediglich von ihr. Mein Herz schmerzt bei dem Gedanken an die Nacht, in der sie starben und versetzt mir einen tiefen Schlag, der mir den Boden wegreißt, bis sich auf einmal die Tür öffnet und Aria in mein Zimmer stürzt. Ich zucke erschrocken zusammen und finde zurück in die Realität. "Oh, du arbeitest an den Akten", stellt sie energiegeladen fest. Mit flinken Fingern verstecke ich die zwei Akten, von denen sie noch nichts weiß, unter Sarahs und reicht meinen Blick dann auf sie: "Ja, ich habe angefangen ein bisschen zu lesen." Freudig lässt sich Aria auf mein Bett fallen und ich erhebe mich vom Stuhl, was ich besser gelassen hätte. Als ich mich erhebe, knackt mein kompletter Rücken und ich schnaufe vor Schmerzen auf. Es ist echt nicht empfehlenswert auf einem Stuhl mit dem Kopf auf dem Tisch in einem Haufen von Papieren einzuschlafen. "Was hast du herausgefunden?" "Ich habe erfahren, dass meine Schwester an Erde in der Lunge gestorben ist", erleichtert lasse ich mich aufs Bett neben sie fallen und seufze erleichtert auf. Die Matratze unter meinem Rücken ist so weich. "Das ist alles?", Aria klingt jedoch total enttäuscht. Ist aber verständlich! Schließlich weiß sie noch nicht, was ich weiß und ich bin fest davon überzeugt, dass ich es ihr jetzt auch noch nicht sagen kann. Wenn man einmal ein Geheimnis kennt, kann man es nicht mehr vergessen. Egal wie sehr man es versucht!

Autorennotiz

Hey, du! Schön, dass du auf die Fortsetzung meines Buches "Water" gestoßen bist. Ich selbst hoffen, dass es dir gefällt und dass du fleißig Kommentare und Bewertungen da lässt.

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Autor

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Kapitel: 19
Sätze: 1.595
Wörter: 24.334
Zeichen: 139.054

Kurzbeschreibung

DAS IST DER ZWEITE TEIL MEINER "ELEMENTS" BUCHREIHE! Jemand Neues stößt zu Hilley kleiner Gruppe dazu und behauptet Stellas Schwester zu sein, obwohl Stella, laut eigener Aussage, keine Geschwister hat. Das Mädchen beginnt zu forschen und stößt dabei auf erschreckende Erkenntnisse, die Stellas ganzes Familienbild durcheinander werfen. Doch auch die Freundschaft aller verändert sich erheblich. 1. Teil: Water (Wird überarbeitet!) 2. Teil: Earth (In Arbeit!)

Kategorisierung

Diese Story wird neben Schmerz & Trost auch in den Genres Fantasy, Action, Krieg, Freundschaft und gelistet.

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