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Kapitel: | 17 | |
Sätze: | 3.884 | |
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Im Jahr 1482 entschied das englische Königshaus, dass der Schutz einiger stinkender Wasservögel wichtiger sei, als das Überleben einer darbenden und hungernden Bevölkerung. Seither steht der Act of Swans im englischen Gesetz und besagt, dass alle Schwäne Englands Besitztümer des Königshauses sind.
Mit anderen Worten: Wer einen Schwan tötet, weil er hungert oder friert, begeht einen Diebstahl an der Königin höchst selbst und damit fast so etwas wie Hochverrat. Es ist mit empfindlichen Gefängnisstrafen zu rechnen, wenn man versucht, sein Überleben zu sichern, indem man Jagd auf einen Schwan macht. So sehr sorgt sich die Königin um das Wohl ihres Volkes, dass sie ihm ein paar bessere Enten vorzieht!
Seit über 400 Jahren lassen wir uns auf diese Weise an der Nase herum führen, wir akzeptieren Reformen, die keine sind und uns die Zustände in diesem Land als gottgegeben und marktkonform verkaufen. Gott und die Königin wurden von Markt und Parlament abgelöst, aber geändert hat sich nichts. Alle erwarten sie von uns, dass wir uns ihnen unterwerfen und anerkennen, dass die Ordnung die beste aller möglichen Ordnungen sei. Und gleichzeitig, sehen wir, wie unsere Kinder und wir selbst vor die Hunde gehen.
Seit über 400 Jahren beschützt die Königin ihre Schwäne als Zeichen ihrer Macht. Vielleicht wird es Zeit, dass wir sie uns zurück holen? Vielleicht ist die Zeit der Reformen und Herrscher vorbei? Vielleicht sind Gesetze, die vor 400 Jahren schon absurd waren, heute endlich bereit für eine Abschaffung.
„Das kann ich so nicht schreiben“, sagte Christopher, „dafür können sie mich drankriegen. Wegen Aufwiegelei oder was auch immer.“
Er war hin und her gerissen zwischen dem Stolz, einen möglicherweise gefährlichen Text verfasst zu haben, und der Scham eines Künstlers, der sich seines Werkes noch nicht so ganz sicher ist. Aber es war zu spät, Rebecca linste schon seit einiger Zeit über seine Schulter und hatte jedes Wort auf dem Stück Papier gelesen, das er soeben beschriftet hatte.
„Es ist nur ein Entwurf“, beschwichtigte er schnell den Protest, der von Rebeccas Seite überhaupt nicht kam. „Es klingt ein bisschen umständlich, findest du nicht?“, ermutigte er sie, „Nicht wie aus einem Guss.“
„Du brauchst eben noch ein bisschen Übung“, sagte Rebecca, damit er endlich Ruhe gab. Christophers ewige Selbstzweifel würden sie noch irgendwann in den Wahnsinn treiben. Wieso konnte er nicht wie jeder andere Mann auch glauben, der größte und stärkste Kerl im Umkreis zu sein, sodass sie ihn nicht ständig aufbauen musste, sondern zurechtstutzen konnte – was ihr, um ehrlich zu sein, mehr Spaß bereitet hätte.
„Wieso schläfst du nicht eine Nacht drüber?“, schlug sie vor. „Das hier ist ja kein Gedicht, für das der Dichter sich quälen muss, damit es authentisch wird.“
Christopher schnaubte einen sarkastischen Lacher heraus, legte den Bleistift bei Seite, erhob sich von seinem Stuhl, drehte sich zu Rebecca um und küsste sie fahrig auf den Mund. Diese Routine war eine der wenigen Dinge, die sie gutmütig über sich ergehen ließ, obwohl sie es recht albern fand. Ein Gute-Nacht-Kuss… Waren sie etwa ein altes Ehepaar?
Erst später, als sie allein bei einer letzten Tasse Tee an ihrem Esstisch saß, kam Rebecca der Gedanke, dass Christophers Kuss weniger mit Zuneigung als mit Nachsicht zu tun gehabt haben mochte. Natürlich auch mit Zuneigung, aber am heutigen Abend schien er eher sagen zu wollen: „Du weißt wie immer nicht, was du gesagt hast, aber ich verzeihe dir trotzdem!“
So war es immer. Rebecca verstand die Tragweite und Bedeutung ihrer eigenen Worte immer erst, wenn es viel zu spät war. Ein Wunder, dass Christopher sich Tag für Tag immer wieder dafür entschied, bei ihr zu bleiben.
Jetzt lachte sie über sich selbst: Er solle sich nicht quälen wie ein Dichter, der authentisch sein will…
Soll er etwa nicht authentisch sein wollen? Quälte er sich nicht sowieso jeden Tag – egal ob er dichtete oder nicht? Erst heute Nachmittag hatte er sich gequält, als er zur Beerdigung seiner Schwester gegangen war. Und hatte nicht sie sich auch gequält in all den Jahren?
Es war ein Witz, dachte Rebecca, was die Leute glaubten, das der Tod sei. Kerngesunde Leute ließen sich in Sanatorien einweisen, weil es gerade der Mode entsprach, ein bisschen morbide zu sein. Todkranke Leute hingegen schufteten bis zur Erschöpfung, ohne jemals einen Arzt zu Gesicht zu bekommen, weil sie sich seine Dienstleistungen einfach nicht leisten konnten.
In den Kirchen predigten sie den Wert eines jeden Lebens und dann brachten zu Tode geschwächte Mädchen Babys auf die Welt, die dann als Waisen heran wuchsen, um später für Königin und Empire in irgendeinem sinnlosen Krieg und in irgendwelchen nutzlosen Kolonien draufzugehen, zu verhungern, an Seuchen zu verrecken oder – wenn sie Glück hatten – noch mehr dem Tode und dem Elend geweihte Kinder in die Welt zu setzen. Das nannte man Leben.
So richtig wagte es jedoch niemand, über diesen Witz zu lachen. Ihn zu erkennen, kam ja bereits einer Blasphemie gleich. So lange sie Gott auf ihrer Seite haben, dachte Rebecca, wird sich nichts ändern. Sie hob ihre Teetasse an, prostete einem imaginären Teufel zu und murmelte: „Auf dein Wohl, alter Junge!“
Elizabeth war ein nettes Mädchen gewesen. Genauer gesagt, war sie der Grund gewesen, warum Rebecca und Christopher sich kennen gelernt hatten und eines dieser zu Tode geschwächten Mädchen, die Rebeccas Dienstleistungen in Anspruch nahmen. Rebecca hatte allerdings sofort gemerkt, dass Elizabeth weit schlimmere Probleme hatte, als das, weswegen sie sie aufgesucht hatte.
„Bist du sicher, dass du das Geld wirklich ausgeben willst?“, hatte Rebecca gefragt, „Wenn ich mir das recht betrachte, wird die Natur auf ihre eigene Art und Weise das Problem ganz ohne mein Zutun lösen.“
Aber Christopher hatte darauf bestanden. Er sagte: „Wenn du ihr hilfst, wird sie sich vielleicht erholen.“
Und Rebecca hatte gesagt: „Mein Lieber, es ist die Tuberkulose, die ihr zusetzt, nicht die Schwangerschaft. Sie wird sich nicht erholen und den Geburtstermin so oder so nicht mehr erleben.“
Es war das erste Mal gewesen, dass sie ihn vor den Kopf gestoßen und es später bereut hatte und – was noch schlimmer war – sie hatte Unrecht gehabt: Elizabeth erwies sich als zäher als erwartet und lebte noch ganze zwei Jahre, ehe es tatsächlich die Tuberkulose war, die sie unter die Erde brachte.
Bei ihrer Beerdigung anwesend waren nur ein Priester und ihre beiden Brüder Christopher und Jonathan und für alle beteiligten war es eine Qual gewesen. Niemand hatte etwas zu sagen gehabt. Am wenigsten die Brüder einander. Christopher lehnte den Priester ab, Jonathan lehnte Christopher ab und der Priester hatte es abgelehnt, einer Kindsmörderin seinen Segen mitzugeben, weshalb Jonathan ihn zuvor bestechen musste.
Es war kompliziert. Zuvor hatte es unschöne Szenen in Rebeccas Hausflur gegeben. Jonathan wies darauf hin, dass Elizabeths letzter Wunsch gewesen sei, von einem Priester beerdigt zu werden und Christopher diesen Wunsch respektieren und deshalb seinen Teil dazu zahlen musste. Christopher hingegen erklärte, dass er gar nicht daran dachte, sein Geld für so etwas aus dem Fenster zu werfen, woraufhin Jonathan einwarf, dass es überhaupt kein Problem gegeben hätte, wenn er – Christopher – Elizabeth damals nicht eingeredet hätte, ihr Kind abzutreiben. Jeder im Viertel wisse davon und es folgte die übliche Streiterei, Rebeccas Person betreffend.
In solchen Sachen, dachte Rebecca, bleibt er standhaft. Er ist ein verfluchter Dickkopf ohne einen Funken Selbstvertrauen. Eine Kuriosität, wenn man darüber nachdachte.
„Mach’s gut, Elizabeth“, murmelte Rebecca, „Wo auch immer du bist: Es ist sicher besser als der Himmel, den die Prediger dir versprochen haben.“
Eine Kuriosität, ja. Ein Dichter war euch eine Kuriosität und Christopher hatte tatsächlich viel von einem solchen, auch wenn er nicht ernsthaft dichtete. Er besaß eine gewisse Schwermut, sodass man auf ihn aufpassen musste. Er kannte Begeisterung und Enttäuschung, schien immer zwischen den Extremen zu pendeln und war von sich selbst eingeschüchtert.
Die manische Depression ist irisches Kulturgut. Rebecca kannte keinen Iren, der nicht wenigstens ein bisschen verrückt war und der nicht die Schönheit eines guten Gedichts oder einer pathetischen Ballade zu schätzen wusste. Es lag ihnen im Blut. In ihrer Kultur hatte der Dichter ein höheres Ansehen als der Wissenschaftler oder der Politiker. Der Dichter und der Balladensänger konnten effektiver heilen und verständlicher zu den Menschen sprechen. Sie wurden emotionaler geliebt und freimütig unterstützt als jeder König, jeder Landbesitzer und jeder Priester. Wären die Iren ein freies Volk, so würden sie sich von ihren Sängern regieren lassen, da war Rebecca sich sicher.
Und deshalb war es dumm gewesen, was sie zu Christopher gesagt hatte. Natürlich war ein Text, der nicht als Gedicht oder Ballade durchging, völlig nutzlos. Er konnte nicht authentisch sein, wenn er nicht Emotionen hervorrief und er rief keine Emotionen hervor, wenn er nicht aus ihnen heraus entstanden war.
Es war Rebeccas Art, auf diese Weise die Tage ausklingen zu lassen. Wenn Christopher schon zu Bett gegangen war, setzte sie sich noch eine Tasse Tee auf und dachte in Ruhe darüber nach, was der Tag gebracht hatte. Meistens war sie so müde, dass ihre Gedanken unkontinuierlich hin und her sprangen, aber es half ihr dennoch bei der Einordnung und der Erkenntnis von Fehlern, die sie zukünftig vermeiden wollte.
Manche Menschen führen Tagebuch. Rebecca McCarthy führte einen imaginären Aktenschrank, in den sie Begebenheiten einsortierte und den sie bei Bedarf nach Erfahrungen durchstöbern konnte. Sie hielt das für eine wissenschaftliche Vorgehensweise und ein gutes Training für ihr Gedächtnis.
Sie brauchte weniger Schlaf als Christopher. Anständige Leute brauchten mehr Schlaf als die anderen, das hatte Rebecca schon vor langer Zeit festgestellt. Wer schläft, sündigt nicht und wer sündigt, der schläft nicht. Schlaflosigkeit ist die Strafe Gottes für bewusste Übertretungen seiner Gesetze. Das schlechte Gewissen nagt an einem wie die Heimsuchungen durch Alpträumen und andere Dämonen. Oder aber es war der starke Tee, der Rebecca nachts wach hielt.
Trotzdem schlurfte sie die Treppe hinauf, in das kleine, Schlafzimmer, wo das schmale, muffelige Bett aufgeschlagen stand und auf dem Christopher auch im Schlaf noch vergeblich versuchte, nicht zu viel Platz einzunehmen. Er war so rücksichtsvoll…
Rebecca mochte es, in einem Bett zu liegen und wie ein Schmarotzer von der Wärme eines anderen Lebewesens zu zehren. Sie selbst fröstelte sehr leicht. Ihre Kleider streifte sie fast lautlos und mit kunstvoller Geschmeidigkeit ab. Wenn nur Christopher sie jetzt sehen könnte, aber sogar für diese Dinge war er zu anständig. Lieber schlief er, lieber grübelte und zweifelte er. Zumal seine Schwester… Sie sollte rücksichtsvoller mit ihren Phantasien sein, fand Rebecca. Wer anfing, Menschen in Phantasien auszubeuten, dem kamen irgendwann die Skrupel abhanden, es nicht auch in Wirklichkeit zu tun.
Also ließ sie sich so leicht und behutsam, wie es ihr nur möglich war, auf dem Bett nieder und kroch unter die gemeinsame Bettdecke. Christopher und sie schliefen Fuß an Kopf, um Platz zu sparen. Leider ging so ein erheblicher Teil aller möglichen Intimitäten verloren.
Christopher registrierte, dass sie eingestiegen war und rückte noch ein Stück zur Seite. Rebecca seufzte unhörbar und beide stellten sich schlafend.
Man sollte nicht zu viel darüber nachdenken und nicht zu viel in die Dinge hineininterpretieren. Dann aber wiederum sollte man nicht zu sorglos sein, denn wenn man alles als selbstverständlich begriff, kamen einem die wichtigen Dinge irgendwann abhanden. Wie machten andere Paare das? Zerdachten sie ihre Beziehung ebenso oder waren sie gerade deshalb so glücklich, weil sie es nicht taten? Andere Frauen hatten andere Männer, schloss Rebecca, und andere Männer rückten im Bett nicht zur Seite, sondern ließen ihre Frauen auf der Küchenbank schlafen. Und andere Frauen besaßen den Verstand von Schafen und damit nichts, was ihren Männern gefährlich werden konnte.
War es richtig, von Frauen wie von Schafen zu denken, fragte sich Rebecca manchmal. Was der Kirche recht war, war ihr noch lange nicht billig. Dann aber hatte sie ihren mentalen Erfahrungsaktenschrank und musst sich selbst eingestehen, dass die meisten Frauen, die zu ihr kamen, zum Opfer ihrer eigenen Unwissenheit und Unsicherheit geworden waren und dass es offensichtlich gewollt war, dass diese Frauen unwissend und unsicher waren, damit man sie anklagen und verdammen konnte, damit es Opfer gab, an denen man ein Exempel statuieren, die man an den Pranger stellen konnte und deren Schicksal andere abschrecken und in Schach halten sollte. Frauen werden von Frauen klein gehalten, von Müttern, Großmüttern und Tanten. Es sind nicht die Männer, dachte Rebecca, die Frauen richten sich selbst zugrunde. Gib einer Frau gerade so viel Macht, dass sie andere Frauen – ihre Töchter – unterdrücken kann und dein System funktioniert. Frauen werden sagen: „Seht her, wenn wir uns anständig betragen und unseren Platz in der Gesellschaft ausfüllen, so werden wir respektiert! Ausgeschlossen sind nur jene, die sich nicht anzupassen wissen. Sie sind verdorben und schlecht!“ Männer werden sagen: „Wir lieben und respektieren Frauen, aber sie müssen anständig sein! Unser Interesse ist eine funktionierende gesellschaftliche Ordnung und dafür müssen sich alle an gewisse Regeln halten!“
Nur, dass ein Regelverstoß für einen Mann für gewöhnlich folgenlos blieb, für eine Frau jedoch oft genug mit einem Besuch bei Rebecca oder einem Leben in Schande endete.
Nehmen wir Elizabeth, dachte Rebecca. Sie erlaubte sich, an sie zu denken, weil sie hörte, wie Christopher wieder schwerer atmete. Wenn er schlief, würde er ihre Gedanken nicht lesen oder erahnen, was sie alles Gemeines über seine Schwester wusste – oder zu wissen glaubte. Weil sie wusste, wie sensibel er bezüglich ihr war, mied Rebecca das Thema Elizabeth, seit sie in die Geschichte involviert worden war. Es war kompliziert und hatte inzwischen eine persönliche Ebene hinzugewonnen, die über das Professionelle hinausging. Aber Fakt war eben auch, dass Männer einfach überhaupt nichts von dem verstanden, was in Frauen vorging und Rebecca hatte nach zwei Minuten zusammen mit Elizabeth mehr von der jungen Frau kennen gelernt, als Christopher je fähig gewesen wäre, in Erfahrung zu bringen. – Geschweige denn Jonathan.
Nehmen wir also Elizabeth. Sie war das jüngste der drei Geschwister und erinnerte sich an Connemara nur mit dem verklärten Blick zurück auf eine vermeintlich sorglose Kindheit. Welche Härten das karge Land und das raue Klima für die Menschen, die hier siedelten, bereit hielt, hatte sie am eigenen Leib nie erfahren, da ihre Eltern und Brüder Elizabeth davor schützten.
Für sie bestand Galway nur aus Wiesen, Blumen, den Klippen und dem Salz in der Luft. Die Unfruchtbarkeit des Bodens, die Abhängigkeit von wenigen, krankheitsanfälligen Feldfrüchten, die Armut, der allgegenwärtige Mangel, die Krankheiten, der Hunger und die schwere Arbeit berührten Elizabeth nicht. Sie stromerte durch die Wildnis wie ein junger Fuchs, lebte ein Leben nach dem christlichen Prinzip, dass Sähen und Ernten gleichermaßen unnötig sind, weil der himmlische Vater einen am Ende doch ernährte, wenn er wollte.
Schon als Kind hatte Christopher seine Schwester um deren Sorglosigkeit beneidet. Er besaß gleichermaßen einen Sinn für Magie und falsche Hoffnungen – die Tragik seines Lebens. Er verstand die Faszination, wusste aber, wieso sie einen ins Verderben führen musste und so führte er ein Leben in Furcht, während Elizabeth ihres im Vertrauen auf Gott führte.
Jonathan hielt die beiden für Traumtänzer, wenngleich er Christopher für seinen Pessimismus mehr schalt, als Elizabeth für ihre naive Frömmigkeit. Sie stand einem Mädchen immerhin gut an. Christopher aber war ein Verlorener, einer, der sich entfernt hatte von Gott und den Traditionen seines Volkes gleichermaßen.
Und die Tradition wollte es beispielsweise, dass die älteren Kinder sich um ihre jüngeren Geschwister kümmerten. Das hätte Jonathan in eine machtvolle Position gegenüber Christopher und Elizabeth versetzt, aber zumindest der widerspenstige Bruder erkannte diese natürliche Hierarchie nicht an.
Hier begann das Zerwürfnis der beiden Brüder. Hier in den satten, grünen Hügeln, der rauen, sturmgepeitschten Küstenlandschaft Galways, wo der Wind nicht nach Ölschmiere und Fäkalien stank, sondern nach der Würze der See. Es war kein Ort, an dem man leichtfertig Streitereien anfing. Wer hier leben wollte, musste sich Freunde machen, durfte keinen schlechten Ruf erlangen, denn hier war jeder auf jeden angewiesen. Man musste sich aufeinander einlassen und lernen zuzuhören, statt immer nur reden zu wollen.
„Sie versuchen einen Keil zwischen uns zu treiben“, hatte Christopher mal einen sagen hören, „Sie wollen uns ihre Philosophie des Konkurrenzkampfs einimpfen. Sie wollen, dass wir uns um das wenige, was sie uns lassen, prügeln. Das dürfen wir nicht zulassen!“
Und doch war der Keil zwischen Jonathan und ihm bereits platziert. Der Zankapfel hieß Elizabeth, verlieren sollten sie ihn am Ende beide.
Die Eltern, landlose Bauern, die den größten Teil ihrer Ernte für die Pacht aufbringen mussten, klagten nicht. Ihre Sorgen behielten sie in ihren Herzen, als sei es eine Sünde, sie zu äußern. Gier womöglich, oder Völlerei.
Christophers Erinnerungen an Irland glichen Fetzen – und so konnte Rebecca nur ein unvollständiges Bild des ehemaligen Lebens der Familie Jones in ihrer alten Heimat zusammensetzen. Wenn es Freundschaften, Feindschaften oder Liebschaften gegeben hatte, so hatte keiner der drei Geschwister davon jemals gesprochen. Alles, was sie zu Irland zu sagen hatten, war durchzogen von einer seltsamen Sehnsucht, die sich alsbald in Ekel wandelte, wenn die Erinnerungen zu konkret wurden.
„Die Frauen wuschen ihre Leintücher am Fluss“, sagte Elizabeth, „Und sie sangen dabei, schwatzten und lachten. In Irland lachen die Menschen mehr als in England, obwohl es ihnen dort viel schlechter geht.“
„Das ist, weil sie hier den direkten Vergleich zu den Reichen haben“, erklärte Christopher, aber das war ihr in ihrem geschwächten Zustand zu kompliziert. Sie beließ es bei: „Es ist ein gottloses Land, in dem die Menschen von Neid zerfressen sind!“
Es musste Christopher das Herz zerreißen, seine einst so wilde und fröhliche Schwester dahinsiechen zu sehen. „Man hat ihre Gutmütigkeit ausgenutzt!“, sagte er, „Sie ist ein Opfer der englischen Anstandslosigkeit!“
„Sie ist ein Opfer ihrer eigenen Anstandslosigkeit“, hatte Jonathan sich eingemischt. Es gefiel ihm, Öl ins Feuer zu gießen, wenn er damit jemanden zur Weißglut bringen konnte, der ohnehin schon machtlos war. Jonathan war in gewisser Weise englischer als die meisten Engländer und das machte wiederum Christopher ihm zum Vorwurf.
Elizabeth, die in jeder Hinsicht ein dem Diesseits abgewandtes Wesen besaß, litt unter den ständigen Kämpfen ihrer Brüder, weshalb sie es vorzog, sich nicht einzumischen und zu hoffen, alles möge auf magische Weise gut werden. Aber das Leben war nun mal kein Märchen, nicht in Irland und noch weniger in England. In ihrer Erinnerung trauerte sie den Farben ihrer Heimat nach, verklärte sie zu einem mythischen Feenreich, in dem sie ihre Kindheit zurücklassen musste. Seither hatte sie nichts mehr gehasst als Straßen.
„Sie bringen einen fort, sie reißen einen mit sich, sie lassen es nicht zu, dass man sich frei im Raum bewegt. Es gibt immer nur eine Richtung. Und der Wagen rumpelt unaufhörlich gen Westen. Und die Räder drehen sich, reißen Furchen in den feuchten Boden, wollen stecken bleiben, werden gezwungen, sich weiter zu bewegen. Immer geradeaus, durch den Nebel, in unbekannte Gegenden, in denen die Menschen fremde Sprachen sprechen und fremde Götter anbeten.“ Wenn Elizabeth etwas sagte, klang es immer wie ein Lied oder ein Gebet. Sie wählte ihre Worte intuitiv, aber nicht beliebig.
Sie wurde herausgerissen, während die anderen – ihre Eltern und Brüder – freiwillig gingen, den Wagen anschoben, den Esel antrieben. Elizabeth aber gehörte nach Galway wie die halbwilden Ponys in den torfigen Sümpfen von Connemara. Sie konnte nirgendwo anders überleben. Sie verstand die Menschen außerhalb ihrer Heimat nicht und die Menschen in England verstanden sie nicht, was diese jedoch nicht davon abhielt, sie und ihre Gutgläubigkeit auszunutzen.
Und ich beschuldige Jonathan, dachte Rebecca, als das Chaos ihrer Gedanken die ganze Geschichte unübersichtlich werden ließ. Jonathan sagte zu ihr, sie solle erwachsen werden und endlich aufhören, einem Land und einem Leben hinterher zu trauern, das so unfreundlich zu so vielen Menschen gewesen war, das so viele Leben gefordert hatte, das ihre Eltern vorzeitig hatte altern lassen, das sich kaum Nahrung abringen ließ und das vor allem aus Dunkelheit, Sturm, Regen und Kälte bestand. Sie sollte realistisch sein. Sie sollte endlich aufwachen und sich anpassen, denn sonst werde sie niemals Anschluss finden.
Und als sie dann Anschluss fand, endete das alles ebenso tragisch wie ihre Kindheit: Mit dem Herausreißen eines Lebewesens aus seiner natürlichen Umgebung.
Für reiche Leute war es vielleicht chic, etwas kränklich zu sein, aber für die Armen bedeutete eine körperliche oder geistige Schwäche, dass sie unweigerlich auf der Strecke bleiben würden. Auf die eine oder andere Weise würden sie vor die Hunde gehen und das war dann keine romantische, vornehme Angelegenheit, sondern eine Katastrophe, die eine ganze Familie in den Ruin treiben konnte.
Rebecca kannte die Geschichten: „Es war nur einmal und wir haben eigentlich gut aufgepasst.“
„Ich habe unbedingt schnell Geld gebraucht.“
„Ich dachte, er wollte mich heiraten.“
„Ich dachte, er hätte achtgegeben.“
„Dabei haben wir doch…“ und man glaubte gar nicht, auf welche aberwitzigen Verhütungsmethoden diese Mädchen vertrauten.
Die Wahrheit war jedoch – und jede Frau in Rebeccas Metier wusste das – dass keine dieser Geschichten wirklich wahr war. Was mit den Mädchen wirklich geschah, war in den meisten Fällen so abscheulich, dass sie es selbst verdrängten und lieber an eine erfundene Geschichte glaubten, die sie sich selbst zurechtlegten. Es ist ihnen lieber, sich selbst die Schuld für etwas zu geben, für das sie nichts können, als zuzugeben, dass sie völlig machtlos sind, dachte Rebecca.
Die einzigen Frauen, die ehrlich waren, waren diejenigen, von deren Würde nicht mehr viel übrig war, die dafür aber umso ungenierter leben konnten. Unter den Huren von Manchester hatte Rebecca die besten Freundinnen und Kundinnen.
Bevor Rebecca McCarthy nach Manchester gekommen war, hatte sie in Swansea einem Arzt assistiert. Zumindest hatte er behauptet, er sei Arzt und dann an den Verzweifelten herum gedoktert, die ihm glauben mussten, weil sie sich sonst keine Behandlung leisten konnten. Es handelte sich fast ausschließlich um hoffnungslose Fälle von Tuberkulose, Typhus, Cholera oder Bronchitis. Der Alte pflegte zu sagen: „Die Luft in Swansea macht krank.“ Und Rebecca glaubte, dass er damit recht hatte. Noch nie hatte sie auf einem Flecken Erde so viele Lungenkranke gesehen wie in dieser Stadt. Die Leute hier waren so krank, dass sie nicht wussten, wie sich Gesundheit anfühlte und eine chronische Kurzatmigkeit für natürlich hielten.
Als Rebecca ihre Tätigkeit beendete, um Wales den Rücken zu kehren, sagte sie zu ihm: „Sie sollten nicht die Menschen behandeln, sondern die Schornsteine, die Minen und die Giftstofflager. Sie könnten auf einen Schlag tausende Menschen retten, wenn sie nicht nur Symptome, sondern Ursachen behandeln würden. Swansea ist keine Stadt, sondern eine bewohnte Giftfabrik. Würde mich nicht wundern, wenn die Luft hier immer noch arsenverseucht ist. Und wissen Sie warum? Weil hier alle so denken wie Sie: Eine Verbesserung der Luftqualität würde nicht nur Sie um ihren Profit bringen, sondern auch diejenigen, denen man auferlegen würde, ihre Chemikalien sauberer zu produzieren. Keinen Fußbreit darf den Interessen der Bevölkerung nachgegeben werden, sonst verlangen sie am Ende immer mehr und mehr und richten die ganze Ökonomie zu Grunde, nicht wahr? Sie haben Angst vor Verbesserungen, weil Zufriedenheit keinen Gewinn einbringt. Man muss die Menschen unzufrieden, immer ein bisschen kränklich, immer ein bisschen ärmlich halten, gerade so weit vom Kuchen entfernt, dass sie ihn noch riechen aber nicht erreichen können. Sehen Sie, Sie tun nur das, was in diesem System logisch und die einzige Möglichkeit für Sie ist, zu überleben. Aber die Menschen, die mit Bluthusten zu Ihnen kommen, haben keine Möglichkeiten mehr. Nicht mal ihre Kinder – es sei denn jemand setzt sich für ihre Interessen ein. Aber Interessen sind wie Ideen, wie ein Lauffeuer, das sich verbreiten und bestehende Ordnungen niederbrennt. Und dann haben Sie keine Möglichkeiten mehr. Das ist die Angst all derer, die Hilfe verweigern oder nur vortäuschen. Aber wenn Sie den Arbeitern nicht den kleinen Finger geben, werden sie Ihnen irgendwann die ganze Hand abhacken. Sie werden sehen. Deshalb sollten Sie persönlich jetzt ein wenig Integrität beweisen und die Problematik der schlechten Luft ansprechen. Ich weiß, Sie haben nicht viel Einfluss, aber Sie haben doch mehr davon als die meisten. Sie behaupten, Arzt zu sein, aber ich habe nie gesehen, wie Sie mit Ihren Methoden und Mittelchen ein Menschenleben gerettet haben. Sie sollten nicht glauben, dass so etwas unbemerkt bleibt. Die Menschen sind nicht dumm, nur verzweifelt.“
Als Rebecca das sagte, war sie noch jung und naiv genug, zu glauben, ein intelligenter Mann müsste diese Worte als guten Rat und nicht als Abrechnung verstehen. Doch während ihre Jugend bereits zu welken begann, hatte sie sich ihre Naivität erhalten. Sie wollte immer noch daran glauben, dass die Wahrheit niemals verletzend sein konnte und dass ein Mensch, der anderen Menschen helfen wollte, dies nicht aus egoistischen Gründen tat. Sie glaubte einfach daran, dass es so etwas wie menschliche Güte gab. Man fand sie nicht in jedem Menschen, aber doch bei manchen. Man musste schließlich an irgendetwas glauben, sagte sie sich und um an Gott zu glauben, habe ich zu viel Elend gesehen und zu oft erfahren, wie seine angeblichen Gesetze gebrochen wurden, ohne dass es dafür göttliche Konsequenzen hagelte. Nur einmal hätte ein Zuhälter vom Blitz getroffen werden müssen, um Rebecca zurück auf den Pfad der christlichen Lehre zu führen, aber so etwas geschah nie. Stattdessen schalteten und walteten die größten Widerlinge in den Straßen der Slums, wie es ihnen beliebte, scheffelten gestohlenes oder abgepresstes Geld, ließen es sich gut gehen auf Kosten der anderen, die ohnehin schon im Dreck lebten.
Natürlich gibt es überall Egoisten, dachte Rebecca, in den Chefetagen der Fabriken, genauso wie in der Politik, genauso wie in den Kirchen, genauso wie in den Elendsquartieren. Abschaum war wie Edelmut nicht auf eine Klasse festgelegt, aber Egoismus und Skrupellosigkeit in den Erbanlagen, bedeuteten einen gewissen evolutionären Vorteil in der englischen Gesellschaft.
Und Rebecca hatte den lebenden Beweis für ihrer Theorie von der Existenz der Güte im Menschen. Er lag direkt neben ihr und versuchte noch im Schlaf, nicht allzu laut zu schnarchen. Auch ein Mörder kann ein guter Mensch sein, überlegte sie dann. Es kommt darauf an, wen er warum getötet hat. Konnte ein Menschen sein Recht auf Leben verwirken? Gab es überhaupt ein solches Recht? Rebecca zweifelte. Überhaupt ginge es vielen Menschen besser, wenn sie nicht geboren worden wären und es gibt viele Menschen, die, wenn sie nicht geboren worden wären, anderen das Leben erleichtert hätten.
Ich handele mit dem Tod, dachte sie, aber es ist ein einvernehmlicher Handel. Ich verkaufe den Tod, nicht lebendige Wesen, wie zum Beispiel das Militär. Bei mir bekommen alle, was sie verlangen. Eine Abtreibung ist keine Mogelpackung, die man erst in Patriotismus und falsche Versprechungen von sozialem Aufstieg verpacken muss, um sie interessant zu machen. Wer zu mir kommt, der weiß, was sie erwartet und wie es danach weiter geht. Kein verkrüppelter Soldat hat mit der Ächtung zu leben, die einer Frau entgegenschlägt, von der man weiß, dass sie abgetrieben hat. Ein verlorener Krieg ist eine geringere Schande, als das beendete Leben eines Fötus.
Wie scheinheilig! Sie predigen, wie wertvoll das Leben ungeborener Kinder ist, schicken dann aber geborene Kinder in Fabriken und Kohleminen, um sich dort zu Tode zu schuften. Sie reden den Schwangeren ein, sie müssten Verantwortung übernehmen, zucken aber nur mit den Achseln, wenn in den Armenhäusern die Kinder zu hunderten verhungern oder erfrieren. Das ist Gottes Wille, heißt es. Es ist immer alles Gottes Wille, außer, wenn es der Wille einer Frau ist, dann ist es der Wille des Satans, der leichte, verführerische Weg, der Pfad der Verdammnis. Der freie Wille sei eine von Gottes Gnaden, ein Zeichen seines Vertrauens. Wenn ein Mensch ihn aber einsetzt und eine Entscheidung trifft, so nennen sie es einen Vertrauensmissbrauch gegenüber Gott.
Es war nicht so, dass Rebecca nicht an Gott glaubte, sie zweifelte nur daran, dass diejenigen, die die Deutungshoheit seines großen Plans für sich in Anspruch nahmen, ihre damit einhergehende Macht nicht missbrauchten. Wieso sollte ein Priester oder ein Politiker besser über das Schicksal von Frauen und ihren Kindern Bescheid wissen als die betreffenden Frauen selbst? Wieso sprachen sie sogar Medizinern ab, die konkrete Situation einschätzen zu können?
Es war auch nicht so, dass Rebecca keinen Respekt aufbringen konnte, sie glaubte nur, dass man sich Respekt erst verdienen musste und ein Mann, der in seinem Leben offiziell niemals Sex haben durfte, war sicher nicht der kompetenteste Ansprechpartner, wenn es um Frauen, ihre Gesundheit und ihre Schwangerschaften ging. Sollten denn alle Menschen so leben wie sie? Was hatten Frauen davon, enthaltsam zu sein? Man begegnete ihnen auch nicht mit mehr Hochachtung. Nein, statt Hure oder Schlampe nannte man sie alte Jungfer und Rebecca hatte längst durchschaut, dass man es als Frau grundsätzlich nicht richtig machen konnte. Wieso es also überhaupt erst versuchen? Was hatte eine Frau von einem Leben als Ehegattin? Je nachdem, als was für ein Filou sich ihr Angetrauter erwies, war sie am Ende weder finanziell abgesichert, noch vor Übergriffen geschützt.
Dennoch zweifelte Rebecca manchmal an ihrem Beruf, denn: Behandelte sie am Ende nicht auch nur Symptome? Machte sie nicht den gleichen Fehler, den sie ihrem Arzt zu Hause in Swansea vorgeworfen hatte. Wurde man müde, wenn das Elend den Alltag bestimmte? Wurde man egoistisch, wenn man einen Weg fand, dem Elend alleine zu entfliehen? Wurde man rücksichtslos, wenn man Geld als Bezahlung annahm?
Diese Gedanken kreisten nachts in ihrem Kopf, wenn sie nicht schlafen konnte. Ruhe fand sie nur bei dem Gedanken, dass, solange sie zweifelte, sie nicht vollkommen verdorben sein konnte. Ihr vielleicht verwirktes Seelenheil beunruhigte sie weniger als das Schicksal ihrer Patientinnen und sie glaubte, dass das einen guten Menschen aus ihr machte, einen festen Charakter, der der Verdammnis mit erhobenem Haupt entgegensah, solange sie sich selbst überzeugen konnte, das Richtige zu tun und wenn sie damit Gott selbst herausforderte, dann war es vielleicht an der Zeit, auch diese Herrschaft zu hinterfragen.
Überhaupt: Was war schon ein Gott, der nichts als den Erfüllungsgehilfen einer Kaste vollgefressener Kleriker darstellte. Was war das für eine Güte, die jene vergaß, bei denen die Verzweiflung am größten war? War Gott nicht immer nur so stark, wie der Glaube an ihn? Und war der Glaube nicht nur nichts weiter als der menschliche Drang, sich zu unterwerfen, um der Schuld zu entgehen, die man im Laufe seines Lebens auf sich geladen hatte? Rebecca fand, dass, wer seine Schuld nicht selbst tragen konnte, es nicht wert war, Vergebung zu erfahren. Vergebung… Wer konnte sie geben? Wer konnte sie erlangen? Und wie? Wieso klammerte man an dieser Stelle die Opfer systematisch aus und setzte Gott an ihre Stelle? Lügen bringen den kleinen Jesus zum Weinen. Soll er sich halt aus dem Leben anderer Menschen heraus halten!
Das Problem war der Anstand, fand Rebecca. Die Leute waren anständig genug, einem Bettler eine Münze zu schenken, aber sie waren nicht bereit, ihr Haus mit ihm zu teilen. Gut manche waren vielleicht sogar so anständig, ihr Haus zu teilen, aber dann verlangten sie irgendwann doch eine Gegenleistung, Arbeiten oder Geld. Wer nichts hatte, der hatte gefälligst für die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse zu schuften. Das war nur anständig. Anstand bedeutete immer, dass man sich seinem Stand gemäß verhielt. Es bedeutete nicht, dass man Rechte einfordern oder Ansprüche stellen konnte. Man musste betteln, um etwas zu bekommen. Man musste abhängig sein. Man musste dankbar für die erwiesene Gnade sein. Man musste bescheiden und fromm auftreten, seinen Platz kennen, eine Rolle spielen. Die anständigen Leute wollten belogen werden.
Das Fundament einer funktionierenden Gesellschaft war der Anstand, das Wissen darum, was man sich leisten konnte. Es waren subtile Gesetze, die nirgendwo niedergeschrieben standen und die mit Nichten für alle gleichermaßen galten. Ein Gentleman konnte sich aus den meisten Kalamitäten heraus kaufen, eine Straßendirne konnte nur versuchen, zuerst an einer Quecksilbervergiftung zu sterben, bevor die Syphilis ihr den Verstand raubte.
Vor allem nachts sah Rebecca die verängstigten Gesichter ihrer Patientinnen vor sich. Beinahe jede Nacht wurde sie vom Geist der kleinen Jane heimgesucht. (Rebecca fand es interessant, dass sie von den Geistern der Frauen und nicht von den Geistern ihrer Kinder heimgesucht wurde…) Zumindest nannte ihre Mutter sie Jane. Man konnte nie sicher sein, ob die Frauen Rebecca ihre richtigen Namen nannten, aber das war Rebecca einerlei. Ein Name sagte ohnehin nichts über eine Person aus. Er wurde einem nicht für eine Eigenschaft oder eine Leistung verliehen wie bei den Völkern der Wilden. Einen Namen bekam man in der Hoffnung, dass man ihm Ehre machte, dass man seinem religiösen oder historischen Vorbild nacheiferte. Die meisten Leute scheiterten dabei kläglich. Aber wer wollte auch schon die Kopie einer idealisierten Figur sein?
Jedenfalls machte Jane ihrem historischen Vorbild – der Jungfrau von Orleans – sicherlich keine große Ehre, war sie doch schon mit dreizehn Jahren schwanger geworden. Die Frau, die bei ihr war, als sie vor Rebeccas Tür stand, war auch nur vielleicht ihre Mutter. Wahrscheinlicher war, dass sie ihren Lebensunterhalt als Kupplerin irgendwo in einem Etablissement am Hafen verdiente. Die jungen Mädchen arbeiteten normalerweise nur als Putzkräfte oder servierten den Besuchern Getränke, aber was ohnehin schon illegal war, wurde nicht noch illegaler, wenn man moralische Grenzen verletzte. Welche Hemmungen blieben bestehen, wenn man vor Hunger langsam vor die Hunde ging? Wenn es eine Nachfrage gibt, war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand ein passendes Angebot machte.
Jane, wie sie mit ihren großen, leeren, unwissenden Schafsaugen Rebecca anstarrte, hatte so viel erlebt und gesehen, dass nichts sie mehr entsetzte. Es gab keinen Schmerz, den sie nicht zu ertragen in der Lage gewesen wäre. Sie gab keinen Laut von sich. Keinen einzigen. Sie lag da, ließ alles über sich ergehen, brav wie ein Lamm, erstarrt wie ein Stück Holz. Rebecca sah ihr zu, wie sie blasser und blasser wurde, je weiter die Nacht voranschritt. Es war, als wich ihr ganzes Blut aus dem schmalen, knöchernen Gesicht. Und es war auch kein Wunder, dass dieser Eindruck entstand, denn Jane hörte und hörte einfach nicht auf zu bluten. Ein Leintuch nach dem anderen musste Rebecca fortbringen, weil es sich nicht reinigen lassen würde.
Eine ganze Nacht wachte sie an Janes Seite, bis das Mädchen wegdämmerte und nicht wieder zu sich kam. Wo wäre sie wohl heute, wenn sie das Kind bekommen hätte? Wäre sie vielleicht bei der Geburt gestorben? Hätte man das Kind in ein Waisenhaus gebracht? Das Geld, das die Frau Rebecca für den Eingriff gegeben hatte, spendete sie der örtlichen Kirchengemeinde als Pfand für diese eine Sünde.
Und dann sagten die Männer, Frauen seien zartbesaitet, man könnte ihnen keine schrecklichen Nachrichten, keine Bilder des Grauens zumuten, sagten, das schwache Geschlecht könne kein Blut sehen, sei zurecht mehr den schöngeistigen Seiten des Lebens zugewandt. So hatten sie uns gerne: Als Unterhaltung, als Dekoration, als Hüterinnen der Moral. Unsere Probleme sollten wir gefälligst unter uns und im Geheimen lösen. Damit hatten die Herren nichts zu tun, mussten sie doch die Zivilisation zu den Heiden bringen. Dafür gab es Auszeichnungen und Ehrentitel. Nicht so für den Vertrieb von Frauenhygieneartikeln und die Aufklärung über die Funktionen des weiblichen Körpers. Alles, was auch nur im entferntesten die Selbstbestimmung der Frauen gefördert hätte, wurde als unrein und schmuddelig gebrandmarkt. Frauen, die taten, was sie wollten, taten grundsätzlich das Falsche, brachten vorsätzlich die Herren in Verlegenheit.
Jane war zu Rebecca gekommen, noch bevor sie ihr Bett mit Christopher teilte und noch bevor Elizabeth in ihr Leben getreten war. Jane war eine Geschichte, mit der sie alleine fertig werden musste und Elizabeth war eine Geschichte, für die sie sich bei dem Menschen rechtfertigen musste, der ihr von allen Menschen der Liebste war. Rebecca wusste nicht, was davon schlimmer war.
Misserfolge haften stärker im Gedächtnis, als alles Glück, das man gehabt hatte. Leute, die einem die Hand drückten, sich bedanken und gingen, erachteten dies als selbstverständlich. Sie wussten nicht, was es alles für Risiken gab oder sie glaubten, Rebecca könnten sie ihnen abnehmen. Aber die Leute verwechseln Risiko mit Verantwortung. Die Misserfolge aber gaben einem nicht die Hand und gingen. Sie starrten einen nachts mit großen, verwunderten Augen an und fragten: „Warum ich?“
Christopher und Elizabeth hatten die gleichen, runden, treuen Kinderaugen und manchmal konnte Rebecca ihrem Geliebten nicht ins Gesicht blicken vor Scham. Sie teilten vielleicht das Bett, aber ihre Schuldgefühle wollte Rebecca für sich behalten. Sie war überzeugt davon, dass Schuld unteilbar und unvergänglich war. Wenn sie Christopher ansah, starrten die wässrigen Augen seiner Schwester ihr entgehen und am schlimmsten daran war die Tatsache, dass darin keinerlei Vorwurf lag.
Vielleicht behalte ich Christopher nur, überlegte Rebecca, damit seine Augen mich daran erinnern, mich nicht als Herrin über Leben und Tod aufzuspielen, damit ich mir meiner Sache nie zu sicher bin, damit ich das alles nicht auf die leichte Schulter nehme. Ich neige dazu, Dinge für selbstverständlich zu halten, doch das Leben ist alles, aber nicht selbstverständlich.
Dem schloss sich die Frage an, ob und wenn ja, wem man dankbar sein, beziehungsweise wen man verfluchen musste. Gott, die Eltern, die Hebamme, einen Quacksalber?
Rebecca war eine Frau mittleren Alters, die trotz ihres Schlafmangels nicht verhärmter aussah als die anderen Frauen in Hulme oder Salford, die sich aber dagegen gewehrt hätte, wenn man ihr Aussehen als erstes Merkmal ihrer Persönlichkeit genannt hätte. „Wir leben in einer Zeit, in der Frauen einerseits nur über ihr Aussehen definiert sind“, sagte sie, „andererseits aber Eitelkeit als Charakterfehler gilt.“
Rebecca war keineswegs uneitel. Sie bildete sich etwas darauf ein, nicht eitel zu sein und doch einen gewissen Hochmut auszustrahlen. Und sie konnte ihn sich leisten, denn sie besaß ein gewisses Ansehen unter den Frauen und den Männern – insbesondere denen, die an ihren Machtpositionen klammerten – flößte sie Angst ein. Rebecca merkte sehr schnell, wenn die Leute Angst vor ihr hatten. Der katholische Priester, der ihr vor die Füße spuckte und sie nachts in seinen Gebeten verfluchte, sorgte sich nicht um das ungeborene Leben irgendwelcher Slumkinder, sondern darum, dass ihm die Deutungshoheit über den Wert des Lebens entgleiten könnte.
Wenn es ihm dabei wenigstens um diesen Wert ginge, dachte Rebecca, aber es geht ihm lediglich darum, dass er reden konnte und die anderen ihm andächtig zuhörten. Wenn er schon nicht heiraten dürfe, so verschaffe er sich so seine Befriedigung. Jeder Gottesdienst ist im Grund eine geistige Massenvergewaltigung und am Ende gehen die Leute schwanger mit der Idee, der heilige Irgendwer könnte sie aus ihrer Misere befreien, wenn sie nur eifrig genug beteten.
Jeder Mensch mit Macht über andere Menschen hat Angst. Weil die Mächtigen so wenige sind und die Machtlosen so viele kann sich das Verhältnis jederzeit umkehren. Deshalb muss man die Machtlosen mit Angst impfen und ihnen einreden, nur die Mächtigen könnten sie beschützen. Und hin und wieder war ein Bauernopfer fällig, das als schlechtes Beispiel vorgeführt wurde. „Seht her, das gefallene Mädchen! Das ist, was mit solchen passiert!“
Da passte eine Frau wie Rebecca natürlich nicht ins Bild. Sie bot Lösungen für liebgewonnene, nützliche Probleme. Sie untergrub die Logik auf der die Festung der gesellschaftlichen Klassen errichtet war.
Früher nannte man Frauen wie Rebecca Hexen. Sie verbreiteten einerseits Angst und Schrecken, genossen andererseits aber auch hohes Ansehen, denn sie nahmen sich der Dinge an, für die sich alle anderen zu schade waren. Die Rebeccas dieser Welt galten als unschicklich, doch sie waren unentbehrlich. Die Menschen wussten das, mieden sie aber trotzdem. Nur zur Sicherheit. Wenn sie schon den irdischen Machthabern die Stirn bieten konnte, was wenn sie dereinst vor ihren Schöpfer treten würde? Dann wollte man ungern an ihrer Seite stehen.
Die Menschen sind bigott. Das war die erste Lektion, die Rebecca in ihrem Beruf lernen musste. Nicht nur die Mächtigen waren es, nein auch die Arbeiter, die Bettler und die Straßendirnen. Sie begingen heimlich jede erdenkliche Sünde, wollten aber nicht mit einer offensichtlichen Sünderin gesehen werden. Es sollte ihr recht sein. Rebecca legte keinen Wert auf Plaudereien oder Teekränzchen. Sie wollte nicht Mitglied im Chor der hiesigen Kirchengemeinde werden. Sie wollte keine Kuchen für wohltätige Zwecke backen. Sie aß ihren Kuchen lieber selbst.
Christopher war da ganz anders. Er hätte sein letztes Hemd für einen wohltätigen Zweck gespendet, auch wenn er damit nichts hätte ausrichten können. Er war ein Romantiker und glaubte an die einfachen Lösungen. Eigentlich ergänzen wir uns gut, dachte Rebecca. Ich halte ihn am Boden und er hält mich davon ab, auf direktem Weg in die Hölle zu fahren.
Christopher war viel zu höflich und vielleicht auch zu schüchtern, um Rebecca zu gestehen, dass sie ihn Nacht um Nacht um den Schlaf brachte. Er ging nur deshalb so früh ins Bett, um wenigstens kurz einmal einschlafen zu können, bevor sie die Unruhe zwischen die Decken und Kissen brachte. Er fragte sich nicht, worüber sie nachdachte, denn er konnte es sich denken. Sie trug ihr Herz vielleicht nicht auf der Zunge, aber die Schuld zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Die dunklen Augenringe, die blasse Haut. Man konnte sie mit einer Todesfee verwechseln und ihre ganze Körperhaltung wirkte, als schwebe über ihr permanent eine graue Schlechtwetterwolke.
Rebecca wusste, dass sie tat, was getan werden musste und dass sie es tun musste, weil niemand sonst es tat. Aber sie fühlte, dass sie die Grenzen menschlicher Verantwortung auslotete und ab und an Entscheidungen traf, von denen sie sich wünschte, dass niemand sie treffen müsste.
Einmal hatte sie ihm einen Vortrag über den Unterschied zwischen Pflicht und Verantwortung gehalten und Christopher hatte nur die Hälfte davon verstanden, aber es war Rebecca offenbar sehr wichtig, dass man eine Verantwortung freiwillig auf sich nahm. „Wäre meine Arbeit eine Pflicht“, sagte sie, „wäre alles sehr einfach. Ich würde einfach nach den Vorschriften handeln und es würde mich keine Schuld jemals treffen, wenn etwas schief geht. Weil ich aber eine Verantwortung übernehme, kann ich alles sein von einer Lebensretterin bis hin zu einer Mörderin. Mein Urteil liegt nicht in meiner Macht. Ich bin gewissermaßen einer gesellschaftlichen Willkür ausgeliefert. Wenn sie mich verdammen wollen, können sie es jederzeit tun. Das ist die Verantwortung, die ich für mich übernehme.“
Wohl eher dein Schicksal, dachte Christopher, sagte es aber nicht, weil er argwöhnte, mit diesem Kommentar könnte er sein Unverständnis der Theorie entlarven und waren es am Ende nicht ohnehin nur Worte? Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften. War es nicht so? Ob man Rebecca nun einen Engel oder eine Mörderin nannte, änderte das irgendetwas daran, was sie getan hatte?
Naja, es ändert sich etwas für mich, wenn sie mir einen Strick um den Hals legen, hörte Christopher eine imaginäre Rebecca ihn belehren. Und überhaupt kann man ja auch nicht gerade behaupten, dass die Geschichte mit den angeblich bedeutungslosen Namen für Romeo und Julia gut ausgegangen ist.
Abgesehen davon, verteidigte er sich stumm und wusste dann auch nicht weiter.
Schade, dachte er, dass man solche Gespräch mit ihr nie in Wirklichkeit führen konnte. Sie machte so ein unnötiges Geheimnis um sich, als misstraute sie jedem einzelnen Menschen auf der Welt, als wollte sie unbedingt die mysteriöse Frau ohne Vergangenheit sein. Glaubte sie, das machte sie attraktiv oder wäre ihrem Ruf dienlich? Sie war eine Fremde und sie würde es immer bleiben. Die Leute blieben auf Distanz, weil sie sie auf Distanz hielt, weil sie vielleicht selbst glaubte, dass sie nicht gut für die Gesellschaft war.
Im Grunde war ihre ganze Selbstsicherheit nur Fassade. Es würde Christopher nicht gewundert haben, wenn seine Freundin in der Tiefe ihres Herzens eine gottesfürchtige Christin gewesen wäre. Nur für alle Fälle. Um das Schicksal nicht übermäßig herauszufordern.
Zumindest wusste er, dass sie einen Rosenkranz besaß, obwohl sie sicher nicht katholisch war. Er wusste es, weil es der Rosenkranz seiner Schwester war, den sie aus irgendwelchen Gründen in der Schublade unter dem Esstisch aufbewahrte. Sie wusste nicht, dass er davon wusste, aber von Zeit zu Zeit warf er einen verstohlenen Blick in die Schublade, um nachzusehen, ob das alte, splittrige Ding noch da war. Wenn Rebecca aber jemals davon erfahren würde, dass er von dieser sentimentalen Schwäche wusste, würde sie es sofort entsorgen und so war die Existenz des Rosenkranz wiederum für Christopher die Versicherung, dass es ihm weiterhin gelang, seine kleinen Geheimnisse vor Rebecca zu verbergen. Sie zog ihre Stärke vor allem daraus, dass andere sie für stark hielten.
Seltsam war hingegen, dass der Rosenkranz ihn dagegen kein bisschen sentimental werden ließ. Dabei hätte man doch meinen können, dass diese abgegriffene Holzperlenkette Christopher schmerzvolle Erinnerungen an seine Schwester bereitete. Und nicht nur das. Es war ein Familienerbstück. Vielleicht das einzige Besitztum, das seine Familie überhaupt jemals vererbt hatte. Elizabeth hatte sehr daran gehangen, weil es sie an ihre Mutter erinnert hatte. Es sollte eigentlich aufgeladen sein mit Erinnerungen, aber da war nichts. Es waren Holzperlen auf einer Schnur mit einem Kreuz. Das war alles. Es war, als wäre seine Seele aus ihm gewichen, als wäre seine Bedeutung mit seiner Schwester gestorben. Vielleicht konnte Rebecca ihm eine neue, geheime Bedeutung geben, aber Christopher war es lieber, wenn ihm diese verborgen bleiben würde. Er hielt nicht viel von Mystik. Eigentlich.
Elizabeth war eine aufrichtige Katholiken gewesen, hatte jeden Tag den Rosenkranz gebetet. Sie hatte wirklich geglaubt, damit etwas ausrichten zu können und das war im Grunde herzzerreißend. Laut Christophers Theorie gab es drei Arten von Gläubigen: Diejenigen, die glauben, weil ihnen nichts anderes übrig blieb, denen man erfolgreich alle Macht genommen hatte und die sich nun mit Beten begnügen mussten, um wenigsten ein bisschen das Gefühl zu haben, etwas bewirken zu können. Dann diejenigen, die glaubten, weil es sich so gehörte, weil sie sich so anderen überlegen fühlen konnten, die herabblickten, auf die vermeintlich moralische Verdorbenen. Jonathan ist zu einem solchen Subjekt verkommen, Christopher wusste nicht wie und warum es passiert ist, aber irgendwie war ihm sein Bruder in den letzten Jahren nach dem Tod ihrer Eltern entglitten. Oder vielleicht war er entglitten? Egal, das tat nichts zur Sache… Die dritte Gruppe von Menschen jedenfalls war diejenige derer, denen der Glaube abhanden gekommen war und dazu zählte sich wiederum Christopher. Was für ein Schicksal für drei rückhaltlose Geschwister: Sie gehörten praktisch drei verschiedenen Welten an.
Menschen sind entweder naiv, überheblich oder zynisch, dachte Christopher, als er auf die bizarren Schattenmuster an der Zimmerdecke starrte. Nachts wird es gar nicht mehr richtig dunkel. War das nun der Fortschritt oder eines der Opfer, die man dafür bringen musste. Gib uns deinen Schlaf und wir geben dir dafür geregelte Arbeitszeiten!
Die waren das Schlimmste. Die Menschen, die vom Land in die Stadt kamen, waren es nicht gewohnt, nach der Uhr zu arbeiten. Als Farmer musste man nicht auf die Stunde genau pünktlich sein. Man arbeitete so lange, wie man eben musste. Man schlief, bis die Sonne aufging und ging zu Bett, wenn es dunkel wurde. In der Stadt aber, in den Fabriken, gab es Zeitpläne und Schichten, die eingehalten werden mussten. Es gab Pläne, der man erfüllen musste und wer nicht pünktlich zum Schichtbeginn erschien, der durfte die Fehlzeiten nicht nacharbeiten, sondern brauchte am nächsten Tag gar nicht mehr zu erscheinen. Die Uhren hassten die Arbeiter mehr als ihre Vorgesetzten, mehr als die Maschinen, mehr als die Fabrikbesitzer.
Wie dumm, fand Christopher. Sie projizieren ihre Unzufriedenheit auf ein unbelebtes Objekt. Wenn sie eine Uhr zerstören, zerstören sie damit ja nicht die Zeit oder die Regeln, nach denen sie zu arbeiten haben. Die Uhren sind nur Erfüllungsgehilfen. Es ist dasselbe wie mit dem Glauben. Ohne gegen die Regeln zu verstoßen, können sie nichts tun, um sich zu befreien, also beten sie ihren Gott an, damit der für sie die Ungerechtigkeit beseitigt. Statt die Fabriken selbst zu übernehmen, träumen sie davon, die Uhren zu zerstören, als könnte ein solches Symbol, ihre Situation verbessern.
Nein, es reichte nicht, so kleinmütig zu denken. Man musste etwas Grundlegendes ändern. Man musste mindestens den Kapitalisten einen Heidenschrecken einjagen, besser aber, man setzte noch eine Nummer größer an.
Und da war er wieder bei den Schwänen. Natürlich war das auch nur ein Symbol, aber eines, das keine Zweifel zuließ, mit wem man sich anzulegen bereit war. Es war eine Warnung, eine unmissverständliche Nachricht: Wenn sich nicht bald was ändert, ziehen wir Ihre Majestät persönlich zur Verantwortung. Sie war nicht unantastbar. Solche Dinge waren schon einmal passiert. Königinnen lebten nur dann in Sicherheit, wenn es der Bevölkerung einigermaßen gut ging, weshalb sie ein Interesse daran haben musste, dass die Stimmen der Arbeiter gehört wurden. Wenn schon sonst niemand sie hörte, dann musste man eben sie zur Verantwortung ziehen.
Victoria war nicht gerade dafür bekannt, besonders mildtätig zu sein oder ihrem Volk in irgendeiner Weise nahe zu stehen. Manchmal hatte man gar das Gefühl, ihre Abneigung gegen die Engländer fiel nur deshalb nicht auf, weil sie die Iren noch mehr hasste. Christopher wusste nicht viel über den Charakter der Königin und er fragte sich oft, ob sie von Selbsthass befallen oder einfach nur mit unvorstellbarer Ignoranz geschlagen war. Durfte man einer Königin Zynismus oder Bosheit unterstellen? Oder war sie in Wirklichkeit so schwach und unbeholfen, dass sie rein gar nichts ausrichten konnte oder wollte. Nicht einmal symbolisch? Wie lange konnte und durfte eine Frau um ihren Ehemann trauern? Waren 33 Jahre nicht genug? Wie sehr litten ihre Pflichten darunter, dass sie nicht über den Tod ihres Prinzgemahls hinwegkam? Waren das nicht Fragen, die man sich stellen musste? Vielleicht war sie einfach unfähig.
Die Idee mit den Schwänen hatte außerdem noch einen zweiten Vorteil: Man bekam einen fetten Braten auf den Tisch, wo es sonst nur Brot mit Milch gab. Seltsam, dachte Christopher, es ist wohl im Blut eines jeden Iren festgeschrieben, dass er immer zu allererst ans Essen dachte.
Wie seltsam, dass die Nacht all diese Gedanken hervorbrachte, zu denen er tagsüber keine Zeit hatte. Sie ist etwas heiliges und etwas grauenvolles, dachte Christopher. Sie quält uns mit Schlaflosigkeit und segnet uns mit den tiefsten Erfahrungen die man als Mensch mit seinem Menschsein haben kann. Ein Schwan liegt nicht nachts wach und denkt über die Schwanengesellschaft nach. Ein Schwan fürchtet sich nicht vor der Zukunft. Ein Schwan macht keine Pläne. Ein Schwan fühlt keine Trauer, Liebe, Verantwortung oder Wut. Er denkt auch nicht an Gefahren oder daran, seine Umwelt an sich anzupassen. In der Tierwelt wird es nie eine Industrialisierung geben. Schwäne züchten nicht ihr Futter oder erfinden Maschinen, die Nester am Fließband herstellen oder Eier voll automatisch ausbrüten. Sie sind nicht wie wir, die Tiere. Was muss es für ein Glücksgefühl sein, als Schwan zur Welt zu kommen!
Und wenn sie denken könnten, würden sie uns dann ansehen und für verrückt erklären? Oder würden sie versuchen, uns zu vernichten? Recht hätten sie vermutlich.
Den Gedanken vertrieb Christopher schleunigst wieder. Er war ihm zu billig. Vernichtung ist keine Lösung. Zerstörung und Wiederaufbau vielleicht, aber nicht Vernichtung, versalzte Erde. Es war die Müdigkeit. Menschen die müde waren und nicht schlafen durften oder konnten, kamen auf dumme Ideen. Er wollte nicht vernichten. Nicht im eigentlichen Sinne. Das mit den Schwänen war als konstruktiver Vorschlag zu werten. Es war ein Kommunikationsangebot. Seinetwegen eine Drohung, aber kein Akt des Terrors oder so.
Oh, sie würden es als solchen betiteln. Ein direkter Angriff auf die Autorität der Krone. Ein Angriff, ja, aber offensichtlich kein direkter und keiner, der einen echten Schaden anrichtete. Ein paar Schwäne zu töten, stürzte das Empire sicher nicht in eine Krise. Eine witzige Idee, fand Christopher. Im Grund war sie harmlos, aber von großer, nicht zu ignorierender Bedeutung. Subversiv, nannte man sowas. Christopher hatte subversive Ideen. Der Gedanke gefiel ihm schon besser.
Bestimmt würden sich unter den Jungs Sympathisanten finden. Vielleicht würde sich aus seiner kleinen Idee ja eine ganze Bewegung entwickeln. Und vielleicht würde sich dann wirklich etwas verändern. Ob sie ihn dann feiern oder verfolgen würden, fragte sich Christopher. Wahrscheinlich würde nichts dergleichen passieren, aber wenn er schon nicht schlafen konnte, wollte er wenigstens träumen.
Das Problem war, dass aus den Fabrikhallen nie etwas Konstruktives heraus kam. Fabrikhallen waren wie Vulkane. Darin baute sich so lange Druck auf, bis alles explodierte und die Arbeiter alles kurz und klein schlugen. Dem wollte Christopher zuvor kommen. Man musste nicht alles kurz und klein schlagen, um etwas zu verändern, man musste nur wissen, wo man ansetzten musste, um eine Hebelwirkung zu erzeugen. Die besten Ideen begannen im Pferdestall. Die Tiere hatten eine beruhigende und rationalisierende Wirkung auf Menschen. Die Pferde ließen sich nämlich nicht unter Druck setzen. Sie funktionierten nur, wenn man sie einigermaßen behandelte. Wieso es so schwer war, die Analogie zur menschlichen Arbeiterschaft zu ziehen, erschloss sich Christopher nicht.
Jedenfalls hatte er, der er nicht mit Maschinen, sondern mit Tieren arbeitete, noch nicht den Kontakt zum echten Leben, zum Körper, zur Kreatur verloren.
Christopher arbeitete als Fahrer für eine Textilfabrik in Salford. Den ganzen Tag transportierte er Stoffballen oder Baumwolle quer durch die Stadt zu Lagerhallen oder zur Weiterverarbeitung in andere Fabriken. So kam er mit vielen Menschen in Kontakt: Lageristen, Vorarbeitern, Koordinatoren, Organisatoren, wie sie sich auch immer nannten. Im Grunde bestand Handel nur daraus, dass Waren von A nach B transportiert wurden und im Organismus dieses Marktes stellten Christopher und seine Ponys das Blut dar.
Jeder Arbeiter besaß diesen gewissen Stolz, der ihn glauben ließ, die eigene Arbeit sei die Wichtigste im ganzen Gefüge und Christopher stellte da keine Ausnahme dar. Er liebte die lauten Straßen, das Chaos und die herzlichen Anfeindungen, mit denen alle professionellen Verkehrsteilnehmer einander begegneten.
Das Problem war, dass sich alles verändern würde. Manchester, Lancashire und Cheshire waren eine einzige, riesige Baustelle, die Vorwehen der Zukunft. Große Ideen und Fortschritt waren schwer in Mode bei denen, die es sich leisten konnten, zu träumen. Eisenbahnlinien, Viadukte, der Hafen und der unselige Kanal. Man konnte glauben, England hätte gut zweitausend Jahre geschlafen und sei ganz plötzlich mit der Idee aufgewacht, all die kruden Träume im Hau-Ruck-Verfahren in die Tat umzusetzen und wenn sie mit Manchester fertig waren, würde es der göttlichen Schöpfung ein Hohn sein, hatte Gott doch offensichtlich bei seinem Plan ökonomische Gesichtspunkte völlig ignoriert. Der Mensch musste also korrigieren, wo Er versagt hatte. Das konnten sich auch nur Protestanten zurechtlegen… In Christophers Augen war es aufrichtiger, an gar nichts zu glauben, als einen Text immer genau so auszulegen, wie es einem gerade in den Kram passte.
Der Kanal indes stand kurz vor der Fertigstellung und sollte die Hauptschlagader der Stadt und der Region werden. Manchester und Liverpool verbunden durch eine Wasserstraße – das bedeutete einen Impuls für eine noch schnellere Entwicklung, noch mehr Wohlstand, noch mehr Wachstum. Man musste nur ein bisschen nachhelfen. Bald brauchte man keine echten Flüsse mehr, wuchsen künstliche Pflanzen auf Asphaltböden, bald würden erst die Pferde abgeschafft und dann die Menschen durch Maschinen ersetzt werden.
Ist es das, was wir entdecken, wenn wir aus der Unterwasserinsel auftauchen? Christopher erinnerte sich an eine Geschichte, die Elizabeth ihm erzählt hatte, als sie noch Kinder gewesen waren: Was, wenn es am Grunde des Ozeans eine Insel gab, eine Stadt unter einer großen, stabilen Glasglocke? Und wenn die Menschen, die dort lebten, nach oben schauten und nur das Wasser sahen, würden sie es für den Himmel halten? Wenn niemals jemand sie besuchen könnte und sie ihre Stadt niemals verlassen könnten, würden sie dann nicht glauben, ihre Insel sei das einzige, die ganze Welt und das ganze Universum, das existiert? Was wenn diese Unterwasserinsel eines Tages aus dem Meer emporsteigt und die Menschen zum ersten Mal Tagelicht sehen, wenn sie zum ersten Mal Kontakt zu Landbewohnern aufnehmen? Die alltäglichsten Dinge würden neu und wunderbar für sie sein und vieles würde ihnen Angst machen.
„So geht es den Iren in England“, hatte Elizabeth gesagt, noch bevor sie in England angekommen waren.
Aber vielleicht ging es den Engländern auch so mit der Zukunft, dem Fortschritt, dem Wandel, der innerhalb des letzten Jahrhunderts die komplette Gesellschaft verändert hatte. War England nicht auch einst ein Land der Bauern und freien Arbeiter gewesen. Jetzt war es ein Land der Fabrik-, der Minen- und Stahlarbeiter. Niemand wusste, wohin diese Zukunft führen würde, aber es war DIE Zukunft, die einzige, die unausweichliche, die fortschrittliche.
Wir können nicht wirklich etwas verändern, dachte Christopher. Die Welt verändert sich und wir werden mitgerissen. Das einzige, was wir tun können, ist, versuchen nicht unterzugehen. Wir können uns aneinander festkrallen oder einander wegstoßen. Wir können einander oben halten oder herunter ziehen. Den Strom aber interessiert es nicht, ob wir als Schiffbrüchige oder als Leichen mit schwimmen. Und wenn es einen Strudel gibt, so ist es der Zeit, dem Wandel oder wie man es nennen mag, egal, wer darin zugrunde geht. Sicher ist lediglich, dass es Opfer geben wird. Irgendjemand muss immer dran glauben.
Was für ein schönes Bild. Der Mahlstrom. Der Kanal, der sich durch das Land zog, wie eine Wunde, aus der die Kraft der Arbeiter heraus blutete. Eine Region am Rande der Erschöpfung. Aber was zählte körperliches Aufreiben, wenn eine Steigerung der Produktivität winkte? Die Erwartungen wurde im gleichen Maße höher, wie die Produktion schneller und die Arbeit leichter wurde, sodass der Stress nie nachließ.
Christopher war nicht gegen den Kanal. Es hatte keinen Sinn sich gegen etwas zu stellen, das man nicht verhindert konnte. Der Kanal war wie das Altern, das Verrinnen der Zeit. Man konnte den Fortschritt nicht aufhalten. Was möglich war, wurde gemacht, das lag in der Natur des Menschen. Das war die Grundlage jeder Menge Schauerromane und die Basis, auf der Kunst überhaupt ermöglicht wurde. Es war aber auch Quelle der Hoffnung. Irgendwann würde jemand das Experiment wagen und vielleicht hätte eine irische Republik die Chance, in einer fortschrittlichen Zukunft zu überleben. Oder aber die Zukunft würde auch diesen Fortschritt eines Tages hinwegfegen.
Christopher fragte sich, ob die ganze Idee des Fortschritts nicht Augenwischerei war. Vielleicht würde die Zukunft mehr Freiheit und Gerechtigkeit bringen, aber wer sagte, dass das Pendel nicht auch wieder zurückschwingen würde? Es gab kein Ende der Geschichte. Irgendjemand würde gute Ideen immer wieder in den Dreck ziehen und zu seinem persönlichen Vorteil ausnutzen, bis sich herausstellte, dass es von Anfang an keine guten Ideen gewesen waren. Das Ende der Geschichte würde erst erreicht sein, wenn alle Menschen davon überzeugt waren, dass es so etwas wie gute Ideen überhaupt nicht gab und man lediglich das Schlechte in der Welt eindämmen könnte, das Gute aber niemals erreichen würde. Auf ein Jahrhundert der Gängelei, des Misstrauens und der harten Arbeit würde ein Jahrhundert der Freiheit und des Müßiggangs folgen, glaubte Christopher, aber was folgte wiederum darauf? Moralischer, geistiger und materieller Verfall? Und dann? Brauchte man dann nicht doch wieder einen König?
Es ändert sich nichts, dachte er. So lange die Mädchen davon träumen, geheiratet zu werden und die Jungen davon, groß rauszukommen. Er warf einen verstohlenen Blick in Richtung Rebecca und sagte sich: „Nein, du bist nicht die neue Frau, du bist eine Anomalie, die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Du träumst vielleicht von anderen Dingen, aber es sind Dinge, die nie in Erfüllung gehen werden. Du bist nicht bescheiden genug, um glücklich zu werden. In deinen Augen lebt keine Tugend – nicht mal geheuchelte -, sondern Brutalität. Du machst dir die Hände schmutzig, weil irgendjemand es tun muss und du dich nicht um deine Seele sorgst. Du hast dich selbst ausgesperrt und blickst nun von außen auf die Welt – einerseits voller Abscheu, andererseits fasziniert und wahrscheinlich sogar sehnsüchtig. Wärst du nicht gerne wie sie? Zufrieden mit den kleinen Dingen, den Dingen, die als gut und moralisch erachtet werden? Man hat so viel weniger Scherereien, wenn man tut, was von einem erwartet wird. Manche passen sogar ihre Träume an.“
„Frauen“, sagte Brian, „sind zu schade für diese Welt. Sie sollten erst anfangen zu existieren, wenn wir hier alles in Ordnung gebracht haben.“
„Vielleicht haben wir ja erst die Unordnung verursacht“, murmelte Christopher, in den Dampf des heißen Tees, der von der Tasse aufstieg, die ihm die Hände wärmte. Er war kein Morgenmensch und hasste Brians allmorgendliche Anwandlungen von chronischer Philosophie. Dieser Mann schien nie müde oder erschöpft zu sein. Er redete von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und im Schlaf vermutlich ebenfalls.
Vermutlich ist er deshalb immer als erster hier, dachte Christopher, seine Frau hat ihn rausgeschmissen und er muss im Stall schlafen.
Tatsächlich gab es in der kleinen Kammer der Stallarbeiter alles, was ein Mann zum Überleben brauchte: Einen Tisch, drei Stühle, einen Rasierspiegel an der Wand, einen kleinen Kamin und einen verbeulten Teekessel. Von den anderen Arbeitern der Fabrik unterschieden sich die drei Männer hier dadurch, dass ihr Arbeitsrhythmus nicht durch das Rotieren von Maschinen und das Ticken der Uhr bestimmt wurde, sondern durch den Willen oder Unwillen der Pferde, die sich nicht an vorgeschriebene Arbeitszeiten hielten. Das gab Brian, Christopher und David die Möglichkeit, die dunklen Wintermorgen, wenn die Pferde länger brauchten, um wach zu werden, ruhig anzugehen und erst einmal zu frühstücken.
Während Brian redete, schmollte Christopher für gewöhnlich, aber David, der naive Stalljunge, hörte mit eifriger Neugier zu, als hielte er den alten Hochstapler für den Papst persönlich. Das missfiel Christopher, denn Brian, der eigentlich nichts von dem, was er sagte, wirklich ernst meinte, merkte nicht, was für einen großen und schädlichen Einfluss er auf das Gemüt den Jungen hatte. Irgendwann würde er ein unangenehmes Gespräch mit ihm darüber führen müssen, aber nicht heute, nicht zu so früher Stunde und überhaupt ging es ihn nichts an.
„Und deshalb sind die Wesen, die wir heute Frauen nennen eigentlich nur die Vorstufen zu dem, was sie irgendwann sein werden, wenn wir geworden sein werden, was wir sein können.“
„Du hörst dich an wie ein durchgedrehter Straßenprediger“, knurrte Christopher und das war ein Fehler, denn nun wusste Brian, dass ihm jemand zuhörte.
Sofort fuhr er mit noch mehr Enthusiasmus fort: „Es sind die Visionäre, die die Welt verändern, nicht die Angsthasen und wenn wir es nicht sind, die aufwachen, werden es die Frauen sein und dann gnade uns Gott. Für die Männer ist die Welt verloren, sobald die Mädchen nicht mehr davon träumen, geliebt und geheiratet zu werden. Und ihr Schlaf ist leicht und er wird immer leichter, während wir Männer gar nicht realisieren, dass wir ebenfalls nur Träumen hinterherjagen. Die Frauen wissen, dass ein Abschied von Wünschen und Träumen einer Befreiung gleichkommt. Nur wir glauben, dass es eine Ernüchterung darstellen würde. Wir suhlen uns in unserer Hoffnung, als wäre sie kein Elend, sondern eine besondere Auszeichnung. Männer haben doch in dieser Welt nichts erreicht, mit dem sie nicht die holde Weiblichkeit hätten beeindrucken wollen. Ohne die Frauen – nein, ohne die Vision der Frauen – gäbe es keine Kultur, keine Kunst, keine Sitten, keine Moral. Es gäbe nichts als schmutzige Witze und mottenzerfressene Socken. Wir sind die Werkzeuge. Wir sind ihnen vollkommen ausgeliefert.“
„Brian, hast du die letzte Nacht mit deiner verrückten Konkubine verbracht? Hat sie dir diesen Schwachsinn in den Kopf gesetzt?“
„Oh, blinder, naiver Christopher“, belächelte Brian seinen Kollegen, „Unterschätze nicht die Klugheit der Frauen. Wo immer sie ihre Finger im Spiel haben, herrschen Harmonie und Vernunft. Wo aber der Mann seine Männlichkeit auslebt, da herrschen Krieg, Chaos und Verheerung.“
„Du bist also für die Einführung des Matriarchats?“, fragte Christopher, „So kann nur ein Mann denken, der die Frauen nicht kennt. Sie sind genauso verdorben wie wir, glaub mir. Nicht, dass mich das stören würde. Ich begrüße es.“
„Die Frauen sind verdorben vom männlichen Geist, unter dem sie leben müssen“, behauptete Brian.
„Also ich kenne Frauen, die dir für diese Aussage eine scheuern würden.“
„So?“
„Du versuchst doch nur, dich bei ihnen einzuschmeicheln. Gib es zu. Wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, deine Freundin hat dich mal wieder verlassen und du suchst nach einem Weg, sie zu besänftigen. Verdorben vom männlichen Geist… Hörst du dir eigentlich selbst zu? Frauen leben, wenn schon, unter dem Geist der Klassengesellschaft. Dein Problem, Brian, ist, dass du außer dir selbst keinen Menschen verstehst und leider niemand so tickt wie du.“
„Das ist der Unterschied zwischen uns, Christopher, mein Freund: Du kannst dir nicht vorstellen, dass du verloren bist, ich hingegen akzeptiere es. Ich bin ein Realist, du bist ein Romantiker.“
„Ich?“, rief Christopher amüsiert aus, „Ich bin ein Romantiker? Und du bist ein realistischer Visionär? Bist du sicher, dass du da nichts in den Tee hinein getan hast, das da nicht hineingehört?“
„Alles, was ich in meinen Tee mache, gehört dort hinein“, meinte Brian knapp und nahm demonstrativ einen Schluck, „Das Problem bei euch Romantikern ist, dass ihr die Wahrheit liebt, aber die Lüge hofiert, weil ihr das, was ihr liebt ebenso fürchtete. Ich hingegen fürchte mich nicht vor der kühlen und schonungslosen Erkenntnis, dass diese Gesellschaftsordnung verdammt ist.“
„Zumindest ist deine Radikalität bewundernswert“, bemerkte Christopher.
„Radikalität ist, was unser Überleben sichern wird. Deine Melancholie wird dich hingegen nicht weiterbringen. In ihr wirst du versinken. Die Gegenwart ist ein Sumpf, du musst strampeln, um herauszukommen. Du hättest Dichter werden sollen, Christopher, da gehört Melancholie zu den Verkaufsargumenten. Wer mit seinem Weltschmerz Geld verdienen will, muss Dichter werden, nicht Baumwollfahrer. Und du wärst ein guter Dichter“, Brian klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter, „Dich würden die Frauen anhimmeln, weil Frauen immer die anhimmeln, die nichts von dieser Anhimmelei wissen wollen. Gute Strategie. Benutz sie als Muse, aber lass sie dich niemals glücklich machen. Frauen sind dazu da, Männer unglücklich zu machen, denn nur das Unglück der Männer ist der Wegbereiter des Fortschritts. Ohne unser Unglück keine Kultur und ohne Frauen keine Unglück. Ja, den Dichtern gehört die Zukunft. Gedichte sind stärker als Bilder. Bilder sind immer zu einem gewissen Grad Lügen, weil sie Posen zeigen, oder die Dinge, die ihrer Aussage entgegenstehen einfach wegschneiden. Sie sind Diskussionen ohne Gegenrede. Worte hingegen sind die Anti-Pose. Sie sind der Kern von allem. Pure, reine Sprache: Der Stoff, aus dem Ideen sind und sie bergen in sich bereits ihr Gegenteil. So wie jeder Mensch in sich selbst seinen Widerspruch trägt.“
„Nun ist es aber genug, Brian“, meinte Christopher, „Bist du Karrenlenker oder Philosoph?“
Brian grinst: „Ich bin beides. Das ist ja, was ich meinte. In jedem Arbeiter steckt ein Intellektueller. So viele Menschen. So viele Gedanken. So viele Gefühle. Wollten wir sie alle kennen und verstehen lernen, würde uns der Schädel platzen.“
„Ach?“
„Das ist der Grund für alle Übel der Welt, Christopher. Wir sind zu schwach für all die Empathie, die wir aufbringen müssten, um gerecht sein zu können. Also sind wir lieber grausam und gleichgültig.“
„Düstere Aussichten, was?“ rief Christopher David zu, um den Bann zu brechen, den Brian aufzubauen im Begriff war. Der Junge sollte nicht anfangen, diesen Quatsch für hochgeistige Erkenntnisse zu halten. Nichts ist gefährlicher als ungebildet zu sein, dachte er. Denn: Wer ungebildet ist, kann nicht zwischen Ernsthaftigkeit und Spaß unterscheiden, erkennt weder Wahrhaftigkeit, noch Verführung. Sie glauben entweder alles oder nichts.
Als Christopher wenig später seien Karren durch den morgendlichen Nebel lenkte, dachte er daran, dass ihm innerhalb von wenigen Stunden gleich zwei Personen unabhängig voneinander damit aufzogen, dass er etwas von einem Dichter habe.
Er scheiterte daran, so zu tun, als wüsste er nicht, wie sie darauf kamen und gestand sich schließlich ein, dass ihm die Vorstellung gefiel, in einer einsamen Blockhütte an der Küste zu wohnen und das raue Klima in Versen festzuhalten. Er würde das Salz in der Luft schmecken und nicht bloß die Abgase der Fabriken. Die Landschaft wäre überzogen von einem Film frischen Taus und nicht von der braunen, klebrigen Schmiere der Stadt. Er hatte etwas übrig für wild-romantische Kulissen und als ehemaliger Stadtbewohner würde er genau wissen, wonach sich die Bevölkerung sehnte, wenn sie es wagte, sich aus ihrem tristen Alltag hinweg zu träumen.
Tragische Liebesgeschichten, leidenschaftliche Charaktere, ungestüme Dialoge… Sowas verkaufte sich. Und er würde etwas Gutes tun. Er würde so mancher vom Leben gebeutelten Frau ein paar schöne Augenblicke vor dem Schlafengehen schenken.
Er stellte sich sein Dichterdasein so lebendig vor, dass ihm die ersten Verse ohne groß nachzudenken zuflogen:
„Oh Cathy, unglücksel’ges Weib
Lebst in gar unbequemer Zeit
Kein Geld, kein Mann an deiner Seit‘
Der mit dir Haus und Schlafstatt teilt“
Cathy war Brians Freundin und nach allem, was man hörte, tatsächlich in letzter Zeit vom Pech verfolgt. Seit sie für den Strich endgültig zu hässlich geworden war, lebte sie von Almosen und der Hoffnung, Brian würde sie endlich fragen, ob sie ihn heiraten wolle. Der jedoch machte keine Anstalten. Aus Furcht vor Verantwortung, argwöhnte Christopher, oder weil er einfach nicht wusste, was sie gehörte.
Cathys Problem war, dass sie es nicht auf die Reihe bekam, sich sauber zu halten und deshalb ständig mit Hautkrankheiten zu kämpfen hatte und seit es finanziell mit ihr bergabgegangen war, war es umso schlimmer geworden. Sie hing in einem Teufelskreis fest. Sie war verwahrlost, weil sie kein Geld hatte und sie konnte kein Geld verdienen, weil sie verwahrlost war. Auch war sie nicht zum Arbeiten geboren, die konnte nichts, war ungeschickt und flatterhaft. Nicht die hellste Kerze im Kronleuchter, sagten die Leute. Ein bisschen einfältig, aber leider eben auch nicht nett. Alles in allem eher abstoßend. Ein menschgewordenes Ärgernis.
Was also wollte Brian von ihr? Er könnte mit Sicherheit eine bessere Frau haben, dachte sich Christopher. Vielleicht blieb er aus Mitleid, vielleicht sah er auch etwas in ihr, das niemand sonst sehen konnte.
So, wie er etwas abseits ihrer furchteinflößenden Aura in Rebecca sehen konnte, oder in den Pferden, die für ihn mehr waren als Arbeitswerkzeuge. Christopher hatte etwas übrig für Pferde. Sie konnten nichts für das, was die Menschen mit ihnen machten. Sie waren wie Kinder hilflos, aber wie Riesen stark. Nur dass sie es nicht wussten und daher ausgenutzt wurden. Wenn Christopher einem Pferd über die Stirn strich, dann fühlte er darunter die Fragen, die da lauteten: Wo bin ich? Was mache ich hier? Was willst du von mir? Hilfst du mir oder schlägst du mich? Warum schlägst du mich? Was ist das für ein seltsames Leben?
Pferde waren ohne Zweifel die Philosophen unter den Tieren, die man davon abhalten wollte, nachzudenken, indem man ihnen keine Zeit dafür ließ. Der Mensch hat Angst vor großen Köpfen, sagte Christopher hin und wieder zu den vielen Arbeitspferden in der Stadt, als schulde er ihnen eine Erklärung.
Alles in allem war es eine gute Arbeit. Er war an der frischen Luft, er sah etwas von der Stadt, er traf Leute und ihm saß kein Vorarbeiter im Nacken. Zugegeben, im Winter war es kalt und wenn es regnete oder schneite wünschte er sich, er könnte seinen Karren einfach im Graben stehen lassen und nach Hause gehen – bei vollem Lohnausgleich natürlich. Aber solche Gedanken hatte jeder Arbeiter und sie waren kein Zeichen besonderer Überlastung oder übermäßigen Leidens. Jedem Menschen widerstrebte im Grunde jede Form von Arbeit, es war nichts Besonderes, sie manchmal zu hassen. Viel mehr freute Christopher sich, dass er sie nicht ununterbrochen hassen musste, wie die meisten Leute, die in den Slums lebten.
Es war eine Lüge, die sich hartnäckig im Bewusstsein der Schreiberlinge in der Fleet Street hielt, dass Menschen, die im Slum lebten, nicht wahrnahmen, dass sie am unteren Ende der Nahrungskette vegetierten. Es war sicherlich eine komfortable Behauptung, die es einem erleichterte, nicht weiter nachzuforschen, aber es war eine Lüge. Die Menschen spüren Schmerz, selbst wenn sie nie eine Annehmlichkeit gekannt haben. Die Menschen kennen Trauer, selbst wenn sie nie Freude erlebt haben. Unwohlsein ist ein Zustand, der nicht unbemerkt bleibt, auch wenn man in ihn hineingeboren wird. So wie eine Krankheit immer eine Krankheit ist, auch wenn man sie nicht entdeckt, so wie sie den Tod bringt, auch wenn kein Arzt sie je diagnostiziert hat, so wirkt sich die Armut auf das Gemüt der Menschen aus. Und wo es Armut gibt, da haben es die Ausbeuter leicht.
Es ist ziemlich kompliziert, dachte Christopher. Die Leute kommen hier her, weil sie arm sind. Aber sie bleiben arm. Was wäre, wenn sie nicht gekommen wären? Wie viele Stufen der Armut lagen zwischen einer Hungersnot und dem Tragen ausgebesserter Kleidung? Und konnte man je etwas besseres erwarten, als zumindest nicht zu verhungern?
Es gibt zu viele Menschen auf der Welt, dachte Christopher manchmal und fürchtete dann, zu denjenigen zu gehören, die bald überflüssig sein würden. Zu viele Menschen für zu wenig Arbeit, zu wenig Ressourcen für zu viele Mäuler, die man stopfen muss. Zu viele Kinder, zu viele Kranke, zu viele Alte, zu viele Krüppel, zu viele Verrückte und zu wenig Reiche, um all diese Abhängigen und Nutzlosen zu versorgen. Zu wenig in den Taschen derer, die arbeiten konnten, als dass sie versorgen konnten, wen sie liebgewonnen hatten. Es gab zu viele Menschen, die man liebte und um die man sich sorgte und die man nicht unterstützen konnte, weil es zu viele andere Menschen gab, die die Unterstützung dringender brauchten.
Christophers Mutter, die die karge, grüne Weite des irischen Moors in ihrem Herzen einfach nicht verdrängen konnte, hatte sich nicht wohlgefühlt in der dunklen Stadt mit all ihrem toten Holz, den unnatürlichen Schatten und den Gerüchen, die ihr empfindliches Riechorgan täglich neuen Herausforderungen aussetzten. (Es war nämlich eine Fehlinformation, dass die Landluft schlecht roch. Die Exkrementen, der Schweiß und die Fäulnis lagen wie eine Dunstglocke über der Stadt und krochen in jeden Winkel, wo sie sich hartnäckig hielten, weil die Luft nicht abzog und der Regen die Gerüche als Schmierfilm an Häuserwände und Gehsteige klebte.) Christophers Mutter also konnte sich einfach nicht an das Stadtleben gewöhnen. Sie vermisste die Dunkelheit der Nacht und die Stille. Sie vermisste, dass sie alle Menschen mit Namen kannte, die ihr auf der Straße begegneten und sie vermisste es, mit der ganzen Familie, also auch ihren Eltern, an einem Tisch zu sitzen und zu essen. Manchmal waren ihre Eintöpfe angebrannt. Manchmal schmeckte das Brot fad, weil kein Salz darin war, aber es war wenigstens nicht der Abfall anderer Leute, der einem vorgesetzt wurde. Hier in England behandelte man die Iren nicht besser als die Ratten und wesentlich schlechter als die Schwäne.
Wenn die Leute, die bereits furchtbar arm sind, nun aber gezwungen sind, in die Slums der Städte zu ziehen, weil sie, um zu überleben, arbeiten müssen, welchen Sinn hat dann noch das Leben? Jeder dieser Menschen, jeder von Christophers Nachbarn wusste, dass er es zu nichts jemals bringen würde, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, jung und sinnlos bei einem Unfall zu sterben oder sich eine Krankheit einzufangen, die nur dort grassieren konnte, wo Menschen zu eng beieinander wohnten. Wieso also unternahmen sie nichts dagegen? Aus Erschöpfung oder Phantasielosigkeit? Zufriedenheit konnte es jedenfalls nicht sein. Egal, was die konservativen Blätter schrieben, Christopher hatte noch niemals einen wahrhaft zufriedenen Menschen gesehen.
Er hatte Dublin, Liverpool und Manchester gesehen und sich seit dem gefragt, ob es so etwas wie ein lebenswertes Leben überhaupt gab. Die Frage keimte heute noch hin und wieder in ihm auf, obwohl er eigentlich längst wusste, dass es natürlich lebenswerte Leben gab, er aber niemals zu denen gehören würde, die eines führen würden.
Christopher begnügte sich mit den kleinen Triumphen des Alltags. Er hielt sich zum Beispiel für den besten Fahrer von ganz Manchester. Das allein sagte natürlich nicht viel aus, denn ein jeder Kutscher, der dafür sorgen konnte, dass ihm die Tiere nicht pausenlos durchgingen, hielt sich für die Wiedergeburt eines römischen Champion, dem es gebührte, dass der ganze Circus Maximus im zujubelte. Aber Christopher rühmte sich nicht mit Schnelligkeit oder Furchtlosigkeit, sondern damit, seine Fracht ohne die üblichen Verschleißerscheinungen an Pferden, Karren und Waren an ihr Ziel zu bugsieren. Er drängelte nicht. Er verschätzte sich nie. Er kalkulierte scharf, ging aber keine Risiken ein. Er fluchte nicht und beschimpfte die anderen Verkehrsteilnehmer nur selten und nicht allzu derbe. Er hielt sich nicht auf mit Streitigkeiten, sondern wuselte sich unauffällig, aber geschickt durch das Chaos der vollkommen überlasteten Straßen. Das Wagenführen erforderte Eleganz, das war es, was die meisten dieser Rüpel nicht verstanden. Eleganz, denn die Pferde waren elegante Tiere, keine rüpelhaften. Man konnte sie entweder zum Ziel prügeln oder man konnte dafür sorgen, dass sie selber zum Ziel laufen wollten. Zweiteres war bei Weitem weniger nervenaufreibend und vor allem ästhetischer.
Oh, Christopher war ein Ästhet. Da war dieser Charakterzug schon wieder. Ein Schöngeist, ein Dichter, ein Philosoph und doch bestand sein Leben nicht darin, tiefgründige Gedanken für die Nachwelt festzuhalten, sondern darin, Stoffballen von A nach B zu transportieren, irgendwie der nordenglischen Kälte zu trotzen und mit etwas Glück, dem verrußten Sonnenaufgang etwas Schönes abzugewinnen.
Ich lebe ein altes Leben, dachte er, etwas das sterben und nie zurückkehren wird. Sie stehlen uns nicht unser Brot oder unsere Kraft. Sie stehlen uns unsere Zeit. Wie viele Jahre wird es wohl noch dauern, ehe sie den Sonnenaufgang wegrationalisiert haben? Jede Minute, die wir untätig sind, die wir in uns ruhen und aus uns stille Bewunderung für die heiligen und profanen nutzlosen Dinge schöpfen, ist eine verlorene, vergeudete Minute. Es soll Geld geschöpft werden, nicht Muße. Der Nutzen soll optimiert werden, nicht der Friede mit sich und mit anderen.
Es ist eine alte Vorstellung, dass das Leben eine Erfahrung ist. Heute ist es ein Faktor in einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Christopher gestand sich nicht ein, was er wirklich befürchtete, es gefiel im besser, wehmütig zurückzublicken, als verunsichert der Zukunft ins Gesicht zu schauen. In der Wehmut liegt durchaus Verblendung und in der Verblendung die Gefahr des Wahnsinns. Christopher fürchtete weder den Wahn, noch das Vermissen, solange er sie als solche erkennen konnte. Er spielte damit, wie ein Dichter mit Worten spielt.
Vermissen ist ein schweres, tiefes Wort, das in jeder irischen Seele seinen Platz hat wie das Rosenkranzgebet oder das Spiel auf der Tinwhistle. Niemand würde wirklich zugeben, dass er das alte, elende, verregnete, stürmische, unfruchtbare Land vermisste, aber nachdem sie die Welt gesehen haben, wissen die meisten Iren, dass es zu Hause doch am schönsten ist – was nicht gerade für den Rest der Welt sprach…
Christopher fürchtete diese Wirklichkeit, diese ungeschönte Wahrheit und ihre Folgen, die er nicht zu beeinflussen vermochte, mehr als das, was er sich selbst vormachte, verloren zu haben. Er brauchte die Vorstellung der Kontrolle über sein Leben, er brauchte das Gefühl, sich einerseits etwas vormachen zu können, andererseits aber genau zu wissen, dass er nie besessen hatte, was er betrauert. Das war Macht. Zu bedauern und gleichzeitig zu wissen, dass es nicht nötig war, daran zu zerbrechen. Ein Schicksal, das man wie einen Schild tragen konnte, ohne dass es einen wirklich belastete. Ein Lied, das man singen konnte, ohne dass jedes Wort darin wahr war.
In der Lüge liegt größere Schönheit als in der Wahrheit, das ist das Gift, dass der Teufel in die Welt gebracht hat, dachte Christopher. Und doch wollte er sie um keinen Preis der Welt eintauschen gegen die spröde, gnadenlose, kaltherzige Wirklichkeit, die im Takt der Sekundenzeiger voranschritt und keine Zeit zum Atmen, Nachdenken oder Träumen ließ. Vielleicht träumten deshalb so viele davon, die Uhren zu zerstören.
Rebecca sagte oft Sätze wie: „Ich wünschte, ich könnte mein Leben planen. Ich wünschte, ich wüsste heute Abend, was ich morgen tun werden.“ Sie lebte in ständiger Anspannung, ständiger Ungewissheit und um ehrlich zu sein auch in ständiger Furcht. Ihre Existenz hing immerhin vom wankelmütigen Wohlwollen ihrer Mitmenschen ab.
Christopher hingegen wünschte sich etwas mehr Unberechenbarkeit. Das hieß, er wünschte sich mehr von dem, was er für Unberechenbarkeit hielt: Angenehme Überraschungen.
Seiner Ansicht nach hatte er in seinem Leben seinen Anteil an unangenehmen Wendungen bereits hinter sich und war nun bereit für die süßen Seiten des Lebens. Stattdessen sah er sich gefangen in einer sich ewig wiederholenden Routine: Nicht sehr nervenaufreibend, aber auch nicht sehr befriedigend. Er lebte ein fast bourgeoises Leben, wenn nur der Schmutz und das frühe Aufstehen nicht wären. Trotzdem wusste er, dass es ihm immer noch besser ging, als den meisten. Arbeitslosen Vätern, die eine Frau und sieben Kinder zu versorgen hatten zum Beispiel oder Iren, die Irland nie gesehen hatten und Salford für eine Blaupause der gesamten Welt hielten. Sie waren wurzellos und ausgestoßen, gehörten nirgendwo hin und wussten nichts von dem Ort, von dem ihnen eingeredet wurde, dass sie sich dorthin zurück scheren sollten.
Manchmal, wenn Christopher nach seiner Schicht an den Kanälen und Baustellen entlang spazierte, sah er die Schwäne und beneidete sie einerseits um ihre Grazie und andererseits um ihren Müßiggang. Sie sähen nicht, sie ernten nicht, dachte er, und die Königin ernährt sie doch.
Und manchmal wenn er den Schwänen ein paar Krümel hinwarf, traf er einen Bekannten, einen Freund oder einen, der gehört hatte, dass er einen großen Blonden am Kanalufer aufsuchen und ansprechen sollte. Dann gingen sie ein Stück gemeinsam und unterhielten sich.
Und wenn er in genügend melancholischer Stimmung war, sagte Christopher schließlich: „Wir wären alle besser dran, wenn wir uns einfach nach Amerika absetzen würden. Ich weiß nicht, wieso wir uns das hier überhaupt antun.“
„Weil es irgendjemandem angetan werden muss, damit das System funktioniert. Und glaub mir, drüben haben sie das gleiche System, nur dass sie ihren König selbst wählen.“
Und Christopher schwieg.
Heute aber ging er nicht zu den Kanälen. Er hatte den Schwänen gegenüber ein zu schlechtes Gewissen. Gestern Nacht wollte er sie noch umbringen, da konnte er ihnen doch heute nicht scheinheilig die Reste seiner Pausenmahlzeit überlassen. Außerdem war das Wetter zu schlecht. Ein fieser Sprühregen hatte ihm im Laufe des Tages die Kleider bis auf die Haut durchnässt und selbst Schnee und Glatteis wären angenehmere Bedingungen gewesen, um draußen unterwegs zu sein.
Während er auf dem Karren saß, konnte Christopher es meist ertragen, wenn ihm Wind und Kälte ins Gesicht schlugen. Er spürte sie kaum, wenn er sich konzentrieren musste. Aber sobald er alle seine Lieferungen beendet hatte, wurde er sich wieder gewahr darüber, dass er auch einen Körper besaß.
Er trottete nach Hause, nachdem er die Pferde versorgt und David einen schönen Abend gewünscht hatte. Brian war noch nicht wieder zurück und wahrscheinlich mitsamt seinem Karren irgendwo versackt. Christopher machte sich keine Sorgen, dass er ihn morgen zerlumpt und gesprächig wie eh und je im Stall antreffen würde.
Jeden Tag musste er gut drei Meilen von Hulme bis nach Salford und wieder zurück laufen und er wünschte sich, endlich genug Geld für ein Fahrrad zurücklegen zu können. Aber es kam immer etwas dazwischen. Das war einer der Nachteile, die sein Umzug zu Rebecca mit sich gebracht hatten. Als die Familie noch eine Familie gewesen war und sie alle zusammen in Salford gewohnt hatten, konnte er seinen Weg zu und von der Arbeit in ein paar Minuten zurücklegen. Jetzt lebte nur noch sein Vater in dem alten, baufälligen Häuschen, das so unpersönlich war, dass es seinen Bewohnern jegliche Individualität aussaugte. In all den Jahren war es niemanden in diesem Slum gelungen, der Gegend Charakter zu verleihen. Charakter war nicht gefragt. Charakter war nicht notwendig.
Nachdem Jonathan fortgezogen war, besuchte Christopher seinen Vater wieder regelmäßiger und stellte fest, dass er herunter kam. Der Alte weigerte sich stur, auch nur einen Handschlag an Hausarbeiten zu erledigen, weil er dies als Frauenarbeit erachtete. Dabei ignorierte er jedoch stur, dass es in seinem Haushalt keine Frau mehr gab.
Ihre Beziehung war nicht leicht. Christophers Vater bevorzugte seinen erstgeborenen Sohn Jonathan und er verabscheute „das Weib mit dem sein Sohn zusammenlebte, diese Hexe“. Trotzdem fühlte Christopher sich verantwortlich dafür, dass sein Vater nicht vollständig verwahrloste.
„Mutter hätte es soweit nicht kommen lassen“, sagte er, wenn er den Nachttopf ausleerte oder verschimmelte Essensreste von nicht gespültem Geschirr kratzte. Aber er bekam nie eine Antwort. Sein Vater weigerte sich beharrlich vom Tod zu sprechen, als könnte die Erwähnung von Menschen, die ihm einst etwas bedeutet hatten, ihn noch mal verletzen.
Wenn er sich beeilte, schaffte Christopher seinen Besuch und das Aufräumen der kleinen Wohnung in zwanzig Minuten und wenn er dann schnell ging, war er in weniger als einer Stunde und noch vor Sonnenuntergang zu Hause bei Rebecca.
Sie bewohnte eines der modernen Reihenhäuser, die Rücken an Rücken gebaut waren. Ihre Haustür ging nach Hinten zum Hof, sodass sie den besten Zugang zum Waschhaus hatte und ihre Adresse von der Hauptstraße aus schwieriger zu erreichen und einzusehen war. Den Hof und das Waschhaus teilte sie sich mit sechs weiteren Familien, aber alle hatten Verständnis dafür, dass Rebecca das saubere Wasser am nötigsten brauchte – ein Privileg, das sie nur manchmal eigennützig in Anspruch nahm. Die Hexe wird zwar nicht gemocht, aber so lange respektiert, wie sie sich um die unangenehmen Angelegenheiten kümmerte.
Üblicherweise kam Christopher nach Hause und Rebecca erwartete ihn mit einer dampfenden Tasse Tee und einer Mahlzeit, die meinst aus einer Scheibe Schwarzbrot mit Schmalz bestand. Er konnte es ihr nicht übel nehmen. Sie meinte es gut und sie hatte sicher mehr Ahnung von gesunder und nahrhafter Ernährung als er, aber er hasste Schwarzbrot.
Sein Vater hatte immer gesagt: „Ich habe nicht meine Heimat verlassen, um in England wie ein Bettler zu leben! Wer arbeitet, muss etwas besseres bekommen als ein Faulpelz! Gebt mir Essen, das nach etwas schmeckt!“ und Christopher lebte nach der gleichen Devise: Wer sich abrackerte, hatte ein Recht auf Weißbrot und Zucker in seinem Tee. Irgendwo musste es schließlich einen Unterschied geben zwischen den Fleißigen und den anderen…
Rebecca verstand oder hielt nichts von diesem Gedanken. Sie sagte: „Gerade wer arbeitet, muss etwas ordentliches zu sich nehmen!“ und sie backte unerbittlich ihr säuerliches Schwarzbrot, das Christopher am Ende des Tages meist in den Kanal warf, um dort die Enten und Schwäne zu mästen.
Irgendeinen Unterschied musste es doch geben. Wenn alle das gleiche haben und bekommen, wieso sollte man sich dann überhaupt anstrengen? Es konnte doch nicht sein, dass der Arbeiter, der das Rückgrat dieser Gesellschaft war, gleichzeitig auch ihren Bodensatz darstellte, der saures Brot und bitteren Tee vorgesetzt bekam?
Dummerweise hatte Christopher sich die einzige Frau auf der Welt zur Freundin genommen, für die es absolut keine Unterschiede gab. „Sie weinen, schreien und bluten alle gleich“, sagte Rebecca, „Aber denen, die ihr Gemüse essen, verfaulen die Zähne nicht so schnell.“ Das stimmte leider. „Kalziummangel“, erklärte Rebecca, „und zu viele Schwangerschaften.“
Die allgemein anerkannte Meinung zu Zähnen stand hingegen im krassen Gegensatz dazu. Sie lautete: „Besser, wenn die lästigen Dinger raus sind.“ Oder – in etwas abgeschwächter Form: „Mit jedem verlorenen Zahn gewinnt man an Persönlichkeit!“ Als wären Schönheit und Ästhetik die Feinde des Charakters… Christopher schwieg dazu. Er war mit solchen Weisheiten aufgewachsen, konnte sie heute aber weder verteidigen, noch ganz von sich weisen. Rebecca war die Wissenschaftlerin, er war der Handlanger.
Es gab eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihr und ihm: Wenn er nach Hause kam, waren nach Möglichkeit keine Patientinnen mehr im Haus. Christopher wollte nicht in die Verlegenheit kommen, fremden Frauen in verfänglichen, intimen und peinlichen Situationen zu begegnen und Rebecca schätzte ihre freien Abende, die sie mit Brotbacken und Kochen verbringen konnte.
Als Christopher heute jedoch in den Hinterhof ihres Blocks eintrat überkam ihn eine vage Vorahnung, dass hier etwas nicht stimmte. Später argwöhnte er, dass er im Augenwinkel einen unbewussten Blick ins Waschhaus geworfen haben musste. Dort nämlich stapelte sich ungewaschenes Bettzeug, das an dieser Stelle und zu dieser Zeit normalerweise nichts zu suchen hatte. Und weil nur Rebecca eine solche Menge an Bettzeug überhaupt besaß, musste sie es gewesen sein, die keine Gelegenheit zum Waschen gehabt hatte.
Sein ungutes Gefühl bestätigte sich, als er ins Wohnzimmer eintrat und dort nicht einen Teller und den verhassten Laib Schwarzbrot vorfand, sondern Brian und eine Flasche Whiskey.
„Hier, setz dich!“, sagte er und bot Christopher die Flasche an.
Christopher blieb stehen und blickte ihn eine Weile fragend an, weil ihm keine Formulierung einfiel, wie er die Frage, was Brian hier mache, stellen konnte, ohne vorwurfsvoll zu klingen.
„Ich hab William den Karren überlassen. Er will nur kurz ein paar Möbel abholen bis er wieder hier ist, müssten wir hier fertig sein.“
„Was ist denn los?“, fragte Christopher.
„Es hat sich halt ergeben, dass William den Karren gebraucht hat und ich war gerade hier.“
„Nein, ich meine, warum bist du hier? Doch nicht nur, um William den Karren und die Pferde aus der Fabrik zu leihen?“
„Nein, natürlich nicht. Das hat sich nur so ergeben.“
Brian stand ganz schön neben sich und das lag mit Sicherheit am Alkohol. Wollte er in dem Zustand die Pferde zurück in den Stall bringen?
„Wenn William zurückkommt, überlass den Karren mir“, schlug Christopher vor, „Du kannst doch in der Verfassung die Tiere nicht mehr versorgen.“
„Weißt du, Christopher, wir alle sind Produkt unserer Umgebung. Wir werden unweigerlich damit konfrontiert und müssen uns entscheiden, wie wir auf sie reagieren. Wir können uns anpassen, um Konflikte zu vermeiden oder wir können versuchen, auszubrechen und geraten dabei unweigerlich in Konflikte. Und unsere Umgebung ist eine Welt voller Konflikte, Christopher. Egal, was wir tun, wir müssen immer gegen irgendwas oder irgendwen kämpfen. Aber du, der Herr allein weiß wie, hast es irgendwie geschafft, da ohne Blessuren herauszukommen. Was ist dein Geheimnis, Christopher?“
„Du redest wirres Zeug!“, erwiderte dieser schroff und nahm die Whiskeyflasche an sich, „Ist die von Rebecca?“
„Sie war so freundlich.“
„Wo ist sie überhaupt?“
„Dein Geheimnis, Christopher, ist, dass du nicht Teil und nicht Produkt deiner Umgebung bist. Du bist der Poet, der nur beobachtet, aber sich nie auch nur eine Fingerspitze schmutzig macht.“
So langsam ging es ihm auf die Nerven. In seinem ganzen Leben hatte Christopher noch keinen literarischen Text geschrieben, aber bevor er protestieren konnte, winkte Brian ab: „Ich weiß, ich weiß, du hältst dich für einen loyalen, unscheinbaren Mann, der keinen Ärger haben will und nach bestem Wissen und Gewissen handelt, aber sei ehrlich zu dir selbst, Christopher, das bist du nicht.“
„Nein, natürlich bin ich das nicht. Du kannst Menschen nicht Kategorien zuordnen und erwarten, dass sie sich deiner Vorstellung zu Folge verhalten, weil es in dein Weltbild passt, weil es dir so leichter fällt, dich zurecht zu finden.“
„Oh, nicht ich mache die Charaktere“, sagte Brian, „Die Umstände tun es. Das sagte ich doch bereits. Es gibt nicht immer nur zwei gegensätzlich Optionen. Es gibt nicht nur Ja oder Nein. Du, mein Freund, hast dich dazu entschieden, dich nicht zu verhalten.“
„So? Dann bin ich also aus Stein?“, fragte Christopher.
„Im Gegenteil. Du bist aus Geist. Nichts berührt dich, aber du berührst alles.“
„Brian, du bist ja völlig neben der Spur und du hast mir immer noch nicht erklärt, was du hier eigentlich tust.“
„Na, ich warte.“
„Doch nicht auf deinen Karren?“
„Nein, auf meine Freundin natürlich“, sagte Brian, als wäre das eine offensichtliche Tatsache.
„Und die willst du hier treffen?“, fragte Christopher.
„Aber nein. Sie ist doch schon längst hier.“
„Cathy ist hier?“
Brian machte eine ungelenke Bewegung und deutete nach oben: „Sie ist in eurem Schlafzimmer da oben.“
Jetzt erst ließ sich Christopher mit gespielter Erschöpfung auf einen Stuhl fallen und sagte: „Oh nein!“
„Naja, sie hat darauf bestanden. Da konnte ich es ihr ja nicht verwehren.“
„Du meinst, du hättest für das Kleine gesorgt?“
Brian lächelte ein trauriges, alkoholschwangeres Lächeln, sagte aber nichts.
„Ist es denn von dir?“, fragte Christopher.
„Wer weiß das schon? Es ist ihr Kleines, ich denke, das beschreibt es am besten. Ihres ganz allein.“
Geräusche aus dem oberen Stockwerk drangen als dumpfes Rumoren nach unten ins Wohnzimmer. Etwas oder jemand bewegte sich. Jemand sprach in energischem, gereizten Ton.
„Wie lange ist sie schon da oben?“, fragte Christopher vorsichtig, damit es nicht so klag, als würde er um sein Schwarzbrot fürchten.
„Ne ganze Weile“, meinte Brian.
Aus ihm war nichts herauszubekommen und Christopher entschied sich, zu schweigen. Er hoffte nur, Cathy würde nicht die Nacht über bleiben müssen. Manchmal behielt Rebecca die Mädchen da und das waren die unangenehmsten Nächte. Sie jammerten und weinten durchgehend. Christopher wagte es nicht, sich darüber zu beschweren, denn was wusste er schon davon, aber er litt unter der Schlaflosigkeit. Er litt unter dem Leiden anderer und darunter, dass man ihm vorwarf, Mitleid zu empfinden, wo er doch nichts davon wissen konnte. „Hör auf, dich da einzumischen!“, zischte Rebecca ihn dann an und er schwieg.
Seltsam, dachte Christopher, dafür, dass man mich einen Poeten nennt, bringt man mich auffallend oft zum Schweigen.
„Es ist nichts!“, hörte er schließlich von oben. Rebecca war aufgebracht. „Es ist nichts! Rein gar nichts! Ich brauche es nicht noch einmal zu versuchen! Da ist absolut nichts! Nein, ich werde nicht! Hör mir mal zu, willst du vielleicht unbedingt draufgehen? Lass es gut sein, es ist nichts!“
Dann polterten Schritte die Treppe hinunter. Rebecca hatte die Angewohnheit, wenn sie wütend war, ihr ganzes Gewicht in jeden Schritt hineinzulegen und zu stampfen wie ein Elefant und Christopher fürchtete um die Treppenkonstruktion, die zwar noch nicht morsch sein konnte, aber doch nicht unbedingt von bester Qualität und Verarbeitung war. Obwohl sie sie gehört hatten, platzte Rebecca ins Wohnzimmer und jagte sowohl Brian als auch Christopher einen Heidenschrecken ein. Von einer solchen Frau wollte man nicht erwischt werden, egal bei was.
„Entschuldige, Brian, aber Cathy scheint ein etwas schwerwiegenderes Problem als eine Schwangerschaft zu haben.“
Brian hustete und nuschelte etwas Unverständliches vor sich hin.
„Christopher, ich nehme an, du hast beim Heimkommen den riesigen Haufen Wäsche geflissentlich übersehen, sonst wärst du sicherlich auf die Idee gekommen, dich ein wenig nützlich zu machen, nachdem du erfahren hast, dass ich beschäftigt bin?“
„Aber Liebes, atme doch erst einmal durch!“, sagte Christopher, stand auf und nahm seine Freundin in den Arm. Er hatte die Tränen der Überanstrengung in ihren Augen genauso wenig übersehen wie den Wäschehaufen.
„Was ist denn los?“, fragte Brian.
„Cathy ist nicht schwanger, ist nie schwanger gewesen und will es mir partout nicht glauben. Wie kommt sie nur auf die Idee? Wie ist wie besessen davon. Kann es sein, dass sie vielleicht unbedingt schwanger werden will? Ich meine, man kennt das ja. Man will etwas, das man sich nicht leisten kann und beginnt es dann zu hassen. Was ist nur los mit ihr? Ich kann es nicht noch einmal versuchen! Es ist nichts zu machen. Es ist ein völlig unnötiges Risiko, es weiter zu versuchen.“
„Wie geht es ihr denn?“ fragte Brian.
„Hast du nicht zugehört?“, blaffte Rebecca zurück.
„Hör mal, Becky, das Mädchen hat ne Menge mitgemacht. Und Cathy lässt sich nichts sagen, das weißt du. Nicht von mir und nicht von dir. Sie ist nicht so weit gekommen, weil sie sich immer untergeordnet hat.“
„Ach ja?“, keifte Rebecca zurück, zügelte sich dann aber, „Wenn du mich fragst, sind die meisten Frauen in der Situation, in der Cathy zu sein glaubt, weil sie sich immer unterordnen.“
„Bitte, keine Grundsatzdiskussionen!“, mischte sich Christopher ein, „Wie geht es ihr denn jetzt?“
„Willst du, dass ich es diplomatisch ausdrücke?“
„Drück es aus, wie du willst“, sagte Christopher beruhigend.
„Sie blutet wie ein abgestochenes Schwein und ich weiß nicht, ob es jemals wieder aufhören wird!“
„Aber…“
„Ja, was glaubst du, wie sowas abläuft?“
„Jetzt reg dich erstmal ab, du bist ja ganz durcheinander…“, sagte Christopher und machte damit alles noch schlimmer.
„Durcheinander? Wenn hier eine durcheinander ist, dann Cathy da oben! Sie hat mich angeschrien, ich solle ihr das verdammte Balg aus dem Bauch schneiden, wenn es nötig ist, und wenn die dabei draufgehe! Sie ist nicht ganz richtig da oben. Sie will dass ich sie umbringe, damit sie es selbst nicht machen muss!“
„Also das ist jetzt aber…“, ein Blick genügte, um Christopher zum Schweigen zu bringen. Schon wieder. Hatte er in seinem eigenen Leben eigentlich nichts zu sagen? Er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, die Wäsche im Hof musste gewaschen werden.
„Komm, Brian, wir stören hier nur“, sagte er schließlich und ließ endlich auch Rebecca los, die einen Schluck aus der Whiskeyflasche nahm und wieder nach oben stapfte.
„Es ist nicht so einfach“, gestand Brian, als die beiden Männer draußen auf dem Hof standen, „Du weißt, die Frauen…“
„Gott, ich weiß nichts über Frauen!“, seufzte Christopher.
„Du weißt doch zumindest, wie sie anatomisch… also rein äußerlich zumindest…“
„Meine Güte, Brian, worauf willst du hinaus?“
„Cathy hat es nicht leicht, weißt du und seien wir ehrlich, die meisten Männer scheren sich einen Dreck darum. Sie sagen, das sei die Angelegenheit der Weiber, da mischen wir uns nicht ein und halten das für die Gewährung von Freiheiten. Christopher, hast du jemals eine Frau geliebt? Ich meine so richtig mit dem Herzen? Ich sage, dir wenn du wirklich, jemanden liebst, dann hörst du auf, dich nicht einzumischen. Dann interessierst du dich dafür, was mit den Leuten passiert, wenn du gerade nicht hinsiehst und du siehst hin, wenn du normalerweise wegsehen würdest. Dann ekelst du dich nicht mehr, sondern machst dir eben die Hände schmutzig.“
„Und du hältst mich für einen Poeten?“
„Du kannst das mit den Worten vielleicht besser, aber ich habe Dinge gesehen, die du nicht in Worte fassen würdest und ich erst recht nicht.“
„Es ehrt dich, dass du Cathy helfen willst“, erwiderte Christopher unverbindlich. Er war nicht sicher, wohin dieses Gespräch sie führen würde und es war ihm unangenehm, es sich vorzustellen.
„Es ehrt mich? Chris, ich bin nicht hier, um mir Ehre zu verdienen! Es geht nicht immer nur um einen selbst!“
„Du bist ein guter Kerl, das wollte ich sagen.“
„Du verstehst immer noch nicht, was ich sagen will. Cathy ist nicht verrückt. Sie sieht die Dinge nur anders. Subjektiv. Du und ich, wir können das nicht nachvollziehen, aber ich hatte gehofft, Rebecca könnte es. Schließlich hat sie mit solchen Fällen ja Erfahrung.“
„Ich bin nicht sicher, ob es eine subjektive Schwangerschaft gibt. Ich meine, entweder man ist es oder man ist es nicht.“
„Es ist weniger die Schwangerschaft, als wie es dazu gekommen ist, verstehst du?“
„Nein“, gestand Christopher.
„Also, man muss dir ja wirklich alles erklären, Junge. Als würdest du nicht auf diesem Planeten leben und wärst nicht vertraut mit… na du weißt schon… allem.“
„Ich bin vertraut mit dem Vorgang, wenn du das meinst.“
„Christopher, in Gottes Namen, wir sind doch keine Schuljungen mehr! Also, stell dir vor, du findest eine moderat gefüllte Brieftasche auf der Straße und du gehst damit zum nächsten Lebensmittelhändler und kaufst für dich und deine Liebste eine Flasche Wein, um diesen Glücksfund zu feiern. Und dann trinkt ihr die ganze Flasche an einem Abend aus und deine Liebste ist ganz euphorisch und beglückt und du bist ganz wuschig und weil du dein Mädchen schon lange nicht mehr so euphorisch erlebt hast, nimmst du sie mit dir nach oben in dein Bett und dann treibt ihr es, du verstehst? Ich meine, natürlich läuft das so tagtäglich in jedem Haus ab, auch wenn kein Wein im Spiel ist.“
„Brian, worauf willst du hinaus?“, rief Christopher genervt.
„Die Frage ist, Christopher, wie weit darf man gehen und wie merkt man, wenn man zu weit geht und was muss man tun, wenn man zu weit gegangen ist?“
„Bist du etwa zu weit gegangen?“, fragte Christopher.
„Du meine Güte, nein! Was denkst du denn von mir? Der Punkt ist, dass du und ich vielleicht eine andere Grenze für „zu weit“ ziehen als Cathy und Rebecca und die Frage ist, welche gilt denn nun?“
„Na, ich nehme doch an, es gilt die Grenze der Damen.“
„Der anständige Mann achtet die Grenze der Damen. Der Wüstling kennt keine Grenzen. Der Widerling versucht seine eigene Grenze als die gültige durchzusetzen. Die aufrechte Dame besteht auf ihren Grenzen und die gebrochene Dame wird keine Grenzen mehr erkennen. Cathy, ist eine aufrechte Frau.“, sagte Brian.
„Und sie ist an einen Wüstling geraten?“
„Ach Christopher!“, seufzte Brian, „Jede Frau wird mit einem Wüstling fertig. Wüstlinge sind Schwächlinge. Es sind die Widerlinge, die die Probleme verursachen. Sie reden den Frauen ein, dass sie Unrecht haben, dass sie kleinlich seien, dass sie falsche Signale gesetzt hätten, dass sie selbst schuld seien, dass sie zimperlich oder prüde seien, keinen Spaß verstünden, boshaft und schlecht seien. Du weißt, was Cathy tut, um ihr Geld zu verdiene?“
„Ja“, gab Christopher zu.
„Es gibt da diesen Schnösel, der zu ihr kommt, weil er sie „amüsant“ findet. Jensen heißt er. Du kennst ihn vielleicht.“
Christopher schüttelte den Kopf.
„Egal, darum geht es ja nicht. Der Kerl jedenfalls macht sich einen Spaß daraus, Cathy um ihr Geld zu betrügen. Er behauptet, er hätte es ihr gegeben, sie hätte es verlegt, sie sei gierig und wolle ihn betrügen. Er erzählt ihr auch, sie hätte zu was auch immer zugestimmt, obwohl sie sich an nichts derartiges erinnern kann und dann drängt er sie dazu, es doch zu machen. Jensen redet Cathy ein, dass sie verrückt sei, verstehst du. Und jetzt kommt Rebecca und sagt dasselbe? Wem, wenn nicht einer anderen Frau, soll Cathy bitte vertrauen, wenn sie sowieso schon nicht mehr weiß, was wahr und was falsch ist?“
„Und sie glaubt, dass sie von diesem Jensen schwanger sei?“, fragte Christopher.
„Jedenfalls will sie partout dieses Kind nicht.“
„Wenn es denn eines gibt.“
„Cathy wird sich nicht damit abfinden, dass man sie verrückt nennt. Je mehr Rebecca ihr erklärt, dass sie nicht schwanger ist, desto mehr wird sie glauben, dass sie es doch ist. Cathy ist eine aufrechte Frau. Sie zieht ihre eigenen Grenzen.“
Brian war ein Schwätzer, das war allgemein bekannt. Auch Rebecca sagte das: „Er hält sich für verständnisvoll, aber er macht alles nur noch schlimmer. Es gibt ein paar Wahrheiten, vor denen kann man sich nicht in verstecken, indem man sich in wohlige Bekenntnisse hüllt.“
Und damit war für sie die Sache abgeschlossen. Cathy bestand darauf, das Haus noch am gleichen Abend zu verlassen. Sie schrie zwar vor Wut, Enttäuschung und Schmerz, fluchte wie ein Kesselflicker, wollte aber auf keinen Fall auch nur eine Minute länger in diesem Haus verbringen. Rebecca hatte sie enttäuscht und verletzt und wie sie ausführte „innerlich umgebracht“.
Brian entschuldigte sich für den Ausbruch, holte erst seinen Wagen zurück und brachte dann seine Freundin nach Hause.
Rebecca verbrachte den Rest des Tages in der Waschküche und ließ ihre Wut an ihrer schmutzigen Bettwäsche aus.
„Er hätte in seinem Zustand nicht fahren sollen und sie ihn ihrem Zustand auch nicht“, sagte Christopher später im Bett, aber er bekam keine Antwort.
Noch zwei oder drei Mal versuchte er, Rebecca auf diese Geschichte anzusprechen, dann ließ er es auf sich beruhen. Brian verhielt sich danach nicht anders als sonst, also wieso sollte man es ausdiskutieren? Das war der Vorteil des Daseins als Mann: Man konnte sehr erfolgreich Dinge ignorieren, ohne dass jemand einen darauf ansprach und die Situation unangenehm werden ließ. Es ist, als gäbe es eine geheime oder eine intuitive Absprache, sich das Leben nicht noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon ist.
Rebecca schnaubte im Schlaf, als wollte sie damit sagen: Es liegt daran, dass alle Männer schlecht sind und es ganz genau wissen. Sie wissen das Schlimmste voneinander und hoffen, dass die anderen still sind, wenn sie selbst den Mund halten. Das nennen sie dann Brüderlichkeit.
Eines der vielen mehr oder weniger gut gehüteten Geheimnisse Rebeccas war die Tatsache, dass sie ein Tagebuch führte. Es war ihre Taktik, einige Heimlichkeiten eher schlecht zu verbergen, damit Christopher nicht weiter suchte, wenn er glaubte, auf etwas gestoßen zu sein. So zweifelte er beispielsweise nicht daran, dass sie noch ein zweites Tagebuch besaß und dass sie dieses hier nur als Köder auslegte.
Obwohl er sich sicher war, dass er nur zu lesen bekam, was er auch lesen sollte, schämte er sich dafür, wenn er es las. Er schwankte zwischen dem Argument, dass Rebecca ja selber schuld sei, dass er Nachforschungen anstellte, wenn sie so wenig von sich preisgab und dem Gefühl, ihr Vertrauen zu missbrauchen. Aber was sollte er machen? Rebecca hatte einen Charakter, der sich nur schwer in die Umgebung einfügen konnte. Mit Eigenwilligkeit konnten die Menschen vielleicht umgehen, aber mit ihrem Hang zur Eigenbrötlerei? Rebecca merkte oft nicht, wie sie Leute vor den Kopf schlug, wie sie unangemessen reagierte, wie sie Menschen verletzte. In gewisser Weise tat sie Christopher leid, dabei schien sie selbst kein bisschen zu leiden. Vielleicht suchte er in ihrem Tagebuch die Bestätigung dafür, dass sie in diesem Punkt etwas verbarg… Er hoffte, irgendein niedergeschriebenes Gefühl zu finden, irgendetwas, das sie wie ein menschliches Wesen erscheinen ließ.
Sie faszinierte, verstörte und ängstigte ihn zugleich. Manchmal fragte er sich, ob sie ihn überhaupt so liebte wie er sie und ob er sie überhaupt liebte, ob es vielleicht verschiedene Formen von Liebe gab, die vielleicht nicht kompatibel waren.
Was für eine scheußliche Aussage es war, zu behaupten, jemanden nur zu lieben, weil man Mitleid mit ihm hatte und nicht wollte, dass der andere allein sein musste! Aber so war es ja gar nicht.
Jedenfalls interessierte Christopher, was Rebecca zu jenem Tag, als Cathy und Brian zu ihr gekommen waren, in ihr Tagebuch geschrieben hatte und er hielt den inneren Kampf zwischen Neugier und Verlässlichkeit kaum drei Tage aus. Natürlich würde sie es herausfinden und natürlich würde sie kein Wort sagen und natürlich würde er sich schuldig fühlen und sie würde es wissen, aber so lief das nun mal zwischen ihnen. So schlecht Rebecca im Reden war, so gut war sie darin, nonverbal zu kommunizieren und die Menschen dazu zu bringen, genau das zu fühlen, zu denken und zu tun, was sie wollte.
Sie ist so subtil, dachte er, sie plant das alles, ohne dass ich es merke und ich tappe ihr jedes Mal in die Falle und bin auf ihr Wohlwollen angewiesen. Zum Glück ist sie meistens wohlwollend.
Vielleicht war das ihre Art, Liebe zu zeigen und vielleicht war es überhaupt der ultimative Liebesbeweis, jemanden, den man in der Hand hatte, nicht ins Messer laufen zu lassen, sondern sanft in die richtige Richtung zu schubsen, ohne ihm später zu sagen: „Siehst du, ich habe die ganze Zeit Recht gehabt!“ War das nicht die eigentliche Definition von Selbstlosigkeit?
Aber Christopher wurde enttäuscht. Er hatte erwartet, dass er etwas darüber zu lesen bekam, wie sehr Rebecca Cathy bemitleidete, wie sehr sie ihre Arbeit verabscheute, wie sehr es sie belastete, am Ende ja für den Tod eines potenziellen Kindes verantwortlich zu sein. Er hatte gehofft, dass er etwas über ihre Angst vor dem Tod ihrer Patientinnen lesen würde, Mitgefühl, Sorge, Anteilnahme, Angst.
Nichts davon. Stattdessen fand er folgenden Eintrag:
„Heute habe ich geträumt, zu Hause zu sein. Verrückt, dass ich dieses Haus immer noch in allen Details rekonstruieren kann. Verrückt, dass ich mich an jeden einzelnen Winkel erinnere. Alle Gesichter sind verschwommen. Ich habe vergessen, wie sie alle aussehen. Kaum zu glauben, aber ich höre sie lachen und sprechen, aber ich kann ihre Gesichter nicht sehen. Als hätte ich sie nie gesehen. Es ist, als hätte ich sie nie gekannt, aber ich erkenne sie. Es findet eine dieser kleinen, großen Abendgesellschaften statt, bei denen Mutter beweisen will, dass sie ihr Vermögen entgegen aller Gerüchte doch nicht durchgebracht hat. Meine Schwester verfolgt mich, starrt mich an, vorwurfsvoll. Ich versuche wegzurennen, schaffe es aber nur bis in den Garten, dort hält mich ein Anfall von Nasenbluten auf. Je weiter ich mich vom Haus entferne, umso stärker blutet es und ich bin gezwungen zurückzukehren.
Mein Schweigen in Mitten des allgegenwärtigen Geschnatters frisst sich wie ein schwarzer Fleck in den Salon und ihre Blicke treffen mich, mitleidig. Ja, mitleidig. Als könnte ich nichts dafür. Als hätten sie mich trotzallem immer unterstützt, aber leider war es nicht genug. Als wäre es eine Naturgewalt. Sie wissen alles und geben vor, nichts zu wissen. Besser für sie, es nicht wissen zu müssen. Nicht wissen zu wollen.
Ich will mir die Gespräche über Kunst und Artistik ersparen und ziehe mich zurück. Es ist dunkel in der Nische zwischen Schlafzimmer und Vorratskammer. Ich stehe vor dem Regal und starre es an. Meine Schwester starrt mich an. Ich friere ein und ich weiß, was jetzt passieren wird. Sie wird mich verpetzen. Dabei tue ich doch gar nichts, als die Tiegel und Fläschchen anzuschauen. Nicht einmal ihre Etiketten kann ich lesen. Wie soll ich also wissen, ob Parfum oder Gift darin ist?
Es ist ein Spiel, bei dem die Schuld wie ein Schwarzer Peter herumgereicht wird. Jeder profiliert sich und betont, wie sehr sie sich bemühten, mich zu integrieren. Aber wenn einer nicht wolle, könne man halt nicht machen…
Ich erinnere mich an Sommerabende im Garten und das Blumenbeet, das ich bepflanzen durfte. Ich erinnere mich an naive Kinderzeichnungen von Katzen und Entenküken. Das soll eine glückliche Kindheit gewesen sein? Ich soll mich schuldig fühlen, weil ich all das zurückgelassen habe? Weil ich es nicht mit Wehmut, sondern mit Abneigung betrachte? Ich soll meine Fehler einsehen, bedeuten sie mir, aber da ist keiner. Sie und ihre Bilder lügen.“
Christopher wusste nicht, ob er amüsiert oder wütend sein sollte. Der Brocken, den sie ihm hinwarf, war saftig. Etwas aus ihrer Vergangenheit, um davon abzulenken, dass es etwas gab, das sie noch mehr beschäftigte. Normalerweise erzählte sie nichts – kein Wort – von ihrer Familie. Dass sie eine Schwester hatte, hörte er heute zum ersten Mal. Etwas musste Rebecca sehr beschäftigen und sie wollte natürlich damit alleine gelassen werden. Deshalb lockte sie Christopher auf eine falsche Fährte, etwas, das ihn überzeugen sollte, dass Cathy ihr keinen einzigen Gedanken wert war.
Christopher kannte die Taktik und Rebecca wusste, dass er sie durchschaute und Christopher wusste, dass sie es wusste. Sie würden vermutlich nie darüber sprechen – nicht über Cathy und nicht über Rebeccas Träume. Er packte das Tagebuch weg und schwelgte ein wenig in der Illusion, ein Geheimnis gelüftet zu haben – oder zumindest Rebecca in einer Situation erlebt zu haben, die sie dazu brachte, einen kontrollierten Teil eines Geheimnisses zu offenbaren. Wahrscheinlich war es ohnehin eine Lüge…
Aber allein die Tatsache, dass sie große Geschütze auffuhr, zeigte, dass Cathys Zustand ihr etwas ausgemacht hatte. Und Christopher war sich nicht sicher, ob Rebecca sich darüber im Klaren war, dass er auch dies deduzieren konnte, dass er verstand, dass ihr Unwohlsein, nichts mit der Familie in ihrem Traum zu tun hatte, sondern mit ihr selbst. Dass die Schuld nicht hin und her gereicht wurde, sondern an ihr nagte.
Sie ist nervös, dachte er. Sie ist so nervös, dass sie unvorsichtig wird, dass sie Risiken eingeht. Sie will, dass ich etwas über sie und ihre Familie erfahre, aber sie will nicht mit mir darüber sprechen, sie will so tun, als wisse sie nicht, dass ich es weiß und sie will, dass ich so tue, als wisse ich nichts. Ist das nun ein Liebes- oder ein Vertrauensbeweis oder eine Prüfung oder ein Irrlicht? Hatte sie den Traum vor oder nach Cathys Besuch? Dem Datum nach zu urteilen davor. Also gibt es keinen direkten Zusammenhang. Vielleicht hat sie alles nur erfunden? Aber warum? Sie verbirgt ihre Unsicherheiten, keine Geheimnisse, keine dunkle Vergangenheit. Wahrscheinlich hält sie ersteres für die größere Schande, weshalb sie sie ähnlich behandelt.
Christopher ging recht in der Annahme, dass nichts von dieser grauenvollen Episode um Cathys Dämonen zwischen Brian und ihm ausdiskutiert werden würde. Im Gegenteil: Christopher traf seinen Kollegen in ausnehmend gelöster und sogar leicht übermütiger Stimmung an. So, als hätte er gerade ein gutes Geschäft gemacht, oder als wäre ein Plan vollständig aufgegangen.
„Es wird sich einiges ändern!“, sagte er zu Christopher, „Einiges. Verabschiede dich schon mal vom Leben im Slum. Bald, mein Freund, werden wir aufsteigen. Manchester wird das pulsierende Herz des ganzen Empires werden.“
„So?“, fragte Christopher müde.
„Glaubst du, die lassen zu, dass die Leute weiterhin auf den Straßen rumlungern und verrecken, wenn die erst einmal den Kanal eröffnet haben? Der Frühling kommt, Christopher, Manchester wird erblühen.“
„Wohl eher im Gestank von fauligem Wasser eingehen.“
„Du bist eben ein Konservativer. Alle Schöngeister haben insgeheim Angst vor der Zukunft.“
Christopher biss sich auf die Zunge.
„Du idealisierst die Vergangenheit und hast keine Vorstellung davon, welche Chancen vor uns liegen. Du musst den Möglichkeiten Freiräume verschaffen, damit sie Wirklichkeit werden.“
„Ich idealisiere gar nichts“, sagte Christopher.
„Dann bist du ein schlechter Ire, mein Freund.“
„Mag sein, aber dafür bin ich schwer zu enttäuschen.“
„Weil du immer das Schlimmste annimmst. Der Dichter ist grundsätzlich ein Pessimist. Zumindest, wenn er in der Stadt lebt.“
„Brian, ich wäre dir dankbar, wenn du einfach mal für einen Morgen die Klappe halten würdest. Ich kann es nicht leiden, wenn Leute meinen Charakter analysieren. Machst du das auch bei deiner Freundin? Vielleicht solltest du mal in dich selbst hineinblicken? Oder analysier irgendwas anderes. Den Sternenhimmel meinetwegen, aber gönn mir mal eine Pause. Ich weiß ja schon selbst gar nicht mehr, wer ich überhaupt bin, so viel Unsinn erzählst du über mich herum.“
„Nur Gutes, Christopher. Du kannst mir nicht vorwerfen, ich würde Gerüchte streuen.“
„Lass mich einfach in Frieden. Weißt du, ich kann dich gut leiden, deshalb sag ich es dir im Guten: Du malst dir ein falsches Bild von den Menschen um dich herum. Du willst sie so sehen, wie du sie haben möchtest. Du idealisiert die Menschen, dabei ignorierst du aber ihre wahre Natur.“
„Und was ist ihre wahre Natur?“, fragte Brian dazwischen.
„Sie sind müde. Sie sind krank und erschöpft. Sie kämpfen ums Überleben und sie haben keine Zeit, einen echten Charakter zu entwickeln. Sie sind in Eile, sie sind nervös und ängstlich. Sie sind entwurzelt und einsam. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wissen nicht, was richtig ist. Sie fügen sich in Routinen ein, um sich sicher und nützlich zu fühlen. Sie interessieren sich nicht für Schöngeistiges, nur für sich selbst. Sie sind blass und grau. Ihre ganze Welt ist farb- und lichtlos. Der Geist dieser Menschen, so würdest du es nennen, glaube ich, ist verkrüppelt und ich nehme uns beide da nicht aus. Ich stehe dazu, du versuchst es zu kaschieren, indem du große Reden schwingst und von dir selbst ablenkst. Aber du bist genau wie ich und David ein Banause, ungebildet und verdammt zu einem Leben im Dreck. Es macht dir Spaß, es schön zu reden, aber schön wird es dadurch nicht. Im Grunde bist du ein Miesmacher. Du machst den Leuten die Unzufriedenheit mies, sodass sie sich arrangieren. Du bist der Konservative von uns beiden, Brian! Du hast Angst davor, dass sich etwas ändern könnte, dass die Leute aufstehen und das verlangen, was ihnen zusteht! Du würdest der Königin zuwinken und du würdest die Torys wählen, wenn sie Reformen versprechen würden, aber mit Reformen sind die Arbeiter nicht zu retten. Willst du, dass ich dir ein paar Wahrheiten sage? Reformen sind die Ketten, die uns an die Maschinen fesseln. Reformen sind die Schuhwichse, die sie uns in die Augen schmieren. Du glaubst, der Kanal wird diese Stadt zum Blühen bringen? Die Stadt wird ausbluten und mit Schlamm und Schmutz überschwemmt werden. Es wird härter für uns werden, nicht leichter. Wir sind nie diejenigen, die profitieren. Da tropft nichts zu uns herunter außer der Scheiße der Bourgeoisie.“
Brian schwieg.
Obwohl Christopher wusste, dass er ihn getroffen, es ihm heimgezahlt hatte und es gerecht gewesen war, fühlte er sich schlecht. Wortlos gingen sie herüber zu den Ställen. Besser, sie würden einander heute nicht mehr begegnen…
„Komm, David, ich nehm dich mit und zeig dir, wie alles so läuft“, rief Brian dem Stalljungen zu, als er die Pferde nach draußen führte.
Christopher versuchte, sich nicht zu ärgern. Er braucht das jetzt, dachte er. Jemanden, der ihm nicht widerspricht. Es ist in Ordnung, er hat es ja auch nicht leicht.
Den ganzen Tag verbrachte Christopher damit, angestrengt nicht nachzudenken, aber gerade, wenn man es unbedingt vermeiden will, suchen einen die Gedanken heim. Was, wenn er zu weit gegangen war? Was, wenn Brian nun David gegen ihn aufbringen würde? Was, wenn es Cathy schlechter gehen würde? Was wenn Rebecca daran schuld wäre? Ob er jemals die Chance bekommen würde, ihr Schwester kennen zu lernen? Aus was für einer Familie sie wohl stammte?
Es gab einige Gerüchte. Rebecca war gebildet, deshalb glaubten viele, sie stamme aus einem bürgerlichen – wenn nicht sogar adligen – Elternhaus. Vielleicht war sie eine uneheliche Tochter oder ein Findelkind? Vielleicht war sie verstoßen worden oder geflüchtet? Vielleicht war ihre Familie verarmt? Oder sie hat einen Ehemann verlassen? Oder einen Mord begangen? Ist sie vielleicht aus einem Kloster abgehauen? Bei einem reichen Gönner in Ungnade gefallen? Ist sie enterbt worden? Wieso? Hatte sie möglicherweise ihr eigenes Kind umgebracht? Lebte sie hier unter falschem Namen? Suchte man sie womöglich in Wales? Einige waren sich sicher, sie habe Zigeunerblut in sich, andere erkannten ihren Akzent als eindeutig russisch, hatten aber vermutlich nie zuvor Walisisch gehört. Sie könnte eine Spionin sein oder auf der Flucht vor eben solchen. War sie vielleicht abgebrannt und ruiniert aus den Kolonien zurückgekehrt? Versteckte sie sich vor Gläubigern oder sonst einer düsteren Vergangenheit, die sie einholen konnte? Hatte sie Schuld auf sich geladen oder war sie einfach nur vom Schicksal gebeutelt?
Da jeder irgendwie vom Schicksal gebeutelt war, bevorzugten die Menschen Geschichten, die irgendeine Art von Schuld beinhalteten. Es gab ihnen den Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit zurück: Denn, wenn man das eigene Leben richtig versauen konnte, konnte man mit den richtigen Kniffen auch erfolgreich dem Schicksal entkommen und von nichts anderem träumten die Menschen in Manchester.
Es mochte paradox klingen und die Leute analysierten ihre Gedanken selten mit Hilfe ihres Verstandes, aber ihre Intuition war untrüglich: Schuld ist besser als Hilflosigkeit, denn Schuld beinhaltet eine Chance – auch wenn sie vertan worden war und Chancen sind Hoffnung.
Vielleicht war der Rückzug ins Private, die Rückbesinnung auf seinen Geist, was er jetzt brauchte. Seine Gedanken ließen ihn selten im Stich, wenn es darum ging, ihm die Zeit zu vertreiben. Christopher litt gleichermaßen unter der Vergänglichkeit der immer gleichen Tage und der ätzenden Langeweile, die diese brachten.
Sie verrotten in deinen Händen und bröseln dir auf die Füße, dachte er und am Abend weißt du nicht, welchen Nutzen deine Zeit gebracht hat. Geld rann ihm durch die Finger wie die Zeit und die Brotkrümel, die er für die Schwäne in den Kanal warf.
Sie haben mehr davon, dachte er sich. Mir würde sich davon nur der Magen umdrehen. Christopher fühlte sich elend, als ahnte etwas in ihm bereits, was der Abend bringen würde.
Um zu vermeiden, Brian und David noch einmal zu begegnen, trödelte Christopher, in der Hoffnung Brian würde sich beeilen, um wiederum ihm nicht begegnen. So machen das echte Männer.
So kam er also zurück zur Fabrik, als es schon zu dunkeln begonnen hatte und stellte zu seiner Enttäuschung fest, dass das schummrige, gelbliche Licht in der Kammer noch leuchtete. Das kleine Fenster war so verdreckt und stumpf, dass man lediglich schattenhafte Gestalten darin erkennen konnte. Sie bewegten sich behäbig hin und her, als warteten sie ungeduldig auf etwas, wollten aber ihre Nervosität nicht zeigen.
Das konnte nicht Brian sein, wusste Christopher sofort. Diese Langsamkeit hatte etwas Aggressives, das Brian nicht mal bei höchster Aufregung und Hektik an den Tag legte. Schatten, dachte Christopher, sind die Vorborten schlechter Nachrichten.
„Mister Jones“, wurde er begrüßt, als er in die Kammer trat, „Sie lassen sich aber Zeit, ein Lieber.“
„Ich komme gerade aus dem Stall“, erklärte Christopher, als er dem Mann nicht die Hand geben wollte.
„Natürlich, natürlich.“
Er kannte den Mann nicht, nicht persönlich zumindest. Er trug saubere, ordentliche Kleidung und ein peinlich gepflegter Bowler Hat lag auf dem schäbigen Tischchen, an dem Christopher, Brian und David normalerweise ihren Tee tranken. Christopher wusste nicht, wieso ihm das auf einmal unangenehm war. Gut gekleidete Menschen schüchterten ihn normalerweise nicht ein, aber dieser mondgesichtige Mann hatte Autorität und er war offensichtlich bereit und willens, sie gegen andere auszuspielen.
Auf den splittrigen Holzstühlen saßen Brian und David. Sie schwiegen, hatten aber eine ernste, schweigsame Mine aufgesetzt und beäugten ihn interessiert bis feindselig.
Neben der Tür stand ein zweiter, fahlgesichtiger Mann im Mantel und mit einem Zylinder auf dem Kopf. Er schaute demonstrativ auf seine Taschenuhr, sagte aber nichts.
„Anstrengender Tag, Mister Jones?“, fragte das Mondgesicht jovial.
„Wie jeden Tag, Sir“, erwiderte Christopher.
„Kein leichter Beruf, der Transport auf Pferdewagen, nehme ich an?“
„Was ist schon leicht“, sagte Christopher ausweichend, er ahnte, wohin dieses Gespräch führen würde und er wollte es so lange wie möglich hinauszögern. Er hielt diese Art des Smalltalks für grausam, aber so zu tun, als verstünde man diese Grausamkeit nicht, nahm dem Gegner den Wind aus den Segeln.
„Der Fortschritt macht vieles leichter, Mister Jones. Wir alle blicken mit großen Erwartungen in die Zukunft. Sie ist rosig, meinen Sie nicht?“
„Nein“, sagte Christopher.
„Oh, seien Sie doch nicht so pessimistisch! Manchester und die ganze Region wird endlich die Blüte erleben, die es verdient hat, die wir alle verdient haben.“
„Sie meinen den Kanal.“
„Ja, den Kanal. Er wird ja bald eröffnet und…“
„Sparen Sie sich den Mist!“, rief Brian dazwischen und es erschrak sogar Christopher.
„Chris, wir sind unsere Jobs los. Sie transportieren ihre Stoffe jetzt lieber per Schiff, die Halsabschneider!“
Der Rest des Gesprächs war eher unangenehm für alle Beteiligten. Lediglich der fahlgesichtige Mann neben der Tür tat unbeteiligt und gelangweilt.
„Ich wollte es Ihnen persönlich mitteilen“, sagte der Mann, als er seinen Hut nahm und sich zum Gehen anschickte.
Christopher sagte nichts. Die Herren gingen.
Wäre Christopher ein rechthaberischer Charakter gewesen, hätte er jetzt angeführt, dass er es ihnen ja gesagt hätte, aber dieser Triumph schmeckte so bitter, dass er ihn lieber zusammen mit seinem Groll herunterschluckte, statt ihn auszukosten. Er klopfte Brian stattdessen auf die Schulter und sagte: „Ich will, dass du weißt, dass wir Freunde bleiben und dass du dich an mich wenden kannst, wenn du Hilfe brauchst.“
„Du brauchst selber Hilfe, alter Junge.“
„Rebecca hat ihr eigenes Einkommen und damit werden wir wohl eine Weile auskommen müssen. Aber du…“
„Mach dir keine Sorgen“, winkte Brian ab, „Es wird sich schon was ergeben.“
„Was wird aus den Pferden?“, fragte Christopher, um das unangenehme Thema abzuschließen.
„Werden wohl geschlachtet. Sind schon ziemlich alt und zerschunden, die Viehcher. In diesem Job wären sie ohnehin nicht alt geworden.“
„Das ist nicht fair.“
„Was ist schon fair?“
„Ich werd’s mal auf einem Boot versuchen?“, mischte sich David ein, „Wenn das mit dem Schiffsverkehr richtig losgeht, werden sie bestimmt Leute suchen.“
„Er hat Recht“, fand Brian, „Wir müssen mit dem Fortschritt gehen, sonst kommen wir unter die Räder.“
Christopher sagte nichts. Bevor er, auf einem Schiff anheuerte, würden die Iren die Republik ausrufen.
Der Winter schien kein Ende nehmen zu wollen und Rebecca war dazu übergegangen, ihre Kohlen von den Bergmannsfrauen aus Wigan zu kaufen. Diese war günstiger, weil es sich im Grunde um ein Abfallprodukt handelte. Die Frauen und Kinder der Bergleute suchten in ihrer Freizeit die Schlackenhalden nach brauchbaren Kohlebruchstücken ab und verkauften, was sie nicht selbst verbrauchten. Im Grunde war es Diebstahl, aber im ganzen Land Gang und Gäbe – in Südwales wie in Nordengland.
„Man tut den Frauen etwas Gutes“, sagte Rebecca, aber vor Christopher muss sie ihr Vorgehen nicht verteidigen. Ihm waren alle Leute Recht, die den großen Gesellschaften die Umsätze streitig machten.
Er saß nun meist zu Hause und grübelte.
„Ich frage mich, ob ein Huhn, das etwas ausbrütet, genau so verbissen vor sich her starrt“, sagte Rebecca einmal.
„Was soll denn das heißen?“
„Es heißt, dass du etwas ausbrütest und ich befürchte, dass du vor lauter Sturheit den Wald vor lauter Bäumen nicht siehst.“
„Und der wäre?“
„Der Wald? Na, dass du allein bist und von unserem Küchentisch aus sicher nichts an dieser Situation ändern wirst.“
„Du willst mich aus dem Haus haben?“, fragte Christopher.
„Ich will, dass du aufhörst, hier zu versauern.“
„Die ganze Nation wird versauern“, erwiderte Christopher, „Über kurz oder lang, werden wir alle untätig herumsitzen. Je weiter die Automatisierung fortschreitet, desto mehr entwöhnt sich der Mensch von der Verantwortung, die er für sein eigenes Leben und das anderer übernehmen muss. Es ist so einfach, einer nicht richtig funktionierenden Maschine die Schuld für ein Missgeschick oder ein Unglück zu geben. Die Menschen werden sorgloser und unbarmherziger werden.“
„Höre ich da etwa einen Funken Selbstkritik?“
„Du hörst die reine Wahrheit. Aber es wird niemandem bewusst werden, weil sie es für Freiheit halten, das Elend anderer Menschen ignorieren zu können, ohne deswegen ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil sie es für angenehm halten, selbst ignoriert zu werden, weil sie das Gefühl der Scham ein für alle Mal los sein werden. Die Arbeiter in den Textilfabriken werden mit Hungerlöhnen abgespeist oder ganz durch Maschinen ersetzt, mit dem Ergebnis, dass wir alle uns schicke, modische Kleider kaufen können, um nicht den Anschein zu erwecken, dass wir zu Hungerlöhnen arbeiten oder arbeitsloslos sind. Sie geben uns freien Zugang zu Luxusgütern, lassen uns aber verhungern. Sie geben uns Süßigkeiten aber kein Brot. Und wir sind glücklich damit, weil es den Schein wahrt. Ich glaube, das ist das größte Problem des Fortschritts: Er redet uns ein, der Schein sei wichtiger als das Sein und schafft ganz nebenbei das Sein ab. Was nützt schon Aufrichtigkeit, wenn man einen ungeflickten Anzug zur Schau tragen kann? Wenn sie die Arbeit abschaffen, schaffen sie die Daseinsberechtigung der Arbeiter ab. Es wird ihr Tod sein. Und jetzt komm mir nicht mit „Sie werden in der Bourgeoisie aufgehen oder wiedergeboren als bessere, kultiviertere Menschen, weil man ihnen jetzt endlich die Chance gibt, sich zu entfalten.“ Das ist Unsinn. Der Mensch kann sich nicht entfalten, wenn er im luftleeren Raum hängt, wenn er losgelöst ist, von allen Einflüssen.“
„Darüber brütest du? Dem Tod der Arbeiterklasse?“
„Du hast es vielleicht nicht begriffen, aber…“
„Ich soll was nicht begriffen haben? Dass da draußen Leute verrecken, wenn sie sich zu Tode schuften, weil sie unter die Räder geraten oder weil sie… Hast du das von Isabelles Cousin gehört? Aufgehängt hat er sich vor lauter Verzweiflung, weil seine Frau wieder schwanger ist.“
„Und jetzt nennen sie ihn sicher alle einen Feigling?“, knurrte Christopher angriffslustig.
„Was ist er denn deiner Meinung nach? Ein Held?“
„Ein Opfer.“
„Wovon denn? So weit ich weiß, spielen Männer beim plötzlichen Auftreten von Schwangerschaften eine nicht unerhebliche Rolle.“
„Davon, dass wir in einer Zeit leben, die den Übergang bildet zwischen Elend und Tod. Der Mensch der Zukunft, der fortschrittliche Mensch ist kein Arbeiter mehr. Wir müssen ausgerottet werden, weil es mit uns keine Zukunft geben kann. Wir passen nichts ins schöne Bild. Wir sind die Vergangenheit und das geben sie uns zu verstehen, wenn sie uns auf die Straße setzen. Sie ekeln sich vor uns und wollen uns nur so lange um sich, wie sie uns brauchen und benutzen können. Die Arbeiterklasse wird nicht „aufgehen“ in der Mittelklasse, sie wird vernichtet werden. Unsere Kinder werden versnobte, kleine Biester sein und sie werden sich für uns schämen, uns verleugnen und versuchen, so angepasst und konservativ wie möglich zu sein. Sie brechen unseren Stolz, indem sie unsere Arbeit für wertlos erklären und wenn sie jemandes Stolz brechen, brechen sie den Menschen.“
„Du redest von Stolz?“, fragte Rebecca mit leicht verächtlichem Tonfall, „Stolz? Wirklich echtem Stolz? Und du glaubst, ihn hier zu finden?“
„Wo sonst?“
„Stolz ist was für Leute, die nicht sehen, was um sie herum passiert, für Egoisten und hoffnungslose Optimisten. Stolz findest du hier im Norden nicht. Was du so nennst, ist Trotz. Glaub mir, ich bin ein bisschen herum gekommen. Es gibt viele Leute, die nennen ihren Trotz Stolz, weil sie sich nicht eingestehen wollen, dass ihr vermeintlicher Triumph nur daraus besteht, weiter kämpfen zu können. Ihr Leben lang hausen sie in düsteren Bretterverschlägen, die von Ratten angefressen und vom Schimmel langsam zersetzt werden. Die Menschen in den Städten leben auf engerem Raum als Esel in ihren Ställen, aber es scheint ihnen aus irgendwelchen Gründen nichts aus zu machen, weil es ja immer noch Leute gibt, die unter schlimmeren Bedingungen leben – und wenn es nur die Pferde sind, die hier in der Stadt niemals Auslauf bekommen, es sei denn sie werden durch die überfüllten Straßenschluchten getrieben, wo sie nur deshalb nicht in Panik verfallen, weil man ihnen die Sicht nach links und rechts nimmt. Du magst doch die Pferde, oder, Christopher? Sie sind der lebende Beweis dafür, was ein Lebewesen alles aushalten kann und dass man niemals aufgeben darf. Habe ich dir von den Pferden erzählt, denen man die Sicht vollständig raubt, indem man sie ihr Leben lang unter Tage zum Ziehen von Förderwägen verdammt. Diese Tiere werden allesamt irgendwann im Laufe ihres Lebens blind. Ein lebenswertes Leben, auf das man stolz sein kann… Führen es die Bergleute, ihre Pferde oder die Bauern und ihre Esel? Verstehst du, was ich sagen will? Tiere und Menschen werden kaputt gemacht und darauf sollen sie dann stolz sein. Weil sie länger durchhalten, wenn sie sich selbst zerstören und es als freie Entscheidung betrachten. Also die Menschen. Die Tiere sind nur die, auf die sie herunter blicken. Der Arbeiter blickt auf die Tiere herab, der Bürger auf den Arbeiter. Und der Adlige auf den Bürger. Sie alle halten sich für stolz, dabei sind sie nur trotzig in ihrer Abgrenzung nach unten.“
„Du meinst, die Tiere sind nur dazu da, um dem Menschen vor Augen zu führen, was echtes Leid ist?“, fragte Christopher.
Rebecca zuckte mit den Achseln als Antwort.
„Dann verrat mir eins: Was ist mit den Schwänen?“
„Was soll mit denen sein?“, fragte Rebecca.
„Die genießen unter allen Tieren Privilegien, die kein Mensch besitzt und sie leisten rein gar nichts.“
„Sie sind wie die Königin“, bemerkte Rebecca.
„Sie sagen mir, ich solle Respekt vor einem Wasservogel haben, während ich von niemandem Respekt erfahre.“
„Da ist er, der Trotz.“
„Nein, das bin ich, wie ich um mein Recht auf Stolz kämpfe.“
„Du kämpfst, während du am Küchentisch sitzt?“
„Rebecca, ich habe mir etwas überlegt und ich brauche deine Hilfe.“
Es war Christophers alte Idee, an den Schwänen ein Exempel zu statuieren, aber diesmal nicht nur im Rahmen eines privaten Tagtraums, dessen Absurdität er in dem Moment erkannt hatte, als er ihn ausformulierte.
Er sagte: „Was habe ich noch zu verlieren? Ich habe keine Arbeit, keinen Stolz, kein Geld, keine ordentliche Heizkohlen. Dafür habe ich Zeit und wer Zeit hat, der muss sie irgendwie verbringen, stimmt es?“
„Du meinst, wer Zeit hat, ist anfällig für Dummheiten?“, fragte Rebecca.
Christopher versuchte sich an einem Grinsen, aber er war nicht der Typ, dem man es abnahm. Es sah eher gequält und müde aus. Er ist seinen Pferden immer ähnlicher geworden, dachte Rebecca.
Am Anfang hatte Christopher Probleme, die Diskussionsrunde unter Kontrolle zu halten. Sie alle waren begeistert, von der Idee, es „denen“ heimzuzahlen.
„Es ist ein opferloses Verbrechen“, sagte Christopher, „Ziviler Ungehorsam.“
David war begeistert. Er brannte darauf, etwas zu tun, das ihm einen Namen einbrachte. Seine Helden waren die Fenians, die nicht einfach wie die Feiglinge ihre Heimat verließen, sondern für diese kämpften. In seinem Alter war das normal. Er war jung, kräftig und arbeitslos. Das nagte am Selbstbewusstsein. Die Mädchen wollten keinen Jungen, der herumhing und dabei zusah, wie seine Kleidung immer zerlumpter wurde. Sie wollten einen Jungen, der es zu etwas brachte, nicht zu angepasst, aber auch nicht asozial. Er stellte sich bereits vor, wie er – er allein – die Stadt befreite, die Republik Manchester ausrief und man Lieder über ihn für die Nachwelt dichtete:
„Two things to offend the queen
That wake her from gullible dreams
Are those of our David Dunne:
His Irish mother and his gun”
„Keine Waffen!“, sagte Christopher bestimmt und das Bild seines in Bronze gegossenen Ebenbildes, das sich David eben vor seinem geistigen Auge ausgemalt hatte, und das man ihm zu Ehren im Zentrum von Manchester aufstellen würde, zerplatzte.
„Wieso nicht? Es gibt keine Helden ohne Waffen“, meinte er, „Was wollen wir sein? Ein paar Jammerlappen, die bloß nicht den Eindruck erwecken wollen, dass sie gegen das System sind? Dann können wir die ganze Sache auch gleich sein lassen.“
„Kein Waffen!“, wiederholte Christopher mit noch etwas mehr Nachdruck, „Wir wollen niemanden verletzen und wir wollen vor allem uns selbst nicht verletzen. Oder hast du schon mal ein Gewehr in der Hand gehabt?“
Niemand sagte etwas.
„Und? Hat schon mal jemand ein Gewehr in der Hand gehabt? Weiß irgendjemand, wo man Gewehre herbekommt und wie man damit ohne aufzufallen durch eine Großstadt marschiert? Niemand? Gut.“
„Was willst du denn eigentlich?“, fragte Brian genervt, „Du hörst dich an, als hättest du Angst vor deiner eigenen Idee. Du sabotierst dich mal wieder selbst.“
„Im Gegenteil. Ich schlage euch nur eure Hirngespinste aus dem Kopf, damit ich zum Kern der Sache kommen kann. Rebecca hat eine totsichere Methode, um Aufmerksamkeit zu erregen, ohne aufzufallen.“
David lehnte sich gelangweilt zurück. Wer wollte schon auffallen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen? Was für einen Sinn machte es, etwas zu tun, wenn man dafür keinen Ruhm ernten konnte. Schließlich gewann aber doch die Neugier und er fragte in sehr abschätzigem Tonfall: „Und?“
„Gift“, gab Rebecca zurück und platzierte eine kleine Flasche mit einem gräulichen Pulver darin auf dem Tisch. Sie ließ sich und ihr Wissen von so einem jungen Schnösel nicht herabwürdigen. Deshalb fügte sie hinzu: „Seit jeher die intelligentere Methode, zu morden. Das Problem von Leuten wie dir, mein Junge ist, dass es ihnen nicht um die Erledigung ihrer Aufgabe und ihr Ziel geht, sondern nur darum, sich selbst dazustellen. Die Frage ist, ob du jemand sein willst oder ob du etwas bewirken willst. Und so weit ich diese Gruppe verstanden habe, wollen wir etwas bewirken. Wenn du also nicht damit leben kannst, dich einer gemeinsamen Sache unterzuordnen, dann solltest du am besten jetzt aufstehen und gehen.“
„Ist ja schon gut, Miss. Ich hab nichts gesagt.“
„Wunderbar“, kommentierte Rebecca triumphierend und bevor ihr jemand das Wort abschneiden konnte, fuhr sie fort: „Das Zeug nennt sich Zinkphosphid, oder für euch: Finger weg! Wenn ihr es verschluckt – und wenn ihr nur eure Finger ableckt, kann ich für nichts garantieren. Es darf nur in sehr geringen Mengen verwendet werden. Kleine Nagetiere“ – dabei blickte sie David scharf an – „tötet es innerhalb von Minuten. Wenn wir Köder mit dem Gift versetzen und für die Schwäne auslegen, können wir uns bequem aus dem Staub machen, während das hier die Arbeit für uns erledigt.“ Sie deutete auf das Fläschchen: „Ihr werdet Handschuhe tragen und ihr werden diese Handschuhe vernichten, sobald ihr die Köder ausgelegt habt. Ihr hantiert hier zwar nicht mit Waffen, aber Zinkphosphid ist bei weitem tödlicher als Schwarzpulver.“
„Meine Güte, Rebecca, woher hast du dieses Zeug?“, fragte Brian, sichtlich in Sorge um die Sicherheit und Gesundheit der armen Frau, die sich mit derartigen Substanzen auskannte.
„Es spielt keine Rolle, woher ich es habe. Es ist nur wichtig, dass ich weiß, was man damit tut.“
„Es ist im Wesentlichen Rattengift“, warf Christopher ein. Er hatte das Gefühl, dass seine Freunde ein Recht darauf hatten, die profane Wahrheit hinter Rebeccas großen Worten zu erfahren. Er wollte nicht, dass sie sich für uninformierte Handlanger hielten.
Rebecca indes wollte nicht, dass ihre Fähigkeiten entzaubert wurden. Als Frau musste sie sich die Aufmerksamkeit der Jungs hart erarbeiten und sie konnte nicht zulassen, dass Christopher sie auf eine Stufe mit den anderen stellte. Verstand er nicht, dass eine Frau in einer Gruppe von Männer nur respektiert wurde, wenn sie Angst verbreitete? Ein kumpelhafter, zwangloser Umgang zwischen Männern und Frauen war ein Mythos. Wenn eine Frau ihre erhöhte Position aufgab, um mit den Männern angeblich gleichberechtigt zu sein, der wurde heraus gedrängt. Rebecca wusste nicht, ob das unbewusst geschah oder automatisch, ob es ein Naturgesetz oder eine Verschwörung war. Aber sie wusste, welche Sätze gleich fallen würden, wenn sie nicht intervenierte: Zu gefährlich für eine Frau, zu schwierig, zu schmutzig…
„Es ist ein bisschen mehr als Rattengift“, zischte Rebecca und funkelte Christopher an. Natürlich merkte er nichts von den unterschwelligen Machtkämpfen, die hier gerade ausgefochten wurden. Männer merkten so etwas nie. Sie glaubten immer an Zufälle…
„Also gut“, sagte Christopher, „Rebecca versetzt ihr Brot mit dem Gift und wir legen es am Kanalufer aus. Die Schwäne sind es gewöhnt, gefüttert zu werden. Sie sind wenig scheu und nach spätestens einer Nacht werden die Ergebnisse unserer Aktion bekannt werden.“
„Noch mal, bitte“, meldete sich David, „Was soll das bringen?“
„Es gibt dir etwas zu tun, das sollte doch reichen“, bemerkte Brian.
„Es geht darum, andere darauf aufmerksam zu machen, wie schlecht es uns geht. Vielleicht werden sich uns andere anschließen und vielleicht können wir dann sogar etwas bewegen“, erklärte Christopher.
„Was willst du denn bewegen, wenn niemand weiß, wer wir sind?“, fragte Brian.
Christopher klappte den Mund zu und machte sich bereit, zu schmollen. Aber Rebecca ergriff das Wort: „Es werden Zeitungen darüber schreiben, wenn ihr es klug anstellt. Und wenn ihr es dumm anstellt, wird einer von auch von der Polizei geschnappt. In beiden Fällen generiert ihr Aufmerksamkeit für eure Sache.“
„Ich zweifle diesen Plan an“, sagte Brian, beließ es aber dabei.
Das Brot, das Rebecca am nächsten Tag auf dem Ofen holte, unterschied sich äußerlich kein Bisschen von ihren üblichen Backwaren. Christopher verkniff sich einen Kommentar, aber es bestätigte seine Verbitterung Rebeccas Ernährungsweise betreffend.
„Denkt dran, ihr müsst aufpassen mit dem Zeug. Tragt eure Handschuhe!“, mahnte Rebecca.
„Und du musst aufpassen, dass die Nachbarn dir nicht eines Nachts einen Holzpflock ins Herz rammen“, gab Brian zurück, „Die Leute glauben an allerhand Chiromantie.“
Das sorgte für einen finsteren Blick und kein Abschiedsküsschen für Christopher.
„Tragt eure Handschuhe“, äffte David Rebecca nach, als sie die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, „Als würde bei dieser Witterung irgendjemand ohne Handschuhe aus dem Haus gehen…“
„Pass auf, was du sagst“, mahnte Christopher, „Rebecca meint es nur gut.“
Und so zankten sie sich, bis sie am Kanalufer ankamen und weit und breit keine Wasservögel zu sehen waren.
„Gefroren“, erkannte Brian, „Man hätte es sich denken können.“
„Und wo treiben sich die Biester jetzt herum?“, fragte David.
„Ist doch egal. Wir legen das Brot aus und verschwinden. Das ist der Plan“, sagte Christoph.
„Aber seht euch das an. Da ist es Winter und schon können keine Schiffe mehr fahren“, meinte Brian, „Wie kommen sie darauf, dass das hier effektiver sein kann als der Transport über einen ordinäre Straße?“
„Es ist neu“, sagte Christopher, „Bei neuen Dingen fragt niemand nach Effektivität, denn dann müssten sie auch über Kosten und Nutzen sprechen.“
„Es kostet uns die Arbeitsplätze“, erinnerte David, „Und es nutzt niemandem, außer den Kapitalisten.“
So etwas wie Bündnisse hielt Christopher eigentlich für gefährlich. Man hatte eine Familie für die man eintrat. Vielleicht Freunde. Aber Gruppen, verschworene Gemeinschaften, Parteien? Er war sich ziemlich sicher, dass Iren so etwas verboten war.
In England allerdings galt man als suspekt, wenn man nicht Mitglied einer Gemeinschaft war, wenn man nicht Beziehungen knüpfte und sich mit seinesgleichen vernetzte. Aber gab es so etwas wie seinesgleichen überhaupt noch einmal auf der Welt? Waren David und Brian vertrauenswürdig? Was hielten sie von ihm? Glaubte Rebecca, dass sie etwas mit ihm gemeinsam hatte? Um etwas allein zu machen, war Christopher allerdings zu zimperlich. Er brauchte die anderen wahrscheinlich mehr als sie ihn. Er war sich nur noch nicht sicher, ob und wie er seine Gruppe benennen sollte.
Rebecca hatte ihm gesagt, er solle vorsichtig mit David sein. Sie hielt ihn für dumm und für vorlaut und das für eine gefährliche Kombination. Brian hielt sie zwar für integer, aber auch für unzuverlässig.
„Er ist intelligent“, sagte sie, „aber er ist nicht tapfer. Er ist loyal, aber nicht dir gegenüber.“
Christopher vertraute Rebecca dahingehend, wenngleich es ihn schmerzte. Deshalb sagte er, ohne es wirklich so zu meinen: „Du sollst uns nicht auseinandertreiben.“
„Ich könnte es nicht tun, wenn ihr wirklich zusammen wärt“, gab sie kühl zurück.
Und jetzt waren sie hier. Der Winter zog nochmal alle Register, bevor er dem Frühling weichen musste. Sie zitterten vor Kälte und Aufregung, als sie nach möglichen Verstecken für Wasservögel am Ufer Ausschau hielten.
„Wenn ich ein Schwan wäre, ich würde auch lieber in der Stadt leben wollen als auf dem Land“, sagte Brian plötzlich, „Sieh dir an, wie sie hier gemästet werden. Kein Wunder, dass sie überall da auftauchen, wo der Mensch Wassermassen künstlich aufstaut.“
„Die Ratten des Wassers“, meinte Christopher.
„Ich dachte Kanalratten sind bereits die Ratten des Wassers“, sagte David.
„Kein Sinn für Poesie, der Junge“, seufzte Brian.
Schließlich kamen sie zu der Stelle, an der Christopher früher die Enten und Schwäne mit seinen Pausenbroten gefüttert hatte und er schlug vor, zumindest einen Teil des Brotes hier zu hinterlassen.
Sie spazierten weiter am Ufer entlang und hier und da legten sie die Köder aus. Nicht alle würden gefunden und gefressen werden und sicherlich nicht alle von Schwänen, aber wenn sie nebenbei ein paar Ratten vergiften konnten, war die Aktion sogar noch zu etwas gesellschaftlich Wertvollem nütze.
„So ein Quatsch. Gemästet…“, sagte Christopher, als sie all ihre Brotstücke verteilt hatten, „Die müssen gerade hungern und sind auf milde Gaben angewiesen. Wir hätten uns keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können.“
Dem stimmten alle zu und sie trollten sich zurück zu Rebeccas Haus, wo sie mit Tee und ungiftigem Schwarzbrot empfangen wurden.
In der darauf folgenden Nacht träumte Christopher davon, wie er auf seiner Seite des Bettes lag und zu dem kleinen Fenster hinüberblickte, das normalerweise auf den Hinterhof zeigte, nur dass er jetzt nicht hinausblickte, sondern hinein in ein Zimmer, das ebenfalls zum Schlafen benutzt wurde. Von dort aus starrte ihn Cathy an und er konnte nicht deuten, ob ihr Blick leer, vorwurfsvoll oder neugierig war. Christopher wachte auf, aber die Verwirrung blieb noch einen Augenblick. Gab es einen Unterschied, ob man von außen hinaus oder von innen hinein blickte? Und wie unangenehm so ein Blick sein konnte, wenn man ihn nicht zu deuten wusste! Und wie unangenehm sein eigener Blick wohl sein mochte… Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Wo war innen, wo war außen? Wo wollte er sein? In einer Fabrik? In einem Gefängnis? Auf der Straße? Obdachlos? Unterwegs, reisend? Zu Hause? Eingesperrt? Sicher und gemütlich in seinem Bett? In Mitten der Gesellschaft oder als zynischer, unbeteiligter Beobachter außen stehend?
Christopher war kein Zyniker. Er stand nicht gerne außen. Er mochte es gemütlich und sicher. Brian hingegen hatte die Tendenz sich selbst auszugrenzen. Vielleicht war das der Grund, warum Christopher ihn für nicht ganz geistig gesund hielt und sich insgeheim Sorgen machte.
Das mit Cathy hatte er noch nicht verdaut. Sie und ihr Blick verfolgten ihn und er wusste nicht, was sie ihm zu sagen hatten. Oder was er ihnen sagen sollte? Kommunikation war kompliziert, vor allem, wenn man allein war.
Rebecca hingegen träumte von einer Straße, die sie entlang wandern musste. Sie wusste nicht, warum und wohin sie sie führen würde. Weit und breit existierte nichts und die Welt hinter ihr zerfiel, so wie sie sich von ihr abwandte. Manchmal ist es schwierig, sich in Träumen fortzubewegen. Man klebt an einem Fleck, bewegt sich wie in Zeitlupe, obwohl man weiß, dass einem Gefahr droht, wenn man sich nicht schnell davon macht. Manchmal verspürt man Schmerzen, weil man verspannt im Bett liegt. In dieser Nacht fühlte Rebecca sich leicht, als könnte sie überallhin gelangen, wenn sie nur mit den Augen blinzelte. Leider gab es nur diese öde Straße, also ging sie los. Erwartungen beflügeln, Enttäuschungen hängen hingegen an einem wie Bleigewichte. Wozu irgendetwas tun?
Es ist eine Straße in Wales, wusste Rebecca plötzlich im Traum. Genauso gut könnte es eine Straße im Nichts sein. Wales ist ein schmieriger, feuchter, kalter und dunkler Ort. Besser, man nahm jede Möglichkeit, die sich einem bot, wahr, um von dort wegzukommen. Besser, man blickte sich nicht um, besser man vergaß. Und dennoch kam die nasskalte Leere des Traumes ihr heimeliger vor, als der Gedanke an das in Trümmern liegende Haus. In Trümmern? Wieso lag es in Trümmern? Lag es in Trümmern? Sie wandte sich um und sah hinter sich nichts als die gleiche gradlinige Straße, die auch vor ihr lag. Es ist weg, dachte sie einen Augenblick und wusste im nächsten nicht, ob sie das ängstigen oder erleichtern sollte. Es ist weg. Ich bin allein.
Das Glück war bekanntlich mit den Leichtsinnigen und unter den Leichtsinnigen war David ein Narr. Er hielt es nicht aus und wanderte am nächsten Tag am Ufer des Kanals entlang, um nach den Giftködern zu sehen. Rebecca hatte gesagt, er solle das sein lassen, weil es zu auffällig wäre, aber was ließ er sich schon von einer Frau sagen? Und er behielt Recht, denn er war der Erste, der von ihrem Triumph erfuhr: Gleich am ersten Tag hatte es drei Schwäne erwischt. Ihre leblosen Köper lagen wie Unrat bei den winterkahlen Sträuchern, aber ihr blütenweißes Gefieder wollte den Ekel, der normalerweise an allen toten Körpern klebt, nicht annehmen und so hätte man sie für weggeworfene Schwanenpuppen, Spielzeug oder ein Häufchen übriggebliebenen Schnees halten können. Ein bisschen zerzaust durch den Wind, aber keinesfalls hässlich. Künstlich, kalt, wie ein makabres Kunstwerk, das am Ende doch niemand wollte. Gottes Ausschussware. Ein kleines, von Menschenhand bereitetes Unheil.
David war zufrieden. Sie staben nicht im Wasser. Auch diese eleganten, majestätischen Wesen krochen zum Sterben an Land, wo sie sich wanden und zuckten, bis es vorbei war. Etwas an dieser Vorstellung beglückte David und es erschreckte ihn zugleich, dass er auf die toten Schwäne herabblicken konnte, ohne zu erkennen, dass diese Tiere gestern noch eine Seele gehabt haben mussten. Und jetzt sind sie Abfall, dachte er und schlenderte weiter, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Was immer das Ziel ihrer Aktion gewesen war, der Plan war aufgegangen. David verstand immer noch nicht so ganz, was es bringen sollte, anonym zu bleiben, aber das Hochgefühl, etwas bewirkt zu haben, das sie bewirken wollten, überlagerte gerade seinen Wunsch nach Ruhm. Vielleicht konnte er Brian und Christopher vorschlagen, dass sie der Gruppe zumindest einen Namen gaben und als Geheimgesellschaft auftraten.
In seinem Kopf überschlugen sich die Ideen und er musste sich zurück halten, dass er nicht zu offensichtlich grinste und sein Schritt nicht in übermütiges Hüpfen überging.
„Drei tote Schwäne?“, rief Christopher erfreut, „Das ist zumindest eine kleine Meldung wert. Wenn wir weitermachen, werden wir…“
„…eine etwas größere Meldung sein“, sagte Rebecca und tischte den Tee auf. David beäugte ihn misstrauisch, probierte dann aber doch und fand ihn akzeptabel genug, um ihn geräuschvoll zu schlürfen.
„Hör mal, David“, begann Rebecca mit einer Stimme, deren Mütterlichkeit sie selbst erschreckte, „vielleicht wäre es doch besser, wenn du dir eine Anstellung auf einem der Schiffe suchen würdest. Du bist noch jung und du wirst diese Zukunft, von der allen faseln, noch erleben.“
„Und ihr etwa nicht?“, fragte er brüsk zurück.
„Du bist jung und kräftig. Du kannst es noch zu etwas bringen, wenn du dich anstrengst. Du solltest deine Zeit nicht damit verschwenden, einem toten Traum hinterher zu jagen.“
„Aber…“
„Wir haben nichts sonst, außer diesem toten Traum“, unterbrach sie ihn, „Überlass das Trauern um die Vergangenheit denen, die sie gekannt haben und kümmere du dich darum, dass die Zukunft lebenswert sein wird.“
„Wie verbittert du bist!“, sagte David entsetzt, „Es scheint, als würdest du gar nicht daran glauben, dass sich etwas ändern kann.“
Rebecca lächelte: „Wir sind hier unter uns. Da draußen rufen sie von den Podesten herunter, dass eine solidarische Gesellschaft möglich ist und dass wir uns füreinander einsetzen müssen, dabei wissen wir, was die Wahrheit ist: Jeder wird soviel an sich reißen, wie er kriegen kann. Wenn es hart auf hart kommt, bekämpfen sie sich mit Zähnen und Klauen. Diejenigen, die wirklich solidarisch sein wollen, sind die ersten, denen sie das letzte Hemd ausziehen. Deshalb sag ich dir jetzt, wie es wirklich läuft: Wenn du hier eines Tages rauskommen willst, dann kriech denen in den Arsch, die dich verachten. Hier im Slum, brauchst du nicht auf Unterstützung zu hoffen. Hier ziehen sie dich nur alle tiefer hinein in den Sumpf.“
Sie schwiegen alle eine Weile, bis Christopher sagte: „Sie hat Recht. Sieh zu, dass du von hier wegkommst.“
Aber David schüttelte den Kopf: „Nein“, sagte er langsam, „Meine Eltern haben sich von ihrem Land vertreiben lassen und es ist ihnen dabei schlecht ergangen. Ich werde bleiben, wo ich bin und darauf bestehen, dass mir hier ein angemessenes Leben zusteht. Die Iren sind oft genug geflohen. Jetzt wird es langsam Zeit, dass sie sesshaft werden.“
„Wie kämpferisch“, bemerkte Rebecca, „Aber du wirst sehen, das Leben ist eine einzige Enttäuschung.“
„Es ist immer dann eine Enttäuschung, wenn man kapituliert“, meinte David, „Natürlich kann ich eine Stellung annehmen, aber das heißt nicht, dass das Ende der Fahnenstange ist. Habt ihr keine Träume mehr?“
Rebecca überlegte einen Augenblick, schwieg aber dann. Das Thema Träume war eines, in das sie nur ungerne allzu viel Zeit investierte. Sie hatte einfach zu viel zu tun. Und wovon konnte sie auch träumen? Sie hatte in ihrem Leben bereits mehr gesehen, als die meisten Frauen jemals erfahren würden. Und dennoch bestand für sie die Welt nur aus stinkenden Großstädten. Wenn sie darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass das, was sie am meisten störte, die Mauern waren. Man konnte nie weiter als fünf Meter blicken, ehe eine Backsteinmauer einem das Sichtfeld versperrte.
Manchmal fragte sie sich, ob Erfahrungen, die man nicht sammelte, einem mehr Glück brachten, als solche, die einen klüger, härter und weiser machten. Erkenntnisse konnten zu falschen Schlüssen führen. Wenn beispielsweise der Karpfen erkennt, dass auch der Hecht im Wasser lebt, kann er zu dem Schluss kommen, dass das Wasser an sich eine Gefahr darstellt, dem er besser entkommen sollte. Aber ist das wirklich ein falscher Schluss?
Die meisten Frauen lebten in seliger Ignoranz und das war der Grund, warum sich für sie nichts änderte, warum sie das Wasser nie verließen und ihre Kiemen nie verlieren würden. Sie wussten nichts davon, was möglich war. Sie fürchteten sich vor Verantwortung und sie sehnten sich danach, behütet zu werden, weil sie erkannt hatten, dass das Leben als unmündiges Kind glücklicher ist als das eines mündigen Bürgers. Daran wird die Frauenrechtsbewegung scheitern: Daran, dass die Frauen klug genug sind, zu wissen, dass es unklug ist, klug sein zu wollen. Ihre Angst vor der Evolution ist das Hemmnis derselben. Sie fürchten sich, es nicht zu schaffen, gegen die Männer nicht anzukommen, deshalb wünschen sie sich, dass diese auf ihrer Seite sind und verhätscheln sie, reden ihnen so lange ein, sie seien stärker, klüger und wichtiger, bis sie es selbst glauben und gegen die Frauen verwenden. Dies ist eine Männerwelt, eine Welt der Hechte, ohne Zweifel, dachte Rebecca, aber wie zimperlich muss man sein, um sich davor zu fürchten, sich in ihr zu bewegen? Nur wenn man sich in ihr als Frau bewegte, konnte man dafür sorgen, dass sie weniger männlich und mehr menschlich wurde.
Es hatte keinen Sinn, eine weibliche Welt zu fordern, denn was wäre diese außer preziös und schwatzhaft? Eine Welt, in der all das Gute, das Starke und Wichtige auch den Frauen zugänglich gemacht und so vom Attribut der Männlichkeit gelöst würde, sodass Güte, Stärke und Wichtigkeit genauso natürlich mit Frauen wie mit Männern in Verbindung gebracht würde, würde Rebecca ausreichen.
Ein Blockhaus in Amerika, auf dessen Terrasse man sitzen und von wo aus man meilenweit in die Ferne schauen konnte. Vielleicht wäre das einer von Rebeccas Träumen gewesen, wenn diese nicht von dem alten Haus unten in Swansea vereinnahmt gewesen wären.
Er hat recht, dachte sie, wer einmal flieht, wird immer weiter vertrieben, wenn er nicht ein für alle mal klar macht, dass er nicht mehr bereit ist, weiter zu ziehen. Wo wäre ich heute, wenn ich immer ausgewichen wäre, wenn ich immer klein bei gegeben hätte? Glücklich verheiratet in einem großen Haus irgendwo in Südwales… Es hatte seine Tücken, das selbstbestimmte Leben.
„Träumen kann man hier nur davon, dass man abends etwas Warmes zu essen bekommt“, warf Christopher ein, „Und das ist das Problem. Du kämpft vielleicht für deine Träume, wir für das Recht überhaupt träumen zu dürfen.“
„Du willst also auch, dass ich gehe?“, fragte David.
„Ich will, dass du weißt, dass du gehen kannst, wann immer du willst.“
„Ich habe immer geglaubt, du hältst mich für einen kleinen Jungen, Christopher, aber ich bin nicht dein Sohn.“
„Besser, du wärst jemandes Sohn. Jeder hat es verdient, jemanden zu haben, der einem versichert, dass er es einmal besser haben kann“, sagte Christopher.
„Das ist eine Lüge und das weißt du.“
„Als ich in deinem Alter war, hatte ich die Hoffnung auch schon aufgegeben“, sagte Rebecca und brachte damit Christopher zum Schweigen, der noch etwas nachsetzen wollte.
Welche Hoffnung hast du jemals gehabt?, fragte sich Rebecca später. Egal, wo ich gewesen bin, immer wollte ich fort, davonlaufen und alles, was ich angerichtet hatte, zurücklassen, damit jemand anderes den Scherbenhaufen hinter mir aufräumt. Du bist hysterisch, Rebecca, sagte sie sich, du bist in jeder Hinsicht hysterisch. Für dich gibt es nie eine bessere Idee als wegzulaufen. Aber gibt es denn überhaupt irgendeinen Ort auf dieser Welt, an dem es sich lohnt zu bleiben? Schwan müsste man sein, dann könnte man einfach davonfliegen, dächte nicht an morgen, fraß einfach, was die Leute einem hinwarfen und verendete, wenn man Pech hatte und etwas Falsches erwischte.
Wie seltsam, fand sie, ich sollte Mitleid mit den armen Tieren haben, aber das einzige, woran ich denken kann, ist, dass sie es hinter sich haben.
David war enttäuscht über die Reaktionen Rebeccas und Christophers. Er hielt sie für feige. Wollten sie aufgeben, weil sie sich vor ihrem eigenen Erfolg fürchteten? Er schlenderte die Straße entlang und fragte sich, ob er überhaupt noch zu Brian gehen und ihm von den toten Schwänen erzählen sollte. Er fühlte sich plötzlich sehr allein mit seinem Wunsch nach… wonach eigentlich? Vergeltung? Wie tief musste ein Mensch sinken, um Kraft aus schnöder Vergeltung ziehen zu können? David wusste selbst, dass Zerstörung einen nicht weiter brachte, sondern nur den Weg anderer hemmte und sie somit nur eine Illusion des Erfolgs darstellte, aber es fühlte sich gut an und er war kein Philosoph, der diese Frage hätte erörtern können.
Es war Cathy, die ihn empfing und erklärte, Brian sei nicht da. Wo er denn sei. Arbeiten.
David war es unangenehm mit einer Verrückten zu reden und so verabschiedete er sich schnell von ihr und suchte das Weite. Wahrscheinlich trieb Brian sich irgendwo herum. Was hatte er schon zu tun? Und wenn man arbeitslos war, fielen die meisten Hemmungen – insbesondere, was das Trinken am Morgen und in der Öffentlichkeit betraf.
Ob Cathy Bescheid wusste? Unter all den Schichten ihrer Hirngespinste vielleicht… Selbst wenn sie jemandem etwas Wahres erzählte, würde ihr niemand glauben.
David stellte sich den Verstand Cathys wie eine Zwiebel vor. Schleier lagen übereinander und trübten die Sicht auf die Realität und in ihrer Mitte, wo der Verstand sitzen sollte, befand sich nichts. Sie bestand nur aus Hüllen, die sich selbst einwickelten. Tragisches Schicksal, dachte er und seine emotionale Kühle, fiel ihm jetzt weniger auf, als beim Anblick der toten Schwäne.
„Wir haben alle unsere Probleme“, sagte Christopher zu Rebecca, „Es ist nicht fair, die einen gegen die anderen auszuspielen.“
„Wenn dein Problem ist, dass du am Verhungern bist, ist es sehr wohl angebracht, es gegen das Problem auszuspielen, dass du dir dein drittes Rennpferd nicht leisten kannst.“
„Das ist ja kein Problem“, verteidigte sich Christopher.
„Der Rennpferdehalter wird das anders sehen. Alles eine Frage der Perspektive.“
„Ich glaube kaum, dass es dem Rennpferdehalter egal ist, wenn ein Mensch verhungert!“
„Du bist ein hoffnungsloser Optimist, Christopher. Die meisten Menschen, die Rennpferde besitzen, wissen nicht einmal, dass es so etwas wie Hunger überhaupt gibt. Und wenn doch, dann ist es die Schuld des Hungernden, der schlicht zu faul ist, um für sein Brot zu arbeiten. Verstehst du, was ich damit sagen will? Deine Perspektive wird sich niemals mit der Perspektive der Königin überschneiden können. Sie kann dich gar nicht verstehen. Du sprichst nicht ihre Sprache.“
„Aber sie hat doch Augen im Kopf und sie kommt herum in ihrem Land“, sagte Christopher.
Rebecca nahm ihm die Zeitung aus der Hand und klappte die zusammen: „Das ist das Problem mit diesen Dingern, sie reden den Leuten Verständnis für ihre eigenen Ausbeuter ein. Nur weil diese Schreiberlinge behaupten, dass die Königin ein Mensch ist, muss das noch lange nicht stimmen.“
„Was soll sie denn sonst sein?“, fragte Christopher, „Ich dachte, es ginge darum, sie daran zu erinnern, dass sie nichts anderes ist als wir alle?“
„Schnickschnack“, erwiderte Rebecca, „Ein Vampir ist sie, sonst nichts.“
Christopher seufzte: „Das führt doch zu nichts. Man kann nicht außerhalb des Systems leben. Wir brauchen Geld und ich kann es nur verdienen, indem ich…“
„…indem du dich von irgendjemandem aussaugen lässt.“
„Ich arbeite nun mal mit Pferden, Rebecca. Da muss ich mich auch mit Leuten abgeben, die ich normalerweise verabscheuen würde.“
„Normalerweise? Aber ausnahmsweise verabscheust du sie nicht, wenn du für sie malochen musst? Rennpferde, Christopher? Wirklich? Damit willst du dich befassen? Mit solchen Leuten willst du Umgang pflegen?“
Ich will mit Pferden umgehen“, sagte Christopher.
„Weißt du, im Vampirmythos ist auch eine gewisse Hoffnung enthalten.“
„So?“
„Die Gutsherren, deren Schatten die Vampire sind, sind tot. Das ist die Zukunft. Du biederst dich einem Schatten an. Du willst dich einem Schatten versklaven.“
„Ich will es nicht. Ich muss.“
Rebecca funkelte ihn an: „Es würde mich sehr enttäuschen.“
„Was willst du eigentlich? Eben noch hast du David gesagt, er solle sich einen Job suchen!“
„Christopher, siehst du das nicht? Der Junge ist unberechenbar! Er ist gefährlich! Besser ihr schmeißt ihn raus aus eurer Gruppe. Noch besser, er geht von alleine!“, sagte Rebecca.
„Unsere Gruppe? Du meinst Brian und mich?“
Sie räusperte sich.
„Und dich“, ergänzte Christopher, „Glaubst du wirklich wir könnten etwas ausrichten?“
„Ich glaube, du solltest nicht bei einem beschissenen Adligen für einen Job vorsprechen!“
„Ich habe doch nur den Bericht gelesen“, verteidigte er sich.
„Und wohlwollend kommentiert“, sagte Rebecca.
„Wann ist das Leben eigentlich so kompliziert geworden?“
Jetzt seufzte Rebecca: „Als sie den Sklaven ihre Ketten abgenommen und ihnen einen Arbeitsvertrag in die Hand gedrückt haben. Seit dem können sie sich nicht mehr damit entschuldigen, dass die gezwungen sind, ihren Herrn immer reicher zu machen. Seit dem müssen sie mit Verantwortung, Unsicherheit und Schuld umgehen. Früher haben sie aufmüpfige Sklaven öffentlich gehängt und damit jedem die Bestialität ihres Systems vor Augen geführt. Es war unmissverständlich. Heute werden aufmüpfige Arbeiter entlassen und man hängt ihnen einen Ruf an, der dafür sorgt, dass sie nirgendwo sonst eine Stellung finden. Aber immerhin sind sie frei. Verstehst du? Sie sind frei und selbst schuld. Immerhin hätten sie sich auch entscheiden können, nicht aufmüpfig sondern zufrieden zu sein. Andere sind es ja schließlich auch. Bescheidenheit ist ein Fluch, keine Tugend!“
„Du willst also David loswerden?“, wechselte Christopher das Thema.
„Unbedingt.“
„Ich bringe es nicht übers Herz. Er ist nicht dumm, weißt du. Er ist nur ein wenig unerfahren und muss in einer Welt bestehen, die nicht darauf ausgerichtet ist, dass einer wie er in einem sicheren Rahmen aus Fehlern lernen kann. Jeder Fehler kann dich den Kragen kosten.“
„Eben deshalb ist er eine Gefahr“, sagte Rebecca.
„Und was unterscheidet dich da von einem Unternehmer, der seinen aufmüpfigen Arbeiter feuert?“
„Die Tatsache, dass ich ihn nicht durchfüttere.“
„Manchmal weiß ich nicht, woran ich bei dir bin“, sagte Christopher, „Vorhin sagtest du, dass jeder nur für sich nach allem grabscht, was er kriegen kann und jetzt…“
„Jetzt beweise ich es“, sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn, der ihn versöhnen sollte, „David wird ein Problem werden. Er versteht nicht, worum es geht.“
„Und worum geht es?“
„Einen toten Traum wiederzubeleben, den er nicht träumen kann.“
„Drei tote Schwäne und zwei tote Enten“, zitierte Brian die Bestandsaufnahme der Abendzeitung.
Es war nur eine kleine Meldung, die eine Lücke füllte, aber jemand hatte sich die Mühe gemacht, darüber zu schreiben. Das war schon mal ein Anfang.
„Dass in den letzten Winterwochen tote Wasservögel aufgelesen werden, ist keine Seltenheit, haben sie doch eine lange Zeit des Darbens hinter sich und der Frühling lässt dieses Jahr außergewöhnlich lange auf sich warten. Dennoch sind gleich fünf tote Tiere auf einmal entweder ein enormer Zufall oder das Werk eines verwirrten Vogelfeindes“, las Brian weiter.
„Sie haben die Botschaft nicht verstanden“, bemerkte Christopher enttäuscht.
„Noch nicht“, sagte Brian, „Es sind noch genug Schwäne übrig, um die Aufmerksamkeit der Königin zu wecken.“
„Und dann?“, fragte Rebecca, „Hoffen wir dann, dass sie alles richten wird?“
Sie bekam keine Antwort. Ihr Sarkasmus hatte allen Beteiligten heute schon genug Kraft gekostet.
Nach einer Weile fragte Christopher: „Was hältst du von David?“
„Wie meinst du das denn?“, gab Brian zurück.
„Du bist doch so gut darin, Menschen einzuschätzen, also sag schon, was hältst du von ihm?“
„Ich halte ihn für verwirrt. Aber das sind sie alle in seinem Alter. Ich meine, er tut so, als würde er rebellieren, dabei wünscht er sich nichts mehr als Führung.“
„Führung?“
„Er sucht nach Schutz. Das ist doch ganz normal. Er braucht eine Aufgabe, eine Identität. Er braucht jemandem, der ihm zeigt, wie es auf der Welt so läuft. Erziehung hat man das früher genannt. Der Nachteil solch einer Erziehung ist aber, dass man vertrauen muss, um erzogen werden zu könne und David hat all sein Vertrauen in Autoritäten verloren. Stell dir vor, du wählst einen Beruf, bekommst erst eine Anstellung als Hilfskraft und dann gesagt, dass alles, was du gelernt hast, für die Katz war, weil dein Beruf ohnehin aussterben wird. Plötzlich nimmst du all die Jahre als Zeitverschwendung wahr und die Jahre sind lang, wenn du jung bist.“
„Glaubst du, dass er, nun ja, eine Gefahr für sich selbst darstellt?“, fragte Christopher.
„Ich habe immer versucht, ihm ein vertrauenswürdiger Ansprechpartner zu sein. Niemand hat es verdient, in die Welt hinaus getrieben zu werden mit nichts als dem Wissen darum, dass man verloren ist. David hat noch einen Funken Hoffnung, wenn ich mich nicht täusche und vielleicht ist das gefährlich. Vielleicht ist es aber auch hilfreich. Vielleicht können wir noch etwas von ihm lernen, was meinst du?“
„Ich glaube, ich bin verbittert, Brian“, sagte Christopher.
„Das glaubst du nur? Chris, die ganze Welt weiß, dass du verbittert bist. Die große Frage ist nur: Warum? Sieh dich um! Du bist nicht ganz unten und nach ganz oben willst du ohnehin nicht, oder? Dein Problem ist, dass du nicht weißt, was du willst und mit allem unglücklich bist, was du bekommst.“
„Und ich bekomme so wenig. Nein, man nimmt mir sogar Sachen weg. Wie soll man da nicht unglücklich sein?“
„Da bist du zum ersten Mal in Berührung mit der echten Welt gekommen und es gefällt dir nicht, was? So geht es vielen Dichtern, die zum ersten Mal fühlen, was Hunger ist. Weißt du was Hunger ist, Chris? Es ist das Gegenteil von Lust oder Gier. Es ist Lethargie. Hunger ist Lethargie. Das Gefühl, etwas tun zu müssen, es aber nicht zu können. Hemmung. Leere. Stumpfheit. Du kennst dieses Gefühl, wenn man an nichts denkt, wenn man nichts mehr sieht außer Nebel? Das ist Hunger. Blindheit. Verlorenheit im Hier und Jetzt. Man kann so schwer Worte für das Nichts finden, das man in sich spürt, wenn man allein am Küchentisch sitzt. Zum ersten Mal tut dir der Arsch vom Sitzen weh, was? Das ist die Realität. Das ist Verbitterung“, sagte Brian, „Aber keine Sorge, Verbitterung ist nur ein Zeichen dafür, dass du noch nicht völlig verfault bist. Bewusstsein ist gut. Schmerzen sind der Beweis dafür, dass du noch lebst. In unserem Alter ist man verbittert, in Davids ist man zornig.“
„Ich habe nur gefragt, weil ich gedacht habe, dass David vielleicht zu übermütig ist und vielleicht geschwätzig wird“, sagte Christopher.
„Du tust ja so, als hätten wir vor, eine Bank zu überfallen, Chris. Wir haben ein paar Wasservögel vergiftet. Niemand wird uns deswegen an den Kragen wollen.“
„Du vergisst den Act of Swans“, sagte Christopher.
„Wir sind hier in Manchester, nicht in London. Hier gelten andere Gesetze.“
„Also das wiederum wäre mir neu“, warf Rebecca ein.
„Im übertragenden Sinne“, behauptete Brian, aber Rebecca blieb skeptisch.
„Mal was anderes“, begann Christopher, „Was hältst du eigentlich davon, in einem Privathaushalt zu arbeiten?“
Einen Augenblick lang schaute Brian irritiert, dann platze er vor Lachen. Er warf Rebecca einen verschmitzten Blick zu und rief: „Rebecca in einer Dienstmädchenuniform? Du willst mich doch verarschen!“
„Du treibst es ziemlich weit, Mister“, zischte Rebecca dazwischen, „Das hier ist immer noch mein Haus und mein Tee, den du da trinkst.“
„Oh, ich bitte um Verzeihung, ich wollte dich nicht kränken. Es ist nur so schwer vorstellbar, dass du so etwas auf Anweisung anderer machst… In so einer bescheuerten Uniform. Also wirklich, Becky, das hast nicht mal du verdient.“
„Na, herzlichen Dank.“
„Es geht ja auch gar nicht um sie“, sagte Christopher, „Ich habe mir überlegt…“
„Er will jetzt Rennpferde verhätscheln“, erklärte Rebecca.
„Es war nur so eine Idee… Und außerdem wird Rennpferden viel angetan, aber sie werden bestimmt nicht verhätschelt. Meine Güte, bist du wirklich neidisch?“
Christopher war es leid. Rebecca merkte nie, wann sie zu weit ging und sie besaß kein bisschen Schuldbewusstsein. Sie nahm sich so viel heraus, weil sie wusste, dass die Leute von ihr abhängig waren. Sie wurde gebraucht, deshalb konnte sie sich verhalten wie die Axt im Walde. Jetzt, wo er selbst von ihr abhing, fiel es ihm noch deutlicher auf. Sie konnte eine richtige Despotin sein. Ihr Zynismus, den sie vielleicht einen Sinn für Humor nannte, war verletzend. Man hatte schon oft gehört, dass die Leute in Wales anders tickten, dass sie kein Feingefühl besaßen, dass sie es liebten, andere vor den Kopf zu stoßen. Kleine Nadelstiche dafür, dass man mit der Eingliederung nach wie vor nicht einverstanden war. Aber meine Güte, das war 350 Jahre her! Was konnte er dafür? Er war noch nicht einmal Engländer. Er war Ire, verdammt noch mal! Wenn sie einen Wettkampf aufmachen würden, welches Land mehr von den Engländern gebeutelt wurde, würde er ohne jeden Zweifel gewinnen.
Aber nein, natürlich würde sie sich nie auf so einen Wettkampf einlassen, denn wenn es abstrakt wurde, dann kannte Rebecca keine Unterschiede mehr. Alle Menschen funktionieren gleich. Aber Menschen waren mehr als ihre Funktionen. Sie hatten Geist und Seele. Manchmal hatte Christopher den Eindruck, Rebecca besaß kein Verständnis dafür, dass Menschen auch verletzt werden konnten, ohne dass ihre Körper dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden.
„Du machst es dir sehr leicht“, fügte er hinzu, „Alle Menschen sind gleich, aber nur so lange, wie sie nicht über dir stehen.“
„Was soll das denn jetzt?“, fragte Rebecca, „Wir reden über Pferde, ich werde mich sicher nicht einem Pferd unterordnen.“
„Du machst dich darüber lustig, dass man sich Arbeit sucht, wenn man keine hat. Das ist nicht fair.“
„Was ich sagte, ist, dass sich das System nicht ändern wird, wenn die Leute zwar moralisch auf Seiten der Revolution stehen, tatsächlich aber den Reichen in den Arsch kriechen. Man muss Prioritäten setzen. Man schafft den Feudalismus nicht ab, indem man abends den Gutsherren in einem Schmähgedicht der Lächerlich preisgibt und ihm morgens die Stiefel leckt.“
„Ja, das meinte ich. Du machst es dir sehr leicht.“
„Wenn ich sage, alle Menschen sind gleich, dann heißt das, dass ich niemanden für etwas Besseres halte.“
„Nein, du hältst alle für das Schlechteste.“
Rebecca lachte müde: „Für Hausangestellte gibt es nicht einmal eine Gewerkschaft. Die konservativsten unter ihnen würden vermutlich sogar mit Freuden ohne Bezahlung nur dafür arbeiten, dass sie eine schicke Uniform tragen dürfen.“
„Und schätzt du mich so ein?“
„Nein, deshalb wundert es mich ja. Ich erkenne dich nicht wieder. Wie groß ist deine Verzweiflung, Christopher?“
„Ich wollte die Meinung von Brian wissen, aber Danke für deine Einschätzung. Die Verzweiflung ist erträglich. Zumindest erträglicher als das ständige Theoretisieren einer konkreten Situation. Der Punkt ist: Wir brauchen Geld!“
„Es hängt immer am Geld“, mischte sich Brian wieder vorsichtig ein, „So lange die Reichen, dich mit Geld beschmeißen können, sind sie eben nicht gleich. Geld ist Macht und Macht ist Freiheit. Und die Freiheit einzelner ist immer die Unfreiheit anderer.“
„Und wir haben zu viel Zeit. Wir haben viel zu viel Zeit, um diese endlosen Gespräche zu führen, die sich im Kreis drehen und am Ende widersprechen wir uns selbst, ohne es zu merken. Ich weiß selbst nicht mehr, woran ich glauben soll“, fiel Christopher ein.
„Wer weiß das schon“, sagte Rebecca versöhnlich, „Wir versuchen doch alle nur, irgendwie zurecht zukommen und dabei möglichst anständig zu bleiben.“
„Also, wenn du mich fragst, ist nichts dabei, in einem Privathaushalt zu arbeiten“, sagte Brian schließlich, aber man sah ihm an, dass er sich unwohl dabei fühlte.
„Es ist fast unmöglich, anständig zu bleiben“, fasste Christopher zusammen, „David muss sich entscheiden zwischen seiner Identität und der Zukunft und wir müssen uns entscheiden zwischen einem integeren Untergang und einer Kapitulation.“
„Beides dasselbe“, sagte Rebecca, „Nur, dass er länger damit leben muss.“
„Es tut mir leid“, sagte Brian, „Wir sollten unseren Erfolg feiern und stattdessen diskutieren wir hier und kommen zu dem Schluss, dass wir rein gar nichts verändern können. So sollte das eigentlich nicht laufen, aber es ist auch irgendwie erschöpfend, dieses Dasein.“
Dasein. Es war Christopher nicht entgangen, dass Brian sich darum drückte, dieses Dasein näher zu definieren, wo er doch sonst um keinen Monolog verlegen war. Aber er beließ es dabei, denn Brian hatte natürlich Recht: Sie könnten rein gar nichts verändern.
Verändern vielleicht nicht, das hieß jedoch nicht, dass sie nichts tun konnten. Im Gegenteil: Sie mussten etwas tun. Jeder musste etwas tun, sonst gerann das Gehirn zu Grütze. Rebecca besorgte neues Gift und backte neues Brot. Schon am nächsten Morgen war ihre Stimmung weit weniger düster und Christopher konnte nicht anders, als einerseits bei sich zu denken: „Sie versteht es nicht und wie kann ich ihr das zum Vorwurf machen?“ und andererseits zu sagen: „Ich liebe dich.“ Am Morgen mehr als am Abend… aber das sagte er nicht.
Wir sind Menschen, weil wir sogar für uns selbst unberechenbar sind, dachte er, es ist eine Illusion, dass wir Prinzipien haben, an denen wir immer festhalten und nach denen wir immer handeln. Manchmal haben wir einfach einen schlechten Tag. Manchmal scheint einfach die Sonne nicht.
Abgemacht war ein Treffen am Vormittag, aber sowohl David als auch Brian ließen auf sich warten.
„Wenn sie nicht kommen, können sie sich auf was gefasst machen!“, sagte Rebecca, „Was glauben sie? Dass ich zum Spaß vergiftetes Brot backe, Mehl und Gift verschwende? Oder dass ich das Zeug irgendwelchen Straßenjungen in die Hand drücke, damit sie die Drecksarbeit für die feinen Herren erledigen? Am Ende bringen sie es noch ihren Familien als Beute mit. Können diese Kerle nicht von zwölf bis Mittag denken?“
Und so ging das in einem fort, bis es an der Tür klopfte. Christopher öffnete und ließ drei junge Männer mit schmutzigen Gesichtern und strohigen Haaren, die unter geflickten Wollmützen hervor lugten, herein. Einer von ihnen war David. Die anderen kannte er nicht.
„Das sind Pat und Thomas. Sie würden gerne mitmachen.“
Sie grüßten etwas verlegen und zogen sich die Mützen vom Kopf. Rebecca schauderte unwillkürlich, als sie an all das Ungeziefer dachte, dass auf diesen Köpfen hauste. Sie fragte sich, wie es kam, dass sie Unhygiene bei Männern wesentlich ekelerregender fand als bei Frauen. Diese Rotzlöffel hatten jedenfalls in diesem Jahr noch kein Bad genommen, rochen entsprechend und bemerkten Rebeccas Unwohlsein, denn sie drucksten herum: „David hat uns erzählt, Sie planen eine Aktion, gegen die Königin und wir sind… interessiert. Das heißt, wir würden gerne mithelfen, wenn es möglich ist.“
Rebecca seufzte und ließ sich auf ihren Stuhl am Küchentisch sinken. Sie überließ es Christopher, zu antworten. Es war sein Projekt, sollte er den Rotzlöffeln eine Standpauke halten…
Der aber bemerkte amüsiert, wie sehr sich die Jungen vor Rebecca zu fürchten schienen. Um respektiert zu werden, brauchte eine Frau offensichtlich den Ruf einer Hexe. Schließlich fragte Christopher: „Ihr wisst, was wir genau machen und warum? Ihr wisst, dass ihr niemandem davon erzählen solltet? Nicht wahr David? Ihr wisst, dass ihr euch strafbar macht und nicht viel dabei herum kommen wird?“
„Das glaube ich nicht“, sagte Pat, „Es kommt nicht darauf an, was irgendwo herum kommt. Es geht darum, was darüber erzählt wird. Man scheitert immer nur dann, wenn man in Vergessenheit gerät. Wenn die Leute sich jedoch erinnern, kann man nicht verlieren, selbst wenn man nicht gewinnt.“
„Wir machen das nicht für den Ruhm“, erklärte Christopher.
„Nein, Sie machen das für den Zeitvertreib“, sagte Thomas, der sowohl seinen Mut als auch einen kühlen Zynismus wieder gefunden hatte. Rebecca schloss ihn augenblicklich ins Herz.
„Es ist vielleicht nicht unklug, wenn abwechselnd verschiedene Personen die Köder auslegen“, sagte Rebecca, „Können wir uns auf euch verlassen?“
„Natürlich“, sagte Pat.
„Am besten ihr fasst das Brot nicht ohne Handschuhe an. Gebt niemandem etwas davon. Kommt ja nicht auf die Idee, es zu probieren. Werft es den Schwänen hin und verschwindet wieder. Aber unauffällig. Mischt euch unter die Leute. Macht es beiläufig. Habt ihr verstanden?“
Pat und Thomas fühlten sich ein wenig überrumpelt, bestätigten aber.
„Es war abgemacht, dass wir über diese Sache nicht außerhalb der Gruppe sprechen“, sagte Christopher in Davids Richtung.
„Was hat das denn für einen Sinn, verdammt noch mal? Die Jungs sind in Ordnung und sie reißen sich genauso den Arsch auf für nichts wie alle hier. Sie haben ein Recht darauf, zu protestieren“, sagte David.
Der Junge ist fahrlässig, dachte Christopher, Rebecca hatte Recht.
„Ich würde dir ja raten zu heiraten“, sagte Jonathan, „aber dann würdest du diese Hexe zur Frau nehmen und das würde Vater nicht überleben.“
„Seit wann kümmerst du dich um Vater?“, fragte Christopher genervt.
„Bruderherz, du weißt, ich schätze deinen Einsatz, aber seit du deine Arbeit verloren hast, bleibt ein Großteil der finanziellen Belastung an mir hängen. Nicht, dass es mir etwas ausmacht. Es ist unser Vater. Ich bitte dich, zieh nicht so ein Gesicht! Ich mache dir keine Vorwürfe. Du tust alles, was in deiner Macht steht. Ohne Zweifel opferst du dich auf. Aber von dieser Aufopferung kann er nun mal nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten, verstehst du? Und es würde ihm das Herz brechen, wenn du ihn auch nicht mit dieser Frau als Schwiegertochter ankommen würde. Es wäre eine herbe Enttäuschung. Für ihn, Christopher. Mir ist es gleich. Dies sind moderne Zeiten.“
Sie saßen bei einer Tasse Tee und Gebäck in Jonathans Zimmer. Bei seiner Stellung in einem Versicherungsbüro hätte er sich sicher eine vollständige Wohnung oder gar ein Haus leisten können, aber Jonathans Sparsamkeit hätte ein Spötter leicht als Geiz bezeichnen können. Er lebte in einem angemieteten Zimmer in einer Pension, der er mit Handlungsreisenden und Angestellten der Gastronomie teilte. Untere Mittelschicht immerhin und außerhalb von Salford, was ein gewisses Prestige besaß, wenn man Jonathans Herkunft bedachte. Wer in bescheidenen Kategorien dachte, konnte behaupten, er hätte es zu etwas gebracht.
Es war mehr eine Selbstdemütigung für Christopher als ein Anstandsbesuch, aber hin und wieder musste er sich bei seinem Bruder blicken lassen. Dieser fand immer einen Vorwand, um ihn einzuladen, wenn er das Bedürfnis hatte Christopher ins Gewissen zu reden.
„Wieso nimmst du keinen Job in einem Büro an? Du bist intelligent genug und seien wir ehrlich, die körperliche Arbeit geht dir langsam auf die Knochen“, sagte Jonathan.
„Das ist wirklich nicht, was ich will“, erwiderte Christopher, „Den ganzen Tag da sitzen und auf Papiere starren, ist einfach nichts für mich. Ich möchte draußen sein.“
„Lass mich dir eines unverblümt sagen: Wenn es so weiter geht, wirst du über kurz oder lang dein ganzes Leben draußen verbringen. Du bist abhängig von deiner Freundin. Christopher, was bist du? Ein Mann oder ein Parasit?“
„Ich bin ein Mann, der sich nicht darüber definiert, was er sich leisten kann“, sagte Christopher.
„Du kannst es dir nicht einmal leisten, dein Haus zu heizen. Ach, was red ich, du hast ja nicht einmal ein Haus! Du weißt, ich liebe dich, du bist mein Bruder, aber du musst etwas aus deinem Leben machen. Da draußen warten sie nicht auf dich. Du musst aktiv werden und nach etwas streben, das besser ist.“
„Als was?“
„Als das, was du hast, Chris. Es gibt immer etwas, das besser ist und das man erreichen kann. Wer es nicht versucht, der ist selbst schuld an seinem Unglück und wer es nicht schafft, der ist ein Nichtsnutz.“
„Aber vielleicht will ich nicht erreichen, was du da für mich vorsiehst“, sagte Christopher.
„Was willst du denn? Weißt du überhaupt, etwas du willst?“
„Ich glaube, darum geht es gar nicht. Wollen, bekommen, nicht bekommen… Vielleicht will ich gar nichts und bin glücklich.“
„Bist du es denn?“
„Jonathan, du bist englischer als der vernobteste Engländer“, sagte Christopher.
„Soll das ein Vorwurf sein?“, fragte Jonathan amüsiert, „Komm schon, das kannst du besser! Jedes deiner Worte ist nichts als ein Beißreflex, weil du dich schämst.“
„Wofür soll ich mich denn schämen?“
„Christopher, du stehst am Abgrund. Und ich sage das nur so offen, weil du mein Bruder bist.“
„Und du mich demütigen willst?“, fiel Christopher ihm ins Wort.
„Nein, weil ich dich besser kenne als du dich selbst. Du bist jetzt in einem Alter, in dem sich entscheidet, ob du Erfolg haben oder versagen wirst. Ich mache mir Sorgen um dich und Vater genauso. Er hat sein Leben lang geschuftet und sieh ihn jetzt an. Was soll aus dir werden, wenn du den ganzen Tag auf der faulen Haut liegst? Was sollen die Leute denken? Glaubst du Mutter hätte das gewollt? Wir sind keine faulen Leute. Wir sind Leute, die ihr Schicksal in die Hand nehmen. Such dir eine Arbeit mit Aussicht auf Aufstieg, Christopher, ich bitte dich!“
„So, deshalb hast du mich herbestellt? Um mich fertig zu machen? Ich weiß ja, dass du kein Blatt vor den Mund nimmst, aber wenn du dich schon bei den Kapitalisten anbiedern musst, dann übernimm doch bitte auch die aufgesetzte Freundlichkeit. So bist du einfach unausstehlich arrogant.“
„Wer es sich leisten kann…“
„Wohl eher, wer es sich leisten können will…“
„Christopher, ich will dir helfen. Du verstehst mich falsch, wenn du glaubst, dass ich dich beleidigen oder beschämen will. Aber du brauchst einen Arschtritt, mein Lieber. Je länger du in den Tag hinein lebst, umso schwerer wird es für dich, wieder in eine geregelte Arbeit zu kommen.“
„Du hältst mich für faul. Das ist die größte Beleidigung, die du mir an den Kopf werfen kannst. Bin ich jemals faul gewesen? Habe ich mich jemals vor Arbeit gedrückt? Habe ich jemals nicht mit angefasst? Für dich ist Arbeit nur, wenn es Profit generiert. Du hast dich völlig entfremdet von der wirklichen Welt, Jonathan.“
Jonathan lächelte milde und sagte dann: „Das ist das beste, was man tun kann.“
„Egoistisch sein?“
„Unabhängig sein.“
„Du bist nicht unabhängig.“
„Im Vergleich zu dir? Christopher, mach dich nicht lächerlich!“
„Du bist ein Verräter, mehr nicht“, Christopher machte sich bereit, aufzustehen und zu gehen, „Du meinst, es wäre immer noch so wie früher, als du mich herumkommandieren konntest, aber du musst schon längst nicht mehr auf mich aufpassen. Trotzdem versuchst du es, weil du glaubst, mich kontrollieren zu müssen, weil du nicht begreifen kannst, dass es Menschen gibt, die anders denken als du, die andere Werte haben. Du bist wankelmütig, Jonathan. Du bist einsam.“
„Was soll das denn heißen?“
„Du gibst vielleicht vor, mir helfen zu wollen, aber das Konzept von Solidarität ist dir völlig fremd. Es gibt keine reichen Sozialisten, also bist du keiner. Dich interessiert nicht, was mit anderen Leuten geschieht, was mit diesem Land geschieht. Du interessierst dich nur für dich selbst. Und wenn du vorgibst, mich unterstützen zu wollen, dann geht es dir nur um deinen Einfluss auf mein Leben. Du glaubst immer noch, ich käme nicht allein zurecht. Und du hältst das für eine Schwäche. Ich weiß, wie solche Leute denken. Rebecca ist ähnlich gestrickt, aber sie hat zumindest verstanden, dass es keine Schande ist, Beziehungen zu pflegen, dass Beziehungen nicht nur aus Kontrolle und Macht bestehen, sondern aus Zuneigung und Selbstlosigkeit.“
„An eurer bedingungslosen Zuneigung werdet ihr zugrunde gehen, wie so viele vor euch. Die Welt ist nicht geschaffen für Zuneigung, sondern für Konkurrenz“, sagte Jonathan, „Und das ist nicht meine Ideologie oder mein schlechter Charakter, auch wenn du das glaubst, es ist ein Fakt, der die Erfolgreichen von den Verlierern unterscheidet.“
„Gut, dann hast du jetzt gesagt, was du sagen wolltest?“, fragte Christopher.
„Verantwortung, das wollte ich sagen. Dein Gewissen, Christopher.“
„Das ist rein, Bruderherz und deines sollte es auch sein. Ich entbinde dich hiermit jeglicher Verantwortlichkeit für mein Leben.“
„Es hätte nicht so enden müssen“, sagte Jonathan, als er aufstand, um seinen Bruder zu verabschieden, „Du bist schon immer stur gewesen, aber ich kreide es dir nicht an. Du wirst deine Sturheit noch brauchen. Pflege sie gut. Die Zeiten werden hart.“
„Du hast Recht“, erwiderte Christopher, „Es hätte nicht so enden müssen, wenn du es nicht so begonnen hättest. Aber ich verurteile dich nicht. Wenn du eines Tages über deinen Schatten springen und dich dazu überwinden kannst, unseren Vater mal leibhaftig zu besuchen und dich nicht von deinem Geld vertreten zu lassen, dann komm Rebecca und mich mal besuchen. Auch wir können Tee kochen, weißt du? Es muss dir nicht unangenehm sein, einen Fuß in deinen alten Stadtteil zu setzen. Es bleibt nichts kleben außer ein bisschen Schmutz.“
„Oh Christopher, es bleibt so viel kleben, du merkst es nur nicht, weil du dich damit wohl zu fühlen glaubst, aber ich glaube, es ist aussichtslos, dir in dieser Sache die Augen zu öffnen. Du bist kein Mensch, der alleine zurecht kommt. Du hast Angst, wenn du auf dich allein gestellt bist. Da kannst du nichts für, das ist keine Schande, aber, Christopher, deine Auswahl von Menschen, die du um dich scharst, ist beschämend.“
„Hast du Rebecca deshalb nicht zum Tee eingeladen? Glaubst du, sie hat kein angemessenes Kleid, um hier mit dir zu sitzen?“
„Wie kann ich offen mit dir sprechen, wenn sie dabei ist?“, fragte Jonathan.
„Du hast Angst vor ihr, weil sie dir ähnlich ist, nur dass sie besser ist als du. Du weißt es und du ärgerst dich. Es ist Ärger, du kannst es nicht leugnen. Bei dir ist es niemals Scham. Du bist schamlos, Jonathan, das ist, was dich einsam macht.“
„Ich dachte, wir wollten es dabei belassen?“
„Ja, du hast Recht. Dein Tee ist übrigens ein wenig zu stark für meinen Geschmack“, sagte Christopher.
Jonathan lächelte und sagte mit seiner samtweichen Stimme: „Du solltest nehmen, was du kriegen kannst. Hier kannst du zumindest sicher sein, dass es nicht verdorben ist. Bei euch drüben scheint das Wasser ja so giftig zu sein, dass jetzt sogar reihenweise die Wasservögel sterben.“
„Was?“, fragte Christopher plötzlich aufgeschreckt.
„Liest du keine Zeitung mehr oder steht in euren kommunistischen Propagandaschmierblättern nichts mehr von dem, was um euch herum passiert?“
„Doch, es irritiert mich nur, dass du dich für solche Meldungen interessierst.“
„Ich lese alles, was meine Meinung, aus Salford wegzuziehen, bekräftigt“, sagte Jonathan.
Als Christopher zu Fuß zurück nach Hulme ging, dachte er darüber nach, wie nah und wie fern er und sein Bruder sich eigentlich waren. Es ist mehr als die Distanz zwischen zwei Stadtteilen. Aber es ist weniger als beispielsweise die unüberbrückbaren Differenzen zwischen Rebecca und ihrer Familie. Trotzdem hatte er sie in Schutz nehmen müssen. Vor anderen würde er sie immer verteidigen, auch wenn er wusste, dass diese oft Recht hatten mit ihrer Kritik und ihrem Unverständnis.
Sowas tut man einfach als Mann. Das gehört zum Anstand, dachte er selbstzufrieden und dann: Wie kommt es, dass jeder glaubt, mich bevormunden zu müssen? Wieso glaubt jeder zu wissen, was das Beste für mich ist? Vertraut mir denn niemand? Nicht meine Freunde, nicht meine Familie, nicht meine Freundin?
Christopher verstand, dass er sie alle enttäuschte, er verstand nur nicht, wieso und was er anders und besser machen konnte. Es störte ihn nicht sehr. Brian war auf seine ironische Art eher witzig als beleidigend und Christopher war sich sicher, dass er es nicht böse meinte. Rebecca hingegen verstand das ganze Konzept von Beleidigung nicht und merkte nicht, wenn sie zu weit ging. Und Jonathan? Jonathan tat es aus purer Boshaftigkeit. Man durfte ihn nicht ernst nehmen, sonst ärgerte man sich zu sehr.
Er hat es auch nicht leicht, dachte Christopher. Niemand will etwas mit ihm zu tun haben. Das ist seine Form der Armut. Vermutlich braucht er mich mehr als ich ihn. Er braucht jemanden, um auf ihn herabzublicken. Oder er braucht jemanden, dem es nichts ausmacht, wenn er auf ihn herabblickt. Er braucht es, es sich einreden zu können, dass er auf jemanden herabblicken konnte. Jeder braucht das, wenn er noch ein bisschen Selbstachtung besitzt. Es ist nur menschlich…
Christophers Weichheit war das Geheimnis seiner Zufriedenheit, glaubte er. Vielleicht lachte man ihn aus, aber wer über andere lachte, der tat das nur, weil er sonst über sich selbst weinen musste. Christopher weinte lieber über das Schicksal anderer und lachte über seine eigenen Schwächen.
Vielleicht ist es das, was ein Dichter tat und wieso Dichter nie Kaufleute werden konnten.
Ich werde ihm immer vergeben, sagte er sich, und er weiß es, weshalb er es ausnutzt, um Grenzen der Höflichkeit zu überschreiten. Aber ich werde ihm immer vergeben. Wir sind zusammen durch den Schlamm gewatet. Und wenn Blut dicker als Wasser ist, dann ist Schlamm dicker als Blut. Er mag sich vielleicht dafür schämen, aber in meinen Augen ist es bewundernswert, was er geleistet hat.
Neid ist ein seltsames Gefühl. Menschen wie Jonathan wünschen sich nichts mehr als beneidet zu werden und leiden unter nichts mehr, als anderen ihr Leben zu neiden. Auch können sie sich nicht vorstellen, dass andere dieses Gefühl nicht kennen. Sie empfinden es als Angriff, wenn sie nicht beneidet werden, als unerhört, als aufrührerisch. Vielleicht war das Christophers einzige Stärke: Er kannte das Gefühl von Neid nicht, dafür aber das von Zufriedenheit. Es war ein geradezu subversiver Akt, nach Zufriedenheit zu streben und nicht danach, den eigenen Neid zu befriedigen. Jemand sollte Jonathan Hilfe anbieten… irgendwann, wenn er merkte, wie nah er dem persönlichen Zusammenbruch kam.
„Es war anstrengend“, sagte Christopher zu Rebecca, als er nach Hause kam, „Ihr würdet euch leidenschaftlich hassen.“
„Das ziehe ich nicht in Zweifel“, erwiderte Rebecca kühl. Sie stand am Spülbecken und schrubbte eine Pfanne.
„Dabei seid ihr euch eigentlich recht ähnlich. Charakterlich, meine ich.“
„Christopher, ich wäre dir dankbar, wenn du das lassen würdest. Ich kann diese kryptischen Anspielungen gerade nicht ertragen und dein Bruder interessiert mich im Augenblick nicht das geringste Bisschen.“
„Er tut mir leid.“
„Wieso?“
„Er hat niemanden.“
Rebecca schnaubte: „Willst du damit sagen, ich könne mich glücklich schätzen, dass ich dich habe? Weil ich ihm ja charakterlich so ähnlich bin? Manchmal bist du wirklich selbstherrlich.“
Christopher ließ sich auf einen Stuhl fallen und winkte ab: „Bitte nicht. Ich bin bereits erschöpft.“
„Vielleicht interessiert es dich, dass vorhin ein Kerl namens Freddy hier war und erzählte, er kenne dich aus der Fabrik.“
„Ja?“
„Er wollte bei mir Gift kaufen, damit seine Frau damit Brot backen könne. Christopher, wer weiß noch davon? Glaubst du es ist gut, wenn sich Gerüchte verbreiten, wenn du die Kontrolle verlierst? Ich will nicht, dass hier eines Tages die Polizei an die Tür klopft! Und sie werden an meine Tür klopfen, nicht an die von Brian oder David oder irgendeinem Freddy. Die sind fein raus.“
„Was willst du, das ich tue?“, fragte Christopher erschöpft.
„Du sollst dir vertrauenswürdigere Freunde suchen!“
„Ich glaube, dann kann ich auch gleich alleine streben.“
Rebecca seufzte: „Es ist nur, dass aus Vertrauten schnell Verräter werden.“
„Sagst du das, weil du selbst…“, begann Christopher, aber er beendete den Satz mit: „Ach vergiss es. Das führt doch zu nichts.“
„Ich benutze das Wort Verräter wertfrei, wenn du das meinst“, erwiderte Rebecca nur knapp und räumte ihr gespültes Geschirr in die Schränke.
„Ich werde mit Freddy reden, wenn du willst“, gab Christopher nach, „Was hast du ihm gesagt?“
„Dass er sich um Teufel scheren soll. Glaubst du, ich verkaufe irgendwelchen dahergelaufenen Kerlen Substanzen, mit denen er sich und seine ganze Familie umbringen kann, wenn er nicht aufpasst?“
„Es war vielleicht keine so gute Idee, überhaupt damit anzufangen. David hatte Recht, es bringt nichts, außer uns in Gefahr“, sagte Christopher.
„Zwei tote Schwäne heute Morgen“, hielt Rebecca dagegen.
„Ja, aber ist das nicht nur sinnloser Vandalismus? Geboren aus Frustration? So werden sie es doch deuten?“
„Wenn es soweit ist, ist es Zeit, dass ihr es erklärt“, sagte Rebecca.
Christopher lachte müde: „Und dann stehen Brian, David und ich vor Gericht, verbeugen uns und erklären, dass alles nur eine Inszenierung war?“
„Hinterlasst doch ein Bekennerschreiben“, schlug Rebecca vor.
„Wenn es überhaupt noch ein „Wir“ gibt. Von Brian habe ich schon seit Tagen nichts mehr gehört.“
Rebecca zuckte mit den Schultern und Christopher war enttäuscht aber nicht überrascht, dass sie nicht aussprach, was sie beide dachten. Um des lieben Friedens Willen schwieg nun auch er.
Am nächsten Morgen zog Christopher los, um sich mit Freddy zu unterhalten. Ein komischer Kauz, fiel ihm ein. Eine Art Hausmeister, von dem Christopher argwöhnte, dass er für jede Schraube, die er festzog eine anderer lockerte, damit ihm nie die Arbeit ausging. Er wartete die Maschinen in der Textilfabrik und blickte ein wenig auf die einfachen Weber herunter, hatte für die Vorarbeiter aber nichts als Verachtung übrig. Seiner Ansicht nach musste die Fabrik ohne ihn den Bach herunter gehen, denn niemand besaß seine Fähigkeiten – woraus auch immer diese bestanden…
Verheiratet war er mit einer Frau, die nach ihren Schwangerschaften einfach nicht wieder abnehmen wollte und nach vier Kindern so enorme Ausmaße angenommen hatte, dass sie in Hulme eine Attraktion für die Rotzlöffel der Nachbarschaft darstellten. Aber die war gutmütig und hatte immer Gebäck oder Kuchen im Haus.
Vier Töchter hatte das Ehepaar. Die älteste war schon verheiratet, die anderen drei im besten Backfischalter. Man sah sie hin und wieder auf der Straße, wenn sie mit irgendwelchen Jungen zu Tanzveranstaltungen gingen.
Freddy duldete es, denn auch er war gutherzig und ziemlich liberal. Man munkelte, er selbst hätte heimliche Beziehungen zu verschiedenen jungen Männern und er dementierte kein einziges dieser Gerüchte. Er war zu wichtig, um darauf eingehen zu müssen, um seine Haut zu retten, dachte er wohl. Und richtig: Die Leute kicherten zwar hinter vorgehaltener Hand, aber niemand stellte seine Position offen in Frage. Freddy war eben Freddy, ein bisschen geckenhaft, aber alles in allem korrekt.
Jeder hat seine Geheimnisse, dachte Christopher, Freddy ebenso wie Rebecca. Das einzige, was sie vor dem wütenden Mob schützt, ist, dass sie unentbehrlich sind. Freddys Trumpf war seine Hilfsbereitschaft, wenn es um Reparaturen rund ums Haus ging. So erkaufte er sich das Schweigen der Leute.
Was wohl seine Frau davon hält?, fragte sich Christopher. Untreue ertrugen Frauen schließlich nie leicht…
Weiter kam er nicht mehr mit seinen Gedanken, denn da sah Christopher etwas Seltsames vorgehen: Am Ufer des Kanals stand Cathy umringt von einer ganzen Schar Enten, die sie anquakten, während sie Brotbrocken ins feuchte Gras vor sich fallen ließ.
Sie wird doch nicht…, fragte sich Christopher entsetzt und er rang mit sich, ob er sie ansprechen sollte. Ja, er ekelte sich vor Cathy. Es war blanker, eiskalter Ekel. Es waren ihr Aussehen, ihr Geruch, ihre Kleidung, ihre Haltung, ihre Stimme, ihre müden, traurigen, jenseitigen Augen und die Vorstellung, die Christopher von ihr hatte. Sie war ein alptraumhaftes, unmenschliches, halbmenschliches Wesen, nicht ganz ungezähmt, aber auch nicht vertrauenswürdig, in jedem Fall unberechenbar. Sie konnte jeder Zeit zubeißen, wegrennen, einen Anfall bekommen, hysterisch werden, zu weinen anfangen… Aber wenn er jetzt ging und wenn sie dann das womöglich vergiftete Brot aß, war er vielleicht für ihren Tod verantwortlich.
Oder nicht? Schließlich wusste er nicht, ob das Brot, das sie da verfütterte, vergiftet war. Er wusste auch nicht, ob sie tatsächlich nicht wusste, was sie tat. Er wusste noch nicht einmal, ob sie ihn erkannte. Wer sollte ihn also beschuldigen? Wenn er einfach weiter ging, konnte er so tun, als hätte er sie nicht gesehen. Wenn er sie ansprach riskierte er, zum Mittelpunkt einer Szene zu werden.
Gab es einen Unterschied zwischen Schuld und Schuldbewusstsein? Was davon war leichter zu verdrängen und wie viel davon konnte die Angst und den Ekel überwiegen?
Nun, er genoss den Ruf, ein guter Kerl zu sein und gute Kerle litten immer unter enormen Schuldgefühlen. Also versuchte er es möglichst unverbindlich: „Guten Morgen, Cathy. Hast du so viel altes Brot übrig?“
Er wusste nicht wieso, aber er hielt es für angebracht, mit ihr wie mit einem kleinen Mädchen zu sprechen. Er fragte sich, ob sie das als demütigend oder rücksichtsvoll empfinden mochte. Frauen mit zweifelhaftem Ruf mochten es manchmal, wenn man ihnen eine gewisse Unschuld zusprach. Manchmal aber konnten selbst sie die Ironie, die darin lag, nicht aushalten.
„Im Winter muss man sie füttern“, erwiderte Cathy, „Dieser Winter dauert schon sehr lange. Aber sie brauchen Kraft, um zu brüten.“
„Hast du das Brot extra für die Enten gebacken?“, fragte Christopher.
„Brian hat es mir mitgebracht“, sagte Cathy, „aber es war zu viel. Es ist hart geworden und jetzt kann ich es nicht mehr selbst essen.“
Christopher wusste nicht, ob er beruhigt oder alarmiert sein sollte, also fragte er weiter: „Brian hat es dir mitgebracht? Von wo? Weißt du, wo er das Brot her hat?“
„Na, von seiner Arbeit.“
Beruhigung und Alarmierung lösten sich auf in Verwirrung und als Cathys Blick sich verdunkelte, weil sie sich womöglich erinnerte, wer er war, trat Christopher einen Schritt zurück.
„Das ist nett von ihm“, sagte er ausflüchtend.
„Ja, aber es ist kein gutes Brot. Sie geben ihm nicht das Gute. Oder er gibt das Gute den Pferden. Mir bringt er nur Schlechtes.“
„Ich bin sicher, er gibt sein Bestes“, sagte Christopher immer noch unverbindlich.
„Lass mich in Ruhe, Christopher Jones!“, rief Cathy plötzlich, „Was willst du von mir? Willst du mich aushorchen?“
„Nein, ich…“, begann Christopher.
„Wieso willst du das alles wissen?“
„Ich wollte nur ein bisschen Smalltalk…“
„Hat Rebecca dich geschickt? Sie hat dich geschickt, um mich auszuspionieren, nicht wahr?“
„Nein, ich bin nur zufällig…“
„Sag ihr, sie soll mich in Ruhe lassen! Sag ihr, es geht sie gar nichts an, was ich tue! Sag ihr, sie hat kein Recht, mir zu sagen, was ich tun soll!“
„Aber das hat sie doch gar nicht“, versuchte es Christopher. Eine solche Eskalation hatte er befürchtet und jetzt hasste er sich für seine Fürsorglichkeit und sein Pflichtbewusstsein.
„Natürlich behauptest du das! Du redest ihr doch nach dem Mund! Was bist du eigentlich? Ein Mann jedenfalls nicht!“
Sie hatte es so laut gesagt, dass Passanten sich umdrehten und verstört auf Christopher und Cathy starrten, nicht sicher, wie sie die Szene einordnen sollten. Cathy war ohne Zweifel bekannt genug, damit man nun von Christopher annahm, dass er versuchte, mit ihr ins Geschäft zu kommen. Konnte es noch demütigender werden?
„Wenn du möchtest, sage ich es Rebecca“, versuchte Christopher Cathys aufbrausende Stimmung zu dämpfen und die unauffällig Gaffenden und Lauschenden zu überzeugen, dass dies ein rein freundschaftlicher Streit war.
Als Cathy jedoch weiter keifte und wirres Zeug zu kreischen begann, glaubte Christopher, dass es besser wäre, jetzt das Weite zu suchen. Er könnte die Situation nicht mehr retten, immerhin hatte seine Anwesenheit sie überhaupt erst verursacht.
Eine Frau eilte auf Cathy zu und legte ihr den Arm um Schultern. Cathy ließ es zu. Frauen erschienen ihr wohl weniger bedrohlich. Nach ein paar beruhigenden Worten und einem Blick dämonischer Bosheit in Richtung des forteilenden Christophers setzte Cathy ihre Tätigkeit – das Füttern der Enten – fort, als wäre nichts gewesen. Christopher fragte sich, ob sie sich am nächsten Tag überhaupt noch daran erinnern würde. Die Passanten jedenfalls würden sich erinnern und Christopher befürchtete nachhaltige Schäden an seinem Ruf. Er beschloss, Brian zu bitten, mit Cathy ein Wort zu reden.
Auch der Rest des Vormittags erwies sich als Schlag ins Wasser. Freddy war nicht zu Hause und Christopher traf nur auf seiner Frau, die von giftigem Brot, das sie backen sollte, zum ersten Mal hörte und mit hochrotem Kopf eine Reihe von moderaten Flüchen gegen ihren Mann abfeuerte. Wenn Christophers Begegnung mit Cathy nicht einen bitteren Beigeschmack hinterlassen hätte, hätte er darüber vielleicht geschmunzelt. So aber blieb er betrübt vor der Tasse Tee sitzen, die Freddys Frau ihm angeboten hatte. Er wünschte, er hätte sie abgelehnt, wenngleich der mitgereichte Keks ihn etwas entschädigte.
„Sie haben nichts zu befürchten“, erklärte er, „Rebecca verkauft keine gefährliche Substanzen an Leute, die damit nicht umgehen können und ohne zu wissen, was sie damit vorhaben.“
„Und woher bezieht sie ihre Substanzen?“, fragte die Frau, die ihm nun gegenüber saß und deren Namen er nicht kannte. Nicht einmal ihren Nachnamen, fiel ihm ein… Freddy war immer einfach nur Freddy. Komisch, sich ihn als einen Mister Irgendwas vorzustellen. Aber er musste einen Nachnamen haben. Jeder hatte einen, sogar Rebecca.
„Äh…“, sagte Christopher, um Zeit zu gewinnen, „Bei ihrem Beruf ist das was anderes.“
„Einen Beruf nennt sie das also“, schnappte die Frau, „Hören Sie, es tut mir unendlich leid, was mit Ihnen passiert ist und ich verurteile Sie nicht für die Sünden dieser Hexe, aber es ist mein gutes Recht, es abzulehnen, in irgendeiner Form in Verbindung mit ihr gebracht zu werden und sei es nur, dass Sie hier einfach überraschend auftauchen!“
„Entschuldigen Sie. Ich wollte diese Sache unter vier Augen mit Freddy klären. Sie hätten niemals dahinein gezogen werden sollen.“
„Wohinein gezogen?“
„Es ist eine etwas unselige Geschichte“, wand sich Christopher.
„Sehe ich aus, als könnten Geschichten mich erschüttern?“, fragte die Frau herausfordernd, „Kerle wie Sie bilden sich etwas darauf ein, all das Schlechte in der Welt – das sie selbst übrigens zumeist verursachen – von uns Frauen fernzuhalten, in der Hoffnung, wir erführen dann nichts von der Existenz des Bösen. Ich verrate Ihnen eins: Das Böse ist in die Welt gekommen, als wir aus dem Paradies vertrieben wurden. Mit uns. Verstehen Sie? Wie können Sie annehmen, ich vertrüge die Wahrheit nicht? Wollen Sie ernsthaft einer Frau, die vier Kinder geboren hat, Unschuld und Naivität bewahren? Sie müssen sich von Ihren Idealen verabschieden. Dies ist das Land Nod und wir sind verdammt, ruhelos umherzuwandern, ohne je an ein Ziel zu gelangen.“
„Aber zumindest können wir versuchen, dieses Land ein bisschen besser zu machen, für diejenigen, die heute hier leben und morgen hier leben werden, meinen Sie nicht?“
„Es ist zynisch, dass die dieses „bessere Leben“ unter der Verwendung von Gift erreichen wollen, finden Sie nicht? Aber was kann man schon erwarten an diesem Ort? Das Morden hat nie aufgehört.“
„Sehen Sie, deshalb, wollte ich Sie nicht damit belasten. Sie sollen keine Schuld tragen, wo keine Schuld ist. Frauen neigen dazu, sich Schuld einzubilden, wo es keine gibt. Sie sind – auch wenn sie es bestreiten – ganz und gar unschuldig und sollen es bleiben und auch Freddy wird es bleiben, denn was immer er glaubt, mit dem Gift erreichen zu können, ist eine Illusion, allerhöchstens eine Metapher. Er hat vielleicht ein Gerücht gehört und etwas missdeutet“, Christopher wusste, dass er sich um Kopf und Kragen redete, aber diese Frau schüchterte ihn ein und ihre Vorwürfe oder ein betretenes Schweigen hätte er nicht ertragen. Also redete er weiter: „Trauen Sie Ihrem Mann denn einen Mord zu? Nein. Das Gift ist mehr ein Symbol, ein Zeichen dafür, wie diese Stadt und dieses Leben uns langsam die Energie aussaugt. Es ist eine Form von Protest, keine der Niedertracht. Ich bin sicher, Freddy kann Ihnen erklären, dass er nur die besten Motive hatte. Das soll nicht zu einem Streit führen, sondern eher zum Gegenteil: Solidarität. Er wird es Ihnen erklären. Er ist ein guter Mann.“
„Ich weiß nicht, ob es Ihnen zusteht, das zu beurteilen“, sagte die Frau kühl.
„Ich versuche nur, seinen Advokaten zu geben“, verteidigte sich Christopher.
Aber seine Versuche konnten die resolute Frau nicht beschwichtigen und sie warf ihn schließlich mit mehr oder weniger harschen Worten hinaus.
In Freddys Haut möchte ich nicht stecken, wenn er heute Abend nach Hause kommt, dachte Christopher auf dem Rückweg in sein zu Hause. Schneeregen ließ die Straßen schlüpfrig werden und man musste vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen, um nicht auszurutschen. Dass er sich beim Gehen konzentrieren musste, lenkte Christopher davon ab, darüber nachzudenken, was für ein furchtbarer Tag hinter ihm lag und wie dieser furchtbare Tag sich perfekt einpasste in eine furchtbare Woche.
„Du machst dir wie immer zu viele Sorgen“, konstatierte Brian, am Abend, als er sich wie selbstverständlich zu Rebecca und Christopher an den Abendbrottisch setzte. In seinen Augen war dies nun ein Hauptquartier und damit ein für Eingeweihte öffentlich zugänglicher Raum.
„Und das ist alles, was du dazu zu sagen hast?“, fragte Christopher angesäuert.
„Gibt es denn sonst noch etwas zu sagen?“
Rebecca holte gerade Luft, um etwas zu erwidern, da schnitt Brian ihr auch schon das Wort ab: „Freddy ist in Ordnung.“
„So?“, stieß Rebecca hervor, „Und das hast du einfach entschieden…“
„Nur die Ruhe. Es ist nur Freddy. Ihr kennt ihn. Er ist genauso gegen die Bosse wie wir. Vielleicht sogar noch mehr. Ich habe mir gedacht, wenn unsere Gruppe zu einer ganzen Bewegung wird… Freddy hat Kontakte, wisst ihr. Er kommt in der Fabrik herum. Er kommt im Viertel herum. Wir müssen das Projekt auf eine höhere Ebene bringen. Wir hatten anfänglichen Erfolg, ja, aber der ist nichts wert, wenn es nicht weiter geht. Freddy könnte uns helfen.“
„Und das konntest du nicht vorher mit uns absprechen?“, zischte Rebecca.
„Es hat sich spontan ergeben. Die Gelegenheit war günstig und Freddy war sofort Feuer und Flamme. Ich habe mir nichts dabei gedacht und um ehrlich zu sein verstehe ich nicht, wieso du so gereizt reagierst.“
„Ich will nicht, dass das Gerücht aufkommt, bei mir könne man Gift kaufen“, erklärte Rebecca, „Geht das in deinen Schädel hinein? So lange alles, was hier drin passiert, hier drin bleibt, drücken die Bullen ein Auge zu, aber wenn sie mitbekommen, dass ich meine Aktivitäten nach draußen verlagere – in welcher Form auch immer – könnte ich in ernste Schwierigkeiten geraten.“
„Aber ob du nun vergiftetes Brot backst oder Gift verkaufst, damit andere damit vergiftetes Brot backen können… Wo ist da der Unterschied?“
„Ich weiß, wie man mit dem Zeug umgeht, Brian. Du weißt es nicht. Freddy weiß es nicht und seine Frau weiß es am allerwenigsten!“
„Was ich mich schon lange frage, Rebecca“, begann Brain mit leicht aggressivem Unterton, „Woher weißt du eigentlich immer alles besser?“
„Misstraust du mir?“, schnappte sie zurück.
„Fragen bedeutet bei dir also gleich Misstrauen?“
„Und bei dir bedeuten Fragen wohl gleich Unterstellungen“, stellte Rebecca fest.
„Du stellst keine Fragen ohne Hintergedanken. Die wenigsten Frauen tun das.“
„Achso?“
„Es ist die einzige Art und Weise, wie sie Macht ausüben können: Über Manipulation.“
„Wird das jetzt wieder einer deiner Vorträge?“, fragte Christopher dazwischen.
„Wenn du mit Menschen reden willst, musst du Menschen verstehen“, erklärte Brian, „Und Frauen verstehen sehr gut. Das Problem ist, dass ihnen niemand zuhört, wenn sie nicht über denjenigen sprechen, der ihnen zuhören soll, sondern beispielsweise ausnahmsweise über sich selbst. Wir Männer glauben nur allzu gerne, dass Frauen nur durch andere Leben: Durch uns oder ihre Kinder, durch ihre Familie und wenn sie keine Familie haben, nehmen wir sie als leer und unmenschlich wahr. Eine Frau, die für sich, aus sich und durch sich lebt, macht uns Angst, weil sie uns nicht braucht. Aber wir wollen gebraucht werden, denn wir… wir leben nur durch die Anerkennung und die Wertschätzung anderer. Wir glauben, nichts wert zu sein, wenn man uns nicht bewundert. Ist es nicht so? Und das wissen sie. Die Frauen. Wenn sie etwas wollen, so bringen sie uns dazu, eine Entscheidung zu treffen, die sie geplant haben. Wir würden nie widersprechen, oder? Wenn sie uns bittet, wenn sie uns um Rat fragt, wenn wir ihr helfen sollen. Das gibt uns das Gefühl, wichtig zu sein und gebraucht zu werden. Dabei interessiert sie unsere Meinung kein Bisschen. Sie spricht uns sogar ab, eine eigene Meinung zu haben. Dieses Verhalten ist den Frauen in Fleisch und Blut übergegangen und du, Rebecca, merkst es schon gar nicht mehr, wenn du es an den Tag legst. Misstraue ich dir? Ja, meine Güte! Ich misstraue dir im gleichen Maße, wie es gesund ist allen Menschen zu misstrauen! Das bist du nicht gewohnt, was?“
Rebecca lachte: „Ist das jetzt die Emanzipation des Mannes?“
„Wieso sollen nur die Frauen davon profitieren, wenn ein Bewusstsein für Gerechtigkeit langsam in den Zeitgeist Einzug hält?“
„Oh, Brian, du kannst es ruhig zugeben, dass Cathy Zweifel in dir gesät hat“, sagte Rebecca.
„Du traust mir keine eigenen Zweifel zu. Da hast du es!“
„Ach, das führt doch zu nichts“, meinte Christopher.
„Nein, das tut es nicht“, sagte Rebecca, „Aber das hier ist mein Haus und ich entscheiden, wer hier ein- und ausgeht. David hat kürzlich erst zwei Typen angeschleppt, die wir notgedrungen aufnehmen mussten, weil sie bereits eingeweiht waren. Wenn ich meinen Kopf für diese Sache hinhalte, dann will ich auch in die Entscheidungen mit einbezogen werden, verstehst du?“
„Cathy findet übrigens, dass es unmoralisch ist, was wir tun“, sagte Brian.
„Willst du aussteigen?“, fragte Rebecca gereizt.
„Nein, ich will dich nur einbeziehen.“
„Hast du Skrupel? Bist deshalb zum letzten Treffen nicht aufgetaucht?“
„Du wirst es nicht glauben, Becky, aber ich habe noch andere Verpflichtungen. Es ist etwas dazwischen gekommen, das ist alles.“
„Ja, Freddy ist dir dazwischen gekommen, das wissen wir bereits.“
„Dein Problem ist, dass du immer alles kontrollieren musst. Deshalb lebst du in Angst vor unerwarteten Entwicklungen. Das ist nicht ungewöhnlich, aber eben auch nicht förderlich bei einem Leben am Rande des Gesetzes.“
„Willst du mir hier gerade meinen Lebensentwurf erklären?“, fragte Rebecca empört, „Wofür hältst du dich eigentlich?“
„Nun beruhigt euch mal wieder!“, rief Christopher, „Alle beide! Niemand von euch hat die Autorität eigenmächtige Entscheidungen für und im Namen der Gruppe zu treffen. Sind wir uns da einig?“
„Ja“, sagte Rebecca sofort.
„Das ja, aber…“, begann Brian.
„Shhh“, machte Christopher, „Und niemand hier schiebt Ausreden vor! Wir sagen uns die Wahrheit! Sonst können wir die Sache vergessen. Wir müssen ehrlich sein und uns vertrauen! Dein Misstrauen, Brian, ist ebenso fehl am Platze wie deine Vorwürfe, Rebecca!“
„Du willst hier wirklich relativieren“, stellte Rebecca fest.
„Wird er jetzt dein neuer Sündenbock?“, fragte Brian süffisant.
„Sündenbock für was?“
„Du brauchst immer jemanden, auf dem du rumhacken kannst.“
„Brauch ich das, ja? Du meinst es ist also klüger, immer klein bei zu geben, weil man sich so Unannehmlichkeiten erspart?“
„Ich sage nur, dass es dir auch mal gut anstehen würde, wenn du dich überzeugen lassen würdest. Du bist hier schließlich diejenige, die chronisch ihren Mitmenschen misstraut. Ich weiß, dass du dir angewöhnt hast, zu glauben, dass niemand dir so gut helfen kann, wie du dir selbst. Und vielleicht ist es richtig, dass Frauen sich eine harte Schale zulegen, wenn sie nicht ständig übervorteilt werden wollen, aber hin und wieder bedeutet Vertrauen eben auch Sicherheit“, sagte Brian, „Niemand hier wird dich verraten, glaub mich. Wir sind keine Verräter. Wir sind Partner in Crime. Wir sind Freunde. Und Freunde sagen sich manchmal unbequeme Wahrheiten ins Gesicht. Daran erkennst du sie.“
„Ich brauche keine Hilfe“, sagte Rebecca, entspannte sich aber langsam wieder, „Ihr braucht Hilfe. Das ist das Problem. Ihr seid auf mich angewiesen. Wie fühlt sich das für einen Mann an?“
„Was willst du hören? Etwas, das deine Aggression rechtfertigt?“, fragte Brian.
„Die Wahrheit. Ist es Demütigung oder Erleichterung darüber, Verantwortung abgeben zu können?“
„Also ich für meinen Teil“, sagte Christopher, „vertraue dir und deshalb empfinde ich weder das eine noch das andere.“
Brian sagte nichts.
„Ich glaube, es ist Angst“, sagte Rebecca schließlich, „Männer haben immer Angst, deshalb legen sie Regeln fest, die dafür sorgen, dass Frauen für jede Errungenschaft etwas opfern müssen. Ihre Freiheit für ihre Sicherheit oder umgekehrt. Ihre Stimme gegen ihren Ruf. Ihre Anerkennung gegen ihre Selbstverwirklichung. Sobald eine Frau tut, was ihr gefällt, muss sie mit Ächtung rechnen. Man spricht ihr Verstand und Sittlichkeit ab, wenn sie ihre eigenen Interessen verfolgt. Alles, was sie tut, hat ihren Preis. Männer lassen sich dafür bezahlen, wenn man ihnen ihre Macht über die Deutungshoheit des Lebens der Frauen nimmt. Aber wo steht geschrieben, dass es das natürliche Recht eines Mannes ist, festzulegen, dass eine anständige Frau als Jungfrau in die Ehe gehen muss, während er von einem Freudenhaus ins nächste stolpert? Es ist Angst davor, Macht zu verlieren, die ihr nie hättet haben dürfen, die ihr euch angeeignet habt und ich glaube, ich wisst das. Entgegen der landläufigen Meinung halte ich Männer nämlich nicht für dumm und verabscheuungswürdig. Also nicht grundsätzlich. Aber gerade weil ihr das wisst, ist die Angst umso größer. Also fangt ihr an, Belohnungen zu verteilen für diejenigen Frauen, die sich euren Wunschvorstellungen gemäß verhalten. Wer sich freiwillig versklaven lässt, der wird nicht geschlagen und als Beispiel vorgeführt, dass all die anderen Sklaven selbst schuld an ihrem Elend sind. Wenn du vorhin schon darüber schwadroniert hast, wie Frauen einzelne Männer in konkreten Fällen manipulieren, hier hast du den umgekehrten Fall, der im großen Stil auf gesellschaftlicher Ebene etabliert ist. Zu sagen, dass deine Frau aber glücklich ist, impliziert, dass meine Anliegen und meine Unzufriedenheit übertrieben und wertlos sind. Ihr gebt Frauen immer dann Autorität wenn sie euch nach dem Munde reden und ihr macht sie da klein, wo sie euch widersprechen. Der Konservatismus ist tief verwurzelt in der Arbeiterschaft. Täusch dich nicht, Brian, deine revolutionäre Bewegung wird nicht überall auf Gegenliebe stoßen und alles, worum ich bitte, ist Vorsicht und vorherige Absprachen.“
„Immer mehr tote Wasservögel“ titelten die Zeitungen. Aber der Ton der Meldungen veränderte sich. Das Sterben der Schwäne war nun kein Lückenfüller mehr, keine Randbemerkung, die höchstens dazu geeignet war, gelangweilten Hausfrauen ein mitleidiges „Och“ zu entlocken, sondern etwas, das so langsam einen Anlass zur Sorge gab.
Man müsse sicherstellen, dass das Wasser des Kanals nicht giftig sei und die Industrie Rücksicht auf diese majestätischen Tieren nehme.
„Das ist dann wohl die legendäre englische Tierliebe“, kommentierte Rebecca.
„Ihr Waliser habt einfach keinen Sinn für Majestätik“, sagte Christopher.
„Ihr Iren doch auch nicht! Außerdem bezweifle ich, dass Majestätik ein Wort ist.“
„Die einzige Kritik, die sie anbringen, ist die an den Fabriken“, sagte Christopher enttäuscht, „Auf die Idee, dass jemand vorsätzlich die Schwäne vergiftet, kommen sie nicht. Sie sehen zu, wie die Arbeiter ihre Jobs verlieren, aber wenn ein paar Schwäne ihr Leben lassen, werden sie plötzlich alle zu Antikapitalisten.“
„Wenn sie erführen, dass ein paar arbeitslose Stadtstreicher die Vögel um die Ecke bringen, würden sie härtere Strafen für Stadtstreicherei fordern. Was erwartest du von der bürgerlichen Presse? Die haben keine Überzeugungen, die verkaufen nichts als Empörung. Jeden Tag zünden sie ein neues Strohfeuer an. Heute sind sie vielleicht gegen die Bosse, morgen wirft einer einen Stein ins Fenster einer Fabrikhalle und übermorgen fordern sie mehr Polizei, die dieses dreckige Arbeiterpack endlich zur Räson bringt. Sie sind auf niemandes Seite, sie kämpfen für niemanden, außer dafür ihre Zeitungen zu verkaufen.“
„Dann sollten sie das schreiben, was die Arbeiter hören wollen“, wand David ein, „Davon gibt es mehr als von den Geldsäcken.“
„Wenn die nur alle lesen könnten, hättest du vielleicht Recht“, sagte Rebecca.
„Und dann müssten sie es sich noch leisten können, eine Zeitung zu abonnieren“, sagte Christopher.
„So lange sie sich Weißbrot leisten, können sie sich auch Zeitungen leisten“, meinte Rebecca, „So schlecht steht es um die Menschheit nun auch wieder nicht. Das Problem ist, dass sie den ganzen Quatsch nicht verstehen, der da drin steht. Die Wörter sind zu kompliziert. Diese Leute schuften von morgens bis abends, da wollen sie sich nicht noch mit abgehobenem, pseudointellektuellem Wirrwarr auseinandersetzen, der von Leuten geschrieben wurde, die jedem beweisen wollen, dass sie was Besseres sind. Geltungssucht schlägt Überzeugung!“
Brian war schon wieder nicht aufgetaucht und das ärgerte Christopher. Für einen Menschen, der anderen gerne die Welt und ihre eigene Seele erklärte, war er, was seine eigenen Angelegenheiten betraf, ein ausgemachter Geheimniskrämer. Oder war etwas zwischen ihm und David vorgefallen? David jedenfalls verhielt sich völlig normal und gab an, von nichts zu wissen, ließ aber die Bemerkung fallen, dass er Brian nicht gerade für zuverlässig hielt. Dass Brian flatterhaft war und es mit der Pünktlichkeit generell nicht so genau nahm, wusste Christopher allerdings selbst.
Rebecca kommentierte Brians Fehlen nicht. Sie war wohl noch sauer auf ihn und vielleicht war er auch noch beleidigt mit ihr, weswegen er sich in ihrem Haus nicht blicken ließ.
Stattdessen hatten Davids Freunde zuverlässig weitere Sympathisanten angeschleppt und Rebeccas Missfallen konzentrierte sich auf sie. Pat und Thomas hatten eine ganze Reihe Junge und Mädchen mit angeschleppt, die nun auch die Schwäne füttern wollten.
Es waren zum größten Teil ihre Geschwister und deren Schulfreunde. Dreckig, struppig und vermutlich verlaust. Ein Mädchen mit einer großen Zahnlücke kratzte sich verdächtig am Kopf und Rebecca trat schaudernd einen Schritt zurück.
„Nein“, sagte sie bestimmt.
„Aber wir wollen helfen“, sagte ein Junge, der Pat verblüffend ähnlich sah, nur etwas kleiner und schmächtiger war.
„Ihr helft euch selbst am besten, indem ihr zur Schule geht“, sagte Rebecca.
„Pff“, machte der Junge und Rebecca seufzte.
Eine Schande, dachte sie, dass die Eltern ihren eigenen Kindern nicht beibringen, dass sie etwas erreichen können. Diese Kinder wachsen mit dem Gedanken auf, es ohnehin niemals besser zu haben, wie sollten sie sich also anstrengen? Überleben war das einzige, auf das sie hoffen konnten.
Christopher hatte Unrecht, wenn er glaubte, dass die Arbeiterklasse sich auflösen würde, wenn ihre Kinder aufstiegen. Niemand würde jemals aufsteigen. Nicht diese kleinen Bastarde jedenfalls, die niemals eine Perspektive sehen würden, weil es in ihrem Vokabular dieses Wort gar nicht gab.
Eine Schande auch, dass die Schulen ihnen nur beibrachten, das Lernen zu verabscheuen. Rebecca fragte sich, ob das System hatte: Kinder, die sich gar nicht aus ihrem Schmutz erheben wollten, weil sie nie gelernt hatten, dass es eine Welt ohne Schmutz gibt. Ignoranz ist Glück, hieß es, aber stimmte das? Nahm man wirklich alles als Glück an, wenn man nicht wusste, was einem an Glück entging? Oder meinte dieser zynische Satz nicht eher reiche Menschen, die ihre Leben glücklicher verbringen konnten, wenn sie nicht wussten, wie in den unteren Klassen ums Überleben gekämpft wurde?
Rebecca kannte beide Leben und Glück hatte sie nirgendwo erlebt. Langsam zweifelte sie auch daran, dass ausgerechnet Wissen den Ursprung von Unglück darstellen sollte. Vielleicht war auch diese Redensart nur ein schnell daher gesagter, dummer Spruch, der die vorwurfsvolle Stille und die Unsicherheit übertönen sollte. Ignoranz ist Glück. Seelig die Einfältigen. Beneidenswert das bescheidene Leben. Ekelhaft!
Rebecca hörte ihre Mutter sagen: „Ach, sie haben es doch gut. Ein mittelloses Leben ist ein sorgloses Leben. Wer nichts zu verlieren hat, kann nur gewinnen. Wer nichts mehr zu gewinnen hat, dem bleibt nur die Furcht vor dem Verlust. Sie tragen keine Verantwortung, sie entscheiden nicht über ihr Schicksal. Das ist wahres Glück.“
Und dann hörte Rebecca sich sagen: „Niemand wird kommen, um euch zu retten. Rettet euch selbst!“
„Was?“, fragte Christopher.
„Nichts“, erwiderte Rebecca schnell, „Ich glaube, ich fühle mich nicht wohl.“
„Willst du dich hinlegen?“
„Ja, das wird wohl das beste sein. Ich sollte mich hinlegen.“
„Es muss ihr wirklich schlecht gehen, wenn sie einfach so einen Ratschlag annimmt“, sagte David bissig, als Rebecca das Zimmer verlassen und nach oben gegangen war, „Aber was sagst du dazu, dass die Kleinen mitmachen wollen? Sie können viel unauffälliger Brot verfüttern als wir. Was meinst du?“
„Ich bin auf Rebeccas Seite“, sagte Christopher knapp, „Keine Kinder. Das ist zu gefährlich. Und es gefällt mir nicht, wie diese Sache sich verbreitet. Wir müssen vorsichtig sein, habt ihr das vergessen?“
„Bisher hat sich noch kein Polizist eingemischt. Alle haben bisher dicht gehalten“, sagte David, „Sie spekulieren immer noch über giftige Abwässer. Es wird langsam Zeit, dass sie diese Aktion verstehen!“
„Wer sind „sie“?“, fragte Christopher.
„Na, die da oben, du weißt schon.“
„Da bin ich mir nicht mehr sicher…“
Da es kein neues Brot gab, trollte sich die Gruppe bald und die Kinder schlenderten murrend und widerwillig nach Hause.
Christopher stieg die Treppe nach oben und fand Rebecca im Bett schlafend vor. David hatte Recht gehabt: Es ging ihr wirklich schlecht, wenn sie ohne Widerworte zu Bett gegangen und so schnell eingeschlafen war.
Rebecca träumte, durch den Wald zu einem Friedhof zu laufen. Aus der Ferne konnte sie Stimmen zweier ihrer Tanten hören, die sich darüber stritten, ob es eine Beleidigung darstellte oder Wertschätzung ausdrückte, einer Frau Kleidung zu schenken.
Kleidung? Wieso Kleidung? Weil sie schlecht gekleidet war? Weil sie keinen Geschmack oder kein Geld hatte? Und immer die Angst, entdeckt zu werden… Es galt, einen Standard aufrecht zu erhalten. Es galt, den Kopf oben zu halten, mitzuhalten, dabei zu sein.
Aber sie meinen es nur gut. Aber sie wissen Bescheid. Wissen, das sich über einen verbreitet, macht angreifbar. Güte ist Demütigung in diesen Kreisen.
Und am meisten verletzte Rebecca, dass nie ein Wort offene Kritik fiel. Für sie hatten sie nichts als Mitleid übrig. Mitleid ist die Abscheu distinguierter Leute…
Dabei war sie gar nicht auf die abgelegten Kleider anderer Leute angewiesen. Sie hatte Kleider ausreichend an Anzahl und Qualität. Aber eben nur ausreichend… Es reichte nie, wenn etwas nur ausreichte. Alles musste im Überfluss vorhanden sein. Notwendig war, was nicht notwendig war. Denn es war schon schön, wenn man es besaß, nicht wahr?
Ein schönes Leben, soll der Mensch haben. Danach streben die Damen der Gesellschaft. Schönheit ist eine Notwendigkeit der Dekadenz und Dekadenz ist eine Notwendigkeit für echtes Glück. Und echtes Glück ist ein Bild von sich selbst.
Der Friedhof befindet sich mitten in einer Hotelanlage. Vermieten sie hier Zimmer an die Lebenden oder Särge an die Toten? Und was von beidem war Rebecca?
Es ist ein Bild aus ihrer Kindheit: Ein Strand, zu dem die Menschen pilgern – nicht um Buße zu tun oder sich einer spirituellen Reinigung zu unterziehen, sondern um dem profanen Bedürfnis nach Müßiggang zu frönen und zu zeigen, dass man es sich leisten konnte, dies zu tun, obwohl man um Grunde gar nicht wusste, was man hier tun sollte, außer die Promenade hin und her zu spazieren. Zu stolzieren? Einen Sonnenschirm in der Hand. Die Schuhe so unbequem und viel zu eng bei dem heißen Wetter.
An jeder Ecken versuchen sie einem etwas zu verkaufen und Rebecca kann sich nicht entscheiden. Zu viel Auswahl, zu viele Möglichkeiten. Sie ist der Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert. Was soll nur aus diesem Kind werden, das den Verzicht vorzieht, das überfordert ist mit dem Angebot in ihrem Leben?
Die Welt ist zu bunt, der Meinung ist Rebecca schon immer gewesen. Zu bunt, zu laut, zu schnell, zu voll. Die Regale sind zu hoch. Niemand kann die obersten Fächer erreichen, wieso sie also vollstellen? Musste man immer alle um jeden Preis überwältigen wollen? Die Korridore sind zu eng, wie soll man da aneinander vorbei gehen? Alles ist dafür ausgelegt, dass alle in der gleichen Geschwindigkeit in die gleiche Richtung gehen. Alle haben das gleiche Ziel. Aber dies ist ein Rundweg. Er führt an den Gräbern ihrer Großeltern vorbei. Irgendwo dort drüben, wo ein wilder Nussbaum die angelegten Hecken überwucherte.
Gut, dass sie das nicht mehr miterleben müssen, sie hätten es nicht ertragen, ihre Enkelkinder in geflickten Kleidern zu sehen. Es hätte ihnen das Herz gebrochen, wenn sie dich so hätten sehen müssen, Rebecca. Was soll nur aus dir werden?
Rebecca weiß nicht, ob dies ein Vorwurf oder echte Sorge war. Aber der Satz hallt in ihrem Kopf nach, als befinde sich sonst nichts darin. Es gibt diese Sätze, die Raum einnehmen, die alles um sie herum verdrängen, um ein Echo werfen zu können.
Was soll nur aus dem Kind werden? Das bedeutet: Sie wird nicht heiraten können, aber wir können sie auch nicht arbeiten schicken. Wovon soll man da noch träumen? Träume werden abgelöst von Sorgen. Geborgenheit wird abgelöst von Ekel. Die Nähe zu ihrer Familie erzeugt mit den Jahren Reibungshitze.
Wenn deine Großmutter sehen könnte, was du wieder mit deinen Haaren angestellt hat, Rebecca! Und wenn sie all den Dreck unter deinen Fingernägeln sehen würde…
Ja, was dann?
Zu meiner Zeit wärst du für so etwas mit dem Rohrstock bedacht worden.
Und heute? Konnte man sich heute nicht einmal mehr einen Rohrstock leisten? Dafür setzt es eine Ohrfeige.
Was für ein Druck auf ihnen liegt, den Schein aufrecht zu erhalten. Wie gerade sich ihre Mutter immer noch hält, obwohl sie zu Hause immer über Rückenschmerzen klagt. Aber an der Strandpromenade gibt es keine Schmerzen. Hier ist das Leben perfekt. Hier geben Töchter keine Widerworte. Hier haben Eltern ihr Ansehen, ihre Finanzen und ihre Familie im Griff.
In den Cafés schlürfen die Damen Likör aus Teetassen und lästern über die Passanten. Es ist wie auf dem Viehmarkt. Alles und jeder wird von jedem bewertet. Pflicht und Kür bei Tag und dann Entspannung beim Versuch während der Abendgesellschaft die besten Freunde auszustechen.
Und auf dem Friedhof gibt es genauso wenig Schmerz. Der Tod ist der ewig währende Urlaub vom Leben. Wenn man erst einmal in einer solchen Kiste liegt, fragt niemand mehr, ob das letzte Hemd geflickt ist oder nicht. Auch den Würmern ist es egal.
Und dann ist sie plötzlich ganz allein in einem Wirbel aus Bildern, die ineinander zerfließen zu einem bitterschmeckenden Farbenbrei. Zu viele Erinnerungen im Angebot. Vergessen ist keine Option. Zu teuer. Das kann Rebecca sich nicht leisten. Und noch etwas kann sie sich nicht leisten: Schlaf. Wie kam sie dazu jetzt zu schlafen?
Und schließlich geschah etwas, das Rebecca häufig in Träumen widerfuhr und woran sie noch im Traumzustand erkannte, dass sie träumte: Sie kippte nach hinten über, nicht willenlos, sondern bei vollem Bewusstsein in einem Akt der selbsterzwungenen Ohnmacht. Die einzige Form der Entspannung, die sie sich zugestand. Kontrollierter Kontrollverlust, der Wunsch, aufgefangen zu werden, die Lust an der Angst und der Gratwanderung zwischen Selbstaufgabe und Vertrauen.
Manchmal wünschte sich Rebecca derartige Anfälle auch in der Realität zu erleben. Niemand würde einer Epileptikerin vorwerfen, wenn sie einen Teil ihrer Selbstverantwortung abgab.
„Du hast Fieber“, stellte Christoper fest, als sie die Augen aufschlug und festzustellen versuchte, wo sie war.
„Das ist nur die warme Decke“, murmelte Rebecca und machte Anstalten, aufzustehen.
„Nein, das wirst du nicht! Du bleibst im Bett und kurierst dich aus!“
Zerknirscht blieb Rebecca liegen und fühlte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren drängte.
Sie hatte sich eine ganz schöne Erkältung eingefangen, die sie die nächsten drei Tage ans Bett fesselte. Christopher bestand darauf, ordentliche Kohlen und ordentliches Brot vom Bäcker zu besorgen. Dass Rebecca keine Einwände vorbrachte, zeigte ihm, dass sie wirklich kaum noch Kraft hatte.
„Wenn du Brian siehst“, sagte sie schließlich zu ihm, „dann sag ihm, dass er ein verdammtes Großmaul und ein Drückeberger ist! Und wenn er sagt, er kümmere sich um Cathy, dann sag ihm, dass er alles nur schlimmer macht. Dieser Frau ist nicht zu helfen. Sie ist gemeingefährlich. Hörst du? Zu ihrer eigenen Sicherheit sollte er sie einweisen lassen!“
„Ich bitte dich, es nicht zu überreizen“, erwiderte Christopher, doch er bekam keine Antwort. Hier waren die Fronten offensichtlich verhärtet.
Was ein paar Tage Bettruhe doch ausmachten… Danach jedenfalls war die Welt eine ganz andere. Brian, das Großmaul, triumphierte über Brian, den Drückeberger und entfachte mit einer großzügigen Aktion im örtlichen Pub einen Flächenbrand. Am nächsten Morgen sprachen die Männer auf der Straße davon, wie ungewöhnlich generös sich der angeblich arbeitslose Brian mit einem Mal gab. Eine Runde nach der anderen hatte er geschmissen und mit jedem Glas Bier war er übermütiger geworden.
Seltsamer Kerl, hieß es. Viel zu klug für diesen Stadtteil. Viel zu gewitzt und viel zu gutherzig. Er habe eine seltsam verquere Art zu denken, das war bekannt, aber was er jetzt erzählt hatte, klang doch reichlich absurd.
„Habt ihr das mit den Schwänen gehört?“
„Die toten Schwäne auf dem Kanal?“
„Ja.“
„Was ist mit denen? Die sind verhungert oder was?“
„Nein, vergiftet.“
„Jemand vergiftet die Schwäne?“
„Ja. Die Schwäne der Königin.“
Die Frage, ob es sich hierbei um Vandalismus, Terror oder einen Befreiungskampf handelte, war schnell geklärt: „Helden sind das, würde ich sagen!“
„Guter Kerl, Brian. Einer meiner besten Freunde.“
„Wie wollen wir uns nennen?“, fragte einer in die Runde. Das Licht im Pub war schummriger als sonst und der Pfeifenrauch hing schwer in der Luft. Christopher hatte Probleme zu atmen, ohne permanent husten zu müssen. Brian hatte ihn hierher geschleppt.
„Dir gebührt der Ruhm!“, hatte er verkündet, „Du musst dabei sein! Du musst es erleben!“
Christopher wankte zwischen peinlicher Rührung, Stolz und Scham. Er war nicht für die große Bühne gemacht, aber so ein bisschen genießen durfte man seinen Erfolg ja wohl, oder nicht.
„Ja, wie ist unser Name? Wir brauchen einen Namen!“
Diese Begeisterung, dieser absolute Wille, Teil einer Bewegung zu sein, die bedingungslose Zustimmung… Das machte Christopher ein wenig Angst. Kaum einer von diesen Männern hatte bei einer ihrer Aktionen bisher mitgemacht. Keiner hatte sich in Gefahr begeben oder eine Idee gehabt und doch redeten sie bereits von „Wir“ und „Uns“. Und wie selbstverständlich gehörte Rebecca nun nicht mehr zu „ihnen“. Sie war nicht eingeladen. Niemand hatte an sie gedacht und Brian hatte ihren Beitrag zur Gruppe geflissentlich verschwiegen. Seine Form der Rache, dachte Christopher, aber einmischen wollte er sich nicht, da konnte er nur verlieren.
David saß zufrieden im Mittelpunkt des Geschehens und ließ die allgemein gute Stimmung auf ihn wirken. Nichts anderes hatte er sich erhofft. Von Anfang an hätte Brian ihr Anführer sein sollen. Er wusste, wie man Leute begeisterte. Christopher war zu zimperlich für eine solche Position. Es mochte sein, dass er gute Ideen hatte, aber verkaufen konnte er sie und vor allem sich selbst nicht. Schon gar nicht mit dieser Frau im Schlepptau.
Es stimmte, dass Frauen nicht einfach waren. Man musste mit ihnen umzugehen wissen. Wenn man die Leine zu locker hielt, tanzen sie einem auf der Nase herum und wurden zu keifenden, besserwisserischen, hochmütigen Furien. Dann doch lieber eine wie Cathy, dachte David. Nicht besonders schlau, aber fügsam um loyal. Brian hatte sie im Griff und sie schien zufrieden zu sein. Im Gegensatz zu Rebecca, die nie genug bekam und nie zufrieden wirkte.
Man musste den Frauen zeigen, wann es genug war. Von alleine merkten sie es nämlich nicht. Wenn man sie allein ließ, wollten sie immer mehr, forderten und jammerten. Sie brauchten jemanden, der ihnen die Grenzen aufzeigte und ihnen erklärte, was möglich war und was nicht. Rebecca war eine unmögliche Frau, Cathy war eine, die sich mit ihren Möglichkeiten arrangiert hatte und so sollte es sein. Cathy drängte nie in die Öffentlichkeit. Cathy ergriff nie das Wort, wenn sie nicht angesprochen wurde und sie beschwerte sich nicht. Kein Mann der Welt, konnte eine Frau gebrauchen, die sich ständig beschwerte. Das Leben eines Mannes war schon schwer genug.
Das dachte David, als er sich zurücklehnte und genüsslich an seiner Selbstgedrehten zog.
„Die Gesellschaft für Wasserhygiene“, schlug jemand vor und vereinzelt waren Lacher zu hören.
„Verein der königstreuen Vogelfreunde von Salford und Hulme“, sagte ein anderer.
„Die Fortschrittsbruderschaft“, darauf wurde schließlich angestoßen und bierschwangere Selbstzufriedenheit machte sich auf den Gesichtern breit.
Christopher fühlte sich unwohl. Das alles ging ihm zu schnell. Dinge wurden zu schnell abgehandelt, abgeurteilt und vergessen. Isabelles Cousin hatte sich aufgehängt und Rebecca hielt ihn für einen Feigling. War es das etwa? Hatte sich die Angelegenheit damit erledigt. Konnte man ein Leben ad acta legen, wenn man sagen konnte, dass jemand ein Feigling, ein Held, ein Schurke oder ein Opfer war? Ließen sich Menschen so leicht kategorisieren und mussten sie in ihren Schubladen bis an ihr Lebensende bleiben?
Christopher starrte in sein Bier und ekelte sich von dem bitteren Gesöff.
Isabelles Cousin hatte sich aufgehängt. Seine Gedanken klammerten sich an diesem Satz fest, wie seine Finger das Glas festhielten. An irgendetwas musste er schließlich denken und lieber dachte er an eine Mann, der sich aufgehängt hatte, als daran, wo er sich befand und warum.
Entscheidungen wurden zu schnell getroffen und dann waren sie nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn man sich erst einmal aufgehängt hatte, gab es kein Zurück mehr.
Entscheidungen erforderten Mut. Feiglinge warten darauf, dass ihnen die Dinge zustießen, dass sie einem Unfall zum Opfer fallen, dass sie ermordet oder gerettet werden. Christopher fragte sich, wie viele Menschen Visionen darüber hatten, dass und wie sie sterben würden. Visionen, Phantasien. Der Übergang war fließend.
Isabelles Cousin hatte sich aufgehängt. Wer war eigentlich Isabelle? Irgendeine von Rebeccas Bekannten. Rebecca kannte ja Gott und die Welt. Aber wer kennte eigentlich sie? Kannte er Rebecca? Wieso war sie nicht hier? Er fühlte sich unsicher ohne sie, obwohl sie es zumeist war, die ihn verunsicherte.
Aufgehängt. Wer ihn wohl gefunden hatte? Seine Frau, die schwanger ist? Eines seiner Kinder? Oder hatte Isabelle die Geschichte nur erfunden, um sich wichtig zu machen? Oder Rebecca, um ihr Argument zu unterstreichen?
Wie fühlte es sich wohl an, wenn einem das Genick brach? Ob man es noch knacken hörte, bevor man starb? Oder erstickte man, wenn man sich selbst aufhängte? Woher wussten die Leute, wie man so etwas anstellte? Hatten sie es vorher schon mal ausprobiert? Hatten sie mal jemandem assistiert?
Es gab so viele Geheimnisse in der Welt. Der Tod, das Sterben… Christopher trank sein Glas aus, aber auf dessen Grund fand er die Antwort auch nicht. Es war so laut hier und doch verstand er kein Wort. Wie in einem dieser Träume, in denen man versuchte, einen Text zu lesen, aber die Wörter ergaben keinen Sinn. Sobald man eines verstanden hat, veränderte es sich und dann verändert sich der Kontext und dann reden alle durcheinander und dann steht man als einziger da in einer an einem vorbei rauschenden Welle von Information. Sie alle bewegten sich, tauschten sich aus, begeisterten sich gegenseitig. Nur er blieb auf der Strecke, blieb hängen, hatte sich aufgehängt. Wer würde ihn finden, abholen und mitnehmen?
Es ist ein seltsames Gefühl, frei herabzubaumeln, keinen Boden unter den Füßen mehr zu benötigen, sicheren Halt zu haben, auch ohne Kontakt zur Erde. Das Atmen ist der Preis den man für diese Sicherheit bezahlen muss. So ein Seil ist härter, rauer und unerbittlicher als die Hand eines Feindes. Das eigene Werkzeug, das man gegen sich anwendet. Kontrolle über den Kontrollverlust. Gott selbst hat den Teufel erschaffen…
Wenn man erstickt, geht das viel schneller, als die meisten glauben. Da ist eine Enge, die einen erst zerquetscht und dann in Stücke reißt. Der Hals trennt und verbindet Körper und Geist, die Maschine und ihren Zweck. Erst wird alles rot, dann wird alles schwarz. Dann wird alles hell und dann ist alles vorbei.
Als Isabelles Cousin sich erhängte, musste er sich so etwas vorgestellt haben. Christopher starrte auf das neue Bierglas, das vor ihn gestellt worden war. Jemand hatte es ihm ausgegeben. Niemand verlangte Geld von ihm. Niemand redete mit ihm. Er war zwar da, aber er hatte keine Bedeutung, außer dass er Platz verbrauchte – und Sauerstoff. So etwas ähnliches. Wenn man lebt, spürt man den Tod im Nacken. Wenn man den Tod nicht im Nacken spürt, lebt man nicht, sondern vegetiert nur vor sich hin – ziellos, emotionslos, wartend. Wie eine Zecke im Gras.
Wenn man leben will, muss man sich dem Tod aussetzen, man muss ihm nahe kommen, ihn spüren, ihn annehmen. Man starb mit jedem Augenblick des Lebens und die Zeit war der Countdown allen Sterbens. Und Isabelles Cousin hatte einfach vorzeitig abgebrochen, nicht bis zur Null gewartet, sondern bereits bei Fünf, seine Seele hinaus ins All geschleudert.
Komische Vorstellung… ein Weltall, das von körperlosen Seelen bevölkert wird, die lautlos umher schweben wie Motten in der Finsternis, die nicht leben, die nicht die Zeit verbringen, sondern für immer stillstehen in der Ewigkeit.
Ob sie auf uns herabblicken? Die Toten. Die Dahingegangen, die von Krankheiten Zerfressenen, die Ermordeten, die Getöteten, die Gefallenen, die Vergessenen, die Gerichteten, die Geopferten, die Alten, die Schwachen und die Schwäne. Was sagen sie zu unserer Schuld? Unseren Sünden, die wir an ihnen begangen haben? Was sagen sie zu unserem leichtfertigen Vergessen und Verleugnen?
Isabelles Cousin würde sagen: „Wieso habt ihr mich nicht gesehen, bevor ich über dem Küchenboden baumelte? Habe ich davor nicht existiert? Wieso redet ihr erst über mich, wenn ich tot bin? Wieso redet ihr nicht über meine Frau und meine Kinder? Wieso sind euch die Toten wichtiger als die Lebenden? Könnt ihr Leid erst ertragen, wenn es vollendet ist? Nicht mehr gefährlich? Betrügt ihr euch nicht selbst, wenn ihr sagt, Selbstmord sei eine undenkbare, ungeheuerliche, untragbare Versündigung gegen Gott den Allmächtigen? Nennt mir einen, nur einen Grund, warum man es nicht tun sollte! Einen triftigen Grund, nachdem dieses Leben lebenswert, nützlich, sinnvoll, erfüllend und erfreulich ist! Es gibt nur einen: Gott zu zeigen, dass er keine Macht über einen hat. Sich der Macht der anderen entziehen, das ist der Sinn des Lebens und die Begründung meines Todes. Wer sonst hat derartiges vorzuweisen?“
Christopher schauderte. Sprach hier der Alkohol mit ihm oder der Geist eines Toten aus einer anderen Daseinssphäre? Inzwischen hing er mit dem Kopf auf dem bierfeuchten Holztisch und bemühte sich gar nicht mehr die Augen offen zu halten. Die Müdigkeit und Überanstrengung hatten ihn übermannt wie zuvor der Zweifel. Hatte er das alles geträumt? Hatte er geschlafen? Vom Geschehen um ihn her hatte er zumindest nicht mehr viel mitbekommen in der letzten halben Stunde. Brian stand vor ihm wie ein rothaariger, verschwommener Fleck in dem missratenen Kunstwerk, das seine Wahrnehmung darstellte.
„Ich bring dich nach Hause, Kumpel. Du bist ja gar nichts mehr gewohnt!“
Christopher ließ sich darauf ein und sich von ein paar Kerlen aufwuchten, bis er schwankend, aber doch aufrecht stand. Brian stützte ihn, als sie nach draußen stolperten und ihnen dort der eiskalte Wind entgegen peitschte.
„Mein Leben ist keine Metapher“, sagte Christopher plötzlich, „Ich will nicht als Gedicht enden oder als innere Stimme von jemandem. Was meinst du: Wenn man stirbt, bekommt die Seele dann einen neuen Job? Als Gewissen von jemandem oder als Zweifel? Als Lüge oder als Schuldgefühl? Als Mahnung oder etwas, das dich langsam in den Wahnsinn treibt? Glaubst du Seelen werden zu Engeln oder zu Dämonen? Glaubst du, die können mit uns in Kontakt treten? Ich glaube, ich will das nicht. Ich will einfach irgendwann sterben und dann meine Ruhe. Nichts mehr mit niemandem zu tun haben. Kein Spuk, keine Beschwörungen, keine Visionen. Ich will niemanden belästigen und niemanden belasten.“
„Was immer du meinst, Chris“, sagte Brian freundlich.
„Du sagst, ich bin ein Dichter. Was wenn es sowas gar nicht gibt. Was wenn Dichter nur Medien sind, die verirrte Ideen einfangen und auf Papier bannen? Was wenn Worte und Ideen unabhängig von unserem Geist existieren und immer existiert haben? Dann müssten wir nichts mehr erfinden, sondern nur noch suchen, um zu finden. Und wir könnten für nichts bestraft werden, weil wir nichts aus eigenem Antrieb tun. Wir sind nur Werkzeuge, Zahnräder in einem Getriebe. Wir wissen nur nicht, ob wir in die richtige Richtung laufen, ob wir festklemmen oder zu locker sind. Was passiert, wenn wir ausfallen? Wie viel können wir lahmlegen, wenn wir einfach aufhören zu funktionieren? Sind wir Erfüllungsgehilfen oder Saboteure des großen Plans, den niemand kennt? Man kann nicht verurteilt werden, wenn man nicht weiß, was man tut oder was man bewirkt!“
„So ist es“, sagte Brian.
„Ich glaube, es ist falsch, Lebewesen zu töten“, erwiderte Christopher schließlich.
Was für eine erbärmliche Kreatur ist der Mann, der darauf angewiesen ist, dass seine Frau ihn aus der Scheiße rausholt, aber nennt mir einen, der das nicht ist! Rebecca und Brian stützten Christopher und schleppten ihn die Treppe hinauf ins Bett, wo er seinen Rausch ausschlafen konnte.
Unten in der Küche sagte sie zu Brian: „Ich finde es unaufrichtig von dir, dass du Christopher allein lässt. Du hast Verantwortung für ihn. Alle einsichtsvollen Menschen haben sie gegenüber den Verunsicherten. Aber alles, was du tust, ist ihn zu foppen.“
„War das nun ein Lob oder eine Kritik?“, fragte Brian.
„Es war eine Anmerkung. Christopher ist ein Mensch, der allein nicht zurecht kommt und du weißt das so gut wie ich. Sieh dir an, was er heute Nacht angestellt hat. Was glaubst du, würde passieren, wenn er allein leben müsste? Er ist gut darin, sich um andere zu kümmern, aber er schafft es nicht, seine eigenen Angelegenheiten auf die Reihe zu bekommen. Das Leben anderer Leute füllt ihn so sehr aus, dass da kein Platz mehr für ihn selbst ist. Er hat sich sozusagen sich selbst abgewöhnt. Und wenn er dann mal allein mit sich ist, passiert sowas.“
„Wirst du jetzt zur Abstinenzlerin, Rebecca? Behandel mal deinen Mann nicht wie ein kleines Kind. Christopher weiß sehr wohl, was er tut und wie er es zu tun hat. Er hat jahrelang allein jeden Tag auf einem Kutschbock gesessen und ist dadurch weder verrückt noch sonderbar geworden.“
„Dadurch vielleicht nicht. Aber es kommt ihm zupass. Wenn niemand ihm zur Seite steht, gerät er auf die schiefe Bahn. Es gefällt ihm nicht, wenn man ihm das sagt und ich bin froh und dankbar, dass du ihm hin und wieder einen Schubs in die richtige Richtung gegeben hast, aber wenn du abdriftest, wird er dir nicht folgen, Brian!“
„Na schön, das war dann jetzt aber eine Drohung, nicht wahr? Vielleicht ist das Problem auch einfach, dass du, Rebecca, nicht in der Lage bist, dich klar auszudrücken. Es ist nicht dein Problem. Die meisten Frauen können oder trauen es sich nicht. Die Unbestimmtheit der Frau ist ein Mysterium und die Würze des Lebens, aber, meine Liebe, sie hilft uns ganz sicher nicht weiter bei der Ergründung der wichtigen Fragen der Menschheit.“
„Und wenn du Menschheit sagst, meinst du Männlichkeit“, wand Rebecca ein, „Findest du es nicht interessant, dass das Argument, warum Frauen keine Geheimnisse ergründen sollen, ist, dass sie für euch ein Geheimnis darstellen? Ihr wollt Probleme ignorieren, um sie zu lösen. Womit ich nicht sagen will, dass Frauen Probleme sind, aber übermäßiger Alkoholkonsum ist es. Du kannst es nicht ignorieren und behaupten, du wolltest dich nicht in seine persönliche Freiheit einmischen oder es sei gar kein Problem, weil noch nie jemand es vorher so formuliert hat. Das ist mir zu billig. Wenn es um schlechte Eigenschaften geht, haltet ihr zusammen, weil ihr euch vor Veränderungen und Kritik fürchtet. Brian, ich mache dir keinen Vorwurf, dass du ihn heute so hast trinken lassen. Aber wenn du es morgen und übermorgen wieder zulässt, dann werde ich dich zur Verantwortung ziehen, weil du sein Freund bist und Freunde ihre Freunde nicht verkommen lassen.“
„Du übertreibst, Rebecca“, sagte Brian, aber weniger vorwurfsvoll, als man es erwartet hätte nach ihrem Streit.
„Du bist ein guter Kerl, auch wenn man dir wie allen Männern ab und an auf die Sprünge helfen muss. Und weißt du, warum du ein guter Kerl bist? Weil du noch nie ganz unten angekommen bist, weil du noch nie die Hoffnung verloren hast, weil du noch nie ganz allein in der Welt warst. Wer alle Hoffnung fahren lässt, den kümmert weder Tod noch Elend, den kümmert nicht, dass die eigenen Kinder so enden werden wie man selbst, der schindet sich mit Gleichgültigkeit zu Tode und hält Liebe für die Vorstufe des Unglücks. Du warst noch nie an diesem Punkt, an dem dir egal war, ob du lebst oder stirbst, an dem du Schmerz nicht nur in Kauf nimmst, sondern herbei sehnst, aber du warst tief genug unten, um zu wissen, dass du niemanden dorthin abrutschen lassen willst, hab ich Recht?“
„Was weißt du schon über mich?“, schnappte Brian.
„Mehr, als dir vermutlich lieb ist. Du schwingst gerne große Reden, also musst du das jetzt aushalten. Ich würde dir das nicht sagen, wenn ich nicht wüsste, dass du dich insgeheim für Cathy aufopferst. Du hängst das nicht an die große Glocke, weil dir das vielleicht peinlich ist – was weiß ich – aber du tust es. Du stehst zu ihr, wie ich zu Christopher stehe und deshalb solltest du mich verstehen. Mir gefällt nicht, wohin sich das alles entwickelt. Freundschaft wird absorbiert von Nützlichkeit. Früher oder später kollabiert jede Gruppe. Akkumulation und Isolation sind keine Gegensätze. Beides geht mit Verlusten einher. Verlusten von Autonomie. Im Augenblick ballt sich alles zusammen. Ihr seid im Rausch eurer eigenen Stärke. Passt bloß auf, dass euch dabei nichts abhanden kommt. Euer Verstand zum Beispiel.“
Brian schaute sie an, als würde er kein Wort verstehen, also versuchte Rebecca es noch einmal: „Verwahrlosen kann man auch in Mitten einer großen, zivilisierten Gesellschaft. Es gibt Leute, denen gefällt es, anderen dabei zuzusehen. Wahrscheinlich, weil sie sich selbst dann besser fühlen… Aber du und ich, wir sind nicht so hart. Wir fühlen noch etwas. Wir können noch klar sehen und die Lage beurteilen. Wir haben Mitleid und nicht nur Lust am Verderben. Wenn da draußen Menschen verrecken, bespucken wir sie nicht, weil wir es unerhört finden, dass sie es vor unseren Augen tun. Das war doch die Idee hinter euren Aktionen, oder nicht? Ihr konntet das Elend nicht mehr ertragen. Und jetzt? Jetzt feiert ihr euch selbst für eure Brutalität und eure Skrupellosigkeit. Hochmut kommt vor dem Fall, mein Lieber.“
„Ich glaube nicht, dass dir ein Urteil zusteht“, sagte Brian knapp, „Werte und Normen sind doch letztlich auch nur Übereinkünfte einer Mehrheit gegen die Minderheit. Was du Verwahrlosung nennst, nennen andere vielleicht Freiheit. Was du Schmerz nennst, nennen andere vielleicht Erfüllung und Leben. Was dich anekelt, kann andere beglücken. Was gesund ist, entscheidest nicht du. Das ist ein gängiger Irrglauber aller Ärzte. Für manche Menschen ist der Tod das gesündeste, was ihnen passieren kann und für manche Menschen ist das Leben eine Krankheit, die überwunden werden muss. Jeder lebt, wie er es für richtig hält, niemand braucht die Gängelei einer selbsternannten Autorität.“
„Du vielleicht nicht und ich auch nicht. Aber es gibt Menschen, die sind verloren in ihrer Freiheit“, sagte Rebecca, „Und es ist unsere Verantwortung, ihnen zu helfen.“
„Helfen, das zu tun, was du von ihnen erwartest?“
„Helfen, sich selbst zu helfen. Sie ermächtigen, selbst zu entscheiden.“
Zu den nächsten beiden Treffen im Pub konnte Christopher sich nicht durchringen. Er lag krank im Bett. Vermutlich hatte er sich bei Rebecca angesteckt oder bei sonst irgendwem. Draußen bei einem dieser Menschen, die ihm mit einem Mal so fremd vorkamen. In seinem Kopf pulsierte das Bild einer geifernden Meute, die Blut sehen wollte. Blut. Wessen Blut?
„Die Königin!“, rief Rebecca entsetzte und aufgeregt zu gleich.
„Es war Pats Idee“, erklärte David. Er saß gelangweilt vor seine Tasse Tee. Man hatte ihn offensichtlich zu diesem Krankenbesuch gezwungen, aber er zeigte ohne Scham, was er von derartigem Anstand noch hielt.
Seine Zeit würde kommen, ihre Zeit war vorbei. Krankheit, jedes Zeichen von Schwäche war ihm zuwider geworden, nachdem er zum ersten Mal erfolgreich getötet hatte. Wie sich das anhörte… Er, David Dunne, hatte erfolgreich getötet. Normalerweise nichts, worauf man stolz sein sollte, aber es hatte einem Zweck gedient. Er hatte einem Zweck gedient. Er war nützlich und wer nützlich war, war angesehen.
Ähnliche Gedanken schienen viele weitere Männer aus der indirekten Nachbarschaft zu haben, denn sie erschienen voller Dankbarkeit vor Rebeccas Tür und brachten Brot, Kuchen und Tinkturen für den Kranken. Rebecca blieb skeptisch. Männer, die sich um jemandes Gesundheit sorgten? Das kannte sie nicht und mehr als ein kurzes „Danke“ brachte sie nicht über die Lippen.
„Wir kennen uns schon sehr lange“, sagte einer, „Wir haben lange zusammen gearbeitet. Er immer mit den Pferden, du weißt schon. Und ich sag immer, der Chris ist ein guter Kerl. Immer hilfsbereit. Ein bisschen verträumt, ja. Aber nur Träumer kommen auf die guten Ideen, stimmt’s?“
„Du hörst dich an, als wolltest du mir kondolieren“, erwiderte Rebecca, „Er ist nicht tot und er wird auch nicht sterben. Aber es ist schön, dass du ihm so viel Respekt entgegenbringst. Weißt du, normalerweise sind die Männer, die hier her kommen, ein wenig vorurteilsbelastet.“
Brian kam nicht, aber bevor Rebeccas Enttäuschung in Zorn umschlagen konnte, stand jemand anderes vor ihrer Tür.
„Guten Tag, Rebecca“, sagte Jonathan brüsk und drängte hinein in die Wohnung, „Du bist vielleicht zu feige, um persönlich bei mir vorbeizukommen, aber ich sehe es dir nach.“
„Wie großzügig“, sagte Rebecca und folgte ihrem Gast zum Esstisch, wo dieser sich niederließ, „Aber wie kommst du darauf, dass ich den Wunsch verspüre, bei dir vorbeizukommen?“
„Den verspürst du natürlich nicht, aber wie die Sache liegt, ist es unvermeidlich gewesen, nehme ich an. Aber du hattest schon Recht, einen Laufburschen zu schicken. Man stelle sich nur all die Blicke vor, die du auf dich gezogen hättest.“
„Was denn für ein Laufbursche?“, fragte Rebecca in dem Versuch diesen Ringkampf um die am besten gespielte Gelassenheit zu gewinnen.
„Du weiß schon, der lange, dürre Rotschopf. Er sagte, du seist im Augenblick zu sehr damit beschäftigt, Christopher zu pflegen und könntest nicht persönlich kommen. Wie schlimm steht es denn um ihn? Werde ich unserem Vater davon berichten müssen?“
„Vielleicht möchtest du dir selbst ein Bild machen? Ich denke, es ist in weniger als einer Woche ausgestanden. Eine Grippe, nichts weiter. Da hat der lange, dürre Rotschopf dich ganz schön an der Nase herumgeführt. Jetzt bist du wegen nichts in diese verrufene Gegend gekommen. Es wird ein Alptraum werden, diesen Schmutz wieder von deinen Kleider zu bekommen. Ich hoffe, du hast ein fähiges Dienstmädchen für derlei Angelegenheiten?“
„Für unsereins gibt es Wäschereien, Rebecca“, sagte Jonathan.
„So? Kannst du dir noch kein eigenes Personal leisten? Wie schade.“
„Ist er oben?“
„Im Schlafzimmer gleich rechts, wenn du die Treppe hinaufkommst. Er freut sich sicher, dass du kommst. Er hatte ja so viel Besuch in den letzten Tagen, man hätte meinen können, er segnet das Zeitliche und hätte etwas zu vererben.“
„Rebecca, bei allem Respekt, aber ich bin hier, um einen Arzt untersuchen zu lassen, ob mein Bruder das Zeitliche segnen wird oder nicht. Es ist dir vielleicht ein fremdes Gefühl, aber Familienmitglieder stehen einander näher als – nun ja – Zufallsbekanntschaften.“
„Oh, es steht dir natürlich frei, einen Arzt zu beauftragen, wenn du meinen Kenntnissen nicht vertraust. Natürlich musst du all die Fehler, die du bei Elizabeths Erkrankung gemacht hast, irgendwie kompensieren. Ich bin sehr froh, dass du dich so um deinen Bruder sorgst.“
Während Rebecca Jonathan und Christopher sich anschließend oben streiten hören konnte, knirschte sie unten mit den Zähnen, um sich zu beruhigen. Dem langen, dürren Rotschopf würde sie gehörig denselben waschen müssen. Brians Eigeninitiative in allen Ehren – und dass er sich offensichtlich schämte, Rebecca unter die Augen zu treten -, aber er konnte nicht einfach diesen Kotzbrocken von Jonathan unvermittelt zu ihr nach Hause beordern! Hatte er etwa ein schlechtes Gewissen? Oder Angst vor Rebeccas Gardinenpredigten? Was war los mit diesem Kerl? Brian hatte mehr Geheimnisse als sie, dachte Rebecca und fragte sich, ob sie einfach nur diesen kruden, unausgesprochenen Wettbewerb gewinnen wollte, oder ehrlich neugierig war.
Jonathan kam mit Christopher im Schlepptau zurück nach unten und noch bevor Rebecca etwas wegen Christophers Aufzug – er stand in Unterwäsche vor ihnen – sagen konnte, ergriff Jonathan das Wort: „Es ist kein Wunder, dass man sich in dieser Gesellschaft alle möglichen Krankheiten einfängt. Chris, du weißt, dass die Gesundheit unserer Familie nicht die beste ist und dass uns aus diesem Grund daran gelegen sein sollte, unseren Umgang zu verbessern. Du kannst jederzeit bei mir einziehen, bis du wieder auf die Beine gekommen bist.“
„Wirklich, ich finde, das ist respektlos!“, sagte Christopher.
„Respektlos? Welchen Respekt haben diese Menschen verdient, die ihr eigenes Leben nicht auf die Reihe bekommen?“
Rebecca starrte die beiden nur an. Sie wollte sehen, wie das weiter ging.
„Ich will nicht, dass du so endest. Unsere Eltern haben uns hierher gebracht, damit aus uns etwas werden soll, nicht damit wir hier zu Grunde gehen. Zu Grunde gehen hätten wir auch in Irland können. Du solltest lieber ein wenig Respekt zeigen. Selbstrespekt, Christopher!“
„Wie kann man Selbstrespekt beweisen, indem man verleugnen, was man ist und wo man herkommt? Dir ist es doch peinlich zuzugeben, dass du einen Bruder hast, der in Hulme lebt und einen Vater, den du vor die Hunde gehen lässt. Rebecca ist dir peinlich. Selbst wenn ich sie heiraten würde, würdest du sie nicht als Mitglied der Familie akzeptieren. Elizabeth war dir peinlich, bis sie endlich tot war und du sie öffentlich betrauen konntest.“
„Nach allem, was ich höre, bist du unzufrieden mit dem Leben hier. Ich will das Beste für dich. Wir stehen auf derselben Seite, du siehst es nur nicht.“
„Der Unterschied ist, dass du nach oben willst, indem du andere niederstampfst und zurücklässt und ich hier bleiben und vor Ort etwas ändern möchte. Du flüchtest vor der Realität und ich blicke ihr ins Auge.“
„Und dann? Handelst du auch? Was tust du, außer zu reden? Wie willst du mit Gerede vorwärts kommen?“, fragte Jonathan.
„Wenn meine Freunde und ich zusammenarbeiten…“
„Du verlässt dich auf Nichtsnutze und so wirst du einem von ihnen.“
„Vielleicht gefällt es mir.“
„Vielleicht gehst du dabei zu Grunde.“
„Ja, vielleicht“, gab Christopher zu, „Aber ein angepasster Büroangestellter, der sich den Arsch am Schreibtisch platt sitzt, ist noch nie zum Helden geworden.“
Jonathan musste sich sein reptilienhaftes Lachen verkneifen und sagte: „Ihr wollt Helden ein? Der Arbeiterklasse muss es ja gut gehen, wenn sie ihre Zeit mit Ruhmesphantasien verschwenden kann.“
„Im Gegenteil“, sagte Christopher, „Es geht ihr so schlecht, dass ihr nichts anderes mehr im Leben bleibt, als es sich schön zu träumen. Aber glaub nur nicht, dass wir untätig sind.“
„Das glaube ich keinen Augenblick, Chris. Arbeitslose sind doch immer die fleißigsten. Da kannst du jeden von ihnen fragen. Alle werden es dir bestätigen.“
„Jeder braucht diese kleinen Lügen, um die Selbstachtung zu behalten“, verteidigte Christopher seine Freunde.
„Sie bräuchten diese Lügen nicht, wenn sie ihre Selbstachtung aus ehrlicher Arbeit generieren würden.“
„Es gibt aber keine Arbeit!“, schrie Christopher und begann danach so stark husten, dass er sich setzen musste.
„Du versuchst es ja nicht einmal, Bruderherz.“
„Was denn, mich anzubiedern? Vielleicht bin ich ganz froh, dass ich den Herrschaften nicht mehr dabei behilflich bin, ihnen das Geld heran zu scheffeln. Ja, vielleicht bin ich sogar glücklicher als sie, die in ihren Badezimmern Parfum im Wert dieses ganzen Hauses stehen haben. Wer kann ihnen schon versichern, dass nicht jemand hinein gepinkelt hat. Alles, was sie besitzen, wird ihnen angeliefert. Es geht durch tausend Hände, weil sie mit ihren eigenen Händen nichts mehr selbst zu Stande bringen. Wie können sie sich sicher sein, dass nicht eine ihrer dienstbaren Geister, ihnen eines Nachts den Hals umdreht? Wusstest du dass die Königen Manchester einen Besuch abstatten wird? Ich frage mich, wie viel Sperma sie in ihrem bisherigen Leben gefressen hat, weil ihr jemand in die Suppe gewichst hat.“
„Christopher!“
„Ach, bist du jetzt auch noch zum Royalisten geworden, Jonathan?“
„Ich verstehe nur diese Wut nicht, Christopher. Was hat die gute Frau dir denn getan? Dir ganz persönlich? Nichts. Sie lässt dich leben, wie du willst. Sie behelligt dich kein bisschen und doch hasst du sie. Was ist nur für ein Mensch aus dir geworden, Christopher. Hass ist so ein unschönes Gefühl. Diese Umgebung tut nicht nur dir und deiner Gesundheit, sondern auch deinem Charakter nicht gut.“
„Die Slums machen den Slumbewohner, nicht umgekehrt“, sagte Christopher, „Alles, was du hier siehst, ist die Schuld derer, von denen du willst, dass ich sie nicht hasse. Was soll ich sonst tun? Ihnen die Füße küssen?“
„Es gibt durchaus noch Vorgehensweisen, die zwischen diesen Extremen liegen“, meinte Jonathan.
„Ja. Untätigkeit. Hast du das nicht eben noch verurteilt?“
„Du könntest dein Schicksal in die Hand nehmen, statt herum zu jammern. Die Klassenunterschiede, die du zu sehen glaubst, sind nicht wirklich existent. Du wirst nicht in den Schmutz geboren, um dort zu bleiben. Der Unterschied zwischen der Mittel- und der Arbeiterklasse ist die Bildung und für seine Bildung ist jeder selbst verantwortlich.“
„Jetzt bist du aber naiv, Brüderchen“, sagte Christopher, „Du weißt so gut wie ich, worin die Unterschiede liegen, denn deshalb bist du ja fortgezogen. Egal wie mies dein Gehalt ist, wenn du vorgeben kannst, aus der Mitteklasse zu stammen, wirst du besser behandelt. Es ist der Schein, der dafür sorgt, dass man dich nicht mehr warten lässt, dass man keine Entscheidungen über deinen Kopf hinweg trifft, dass man dich nicht für minderwertig und verblödet hält. Sein Schicksal hat in der Hand, wem es in die Hand gegeben wird, weil er den Eindruck erweckt, es in der Hand zu haben. Respekt, Jonathan, das ist der Unterschied zwischen den Klassen, aber du weißt ja nicht mehr was das ist. Du kennst ja nur noch Verachtung und Zynismus!“
„Und ich zeige meine Verachtung, indem ich dir nicht nur einen Arzt zur Seite stellen, sondern dich auch in mein Haus aufnehmen will? Was hast du jemals für jemanden getan? Welche Mittel hast du denn, um denen zu helfen, die dir angeblich am Herzen liegen?“, fragte Jonathan.
„Mit dir kann man nicht mehr reden“, schloss Christopher resigniert, „Du warst mal ein guter Bruder, aber irgendwas hat dich verdorben.“
„Und du bist verbissen und verfahren in deinem Hass. Bei dir gilt man also schon als verdorben, wenn man Gewalt und Verbrechen ablehnt.“
„Verbrechen sind nur Verbrechen, wenn jemand sie dazu erklärt“, mischte sich Rebecca ein, „Ist die Kupplerin eine Verbrecherin, weil sie ermöglicht, was alles sich wünschen? Bin ich eine Verbrecherin, weil ich töte, was niemand will?“
„Wenn du mich so direkt fragst, meine Liebe, ja. Ja, es ist ein Verbrechen zu töten, egal, ob jemand es will oder nicht“, sagte Jonathan.
„In diesem Fall würde ich es vorziehen, wenn du mein Haus verlassen würdest. Ich will schließlich nicht, dass du in Verruf gerätst, weil jemand dich hier ein- und ausgehen sieht. Schließlich sollst du nicht in Verbindung mit Verbrechern gebracht werden. Ich schätze, das schadet deiner gesellschaftlichen Stellung, die du dir so hart erarbeitet hast.“
Jonathan ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Rebecca rauchte vor Wut und zerschlug eine Teetasse, die ihr schon länger ein Dorn im Auge war.
„Ich glaube“, sagte sie zu Christopher, „du solltest dich wieder ins Bett legen. Du holst dir hier nur den Tod.“
In der schummrigen Kneipe begrüßten alle Mitglieder der Fortschrittsbruderschaft Christopher, als wäre er von den Toten auferstanden. Er bekam sein Bier umsonst und einen freundlichen Händedruck von jedem einzelnen Mitglied. Er kannte längst nicht alle, aber er fühlte sich geschmeichelt.
Eigentlich hatte er sich überlegt, ein paar Worte zu sagen, aber die Gelegenheit ergab sich einfach nicht. Stattdessen wurden Lieder angestimmt und Parolen gegrölt. Jeden Tag wurden nun tote Schwäne auf dem Kanal gefunden und längst glaubte niemand mehr an einen Zufall oder eine natürliche Ursache.
„Wie ein Kaninchen hab ich ihn abgeknallt!“, brüstete sich ein junger Kerl, der daraufhin anerkennenden Applaus erntete.
„Mir ist einer in die Falle gegangen. Ich hab ihn geköpft wie eine Gans und meine Frau hat den besten Braten daraus gemacht, den man sich vorstellen kann“, erzählte ein anderer.
„Ganz schön gefährlich, Fallen aufzustellen“, bemerkte Christopher, aber seine Bedenken wurden übertönt von jemandem, der eine neue Runde ausgab und auf die Schwäne von Manchester anstoßen wollte.
„Meine Frau hat ihrer Schwester in Liverpool von unserer Sache erzählt und ihr Mann findet die Idee auch ganz großartig. Er überlegt, eine Gruppe drüben in Liverpool zu gründen.“
„Damit muss er sich dann aber beeilen“, reif jemand dazwischen, „Bald ist es vorbei mit den Schwänen. Pat hatte schon Recht, als er sagte, mit Symbolen verändert man keine Realitäten. Wir haben die einmalige Chance, an den alten Drachen persönlich heran zu kommen. Wieso sollten wir es nicht versuchen? Wir können einen Schwan erschießen, wieso also nicht auch eine Königin?“
„Ich war von Anfang an nicht dafür, dass wir schießen“, sagte Christopher, aber auch das ging unter.
Stattdessen ergriff Brian dar Wort: „Wie ihr alle mitbekommen habt, wird Ihre Majestät die Königin uns in nicht allzu ferner Zukunft mit einem Besuch beehren, um den von uns allen so geliebten Ship Canal offiziell zu eröffnen. Ich denke, dies gibt uns die Gelegenheit, ihr zu sagen und zu zeigen, was wir von ihr und diesem Kanal halten. Was meint ihr? Bitten wir die Königin um eine Audienz?“
Gelächter schallte durch den Raum und jemand brüllte: „Das wünscht sie sich vielleicht, aber ich kann wahrhaftig bessere haben.“
„Unser Pat hier“, Brian zerrte den Jungen, der neben ihm saß, zu sich hinauf, „findet, dass es Zeit wird, dass Vicky ihren Posten räumt, weil sie versagt hat. Weil dieses ganze System versagt hat. Er sagt, anderswo habe man Könige bereits zur Rechenschaft gezogen, wieso sollte man das nicht auch in unserem guten alten England tun?“
Das Gejohle dröhnte in Christophers Schädel und er selbst wurde stiller und stiller. Das hier entwickelte sich in eine Richtung, die ihm nicht gefiel. Sie respektierten ihn zwar, aber nicht für das, was er sagte, sondern für das, was man ihm in den Mund legte. Fühlte sich Jesus so? Irgendwo schmutzig. Irgendwie schuldig. Aber nicht sicher, woran.
Große Menschenmengen waren wie Fieberträume und vielleicht war Christopher noch nicht ganz gesund. Man konnte high werden oder in Panik geraten. In jedem Fall dachte man nicht mehr rational, weil man mit Reizen überflutet wurde.
Bevor man eine Parole hinterfragen konnte, war bereits die nächste gebrüllt worden. Bevor man das Wort ergreifen konnte, hatte jemand es einem schon wieder abgeschnitten. Es gab immer jemanden, der lauter und schneller war. Es gab immer jemanden, der den Unterschied zwischen Traum und Realität nicht kannte.
„Ich werde“, rief einer, „die Königin höchstpersönlich teeren und federn. Dann ist sie der fetteste Schwan, der bäuchlings auf dem Kanal treibt!“
„Und ihren ganzen Tross sollten wir mit Spitzhacken aus der Stadt verjagen!“
„Und jeden, der ihr zu Ehren ein Fähnchen schwenkt!“
„Nordengland muss Republik werden!“
„Aufhängen! Jeden einzelnen fettschwabbelnden Lord!“
„Wir kippen Öl in den Kanal und brennen die ganze Stadt nieder!“
„Wow, Augenblick!“, ging Brian dazwischen, „Wir brennen doch nicht unser eigenes Viertel nieder!“
„Wieso nicht? Ist doch sowieso alles Scheiße da! Brennt den Scheißhaufen nieder!“
„Wenn Hulme bis zu den Grundmauern niederbrennt, haben wir zumindest Platz, um unsere eigene Stadt zu bauen.“
„Wir bauen uns einen Palast aus den Trümmern unserer Hütten!“
Ach ja, werdet ihr das?, fragte sich Christopher. Auf den Gräbern eurer Frauen und Kinder? Man kann ein ganzes Land in einen Friedhof verwandeln, aber für wen will man es dann wieder aufbauen?
In Christophers Phantasie wehte ein heißer Wind stickige Giftgase und Staub über die verkohlten Ruinen einer toten Stadt. Wer hier nicht umgekommen ist, der ist geflohen. Fliehen, immer wieder fliehen die Menschen vor sich selbst. Weil sie es nicht mit sich aushalten, nicht miteinander und nicht mit sich allein.
Sie werden sich so lange bekriegen, bis nur noch einer übrig ist. Dann kann ihm niemand mehr widersprechen. Darum geht es doch. Niemand erträgt es, wenn ihm widersprochen wird und man den anderen einfach nicht überzeugen kann. Vielleicht sind Royalisten der letzte Abschaum, aber muss man sie töten, um Befriedigung zu erlangen? Und wer sind die nächsten? Wenn die Royalisten weg sind, wen verfolgen sie dann? Die Juden? Die Ungläubigen? Die Frauen, die sich weigern, sie zu heiraten? Die Kinder, die sie auf der Straße frech angrinsen?
Und was, wenn sie die Königin wirklich lynchen? Lynchen sie dann auch den Kronprinzen und alle anderen Mitglieder der königlichen Familie? Und dann? Setzen sie das Parlament in Brand? Schreiben sie die Bill of Rights neu? Wer soll dann regieren? Sie? Wer hat sie bestimmt? Sie sich selbst? Für wen sprechen sie? Das Volk? Sich selbst? Ihre Unterstützer? Die Toten?
Christopher wollte fragen, ob er es hier überhaupt mit Demokraten zu tun hatte, aber er wurde wieder übergangen. Ihr seid ein Mob, dachte er. Ich wollte nie einen Mob schaffen. Die Republik, ja. Nein, den Traum von der Republik. Aber wie sollte man so etwas umsetzen, ohne unschuldiges Blut zu vergießen? Es ging ihm nicht um die Königin. Er hätte kein Problem damit, sie an einem Laternenpfahl baumeln zu sehen, aber er fürchtete sich vor dem Chaos, das sich danach anbahnen würde und dessen Vorgeschmack er hier und jetzt kosten konnte.
Drei Leute, die ein paar Schwäne vergifteten, waren nicht gefährlich. Hundert Leute, die planten, das Land zu übernehmen, waren es vielleicht. Vielleicht nicht für das ganze Land, aber für ihn – Christopher – persönlich.
Er stellte sich vor, wie er Brian zur Rechenschaft zog. Er gegen ihn, Mann gegen Mann, Faust gegen Faust. Was hast du aus unserer Idee gemacht? Zu was hast du uns werden lassen? Zu was bist du geworden? Vielleicht sorgte eine Gehirnerschütterung dafür, dass er wieder zur Besinnung kam. Aber vermutlich hätte er gegen Brian gar keine Chance. Christopher war zu träge, zu behäbig, wie die Kaltblüter, die er den Menschen vorzog. Brian hingegen war agil und präzise mit seinen Worten und seinen Schlägen. Er würde sagen: Wenn du unseren Weg nicht mit zu Ende gehst, bist du ein Betrüger. Wer hinwirft, was er erreicht hat, nimmt in Kauf, dass es jemand aufhebt, dem es nicht zusteht und der es missbraucht.
Und Christopher würde sagen: Lieber werfe ich weg, womit ich nicht umgehen will, als dass ich mir etwas aufbürde, womit ich mich nicht mehr im Spiegel betrachten kann.
Und Brian würde sagen: Und jetzt kannst du dich noch ansehen? Als Saboteur deiner eigenen Interessen? Als Betrüger deiner Freunde?
Und David würde sagen: Wem wir nicht vollständig vertrauen können, stellt eine Gefahr für unsere Sache dar. Wir können dich nicht gehen lassen, du weißt zu viel!
Und Christopher würde sagen: Was wollt ihr tun? Mir den Schädel einschlagen?
Und Brian würde nichts sagen. Und David würde ihm den Schädel einschlagen. Und seine Knochen würden brechen und seine Zähne würden ausgeschlagen werden und auf dem Kopfsteinpflaster würde ein Blutfleck zurückbleiben, den der Regen wegwaschen würde. Und es würde Frühling werden und an der Stelle, an der er gestorben war, würde sich ein Löwenzahn zwischen den Steinen hindurch zum Licht hinauf graben. Und irgendeine Dirne, die in irgendeinem der Zimmer in der Umgebung hauste, würde ihn herausreißen, weil sie kein Unkraut auf dem Gehweg duldete. Was sollten die Nachbarn denken? Dies war eine ordentliche Gegend. Ordentliche Leute. Niemand, der Probleme machte. Wer Probleme machte, der wurde zurecht gestutzt. So machte man das in einer ordentlichen Gegend.
Und Brian würde sagen: Er hätte nicht sterben müssen. Er war ein guter Kerl. Aber er hat Probleme gemacht.
Und David würde sagen: Es gibt Menschen, die sind nicht für das geschaffen, was wir erreichen wollen. Wenn sie zu schwach sind, gefährden sie unser Ziel. Wir können uns nicht mit Schwächlingen umgeben. Wir haben keine Chance, wenn wir sie mitschleppen und Rücksicht auf ihre Befindlichkeiten nehmen. Die Revolution ist eine blutige Angelegenheit. Das hat er vorher gewusst. Er hätte die Klappe halten sollen.
Und Rebecca würde sagen: Ich habe euch alle gewarnt!
Und Oscar Wilde würde sagen: Wenn der Sozialismus autoritär ist, dann wäre der neue Status des Menschen schlimmer als der bisherige. Für den Künstler ist es unmöglich, mit dem Volke zu leben.
Was passierte hier gerade? Hatte er nicht genau davor von Anfang an gewarnt? Das heißt… Hatte Rebecca nicht von Anfang an davor gewarnt, dass die Sache aus dem Ruder laufen könnte, wenn zu viele dabei involviert waren? Wohlweißlich hatten sie Rebecca abgesägt und ihn zum Schweigen gebracht, indem sie ihn hofierten. Ein entmachteter König, dem sie zwar zujubelten, der aber in Wirklichkeit nur noch eine Witzfigur war. Welch Ironie.
Freddy ergriff nun das Wort und rief: „Und die Polizei! Allesamt einsperren! In ihre eigenen Löcher!“
Begeisterung brandete auf. Nicht wenige dieser Männer hatten schon unangenehme Erfahrungen mit der Polizei gesammelt.
Brian, mein Freund, mach dem ein Ende!, betete Christopher. Wir haben ein Monster geschaffen. Ein Lindwurm aus menschlichem Abschaum wird sich zusammenrotten und nicht mehr fragen, wofür sie plündern, schlagen und verbrennen.
Christopher war auf dem besten Wege, seinen Glauben an die Menschheit zu verlieren. Er ekelte sich vor diesen Männern, vor den Phantasien, die sie laut aussprachen, um sich vor den anderen zu profilieren. Ein furchtbarere Wettstreit, wer die abartigsten Ideen hatte.
„In Stücke sollten wir sie hacken und Reliquien verkaufen!“
„Ihr Fett auskochen und den Hunden zum Fraß vorwerfen!“
„Ihren Kopf vor dem Rathaus aufspießen und von den Raben aushöhlen lassen!“
Sie hatten es tatsächlich geschafft, dass Christopher Sympathien für die Königin aufbrachte. Setz dem ein Ende, Brian!, dachte er erneut, Sag etwas! Auf dich hören sie!
Aber Brian sagte nichts. Was er entsetzt oder entzückt? Christopher konnte es nicht sagen. Er konnte ja kaum sein Gesicht sehen. Es war zu dunkel hier. Mordphantasien äußerte man nicht, wenn man einander in die Augen sehen konnte. Die Menschen versteckten sich hinter ihren Stimmen. Glaubten in der Masse nicht als Einzelperson erkannt zu werden. Stimmen, Geister konnte man nicht festnageln. Niemand konnte ihnen etwas beweisen, aber reden, grölen, nach Blut lechzen wollten sie trotzdem.
Feiglinge, dachte Christopher. Einen Spiegel. Man sollte hier einen großen Spiegel aufhängen, damit sie sich selbst sehen konnten! Überall sollten Spiegel hängen. Alle Wände im Parlament sollten verspiegelt sein! Sie sollten sich selbst in die wilden, kalten, unmenschlichen Augen blicken müssen, wenn sie vorschlugen, die Königin bei lebendigem Leibe auszuweiden. Sie sollten sich selbst in die Augen blicken müssen, wenn sie einen Krieg beschlossen, wenn sie junge Männer in den Tod schickten und junge Frauen in der Gosse sterben ließen. Sie sollten von ihren eigenen Blicken verfolgt werden. Immer und überall hin. Sie sollten nicht einschlafen, ohne ihren eigenen Augen Rechenschaft ablegen zu müssen. Sie sollten sich selbst sehen, wie sie die Messer wetzten, wie ihnen der Geifer über ihr Kinn tropfte, wie sie sich zusammenrotteten aus allen schmierigen Ecken der Stadt, in denen sie sich herumdrückten wie Ungeziefer. Ihre Haltung bucklig, ihre Bewegungen schleppend und ihre Glieder steif vom Nihilismus, der sie immun machte gegen Zweifel, Ängste und am gefährlichsten von allem: Ein Gefühl für ihre Würde, ihren Selbstwert. Wer sich selbst egal war, der riss dem Feind den Kopf mit den Zähnen ab. Sie sollten sich dabei beobachten, wie sie unmenschlicher und unmenschlicher wurden. Vielleicht würden sie dann vor Abscheu zusammenbrechen und wimmernd ihr Spiegelbild um Verzeihung bitten.
Da ist kein Gott, der euch richtet, dachte Christopher, aber das heißt nicht, dass niemand euch richten wird. Wenn ihr noch einen Funken Menschlichkeit in euch habt, werdet ihr früher oder später erkennen, was ihr angerichtet habt. Leider lehrt uns die Geschichte, dass es dann meist zu spät sein wird.
Was würde geschehen? Sie werden jeden einzelnen von uns festnehmen. Sie werden uns den Prozess machen. Sie werden uns einsperren. Vielleicht werden sie ein Exempel statuieren. Dann werden wir hängen. Brian und ich. Ich vor Brian. Er weiß es. Aber auch er hat die Kontrolle verloren. Er schweigt, weil er die Kontrolle verloren hat. Er fürchtet sich. Oh ja, Recht hast du! Fürchte dich, Brian! Sie werden dich aufhängen. Dich und mich! Du weißt, dass wir vielleicht fliehen müssen, aber du hast Angst davor, allein zu sein. Du hast Angst, mich vergrault zu haben. Du hast Angst, dass ich dich verraten könnte, um meine Haut zu retten. Du hast Angst, dass ich dich belaste und Rebecca wird mich bestätigen. Was wird Cathy tun? Hast du einen Fürsprech? Hast du irgendjemanden, Brian? Wir werden rennen müssen. Wie schnell kannst du laufen? Und wie weit?
Zu Hause kochte Rebecca Eintopf und ließ gleichzeitig eine Wut in sich schwelen, die sie schon seit einiger Zeit schürte, ohne sie richtig aufflammen zu lassen. Es war eine Kunst, die nur sie beherrschte. Der Zorn musste glühen. Wenn man ihn ausgehen ließ, weil man ihn in sich erstickte, erstickte man irgendwann selbst an zu viel Asche im Herzen. Wenn man ihn aber zu einem ungezügelten Feuer werden ließ, so konnte er zerstörerischer sein, als man es geplant hatte. Zorn durfte nicht außer Kontrolle geraten. Rebecca hatte ihr ganzes Leben Zeit gehabt, diesen Balanceakt zu perfektionieren.
Das Problem der modernen Frau, dachte sie, ist, dass sie ihren Zorn nicht pflegt. Sie fürchtet sich vor ihrem eigenen Potenzial, fürchtet sich vor dem Kontrollverlust mehr, als dass die Möglichkeit, die Kontrolle zu übernehmen sie anstachelt. Es war die größte Niederlage der Weiblichkeit, als die Frauen es zugelassen hatten, dass ihre Wut pathologisiert wurde.
Die meisten erstickten daran, dass sie nicht mehr zornig sein konnten. Statt zu explodieren, verkümmerten sie, zerbrachen und das letzte, was ihnen blieb, war, sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen. Das gebrochene Mädchen war eine romantische Phantasie, die gebrochene Mädchen brauchten, um nicht durchzudrehen. Irgendjemand wird sie schon erretten. Sie mussten nur mitleiderregend genug dreinschauen… Die Wahrheit war, dass niemand sie überhaupt wahrnehmen würde, wenn sie den Mund nicht aufmachten. Und wenn doch, dann nur, damit die feinen Herren auf sie spucken konnten.
Rebecca hatte sich früh in ihrem Leben dazu entschlossen, dass niemand auf sie spucken würde. Und wenn einer es versuchte, so würde sie zurückspucken. Gift und Galle, wenn es sein musste.
Jonathans Besuch hatte nicht nur Christopher zugesetzt, sondern auch ihr. Noch nie hatte sie Christopher Wörter wie „Wichsen“ in den Mund nehmen hören. Noch nie hatte sie sich selbst dabei beobachtete, wie sie die Wut in ihrer Brust so sehr dämpfen musste. Hätte sie sich nicht so zusammengerissen, wäre sie vermutlich mit Haut und Haar in Flammen aufgegangen.
Tragisch, dachte Rebecca, wie andere uns dazu bringen, Dinge zu tun und zu sagen, die wir gar nicht meinen. Sie reizen uns. Bis aufs Blut. Walisisches Blut. Zigeunerblut. Blaues Blut. Blut, Blut, Blut. Kochendes Blut. Kaltblütig.
Tragisch, wie wir Entscheidungen treffen. Unter Druck. Da ist immer Druck. Jemand provoziert uns. Wir schlagen zu. Jemand schlägt uns. Wir schlagen zurück. Jemand feuert uns an. Wir gehen weiter, als wir wollen. Jemand warnt uns. Wir bekommen Skrupel und weichen vor unserem Ziel zurück. Jemand ignoriert uns und wie versinken in Selbstzweifeln und fragen uns, war wir nur falsch gemacht haben, um ihn zu verärgern. Wem kann man noch vertrauen, wenn wir uns durch all das manipulieren lassen?
Wir wollen das eine und werden mit einer Welle aus Emotionen mitgerissen in eine Richtung, die wir eigentlich gar nicht einschlagen wollten, von der wir vielleicht gar nicht wussten, dass sie existiert. Und dann sind wir allein auf hoher See und kein Land ist mehr in Sicht.
Christopher würde nie jemandem in die Suppe wichsen. Nicht einmal der Königin. Und sie? Rebecca? Wie viele Skrupel hatte sie? Wie sehr konnte sie sich noch zügeln? Wie viel war angemessen?
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Rebecca alle Schattierungen der Angemessensheitsskala gekannt, aber irgendwann hatte sie beschlossen, darauf zu pfeifen. War es angemessen, kontrollierte Vergiftungen an Menschen durchzuführen? War es angemessen, in ihren Körpern herumzustochern, bis sie bluteten? War es angemessen, Werkzeuge herzustellen, mit denen sie ungeborenes Leben auslöschte, vernichtete, herausriss aus ihrem potenziellen Dasein? War es angemessen, den niedersten Kreaturen des Planeten, den Huren von Manchester, eine Zuflucht zu bieten, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken? Wenn man Aufmerksamkeit schenkt, wenn man wahrnahm, anerkannte, dass etwas existierte, musste man sich selbst in eine Beziehung dazu setzen. Und das war das Problem aller Personen aus Rebeccas Kindheit gewesen: Sie wagten es nicht, wahrzunehmen, weil sie es nicht wagten, sich eine Meinung zu bilden. Meinungen konnten schließlich Freundschaften kosten und Freundschaften bedeuteten Sicherheit und Wohlstand. Freundschaften waren Geschäftsbeziehungen, keine Mitleids-, Bewunderungs- oder Zuneigungsbeziehungen.
Aber Rebecca konnte gefährliche Dinge nicht einfach ignorieren. Sie war eines dieser Kinder, die in den Tierkadavern herumstocherte, die am Rand der Landstraße liegen geblieben waren. Sie stocherte bis heute.
Das Problem war, dass man nicht mehr wegsehen konnte, wenn man einmal hingesehen hatte. Wenn man einmal hingehört hatte, bekam man sie Stimmen nicht mehr aus dem Kopf. Die Klagen, die Geschichten, die Schicksale. Man konnte nicht vergessen, man konnte nicht mehr schlafen, wenn man nicht anfing, sich einzumischen.
Es war nicht so sehr eine Frage der Schuld, wie man vielleicht dachte. Es gibt keine Schuldigen, wenn es keine Ankläger gibt. Aber es gibt doch Möglichkeiten, die man nicht brach liegen lassen darf. Man muss ausprobieren, muss daran feilen, bis etwas funktioniert. Rebecca war Wissenschaftlerin, nicht Richterin, nicht Politikern, nicht Geistliche. So etwas wie eine Sünde gab es nicht, aber die Existenz eines Gewissens – zumindest ihres Gewissens – konnte sie nicht leugnen.
Leid ist universell und persönlich zugleich. Leid hält die Gesellschaft zusammen. Kollektives Leid schafft Vertrauen und eine Bewusstsein für die Abhängigkeit voneinander. Individuelles Leid hält die Erinnerung daran, dass wir alle Menschen sind am Leben. Leid lehrt Demut und Demut muss überwunden werden. Aber zu welchem Preis? Zu dem, dass man nicht mehr sicher sein konnte, ob ein netter Kerl einem nicht irgendwann in die Suppe wichste, wenn er gerade einen schlechten Tag hatte?
Stärke bedeutete in Rebeccas Vorstellung, genau diesen Impulsen zu widerstehen. Egal wie wütend man war, man durfte nicht vergessen, abzuwägen, was Probleme lösen und was Probleme verursachen würde. Wie viel war man bereit, zu zahlen? Was konnte man ertragen? Was konnte man schlucken und was musste man ausspucken? Wenn Christopher ihr in die Suppe wichste, würde er jedenfalls erhebliche Probleme bekommen…
Das Problem war auch, dass Männer sich im Gegensatz zu Frauen immer für unglaublich wichtig hielten. Jeden Satz, den sie von sich gaben, wollten sie am liebsten in Stein meißeln lassen und als universelle Weisheit verstanden wissen. Dabei hörte doch im Grunde niemand zu. Niemand hörte je jemandem zu. Die Worte flogen einem um die Ohren und dann waren sie verklungen. Auf alle Ewigkeit verschwunden. Vielleicht hafteten die Gedanken, die man in einem klugen Buch las, einige Tage nach, aber früher oder später wurden sie von neuen Gedanken verdrängt, die man für klüger, aktueller oder interessanter hielt.
Daran dachte Rebecca, als plötzlich jemand gegen ihre Haustür hämmerte.
Brian stand da und rührte sich nicht. Er war von der enthusiastischen Menge in den Schatten gedrängt worden. War es weil er kurz Zweifel hatte durchscheinen lassen? Wer nicht mit der Welle schwamm, geriet darunter. Und wenn er es nicht schaffte, hatte niemand mehr eine Chance, regulierend einzugreifen.
Christopher stand auf und drängte sich durch einen Wald aus schwankenden Leibern und rudernden Armen hinüber zu seinem ehemaligen Freund.
„Was, meinst du, wird passieren, wenn diese Typen hier tatsächlich versuchen, die Königin anzugreifen?“, sprach er ihm ins Ohr. Wie ein gehässiges Gespenst, das Gewissensbisse in seinen Opfern sähen wollte.
Brian wandte sich um und starrte Christopher entgeistert an. Aus irgendeinem Grund lief ihm Blut aus der Nase, aber er versuchte nicht, es zu stoppen. Brians Blick haftete auf Christopher wie auf einem giftigen Kriechtier.
„Was glaubst du, haben wir hier erreicht?“, Christopher sagte „wir“, um Brian nicht die alleinige Schuld zuzuschieben.
„Sie wollen die Lügen nicht mehr glauben, die ihnen erzählt werden“, sagte Brian.
„Und deshalb erzählen sie sich jetzt selber Lügen? Deshalb ergehen sie sich in Phantasien von Zerstörung, Vernichtung und Mord? Ist es das, was passiert, wenn der Nihilismus die Oberhand gewinnt? Wofür halten sich diese Männer?“
„Sie halten sich für Abschaum“, sagte Brian tonlos, „Deshalb verhalten sie sich wie Abschaum. Und sie wollen dem Rest der Welt zeigen, dass alle anderen auch Abschaum sind. Auf wen sollen sie Rücksicht nehmen, wenn niemand auf sie Rücksicht nimmt, wenn immer nur von ihnen verlangt wird, dass sie sich zurückhalten, dass sie die Klappe halten und warten sollen, bis sie dran sind. Und sie sind nie dran. Sie kommen nie an die Reihe, weil alles weg ist, bevor sie ihre Anliegen vorbringen können. Und weil sie sowieso nicht bekommen, was sie wollen, können sie auch zerstören, was andere haben. Verstehst du die Logik? Erst muss alles zerstört werden, alles muss am Boden sein, jeder muss im Dreck gelegen haben, bevor etwas Neues aufgebaut werden kann.“
„Du meinst, es ist eine Kritik an der Dekadenz unserer Zeit, dass Sie Seife aus der Königin machen wollen?“
„Es ist ihre Art, das auszudrücken.“
„Und es ist deine Art, es zuzulassen, oder was?“
„Wenn ich mich zwischen meinen Leuten und der Königin entscheiden muss, ist für mich die Sache klar“, sagte Brian.
„Und wenn du dich zwischen deinem Leuten und dem Strick entscheiden musst?“, fragte Christopher, „Man ist nicht automatisch ein guter Menschen, wenn man im Dreck geboren ist. Man ist auch nicht automatisch auf der richtigen Seite, nur weil man ein Verlierer ist. Und das Niveau aller Menschen anzugleichen, heißt nicht, dass es eine gute Idee ist, alle in die Scheiße hineinzuziehen.“
„Wirst du jetzt zum Reformer, weil du gemerkt hast, dass die Revolution doch ein bisschen zu hart für dich ist?“, fragte Brian bissig zurück.
„Von was für einer Revolution redest du denn, Brian? Sieh dich um! Hier sind vielleicht hundert Typen, die völlig durchdrehen! Glaubst du, mit so einer Truppe kannst du irgendwas erreichen?“
Blut tropfte aus Brians Nase auf den Boden. Er sagte nichts.
„Und selbst wenn ihr schaffen solltet, was ihr euch vornehmt, glaubst du, diese Typen würden das Land besser regieren? Oder wer soll deiner Meinung nach an die Macht kommen? Wohin willst du eigentlich? Einfach mal alles kaputt schlagen und dann sehen wir weiter? Brian, ihr werdet verlieren und das weißt du. Die werden zurückschlagen. Die werden euch ausräuchern, wenn es sein muss und glaub mir, die gehen dabei sicher systematischer vor als ihr.“
„Also sollen wir zurückweichen, weil wir ja doch nichts ausrichten können? Ist das deine Botschaft, Christopher? Und wieso nimmst du dich plötzlich von dieser Geschichte aus? Du steckst da genauso drin wie wir alle. Es gibt kein Zurück mehr.“
„Es gibt immer ein Zurück“, sagte Christopher, „Und wisch dir in Gottes Namen die Nase ab!“
Brian fuhr sich mit dem Ärmel seines Hemdes übers Gesicht und sagte: „Schlechte Luft hier. Reizt die Schleimhäute.“
„Vergiftete Stimmung trifft es wohl eher“, kommentierte Christopher.
„Hast du sonst noch was zu sagen?“, fragte Brian.
„Ich glaube schon“, antwortete Christopher und erhob nun ein letztes Mal die Stimme: „Hey Leute! Jungs, hört mal einen Augenblick zu! Meint ihr nicht, es wäre klüger, sich nicht wie eine Horde wildgewordener Schweine zu verhalten? Das hier führt doch zu nichts, außer dass ihr allesamt früher oder später einkassiert werdet! Denkt doch mal an eure Familien! Ihr habt Verantwortung fü…“
In diesem Moment flog ein Bierglas nur wenige Zentimeter an Christophers linkem Ohr vorbei und zerschellte an der Wand hinter ihm.
„Halt die Klappe!“, brüllte jemand.
„Was ihr vorhabt, ist nicht die Befreiung, sondern Terror!“, hielt Christopher dagegen.
„Immer noch besser, den Terror selbst zu machen, als ihn einstecken zu müssen!“
„Damit seid ihr nicht besser als die, die ihr bekämpft!“
„Das hat auch nie jemand behauptet!“, das war Freddy und Christopher ließ alle Hoffnung fahren, auch nur einen einzigen dieser Männer wieder zur Vernunft zu bringen.
„Das ist, was du nicht verstanden hast“, rief David dazwischen, „Es geht nicht darum, besser zu sein, sondern darum stärker zu sein! Schneller und klüger, kälter und härter. Nicht weicher und vorsichtiger! Christopher Jones, die Zeiten haben sich geändert und sie werden sich weiter ändern. Sie werden sich so schnell ändern, dass du gar nicht mehr mitbekommst, wie schnell du zum alten Eisen gehörst. Du hattest vielleicht gute Ideen, aber darüber bist du nie hinaus gekommen. Bei dir spielt sich immer nur alles im Kopf ab, während wir wirklich auf die Straße gehen werden und das machen, wofür du zu feige bist! Keine Sorge, wir denken immer noch wohlwollend von dir, aber jetzt solltest du verschwinden!“
Christopher blieb einen Moment stocksteif stehen, riss sich dann aber zusammen und sagte: „Na gut. Wenn ihr es so wollt.“
Dann machte er sich bereit, das Lokal zu verlassen. Nur Brian hielt ihn noch einmal an der Schulter zurück: „Ich weiß, dass du uns nicht verpfeifen wirst, aber ich rate dir dennoch, fortzuziehen. Pack dein Zeug und hau ab! Ich garantiere für nichts. Nimm Rebecca und geh zu deinem Bruder oder sonstwo hin. Ich weiß nicht, was heute Nacht noch passieren wird.“
„Halt dich an deine eigenen Ratschläge. Das hier solltest du nicht mit verantworten“, gab Christopher zurück, „Du bist besser als das hier. Vielleicht nicht schneller, stärker, kälter und härter, aber klüger. Geh lieber jetzt, bevor du nicht mehr hinauskommst.“
„Ich komme zurecht, keine Sorge“, sagte Brian, wischte sich noch einmal das Blut aus dem Gesicht – er musste einen gewollten oder versehentlichen Schlag abbekommen haben - und Christopher verließ die Veranstaltung. Hinausgeworfen aus seiner eigenen Bewegung. Brians Warnung wirkte nach. Er hatte Recht. Wenn die Polizei ihn nicht festnahm, sobald auch nur einer von diesen Chaoten das Maul nicht mehr würde halten können, würden seine Freund ihn lynchen. Für alle Seiten galt er nun als Verräter und gefährlich. Niemand würde ihn mehr beschützen. Er musste noch in dieser Nacht mit Rebecca das Weite suchen. Schottland, dachte er. Dort kannte ihn niemand. Dort konnten sie neu anfangen. Sich neue Namen zulegen. Eine Geschichte erfinden. Neue Freunde suchen. Eine Anstellung. Irgendwas mit Pferden. Pferde machten weniger Probleme als Menschen.
„Besser in der Hölle als im Nichts!“, skandierte David oder sonst irgendjemand hinter der geschlossenen Tür des Pubs.
„Besser gefürchtet als vergessen!“, rief ein anderer.
„Lieber von Gott verachtet als ignoriert!“
„Besser ein öffentliche Ärgernis erregen als für den Rest unseres Lebens übergangen werden!“
Wie Kinder, die von ihren Eltern im Sich gelassen wurden, dachte Christopher und eilte davon.
„Jeremy Callahan. Wissen Sie etwas darüber?“, fragte der Polizist. Sein Name war Sergeant Smith und er fühlte sich sichtlich unwohl in Rebeccas Wohnung. Sie hatte ihm Tee angeboten, aber er rührte seine Tasse nicht an.
„Nein. Nie gehört. Wer ist das?“, fragte sie.
„Jeremy Callahan ist gestern Nachmittag mit Vergiftungserscheinungen bei einem Arzt vorstellig geworden. Doktor Walton, wenn ich richtig informiert bin. Er gibt an, er habe Brot gegessen, das dafür vorgesehen war, die Enten zu füttern.“
„Ich kenne keinen Jeremy Callahan. Ich kenne niemanden mit dem Namen Callahan. Ich weiß nicht, was das mit mir zu tun haben soll.“
„Wenn es um Gift geht, sind Sie unsere erste Ansprechpartnerin hier in Hulme“, sagte der Sergeant freundlich, schielte aber misstrauisch auf sein Heißgetränk.
„Aber ich kenne Sie“, versuchte es Rebecca, „Sie sind mit ihrer Nichte hier gewesen, wenn ich mich richtig erinnere. Wie geht es ihr?“
„Das steht nicht zur Debatte“, bügelte der Polizist sie ab, „Meine Schwägerin hat sie zu ihrer Schwester aufs Land geschickt. Auch ihrer Lunge geht es jetzt besser. Aber ich bin hier, um über Jeremy Callahan zu sprechen. Er ist nämlich in der Nacht gestorben.“
„Das tut mir sehr leid“, sagte Rebecca.
„Er war sechs Jahre alt.“
„Oh nein. Aber wie ist er an das Gift heran gekommen?“
„Das fragen wir uns auch und deshalb bin ich hier. Nach Angaben von Jeremys Bruder, Alex Callahan, war das Brot dafür bestimmt, um die Enten zu füttern. Können Sie mir verraten, wieso Jungen, die kaum selbst etwas zu Essen haben, Brot horten, um damit die Enten zu füttern?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Rebecca.
„Sehen Sie, wir auch nicht. Aber Ihnen ist vielleicht bekannt, dass sich in den letzten Wochen die Funde von verendeten Wasservögeln rund um den Kanal gehäuft haben?“
„So etwas stand in der Zeitung.“
„So ist es. Das macht einen doch stutzig, nicht wahr? Jedenfalls haben einige meiner Kollegen die Ufer des Kanals abgesucht und was glauben Sie, was sie dort gefunden haben?“
„Noch mehr tote Enten?“
„Nicht ganz, Miss McCarthy, nicht ganz“, sagte der Sergeant, „Sie fanden Brot, ganz so wie das, das den jungen Jeremy umgebracht hat. Und bevor sie fragen: Ja, wir wissen, dass es vergiftet war, denn wir haben eine Ratte davon fressen lassen und was soll ich Ihnen sagen, keine Stunde später war sie mausetot. Also, was wissen Sie über vergiftetes Brot, das hier im Umlauf ist? Ich gebe Ihnen die Chance, sich hier zu erklären, bevor ich Sie mitnehme und Sie die ganze Geschichte vor einem sehr viel unfreundlicheren Kollegen bezeugen müssen.“
„Aber ich kann nichts bezeugen. Ich kenne keine Familie Callahan. Ich weiß nichts über vergiftetes Brot“, sagte Rebecca.
„Aber Sie kennen sich doch aus mit Gift, oder etwa nicht? Sie könnten einen Menschen töten, wenn sie es wollten? Und das tun Sie ja auch. Sie töten Kinder, nicht wahr? Das tun Sie doch, um Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.“
„Wer wüsste das besser als Sie?“, gab Rebecca zurück.
Es war wichtig, ihn kein Oberwasser gewinnen zu lassen. Wenn er sie anklagen würde, Kinder zu töten, würde sie damit kontern, dass er selbst schon ihre Dienste in Anspruch genommen hatte. Das konnte ihn den Job kosten. Es sollte also besser die Klappe halten. So lief das hier. Jeder hatte ein Geheimnis, durch das man erpressbar war. Jeder kannte Geheimnisse, durch die man die Erpressungsversuche anderer in Schach halten konnte. Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein… Im Grunde war es ein Gleichgewicht des Schreckens.
„Wir haben hier noch eine Aussage von Alex“, sagte der Polizist unbeirrt, „Er hat uns erzählt, wo er das Brot her hat.“
Rebecca ließ sich nichts anmerken. Sie kannte tatsächlich niemanden mit Namen Callahan und sie hatte zu keinem Zeitpunkt vergiftetes Brot an Kinder herausgegeben.
„Er hat es von einer gewissen Miss Catherine O’Leary bekommen. Sagt Ihnen der Name etwas?“
„Nein“, sagte Rebecca sofort.
„Nun. Wir haben Miss O’Leary aufgesucht und ihr ein paar Fragen gestellt und sie erzählte uns eine recht interessante Geschichte über Sie, Miss McCarthy.“
„Na, dann schießen Sie mal los!“
„Sie gab zu, das Brot gebacken zu haben. Was sagen Sie dazu?“
„Dann haben Sie doch Ihre Schuldige.“
„Sie sagte uns weiterhin, dass die Jungen ihr das Brot gestohlen haben mussten. Können Sie mir erklären, wieso Miss O’Leary vergiftetes Brot im Haus hat?“
„Nein, ich weiß ja noch nicht einmal, wer sie ist.“
„Miss McCarthy, ich gebe Ihnen hier eine Chance nach der anderen, aber wenn Sie nicht kooperieren, werde ich Sie mitnehmen müssen!“
„Bisher haben Sie mir nichts nachweisen können und ich bin mir keiner Schuld bewusst“, sagte Rebecca.
„Nach eigenen Angaben ist Miss O’Leary derzeit in anderen Umständen und hat diesbezüglich Ihre Dienste in Anspruch nehmen wollen. Aber Sie konnten oder wollten ihr nicht helfen. Ist das korrekt?“
„Moment bitte. Einen Augenblick, Catherine O’Leary ist nicht zufällig besser bekannt unter dem Namen Cathy?“, fragte Rebecca.
„Nennen Sie sie, wie Sie möchten. Ist es korrekt, dass Sie ihr nicht geholfen haben?“
„Ihr war nicht zu helfen“, sagte Rebecca, „Sie ist nicht und war nie schwanger. Das hat sie sich alles eingebildet. Sie ist nach Hause gegangen, als ich ihr das sagte und seither meint sie, ich wollte ihr etwas Böses. Sie bildet sich das alles ein.“
„Jeremy Callahans Tod ist keine Einbildung.“
„Sie hat von mir jedenfalls kein Gift bekommen“, sagte Rebecca.
„Und sehen Sie, da behauptet Miss O’Leary etwas anderes. Ihrer Ansicht nach, versuchten Sie sie umzubringen. Kann es sein, dass Sie ihr das Gift sozusagen als Medikament mitgegeben haben?“
„Das ist eine Lüge!“, beharrte Rebecca, „Sie will mir etwas anhängen! Weiß der Geier, woher sie das Zeug hat und wieso sie es den Kinder gegeben hat! Haben Sie sie das mal gefragt?“
„Aber natürlich. Es sei ihr, wie bereits erwähnt, gestohlen worden.“
„Und das glauben Sie?“
„Nun, ich höre mir gerne Ihre Version der Geschichte an und entscheide dann, welche ich glaube“, sagte der Polizist.
„Ich habe keine Version“, erwiderte Rebecca, „Ich habe nämlich nichts damit zu tun. Ich habe Cathy kein Medikament mitgegeben. Wozu? Sie brauchte keines. Sie war nie schwanger. Sie muss es sich anderswo besorgt haben, weil sie davon besessen ist, schwanger zu sein. Rattengift kriegen Sie an jeder Straßenecke. Verstehen Sie? Sie glaubt ihre eigene Lüge und weil ich ihr nicht glaubte, meint sie, ich wäre ihre Feindin, ich wolle sie umbringen, was weiß ich. Diese Frau ist geisteskrank. Sie besorgt sich Gift, um mir die Konsequenzen anhängen zu können. Würde mich nicht wundern, wenn sie den Kindern das Brot geschenkt hätte.“
„Na schön. Aber wieso sollten damit die Enten gefüttert werden? Wenn Miss O’Leary einen Menschen hätte vergiften wollen, hätte sie das Brot doch nicht als Entenfutter verschenkt, sondern als milde Gabe für eine arme, kinderreiche Familie.“
„Wer weiß schon, was in einem solchen Gehirn vor sich geht!“, sagte Rebecca trotzig, „Vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen?“
„Oder jemand vergiftet systematisch unsere Enten und Schwäne“, sagte der Polizist.
„Cathy vielleicht.“
„Nein. Das ergibt keinen Sinn, Miss McCarthy. Gehen wir einmal davon aus, Miss O’Leary wollte Ihnen wirklich etwas anhängen, dann hätte sie das Gift sicher nicht in Brot eingebacken und es ein paar Kindern zugesteckt. Was mich interessiert, ist das Brot, das am Kanalufer gefunden wurde. Miss O’Learys Brot war nicht der erste und einzige Giftköder im Umlauf. Ich will wissen, wo das Zeug herkam und wieso es in der Landschaft herumliegt und wieso Kinder damit in Berührung kommen!“
„Ich fürchte, das müssen Sie Cathy fragen. Sie muss wissen, woher sie das Zeug hat und was sie damit anstellen wollte.“
„Sehen Sie, Ihr Name ist in dieser Geschichte gefallen. Ich muss dieser Spur nachgehen.“
„Das verstehe ich natürlich.“
„Immerhin ist ihr Mitbewohner dabei beobachtet worden, wie er am Kanal die Schwäne füttert.“
„Was?“, rief Rebecca.
„Mister Christopher Jones ist doch ihr… Mitbewohner?“
„Ja.“
„Nun. Nach übereinstimmenden Aussagen von verschiedenen Zeugen hat Mister Jones mehrfach in den letzten Wochen und Monaten Brotstücke in den Kanal geworfen. Das ist jetzt nichts Besonderes, das tun wir alle hin und wieder, nicht wahr?“
Rebecca nickte.
„Miss O’Leary führt weiterhin aus, dass Mister Jones sich immer sehr dafür interessiert, was die Vögel auf dem Kanal zu fressen bekommen. Er hätte sie mehrfach dahingehend belästigt.“
„Belästigt?“
„Belästigt. So hat sie es formuliert.“
„Ich weiß ganz ehrlich nicht, was ich mit der ganzen Sache zu tun habe“, sagte Rebecca, „Ja, ich habe giftige Substanzen im Haus, aber ich habe sie nicht an Kinder oder Cathy weitergegeben.“
„Aber an Ihren Freund haben Sie sie weitergegeben. So sagt es zumindest der junge Alex Callahan. Mister Jones habe diese Gruppe gegründet, sagt er, die vorsätzlich auf dem Kanal die Schwäne vergiftet. Sie nähmen keine Kinder auf, aber ein gewisser Mister Brian Hayes sähe das nicht so eng. Kennen Sie einen Mister Brian Hayes?“
„Ja, natürlich“, sagte Rebecca, „Das ist Cathys Freund.“
„Und so schließt sich der Kreis, meinen Sie nicht? Ich fürchte, Miss McCarthy, ich muss Sie mitnehmen.“
„Aber…“
Es hatte keinen Zweck. Rebecca hätte noch so innig beteuern können, dass natürlich auch Brian kein Gift von ihr bekommen hatte, Sergeant Smith hätte ihr nicht geglaubt. Smith war nicht hier her gekommen, um Rebecca zu vernehmen. Er hätte von Anfang an die Order gehabt, sie festzunehmen. Keine Aussage der Welt hätte sie davor bewahren können. Ein Sergeant führte schließlich auch nur seine Befehle aus.
Brian ging mit einem Magengrimmen nach Hause. Diese Nacht hatte alles verändert. Er hatte einen Freund verloren. Er hatte seine Illusionen verloren. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Angst verspürt und er fragte sich, ob es den anderen im Pub genauso gegangen war und ob sie nur deshalb so ausgerastet waren, weil sie diese Angst überspielen wollten. Niemand wollte der Schwächste sein, denn der Schwächste wurde gefressen.
Im Haus herrschte Stille, als er eintrat und das irritierte ihn. Normalerweise keifte Cathy bis tief in die Nacht herum, verfluchte die ganze Welt und ihn im Besonderen. Nie ließ sie die Lichter ausgehen. Zumindest eine Kerze hatte sie immer brennen, wenn sie am Küchentisch saß und wartete, worauf auch immer. Aber sie saß nicht am Küchentisch. Sie saß nicht auf der Treppe. Sie geisterte nicht durch den Flur. Vielleicht hatte sie das Haus verlassen?
Manchmal tat sie das. Aber nicht in letzter Zeit. Seit sie glaubte, schwanger zu sein, meinte sie, sich schonen zu müssen. Sie wird doch nicht ins Bett gegangen sein? Cathy legte sich nicht nie vor Mitternacht schlafen.
Brian schritt die Treppe hinauf, legte Mantel und Hut auf sein Bett ab, streifte sich die Schuhe von den Füßen und schlurfte auf Strümpfen hinüber in Cathys kleine Kammer.
Auch hier: kein Licht, nur Finsternis. Eigentlich war dies nur eine Abstellkammer, ein Raum, der auf die Misskalkulation eines gelangweilten Architekten zurückzuführen war. Er besaß weder ein Fenster noch Platz für Möbel im eigentlichen Sinne. Cathy schlief auf einem Lager aus Decken und Kissen auf dem Boden. Es war kein richtiges Bett, aber es war besser als die Straße. Mehr konnte Brian ihr nicht bieten und Cathy hatte sich noch nie beschwert. Sie war dankbar. Das schätzte Brian an ihr.
„Hey“, sagte er leise in die Dunkelheit, „Bist du da?“ Cathy?“
Vom Fußboden kam nur ein Stöhnen als Antwort und Brian kniete sich herunter, im Dunkeln tastend, was sich unter dem Berg aus Decken befand. Etwas Warmes. Etwas Weiches. Etwas Lebendiges.
„Ist alles in Ordnung? Hab ich dich geweckt?“
Wieder bekam er nur einen unspezifischen Laut zur Antwort.
„Es könnte sein, dass wir fort gehen müssen, Cathy. Es könnte sein, dass wir schnell aufbrechen müssen. Du musst bereit sein, wenn es so weit ist.“
„Ich kann nicht weggehen“, murmelte Cathy schwach.
„Es gibt vielleicht keine andere Möglichkeit“, sagte Brian, „Ich will, dass du Bescheid weißt. Es kann passieren, dass wir fortziehen müssen. Sehr bald vielleicht.“
„Ich wollte dir doch nur helfen“, antwortete Cathy.
„Und das hast du. Das hast du ganz sicher“, versicherte ihr Brian, obwohl er nicht wusste, was sie meinte.
„Auch wenn du mir nicht geholfen hast. Ich habe dir immer nur helfen wollen.“
„Ja. Du hast mich nie betrogen. Aber es stimmt nicht, dass ich dir nicht geholfen habe. Das ist nicht wahr.“
„Aber es macht doch nichts“, sagte Cathy, „Ich hab mir schon selbst geholfen. Ja. Ich fühle schon, wie es weggeht. Es ist schon gar nicht mehr richtig am Leben. Es kommt raus, siehst du?“
„Was meinst du?“
„Sieh doch her! Es kommt alles raus. Es wird einfach raus gespült. Es ist gar nicht so schwer. Ein bisschen anstrengend, aber ganz sicher keine Hexerei. Ich hab es selbst gemacht. Und ich kann es immer wieder tun. Ich bin jetzt unabhängig. Und ich kann dir helfen. Bei allem. Sieh nur, wie schön es fließt!“
Brian sah nichts, aber seine Hand ertastete etwas Warmes, Schleimiges. Einige der Decken waren feucht und klebrig.
„Was ist das?“, fragte er.
„Es ist tot!“, hauchte Cathy, „Ich hab es tot gemacht.“
„Was hast du tot gemacht?“, fragte Brian entsetzt.
„Das Bastardkind natürlich. Es wollte einfach nicht drin bleiben. Ich hab es raus getrieben. Sieh nur, was es alles für einen Dreck bei sich hatte!“
„Cathy, du verblutest!“, schrie Brian.
„Ja“, sagte sie.
„Aber was hast du getan?“
„Du hast mir nicht geholfen, Brian. Dabei hab ich dich nie betrogen. Niemals.“
„Warte hier! Ich rufe jemanden. Irgendjemand wird dir helfen können. Rebecca weiß, was zu tun ist. Warte hier!“
„Rebecca ist nicht da“, hauchte Cathy, „Rebecca haben sie eingesperrt. Rebecca hat Kinder vergiftet, wusstest du das? Sie hat ihnen vergiftetes Brot geschenkt und jetzt sind sie tot. So tot wie meins. Ich hab es vergiftet, Brian.“
„Was redest du denn da? Mach, dass du aufstehst. Lass dich ansehen. Tu doch etwas dagegen! Komm raus ans Licht! Ich hole etwas, um das abzuwaschen. Es hat schon fast aufgehört. Siehst du!“
„Es hört erst auf, wenn nichts mehr drin ist. Bis ich wieder ganz rein bin. Ich hab dich nie betrogen.“
Ein ausgetrockneter Schädel hob sich Brian entgegen. Die Haut spannte sich nur noch über ihre Knochen und Brian wich erschrocken ein wenig zurück. Wann war Cathy so abgemagert? Wann waren ihr so viele Haare ausgefallen? Sie schwitzte. Das war das Fieber.
„Ich hab dich nie betrogen, das weißt du“, flüsterte sie, „Nie.“
„Cathy, hör auf mit dem Unfug!“
Sie grinste ihn irr an, dann sank sie zurück in die Schatten ihres Lagers.
„Aber du, du hast mich betrogen! Du wirst ein Bastardkind haben. Ich nicht. Und es ist kein Gift mehr da, damit du es wegmachen kannst. Und es ist keine Rebecca mehr da, die dir helfen kann. Mir hat niemand geholfen. Das ganze Gift ist weg. Die Kinder haben es mitgenommen. Ich hab es ihnen gegeben, weil ich dir helfen wollte. Du hast mir nicht geholfen. Aber das ist nicht schlimm, Brian. Es kommt alles in Ordnung. Sieh nur, alles kommt in Ordnung.“
Brian rückte von ihr ab, antwortete ihr nicht mehr, sondern stürzte aus der Kammer, die Treppe hinunter und aus dem Haus. Im Licht der Straßenlaterne betrachtete er seine Hände, die dermaßen mit Blut besudelt waren, dass man glauben konnte, er hätte in seiner Wohnung ein Schwein geschlachtet. Er wischte sie sich an seinem Hemd ab, auf das er bereits sein eigenes Blut geschmiert hatte. Es stimmte nicht, dass es keine unsichtbaren Verbindungen zwischen Menschen gab. Wer immer behauptet hatte, jeder Mensch sei eine Insel, log. Man lebte in einem Spinnennetz aus Beziehungen und das Befinden eines jeden hatte Auswirkungen auf einen selbst.
Brian reagierte erneut körperlich und übergab sich neben die Straßenlaterne. Dann rannte er los. Barfuß.
Als Christopher zu Hause eintraf, fand er Rebeccas Räumlichkeiten verwaist. Keine Nachricht, kein Hinweis. Rebecca war fort. Vielleicht ein Notfall irgendwo, vermutete er. Aber normalerweise ließ sie dann einen Zettel für ihn zurück. Vielleicht war sie noch sauer auf ihn. Vielleicht hatte sie nicht damit gerechnet, dass er so früh wieder zu Hause sein würde. Das hieß… So früh war es gar nicht mehr.
Dennoch verspürte er kein Verlangen danach, zu Bett zu gehen. Er war noch zu aufgekratzt von den Eindrücken des Abends. Er wollte auf Rebecca warten, um mit ihr zu besprechen, wie es weiter gehen sollte, doch als sie nicht kam, spürte er, wie ihm die Augenlider schwer wurden. Er schlief nicht direkt ein, aber seine Gedanken schweiften ab, zu einem monströsen Alptraum mit Bildern von brennenden Straßenzügen und einer Stadt, die im Morast versinkt. Jeder Mensch in Manchester war eine potenzielle Moorleiche.
Gerade als er das dachte, klopfte es energisch an der Haustür. Rebecca, dachte Christopher und schleppte sich hinüber, um ihr zu öffnen.
Vor ihm stand aber nicht seine Freundin, sondern die leichenblasse, blutüberströmte Version von Brian.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Christopher entsetzet.
„Keine Zeit für Floskeln. Ich brauche Rebecca. Sie muss mitkommen. Cathy hat sich etwas angetan.“
„Rebecca ist nicht da“, sagte Christopher.
„Dann schaff sie her!“, forderte Brian.
„Ich weiß nicht, wo sie ist.“
„Verdammt! Verdammter Mist!“, rief Brian dem wolkenverhangenen Nachthimmel entgegen.
„Dann musst du mitkommen! Los beeil dich! Ich brauche jemanden, der mir hilft!“
„Was ist denn passiert?“, fragte Christopher, als sie die Straße hinunter eilten.
„Schau dir mein Hemd an!“, schrie Brian ihn an, „Das ist passiert!“
„Aber wie?“
„Was weiß ich. Sie hat irgendwas genommen. In sich herum gestochert. Christopher, es gibt da etwas, das du wissen solltest.“
„So?“, fragte Christopher, als hätte er es geahnt.
„Ich habe schon vor einigen Wochen eine Stellung angenommen. Ich dachte, wenn sich einem die Chance bietet, muss man sie ergreifen, sonst ergreift sie jemand anderes.“
„Na schön. Das ist deine Entscheidung.“
„Du kennst doch die Merriweather Yarn Company?“
„Die Baumwollmühle in Angel Meadow?“
„Genau die. Der alte Cartwright suchte einen Stallmeister für seinen privaten Fuhrpark in Cromford.“
„Und du hast den Job angenommen?“
„Unter der Woche bin ich drüben in Cromford. Die Wochenenden habe ich frei. Was besseres kann mir nicht passieren. Ich habe freie Unterkunft und Verpflegung und kann hier zu Hause Cathy versorgen. Verstehst du, ich musste das machen! Und wieso auch nicht? Wenn ich es nicht tun würde, würde es jemand anders tun.“
„Brian, du musst dich nicht vor mir rechtfertigen!“, sagte Christopher.
„Ich dachte nur… Aber das ist nicht alles. Du weißt, dass der alte Cartwright einen Sohn hat?“
„Kann schon sein. Was ist mit ihm?“
„Nichts ist mit ihm. Außer dass er geheiratet hat.“
„Und?“
„Chris, es könnte sein, dass seine Frau vielleicht schwanger ist.“
„Und?“
„Nun, allem Anschein nach nicht von Arthur Cartwright. Der hat nämlich schon wieder eine andere. Du würdest nicht glauben, was in so einem Haus vor sich geht, Chris.“
„Eigentlich interessiert mich sowas nicht wirklich“, sagte Christopher.
„Du verstehst nicht, was ich damit sagen will: Chris, es könnte sein, dass dieses Kind von mir ist und ich glaube, dass Cathy sich diese Sache ein wenig zu sehr zu Herzen genommen hat. Sie hat es mir schon übel genommen, dass ich nicht mehr so oft zu Hause bin. Und jetzt auch noch das. Aber, Chris, es ist einfach passiert. Diese Dinge passieren. Man kann nichts dagegen tun. Man bereut sie später, aber vorher kann man nichts dagegen tun. Eireann wird große Schwierigkeiten bekommen, verstehst du? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was kann ich ihr bieten, wenn sie verstoßen wird und ich meine Stellung verliere? Sie ist nicht reich oder so? Sie wird nirgendwo eine Stellung bekommen, wenn Arthur die Scheidung will. Und ich werde meine Stellung natürlich auch nicht behalten können.“
„Und du glaubst, ich kann dir jetzt sagen, was du tun sollst?“, fragte Christopher.
„Nein, ich will nur, dass du weißt, was Sache ist. Cathy ist völlig wahnsinnig geworden. Sie meint, sie müsse sich an mir rächen.“
Sie kamen zu Brians Haus. Christopher trat ein und ein Schwall fauligen Gestanks dran in seine Nase.
„Ich bin nur noch selten hier“, verteidigte sich Brian, „Cathy kommt alleine nicht zurecht.“
Sie entzündeten ein paar Kerzen und stiegen hinauf zu Cathys Kammer und als Christopher sie und ihre Bettstatt sah, stolperte er drei Schritte zurück.
„Heilige Maria Mutter Gottes!“, rief er aus, „Was hast du da angerichtet, Cathy?“
Sie lag halb zugedeckt mit nacktem Unterleib in einer enormen Blutlache, zum Teil bereits angetrocknet, zum Teil schmierig und übel riechend. Brian klebte mit seinen Socken an den Dielen fest und das Blut sickerte langsam an den Fasern hinauf, bis er die warme Feuchtigkeit an den Zehen spürte.
„Hilf mir, sie hoch zu hieven und zu waschen“, bat Brian, „Wir können die Blutung irgendwie stoppen.“
„Ich glaube“, sagte Christopher, „ich kann das nicht.“ Er musste unwillkürlich würgen, wandte sich ab und suchte Halt am Treppengeländer.
„Was ist los mit dir? Was, glaubst du, bekommen Soldaten im Krieg jeden Tag zu sehen?“
„Ich bin kein Soldat“, erwiderte Christopher.
„Willst du dich jetzt darüber streiten, oder was? Hilf mir bitte!“
Christopher versuchte, sich zusammen zu reißen und betrat die dunkle Kammer. Cathys zahnloses Gesicht wirkte angespannt und verzerrt.
„Hallo Cathy“, sagte er, „Ich bin es. Christopher. Rebecca ist nicht da, aber ich werde…“
„Rebecca ist nicht da“, wiederholte Cathy. Ihr letzter Triumph. „Rebecca kommt nie wieder. Rebecca ist im Zuchthaus. Sie ist für immer im Zuchthaus, denn sie ist eine Mörderin. Sie ermordet kleine Kinder. Aber jetzt nicht mehr.“
Christopher schaute Brian an. Brian blickte auf Cathy, die schwer ein- und ausatmete.
„Ich hole einen Arzt“, schlug Christopher vor.
Brian zögerte. Aus Cathys Mund quoll Schaum hervor. Sie war zu schwach, um zu husten, also röchelte sie.
„Ich glaube, das nutzt nichts mehr“, sagte Brian und legte Cathy zurück auf den Boden, „Wir können nur noch warten.“
Cathy starb nur wenig später und Brian bekreuzigte sich.
„Ich werde gehen“, sagte er schließlich zu Christopher, „Noch heute Nacht. Ich gehe, bevor sie mich abholen. Und du solltest mitkommen.“
„Nein, Brian. Tut mir leid. Ich kann nicht ohne Rebecca davonlaufen. Erst muss ich herausfinden, wo sie ist. Was hat Cathy damit gemeint, sie sei im Zuchthaus?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Brian genervt, „Aber wenn du hier bleibst, dann landest du vielleicht genau da. Du hast die Idioten heute Abend doch gehört. Die lassen sich durch nichts mehr aufhalten und wenn auch nur einer von denen singt, dann sind wir alle dran.“
Nachdenklich trottete Christopher nach Hause. Er hatte Brian viel Glück gewünscht und musste sich nun an den Gedanken gewöhnen, ihn nie wieder zu sehen. Er ist viel radikaler als ich. Er kann einfach alles zurücklassen. Hatte er überhaupt Familie? Irgendetwas oder irgendjemanden, der ihm wichtig war?
Noch in derselben Nacht wollte Brian aufbrechen. Irgendwohin. Vielleicht zurück nach Irland. Vielleicht nach London. Vielleicht nach Amerika. Oder Australien. In Australien fragte nun wirklich niemand nach jemandes Vergangenheit.
Und Christopher? Was sollte er tun? Auf sein Schicksal warten? Auf sein Verderben?
In seinem Kopf sagte Rebecca: Kümmer sich um dich selbst, nicht um mich.
Ja, das klang nach etwas, das sie sagen würde. Aber würde sie es auch so meinen? Sie wusste, dass Christopher nicht so handeln würde. Sollte er sich also stellen? Sollte er eine Aussage machen? Vielleicht konnte er als Kronzeuge auftreten. Wenn er sich nur schnell genug bei der Polizei meldete. Gleich morgen, dachte er. Gleich morgen früh.
„Gerüchte entstehen wie Lawinen. Es beginnt mit einem kleinen Kern Wahrheit, der die Phantasie derer, die sie aufnehmen, mitreißt. Aus Vorstellungen werden neue, gedachte Wahrheiten, die von Ohr zu Ohr wandern und dazwischen weitergesponnen werden, zu großen, spektakulären Geschichten, die am Ende sogar die Welt erschüttern könnten – oder das, was tatsächlich ist, unter sich begraben“, sagte Inspector Wilcox, „Deshalb, Mister Jones, wollen wir es vermeiden, dass Gerüchte entstehen.“
Christopher nickte. Sie hatten ihn vor Rebeccas Haus abgefangen, hatten dort bereits auf ihn gewartet.
„Uns ist zum Beispiel das Gerücht zu Ohren gekommen, dass Sie vorsätzlich die Schwäne ihrer Majestät vergiften und dies als Akt der Rebellion verstanden wissen wollen.“
Wieder nickte er resigniert.
„In diesem Augenblick stehen unsere Einheiten vor schätzungsweise achtzig Haustüren in diesem Viertel und versuchen, diesem Gerücht auf den Grund zu gehen. Es scheint sich recht weit verbreitet zu haben, finden Sie nicht?“
„Sieht so aus“, sagte Christopher.
„Sie sind klug, wenn sie es nicht leugnen, Mister Jones. Und weil Sie bisher so brav kooperieren, will ich Ihnen ein Geheimnis verraten, das sie vielleicht davon überzeugen wird, dass ein Geständnis in Ihrem Fall nur Vorteile mit sich bringt: Es liegt uns eine detaillierte Aufstellung ihrer Mitglieder und ihrer bisherigen Aktivitäten vor. Weiterhin hat sich freundlicherweise ein Zeuge bereiterklärt, vor Gericht auszusagen, welche weiteren Aktivitäten ihre kleine Rebellengruppe geplant hat. Können Sie mir vielleicht Informationen dazu geben?“
Christopher schüttelte den Kopf.
„Nicht? Das ist sehr schade. Ich muss Sie dennoch bitten, uns zu begleiten.“
Ein Stoß mit einem Knüppel traf Christopher so hart in die Magengrube, dass er vorn über fiel und sich vor die Füße des Inspectors erbrach. Sie mussten ihn fortschleppen, denn Christopher konnte sich nach all den Strapazen dieser Nacht nicht mehr auf den Beinen halten.
Was folgte, war die übliche Prozedur. Gespräche und Warten. Ausharren und Ertragen. Schweigen, Lügen, Verteidigen. Bei all dem verspürte Christopher nicht einen Funken Angst. Es war, als hätte seine Seele seinen Körper verlassen. Es war ein Gefühl von Leere, ein Gefühl von Freiheit. Verantwortungslos. Leicht. Gleichzeitig dunkel und hoffnungslos.
Essen, bei dem man sich sicher sein konnte, dass es verunreinigt war. Ein Bett voller Ungeziefer. Schläge. Beschimpfungen. Enge. Krankheiten. Parasiten.
Christopher durchlebte Tage, die wie Nächte waren und Nächte, die wie die Hölle waren. Schreie aus der Tiefe. Ertrinken in Einsamkeit. Immer unter Beobachtung, ohne dass jemand ihn ansah. Menschen wie ihn sah man nicht mehr an, man blickte auf sie herab. Nirgendwo sind die Hierarchien so klar wie im Gefängnis.
Das musste auch Freddy gewusst haben, weshalb er nicht wieder hierher zurück wollte.
„Wenn jemand so geartet ist wie ich“, hatte er entschuldigend zu Christopher gesagt, als sie sich vor Gericht wieder getroffen hatten, „dann musst du tun, was sie von dir verlangen. Es gibt keine andere Möglichkeit, damit sie dich in Ruhe lassen. Kannst du dir diesen Druck vorstellen? Sie wissen es schließlich. Sie haben immer etwas gegen mich in der Hand. Verstehst du? Sie brauchen mir nur zu sagen: Wenn du es nicht machst, dann stecken wir dich zurück ins Loch!“
Christopher hatte darauf nicht einmal geantwortet.
„Aber glaub mir, es ist wirklich nichts Persönliches.“
Ja, du musstest deine eigene Haut retten, dachte Christopher. Der Schwächste ist immer der Verräter. Der Abartige ist immer der Spitzel. Ein bitterer Gedanke, aber Christopher unterschied nicht mehr zwischen den Geschmäckern. Seine Gedanken waren allesamt bitter geworden. Aber das war in Ordnung. Dem süßen Leben hatte er ohnehin nie getraut.
Er hoffte, dass Brian es geschafft hatte und er hoffte, dass Rebecca irgendeinen Weg gefunden hatte, wieder nach draußen zu kommen. Er dachte an seinen Bruder, der wegen ihm vielleicht seine Anstellung verloren hatte und an seinen Vater, der inzwischen vielleicht vor Gram gestorben war.
Manchmal träumte er von ihr, wie sie ihn mit ihren wässrig-grünen Augen anschaute und zu ihm sagte: „Ich brauche keinen Mann. Du solltest dankbar sein, dass du an meinem Tisch sitzen darfst.“
Und dann sagte er: „Eine Frau braucht mindestens drei Männer, einen, der sie anhimmelt und der sie nie bekommen wird, einen, den sie bemuttern kann und einen, von dem sie sich um den Verstand bringen lässt, bis sie sich vor sich selbst ekelt. Frauen sind komplex, Männer dagegen einfältig. Ihnen ist zumeist eine Frau schon zu anstrengend.“
Und Rebecca lachte ihr seltsam vornehm-vulgäres Lachen, von dem niemand wusste, wo es her kam.
Am 21. Mai 1894 eröffnete Queen Victoria feierlich den Manchester Ship Canal, der Manchester unabhängig vom Seehafen in Liverpool machen würde. Sie, ihre Tochter Prinzessin Beatrice und deren Ehemann Prinz Henry von Battenberg wurden dabei von einer großen Menge höchst patriotisch gestimmter Untertanen bejubelt, bevor diese dann Fähnchen schwenkend am Ufer den passierenden Schiffen zuwinkten. Frauen trugen ihre besten Kleider und Hüte, Kinder hatten extra für diesen Anlass ihre Schuhe auf Hochglanz poliert. Die Herren diskutierten technische Daten, bewunderten die Meisterleistung der Bauherren und Planer. Ein katholischer Priester wurde dabei beobachtet, wie er den Kanal mit Weihwasser segnete.
Ein ruhiger Tag, der in die Geschichte eingehen würde.
Gut achtzig Meilen von diesem Spektakel entfernt, in der Nähe des kleinen walisischen Dorfes Bala, hausten etwa einhundert Männer in einer stillgelegten Destille, die man zu einem provisorischen Lager für politische Gefangene ausgebaut hatte. Gut zwanzig Jahre später würde ein bedeutsamer Mann es „die Universität der Revolution“ nennen, aber an diesem Tag im Jahre 1894 nannten sie es „ein unerträgliches Dreckloch“.
Das geschah, wenn man den Gedanken aussprach, die Königin ermorden zu wollen. Das war die Lektion, die man ihnen zu lernen aufgegeben hatte und sie hatten viel Zeit sich in den Stoff einzuarbeiten.
Die Tage in Wales waren einsam, grau und feucht, die Nächte kalt und neblig. Die Zeit verkam zu einem dehnbaren Begriff, einem Maßstab für Langweile und Frustration.
Bald sagen die Männer zu sich: „Nach Frongoch schickten sie die, von denen sie hoffen, dass sie vergessen werden, dass sie sich selbst vergessen und sie kümmern sich nicht um uns, weil sie uns schon längst vergessen haben.“
Niemand weiß, ob die Königin je von diesen Männern erfuhr und ob es sie überhaupt kümmerte, dass sie für den Tod einiger ihrer königlichen Schwäne verantwortlich waren. Wahrscheinlich erfuhr sie auch nichts von dem jungen Mann, der als Anführer dieser subversiven Gruppe nur wenige Wochen nach ihrem Besuch in Manchester eben dort vor ein Gericht gestellt, verurteilt und in einer Nische des Gefängnishofes gehängt wurde.
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