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noch nicht benannt

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10.04.20 16:38
16 Ab 16 Jahren
Heterosexualität
Bisexualität
In Arbeit

 

"Weißt du, wenn ich eine Millionen
Meinungen zu einem Thema hören würde. deine würde ich immer rauserkennen. Klar,
jeder Mensch ist einzigartig, aber du hast eine so eigene Art zu denken, dass
du dich von allen anderen abhebst, auch wenn das nicht immer gut ist.“

Ich glaube, das war das Schönste, was sie je
zu mir gesagt hat. Jeder sagt mir, dass ich mehr nachdenke, als andere
Menschen. Und jeder sagt, dass ich damit aufhören soll, weil es nicht gut ist.
Weil es krank macht. Wahrscheinlich, weil man die Realität sieht, wenn man zu
viel nachdenkt. Vielleicht macht die Wahrheit krank. Vielleicht darf man nicht
denken, um glücklich zu sein. Vielleicht sollte man dumm sein. Ja, ich
wünschte, ich wäre dumm.

Ich denke schon wieder zu viel.

Aber wie hört man damit auf?

Jetzt gerade denke ich darüber nach, warum ich
so viel nachdenke.

"Paul!". Erschrocken drehe ich mich
um.

"Wa, was?"

"Wo bist du schon wieder? Du bist an der
Reihe!", sagt Ina, während sie mir den Würfel entgegenhält. "Klar
wirst du verlieren, aber bevor du das nicht getan hast, habe ich nicht gewonnen
und kann dich nicht auslachen, weißt du?"

Ich nehme den Würfel entgegen.

"Tut mir leid Ina, aber ich muss dich
wohl auf den Boden der Tatsachen bringen. Hier im Camp bin ich der
Mensch-ärgere-dich-nicht-Champion. Also ärgere dich bitte nicht, denn du hast
gerade einen Mann verloren", sagte ich, während ich mit meiner Figur auf
dem Spielbrett entlang hüpfte. 1, 2, 3, 4. Dann stoße ich Inas Figur um und
strecke sie ihr stolz entgegen.

"Paul, du bist gemein. Ein echter
Champion würde seine Freundin gewinnen lassen, wenn er sie wirklich liebt. Du
liebst mich doch, oder?"

"Über alles."

"Na das glaube ich gerade eher
weniger."

Und da war der Blick, den ich am meisten an
ihr liebe. Auch wenn Ina es nicht einsehen will, Schauspielern gehört nicht zu
ihren Stärken. Was ich gut finde, denn ich mag Menschen nicht, die ich nicht
einschätzen kann. Das Süße an ihr ist nur, dass sie es trotzdem immer wieder
versucht, mich so anzusehen, als wäre sie wirklich traurig.

"Aber wenn ich dich verlieren lasse, dann
wirst du niemals wissen, ob du jemals wirklich gewonnen hast, oder nicht. Dann
wird sich der Sieg nicht so gut anfühlen, weißt du?"

"Ja ja ja." Ina schaute zur Uhr.
"Ich fürchte nur, dass wir die Runde nicht mehr schaffen werden.
Besuchszeit ist in 10 Minuten zu Ende."

"Kommst du morgen wieder her?"

"Klar komme ich. So schnell ich kann,
okay?"

Ina steht auf, um ihren grünen Samtmantel
anzuziehen. Danach hebt sie ihre Hände, um ihre Haare unter der Jacke
hervorzuziehen und ich beobachte, wie eines ihrer braunen Haare neben ihr
herunterfällt und leise auf meinem Boden landet.

"Ich liebe dich."

"Ich liebe dich."

Ina lächelt mich an, während sie aus dem Raum
geht. Mein Blick wandert wieder auf meinen Boden, doch ich kann das Haar nicht
mehr finden.

Ich lege mich auf mein Bett. Das mag ich am
meisten an meinem Zimmer. Meistens liege ich nur da und schaue mir die
Klebesterne an meiner Decke an, die ich mit meiner Mutter befestigt habe, als
ich ins Camp gezogen bin. Das Camp ist ein schöner Ort, aber die Zimmer wirken
oft kalt und meine Mutter dachte, das mit ein bisschen Dekoration wieder
geradebiegen zu können. Falsch gedacht, Mama.

Zuhause in meinem Zimmer hatte ich eine
Kakteensammlung. Seid der 5.Klasse, als Joe Rudels mir meinen ersten Kaktus
schenkte, begeistern sie mich.

Hier im Camp darf ich keine Kakteen mehr
besitzen. Vor ein paar Jahren hat sich ein Kind an einem der Kakteen verletzt,
die immer in der Lobby standen. Seitdem sind sie auf dem gesamten Gelände
verboten. Aber so ist das nun mal. Menschen handeln erst, sobald etwas
Schlimmes passiert. Niemand denkt darüber nach, die Kinder einfach besser darin
zu unterrichten, dass man Kakteen nicht anfassen sollen. Jeder gibt den
Pflanzen die Schuld. Wie bei dem Tiger im Zoo, der getötet wurde, weil er einen
Pfleger angriff. Weil er tat, was Tiger eben tun. Gott, Menschen sind so dumm.

Es klopft an der Tür.

„Paul? Darf ich reinkommen?“

Ich schaue auf meinen Wecker, der neben meinem
Bett steht. 21:03 Uhr. Wie immer ist Sandy auf die Minute genau an meiner Tür.

„Jaha“, rufe ich, ihre Stimme imitierend.

„Dankeschön“. Sandy öffnet die Tür und tritt
mit einem Tablett in mein Zimmer. Wie jeden Tag grinst sie mich an. „Und?
Hunger?“

„Klar doch. Muss doch groß und stark werden,
oder?“

„Oh ja, das musst du. Vor allem, weil morgen
der Frühsport ansteht. Morgen aber pünktlich, hm?“

„Jaja“

„Paul. Ich weiß, dass du den Sport hasst, aber
das wird dir guttun. Ganz sicher!“

„Schlaf tut mir besser.“

„Dann solltest du lieber gleich schlafen
gehen. Hier, ich muss weitergehen. Ich hab dir wie immer die größte Portion
verschafft. Guten Appetit und gute Nacht!“

„Danke, bist die Beste.“

Bitte, bitte, lass es sie vergessen haben.
Bitte bitte bitte bitte

„Achso, fast vergessen. Hier, deine
Tabletten.“ Sie sieht mir ins Gesicht. „Du weißt, dass du sie nehmen musst.“

Ich nehme ihr die Schachtel, in der sich ein
Kästchen für jeden Tag befindet, ab und öffne den „Mittwoch“ Deckel. Ich nehme
die drei Tabletten in die Hand. Wer denkt sich eigentlich aus, welche Farbe
eine Tablette haben soll? Sitzen da Menschen in Anzügen im Besprechungsräumen
und Probieren verschiedene Farbproben aus? Ich nehme das Glas Wasser an, was
Sandy mir entgegenstreckt, und schlucke sie provokativ ohne einen Schluck des
Wassers runter. Doch Sandy lächelt mich immernoch an und verlässt den Raum.

Abends bekommen wir im Camp unser Essen auf
unser Zimmer gebracht. Irgendwie merkwürdig, wenn man bedenkt, dass so viel
Wert auf soziale Interaktion gelegt wird. Andererseits auch ganz gut, ich bin
sowieso sehr gerne alleine und die Nacht ist die einzige Zeit am Tag, an dem
ich wirklich alleine sein kann. Ganz allein mit meinen Gedanken.

Ina ist die erste und letzte Person, an die
ich am Tag denke. Sie ist die Person, die mir gezeigt hat, was Liebe ist. Und
ich bin mir sicher, dass sie genauso fühlt. Wer würde sonst fast täglich den
weiten Weg aufnehmen, nur um mich zu besuchen?

Besucher sind hier im Camp dennoch nicht sehr
gerne gesehen. Meine Eltern besuchen mich dadurch sehr selten und meistens nur
am Wochenende. Doch Ina schafft es immer wieder, herzukommen. Manchmal läuft
sie sogar durch den Wald, um über die Terrasse durch mein Fenster zu kommen.
Nachts habe ich ihr das verboten, weil ich schon öfter wilde Tiere gesehen habe
und ich nicht möchte, dass sie sich von zuhause davonschleicht.

Liebe ist vielleicht die größte Schwäche jedes
Menschen auf dieser Welt. Sie kann einem alles nehmen und alles geben, ein Satz
kann alles zerstören und eine Umarmung alles heilen. Doch Ina spielt damit nicht.
Sie ist einfach perfekt. Genau so, wie sie ist.

Autorennotiz

über Kritik würde ich mich sehr freuen:)

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LaseySs Profilbild
LaseyS Am 11.04.2020 um 22:32 Uhr
Finde ich sehr schön geschrieben! ;)
annarfhs Profilbild
annarfh (Autor)Am 14.04.2020 um 15:47 Uhr
vielen Dank!

Autor

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Sätze: 108
Wörter: 1.121
Zeichen: 6.579

Kategorisierung

Diese Story wird neben Nachdenkliches auch in den Genres Liebe, Drama, Freundschaft und Schmerz & Trost gelistet.