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[Leseprobe:] Ein zweites Troja

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22.05.19 21:41
12 Ab 12 Jahren
Heterosexualität
Fertiggestellt

Wer hätte gedacht, dass es jemals wieder sonnige Juni-Tage geben würde? Wer hätte gedacht, dass eines Tages ein Spaziergang über und durch die Trümmer der Stadt möglich sein würde, ohne sich in akute Lebensgefahr zu begeben? Wer hätte gedacht, dass London am Ende dieses Krieges noch stehen würde, dass seine Bürger aushalten und hier bleiben würden, dass sie überleben würden? Es ist ihnen wieder möglich, hinaus auf die Straße zu treten, draußen zu stehen, sich zu unterhalten, ohne einen Luftangriff befürchten, ohne um das Leben eines Sohnes oder des Ehemannes irgendwo auf dem Kontinent fürchten zu müssen, ohne schlechte Nachrichten Tag für Tag. Wer hätte gedacht, dass nach all diesen Jahren der Angst ich hier stehen und leben kann? Leben werde.

Die Lebensmittel sind rationiert, die Gebäude und Straßen sind zerstört und viele unserer Lieben sind getötet worden. Wir lösen uns nur langsam aus der Schockstarre dieses Krieges. Wir bewegen uns langsam und vorsichtig. Wir schauen uns um und trauen unseren Augen kaum. So als wäre endlich eine lange, finstere und schreckliche Nacht zu Ende. Als wäre der Sturm fort gezogen. Als löse sich der Alptraum langsam auf.

Und wir taumeln zwischen Rationalität und Wahnsinn, können nicht begreifen, wie uns geschieht und was geschehen ist. Funktionieren wir noch? Funktionieren wir wieder? Und die Welt? Ist sie stehen geblieben? Oder setzt sie sich jetzt gerade wieder in Bewegung?

Wir taumeln zwischen Unglauben und Schrecken. Die Lawine aus Erinnerungen, aus verdrängten Ängsten, Schuldgefühlen und Trauer löst sich irgendwo in der Ferne oder der Tiefe unserer Herzen. Ein Ort, den wir lange nicht mehr aufgesucht haben. Er schwacher, wankelmütiger Ort, eingehüllt in den Nebel der Lethargie. Der Wall aus purem Trotz, der uns am Leben gehalten hat, bröckelt, schmilzt, regnet auf uns herab, wäscht ihn hinfort. Den Nebel.

Was wir nun sehen, ist die Zerstörung, das ganze Ausmaß dieses Krieges, eines Wahnsinns, dem so oft so viele Menschen verfallen. Das bleibt übrig von all dem Größenwahn, der Wut, dem Hass und dem falschen Stolz: Zerstörung, Trauer und Tod.

Die Lethargie hat uns blind gemacht. Die Lethargie hat uns stark gemacht. Schwindet die Blindheit, schwindet auch die Stärke. Wir stehen da – allein und hilflos wie die Kinder. Am Rande des Untergangs. Er ist abgewendet, heißt es. Die Trümmer bezeugen etwas anderes.

Wie viel ist ein Leben wert nach dem Krieg?

Die Menschen schlafwandeln durch die Straßen, versuchen einen Alltag zu simulieren. Doch in Wirklichkeit sind sie überwältigt von dem ungewohnten Gefühl, das der Geist des Friedens in all unseren Herzen aufkeimen lässt. Vielleicht ist es Erleichterung. Vielleicht ist es die Einsicht, dass es das alles nicht wert gewesen ist. Wer ein Familienmitglied verloren hat, vermisst oder selbst verletzt oder verkrüppelt in einem Pflegeheim oder einem Lazarett liegt, empfindet eine besondere Form der Hilflosigkeit, ein ambivalentes Gefühl zwischen Beruhigung und Verzweiflung. Das Grauen endet nicht abrupt, es wirkt nach. Manchmal endet es nie. Manche Menschen verfolgt es ein Leben lang in Träumen, in Zeiten der Einsamkeit. Und es kann jeder Zeit wieder angreifen. Sie tragen den Krieg in sich, als hätte er sich in ihre Seelen hineingefressen und dort eingenistet, um zu brüten. In unseren Erinnerungen lebt er weiter. Wir werden niemals vergessen können.

Das Ende eines so großen und gewaltigen Krieges muss ein neues Zeitalter einläuten, so sagen die Leute, deren unbeugsame Hoffnung man bewundern und beneiden muss. Die Freiheit habe gesiegt, die Gerechtigkeit und die Demokratie. Ich frage, ob es das wert gewesen ist, dieses Spiel von Aggression und Rache, von Macht und Unterdrückung, von Lüge und blindem Vertrauen. Ich frage, ob Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie nicht immer die ersten Opfer eines Krieges sind.

Sollte ich je einem General begegnen oder einem anderen Kriegstreiber, der den Wert eines Menschenlebens kalkuliert wie eine Ware, so werde ich ihn fragen, wie viele Trümmer er nach Kriegsende beseitigt hat, wie viele Versehrte er pflegt und an wie vielen Gräbern er steht, um aufrichtig zu trauern.

Ich frage die Deutschen, ob es das wert war. Ich frage sie offen, wie sie nur glauben konnten, dass dieser Krieg irgendetwas wert gewesen sein könnte.

Jetzt hat sich der Staub abgesetzt, der Rauch ist verschwunden. Das ganze Ausmaß der Katastrophe ist nun sichtbar. Einem Volk, das gerade dabei war, erleichtert aufzuatmen, stockt der Atem. Die Sonne scheint auf dieses postapokalyptische Panorama von London. Sie scheint über der ganzen Insel. Sie scheint auf den Kontinent, bringt Licht in die Löcher und Ecken, über die der Krieg seine Schatten gelegt hatte, hält uns Bilder unfassbarer Grausamkeit vor Augen und wir alle wissen: All das ist zu unseren Lebzeiten passiert und wir konnten es nicht verhindern. Wir konnten es nur bekämpfen und bestrafen. Es ist dennoch nur ein schwacher Trost für die Kriegerwitwe, dass ihr Mann für die siegreiche Seite gefallen ist und es ist ein schwacher Trost für mich, der ich gleich zwei geliebte Menschen verlor.

Wer hätte gedacht, dass ein sonniger Juni-Tag in Friedenszeiten je solch ein zynisches Szenario beleuchten würde? Sonnige Juni-Tage haben für immer ihre Unschuld verloren.

 

Ich traf Victoria Ogilvie am Aushang für vermisste Personen vor dem Büro des Tracing Department des Roten Kreuzes am St. James’s Palace. Warum ich hergekommen bin, kann ich rational nicht erklären. Genauso wenig konnte es Victoria. Sie wusste gesichert, dass ihr Mann tot war, so wie ich wusste, dass Siobhan und Benjamin es waren. Dennoch führte das Schicksal oder das seltsam schwere Gefühl eines sonnigen Juni-Tages nach Kriegsende uns beide zur gleichen Zeit hier her.

Für mich war es nur einen Katzensprung, denn ich wohnte seit einigen Monaten in einer Notunterkunft ganz in der Nähe. Um ehrlich zu sein, kam ich beinahe jeden zweiten Tag hierher. Es war also in Wirklichkeit nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich Victoria begegnet wäre. Denn sie kam selbst aus reiner Gewohnheit beinahe täglich, um sich die Fotos und Plakate anzusehen und um vielleicht eine Erfolgsgeschichte zu hören, von einer Familie, die sich wiedergefunden hatte oder einer für tot gehaltenen Person, die wieder irgendwo aufgetaucht war.

Oh, es gab diese Geschichten. Man las sie in den Zeitungen und an den Aushängen. Die Menschen wussten darüber Bescheid und verbreiteten sie. Es war immer eine englische Tugend gewesen, durchzuhalten und weder die Hoffnung, noch die Haltung zu verlieren. Niemals. Egal wie unrealistisch es war.

Meine persönliche Hoffnung hingegen war mehr als unrealistisch. Sie war unmöglich, denn ich hatte die Leichen von Siobhan und Benjamin selbst aus den Trümmern geborgen in jener Nacht vor nicht ganz einem Jahr. Ich kam im Grunde auch nicht hierher, um mir falsche Hoffnung zu machen, sondern um an der Hoffnung anderer teilzuhaben. Wer nichts mehr hat, der eignet sich einen parasitären Lebensstil an…

Auch Victoria Ogilvie zehrte von der Hoffnung anderer Menschen, denn man hatte ihr mit staatsmännischer Anteilnahme versichert, ihr Mann Sebastian hätte eindeutig identifiziert werden können und irgendwo in Frankreich gäbe es einen Grabstein, der seinen Namen trüge. Das, so erklärte man ihr, sei immerhin mehr, als vielen anderen Soldaten zuteil geworden war. Ein zynischer, schwacher Trost, fand Victoria, wie sie mir an jenem Tag anvertraute.

Ich weiß nicht, wie, woran und warum sie mich erkannt hatte, doch sie war es, die mich ansprach, obwohl ich sie bereits von Weitem erkannt hatte. Ich wagte es nicht, ihr zuerst ins Gesicht zu blickten, immerhin konnte ich nicht sicher sein, ob der Groll, der zwischen den Geschwister bestanden hatte, nicht über den Tod Siobhans fortdauerte. Doch es kam ganz anders.

Der große Krieg, die schreckliche Nähe und ständige Gefahr des Todes, die allgegenwärtige Angst, der Terror und die einschüchternde Dunkelheit ließen die kindischen Streitigkeiten verblassen, die Teil einer anderen Zeit, eines anderen Jahrhunderts gewesen waren, als das Leben leicht und der Frieden langweilig erschienen war, als Streitigkeiten als willkommene Abwechslung vom allzu harmonischen Familienleben betrachtet wurden, als die Familie eine Welt für sich allein war und man sich einem Volk nur dann zugehörig fühlte, wenn es um einen politischen oder wirtschaftlichen Vorteil ging. Dies war die Victoria des neuen Zeitalters, gealtert, gebeugt und abgemagert. Einsam, verlassen und… sanftmütig.

„Du bist Oliver, nicht? Siobhans Junge?“, rief sie mir zu, als ich mich gerade abwenden wollte. Ihre Stimme klang trocken und brüchig. In ihrer Jungend soll sie eine gute Sängerin gewesen sein. Davon war jetzt nichts mehr zu hören. Aber sie nannte mich „Siobhans Junge“ und machte das nicht all die Ressentiments wett?

In den Augen der Familie war ich zu keiner Zeit jemals „Siobhans Junge“ gewesen. Ich war weniger als ein Bastard, weniger als ein Findelkind und doch kannte sie meinen Namen. Und sie nannte meinen Namen, rief nach mir und sprach mich an. Vielleicht war es Siobhans vollständiger Ablehnung ihrer Familie und vor allem Victoria gegenüber geschuldet, dass ich ausschließlich Schlechtes von letzterer dachte und vielleicht war es an der Zeit mich von den Einflüssen meiner manchmal sehr radikal denkenden Ziehmutter zu lösen, um meine eigenen Erfahrung mit „der Familie“ zu machen. Es war wahrscheinlich meine letzte Möglichkeit, denn Victoria war die letzte, die einzige, die überlebt hatte.

 

Victoria lud mich zu sich nach Hause ein. Ihr vornehmes Stadthaus stand von den Bombenangriffen unversehrt wie durch ein Wunder. Doch es war dunkel, kalt und leer. Mir wurde schnell klar, wie tief sich hier Angst und Einsamkeit eingenistet hatten. Sie lauerten zwischen den antiken Möbeln, hinter den wertvollen Gemälden, in der Bibliothek, der verwaisten Küche und vor allem im brachliegenden Ehebett.

Victoria zeigte mir das ganze Haus vom Dachboden bis zum Keller, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass Siobhan kaum jemals von ihrem Leben hier gesprochen hatte.

„Es tut gut, mit jemandem zu sprechen“, sagte Victoria im Plauderton, der ihre Unsicherheit nicht überdecken konnte, „Die Dienstboten sind alle fort. Sie müssen sich natürlich um ihre eigenen Familien kümmern und viele haben die Stadt verlassen. Mir ist kein Freund und kein Verwandter geblieben. London liegt in Schutt und Asche, nur mein Haus steht noch. Dafür habe ich alles andere verloren.“.

Victoria weinte nicht, als sie das sagte. Man merkte ihrer Stimme nicht die kleinste Rührung an. Vielleicht hatte sie alle Emotion, zu der sie je fähig gewesen war, aufgebraucht. Vielleicht hielt sie sie aber auch in ihrem Inneren zurück, wie es ebenfalls alte, vornehme, englische Tradition war. Vielleicht war es das, was Ihresgleichen unter „Haltung“ verstand.

„Ich schlafe in der Bibliothek“, erklärte Victoria weiter, „Oben im Schlafzimmer war es während der Bombardements zu laut und zu gefährlich. Von der Bibliothek aus kommt man schneller nach draußen. Aber das ist jetzt vermutlich nicht mehr notwendig…“

„Nein“, sagte ich und kopierte ihren sachlichen Tonfall, so gut ich konnte. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich umzusehen. Ich war noch nie hier gewesen, hatte das alles noch nie gesehen und davon gehört hatte ich nur in Siobhans Schmähreden. Ich wusste aber dennoch, dass der Grund, warum Victoria nicht längst wieder in ihrem Bett schlief, ein anderer sein musste. Zu groß, zu kalt, zu leer, zu einsam. Zu viel Angst, zu viel gestorbene Hoffnung zwischen den Decken und Kissen.

„Wenn du möchtest, kann ich dir Siobhans altes Zimmer herrichten“, sagte Victoria.

Ich schwieg.

„Du kannst es beziehen. Es ist als Zimmer für ein Kind des Hauses konzipiert.“

Nach einer Weile sagte ich: „Ich wohne in einer Notunterkunft.“ Es war mehr als viele Menschen in diesen Tagen von sich behaupten konnten.

„Ich biete es dir an, hier zu wohnen, wenn du es möchtest“, ich merkte, wie sie sich beim nächsten Satz überwinden musste: „Ich meine das nicht nur übergangsweise.“

Die anklagende und aggressive Art Siobhans, die Spuren in meinem Charakter hinterlassen hatte, ließ mich folgendes denken: „Und als was? Als dein Dienstbote? Als Beruhigung für dein schlechtes Gewissen, dass du in einer Stadt voller Obdachloser allein in einem Herrenhaus wohnst?“

Ich sagte: „Ich weiß nicht…“.

 

Und nun stehe ich hier in Mitten einer Bibliothek aus Akten, Briefen, Tagebüchern und Memoiren.

Victoria hat es mir zur Aufgabe gemacht, dies alles in Ordnung zu bringen. So hat sie sich ausgedrückt. Ich solle es in Ordnung bringen.

Sie ließ mich Siobhans und Benjamins Unterlagen, die kläglichen und lückenhaften Überreste zweier Leben, die ich aus dem Keller und den Trümmern des zerstörten Hauses in Bethnal Green retten konnte, herbei schaffen. Sie sollten dazu gehören und dort aufbewahrt werden, wo auch die Akten der übrigen Familienmitglieder gesammelt wurden. Vielleicht war es nur ein Zugeständnis Victorias, eine großzügige Geste, um mich an sie zu binden, doch ich willigte ein, um selbst einen guten Willen zu beweisen.

Im ersten Augenblick dachte ich an Siobhan, die sagte: „Victoria tut nichts ohne Hintergedanken. Wenn sie dir etwas Gutes tut, dann nur, weil sie etwas von dir erwartet, das zehnmal so gütig ist, wie das, was sie dir getan hat.“ Doch inzwischen weiß ich, was Victoria gemeint hat. Das Aufräumen und Sortieren der Dokumente bildete nur den ersten Teil meiner Aufgabe. „Bring es in Ordnung“ bedeutete „Werte es aus“. Es bedeutete, dass sie wollte, dass die Geschichte erzählt würde, dass sie nicht verloren ging, wenn Victoria sterben würde und niemanden hinterließ. Es bedeutete: „Du sollst der Verwalter dieser Geschichte und dieser Familie sein!“

„Kümmere dich um den Haufen Schutt und Asche! Setz die Trümmer wieder zusammen! Bau es wieder auf!“

Und so liegt sie vor mir wie ein Haufen Scherben, wie ein Puzzle. Ein großes Rätsel. Doch was einmal zerbrochen ist, kann nicht wieder zusammengesetzt werden, ohne dass man sieht, wo die Bruchstücke zusammengekittet wurden. Ihre Zerstörung ist ein Teil der Geschichte selbst. Die Brüche zeichnen sie aus. Ohne sie wäre die Geschichte eine andere. Es handelt sich nicht um eine gradlinige, einfache Abfolge von Ereignissen, die ich zusammentragen soll, sondern um einen Knoten, der entwirrt werden muss, Fäden, die zerrissen sind, Fäden, die neu verwoben wurden, Muster, die verloren gingen, verblassten.

Die Geschichte liegt also in meiner Hand und es macht mich zum Teil dieser Dynastie. Es macht mich zu „Siobhans Jungen“, einem legitimen Mitglied der Familie Cartwright, deren Namen ich dennoch niemals tragen werde.

Why should I blame her that she filled my days

With misery, or that she would of late

Have taught to ignorant men most violent ways,

Or hurled the little streets upon the great,

Had they but courage equal to desire?

What could have made her peaceful with a mind

That nobleness made simple as a fire,

With beauty like a tightened bow, a kind

That is not natural in an age like this,

Being high and solitary and most stern?

Why, what could she have done being what she is?

Was there another Troy for her to burn?

Ein kurzer Abriss der Geschichte der Familie Cartwright

 

Im Jahr 1767 erfand Zachary Merriweather eine automatische Spinnmaschine, welche mit Wasser- statt mit Muskelkraft angetrieben wurde. Um das Gerät in Betrieb zu halten, benötigte man nur einen Arbeiter, der lediglich die Spindeln auszutauschen und gerissene Fäden wieder anzusetzen hatte. Die Maschine arbeitete kontinuierlich und effektiv. Durch die externe und unerschöpfliche Energiequelle war es möglich, auf mehrere hundert Spindeln gleichzeitig zu spinnen.

Zwei Jahre später, im Jahr 1769, meldete Merriweather seine Erfindung zum Patent an. Er hatte Großes vor und plante mehrere Fabriken, in denen er in enormer Geschwindigkeit und bei äußerst gering gehaltenen Lohnkosten große Mengen von Garn produzieren wollte.

Im Jahr 1771 gelang es ihm schließlich, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Im Zuge der boomenden wirtschaftlichen und industriellen Fortschritte in nahezu allen Teilen des Landes waren einige Investoren auf den jungen Mann aufmerksam geworden, der sich damit brüstete, die wachsende Nachfrage nach Garn in der sich rasant entwickelnden Textilindustrie befriedigen zu können, wenn man ihn nur ließe.

Merriweather überzeugte zwei der bedeutendsten Textilfabrikanten Nordenglands, sowie einige Bankiers von seiner Idee und verfügte schließlich über genug Kapital, um seine erste Fabrik am Fluss Derwent in Derbyshire zu errichten.

Nicht einmal zehn Jahre später hatte Merriweather fünf weitere Fabriken in Betrieb genommen und sich einen Platz unter den bedeutendsten Industriellen seiner Zeit verdient. Für seine Arbeiter errichtete er Häuser, Schulen und Kirchen, sorgte aber im Gegenzug dafür, dass vormals freie und selbständige Heimarbeiter zur weit schlechter bezahlten, gefährlicheren und anstrengenderen Arbeit in seinen Fabriken gezwungen waren. Durch die neue Möglichkeit Garn in Massenproduktion zu spinnen, fielen die Preise für Baumwollgarn ins Bodenlose und damit auch die Preise für Stoffe und Textilien allgemein.

(Siobhan hätte gewollt, dass ich außerdem erwähne, dass im Jahre 1779 eine von Merriweathers Fabriken durch eine Gruppe Aufständische beinahe vollständig zerstört wurde. Doch dabei handelte es sich nur um einen kleinen Rückschlag in Zachary Merriweathers außergewöhnlichen Biographie.)

Er selbst war der jüngste Sohn eines einfachen Schneiders gewesen, hatte zunächst den Beruf eines Friseurs und Barbiers ausgeübt, bis er bei einer seiner Tüfteleien auf die erstaunlichen Möglichkeiten der Wasserkraft aufmerksam geworden war.

Nach allem, was Merriweathers Nachfahren und Erben über ihn wissen, handelte es sich bei ihm um einen sehr ungestümen und ungeduldigen Menschen. Seine Geschäftstüchtigkeit ging einher mit beinahe unverschämtem Selbstbewusstsein. Er machte nie einen Hehl daraus, dass er seine Erfindung, seine Fabriken – sein Imperium – für ein Produkt besonderer, gottgegebener Talente und harter Arbeit hielt und dass er seinen Erfolg auf Grund von Fleiß, Hartnäckigkeit und klugen Entscheidungen verdient hatte. Merriweather war Protestant. Siobhan hätte gesagt, sein Protestantismus war stark genug, um als Arroganz durchzugehen.

So weit gehen die Aufzeichnungen, die ich über Zachary Merriweather auftreiben konnte, nicht. Doch diverse rechtliche Streitigkeiten und Unstimmigkeiten in der Frage des alleinigen Urheberrechts seiner Erfindungen führten wenige Jahre vor seinem Tode dazu, dass verschiedene seiner Patente ausliefen.

Dies schadete Merriweather jedoch nicht sehr. Bereits in den 1780er Jahren begann er damit, sich und seiner Familie einen Landsitz außerhalb, aber dennoch in der Nähe des Textilmolochs Manchester zu erbauen. Für geschäftliche Aufenthalte besaß er außerdem ein Stadthaus in einem der vornehmen Viertel eben dieser, sich explosionsartig ausbreitenden Metropole.

1792, nur wenige Jahre vor der großen Rezession, verstarb Zachary Merriweather im Alter von 59 Jahren – sehr angesehen, bewundert, gehasst und unermesslich reich.

Es war das Schicksal des Zachary Merriweather, dass er keinen Sohn als Nachfolger vorweisen konnte. Seine Frau hatte ihm lediglich drei Töchter geschenkt, die nach altem, englischem Recht – und vermutlich den Vorstellungen Merriweathers - nicht erbberechtigt waren. Seine Töchter waren zum Zeitpunkt von Merriweathers Tod bereits verheiratet und spielten in der Zukunftsplanung des Industriellen keine Rolle, was die Weiterführung seiner Fabriken und der Verwaltung des Vermögens anbetraf. Bis zuletzt mag er darauf gehofft haben, dass seine Frau ihm einen Sohn gebären möge. Dieser Wunsch blieb jedoch unerfüllt und so musste er sich an den Gedanken gewöhnen, sein Vermögen und die Firmenanteile an seinen Neffen zu vererben.

 

Maxwell Merriweather erwies sich als äußerst geschickter Geschäftsmann, der das Vermögen der Familie noch vergrößern konnte und die Garnfabriken mit den neusten Innovationen ausstattet. Er war es auch, der den Landsitz der Familie fertigstellte und bis zum Jahr 1843 zu einem der reichsten und einflussreichsten Engländer aufgestiegen war.

Er starb im Alter von 88 Jahren und wenn es stimmt, was man über sein Privatleben zu wissen glaubt – und das ist nicht viel, denn Maxwell hinterließ keinerlei Tagebuchaufzeichnungen oder Briefe – muss er noch in hohem Alter mit erstaunlichem Intellekt brilliert und bis zuletzt alle Entscheidungen in Vermögensangelegenheiten selbst getroffen haben.

Vielleicht glaubte er, er sei es seinem Onkel schuldig. Vielleicht war er ein Getriebener, der zu kompensieren versuchte, dass er vom Erfolg eines anderen profitierte, ohne selbst in der Lage zu sein, praktische Arbeit zu leisten. Jedenfalls ist nicht überliefert, dass Maxwell in seinem Leben je selbst eine Erfindung zum Patent anmeldete, obwohl er sich durchaus für den Fortschritt im Ingenieurswesen interessierte. Schließlich stattete er seine Fabriken mit den neusten Maschinen aus, die ihm profitabel erschienen und informierte sich besonders über die Entwicklungen im Bereich der Dampfkraft, die es möglich machte, Fabriken unabhängig von der Belegenheit eines Flusses zu errichten.

Maxwell Merriweather hatte drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Meine Recherchen über den Werdegang der Geschwister legen nahe, dass man davon ausgehen muss, dass es sich bei den Mädchen um recht unglückliche Geschöpfe gehandelt haben muss, die schon in jungen Jahren verheiratet wurden, ohne dass sie eine Chance bekamen, sich innerhalb des Firmenimperiums zu etablieren oder sich eigenen Projekten und Lebensentwürfen widmen zu können. Da zwischen den Geschwistern ein recht reger Briefwechsel erhalten ist, lässt sich zurückverfolgen, dass Gwendoline, die älteste Tochter, durchaus Ambitionen und Interesse an den Fabriken gezeigt hatte und sich auch nach ihrer Heirat und dem Tod des Vaters für die wirtschaftlichen Entwicklungen interessierte und mit klugen Ratschlägen ihrem Bruder zur Seite stand.

Alle drei Kinder hatten die beste Ausbildung erhalten, die damals für Geld zu haben war. Sie alle wurden gefördert und sicher auch von ihren Eltern geliebt. Da kann man Maxwell und seiner Frau Sylvia keine Vorwürfe machen. Jedoch verkannten sie, geblendet durch ihre Erwartungen, die Wünsche und Talente ihrer Nachkommen.

Während Gwen einen hervorragenden Riecher für Geld und profitable Investitionen besaß, engagierte sich ihre jüngere Schwester Katherine in den Jahren vor ihrer Eheschließung im Namen der Kirche von England für Witwen und Waisen. Siobhan hätte ihr allerdings zum Vorwurf gemacht, dass sie ihre Wohltätigkeitsabreit von oben herab und schlecht organisiert betrieb, dass ihr mehr an ihrem eigenen Nimbus als an der eigentlichen Hilfe gelegen war und dass sie wenige bis gar keine positiven Impulse für die generelle Verbesserung der Lebensumstände mittelloser Menschen gab. Auch soll sie mehr oder weniger nach dem Zufall ausgewählt haben, welche Projekte sie unterstützte und vorantrieb. Menschen, die in den Augen der Kirche gesündigt und es somit nicht anderes verdient hatten, als in der Gosse zu landen, strafte sie hingegen mit Ignoranz und Desinteresse. Und dennoch gibt es irgendwo in Ashton-under-Lyne, einem ehemaligen Elendsquartier östlich von Manchester, eine Straße, die nach ihr benannt ist.

Katherine starb recht jung für ein Mitglied ihres Standes. Sie soll schwanger mit ihrem ersten Kind gewesen sein, als sie einer fiebrigen Infektionskrankheit erlag.

Maxwell Junior, der jüngste Sohn und Erbe, erwies sich nicht als der geborene Geschäftsmann, den sein Vater in ihm hatte sehen wollen. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, in welch hohem Alter Maxwell Senior war, als er die Geschäfte endgültig auf seinen Sohn übertrug. Dieser war bereits selbst ein erwachsener Mann, hatte Frau und Kinder, Hobbies und Interessen… und die betrafen weder Firmenpolitik, noch Wirtschaft, noch Profit. Er war kein gieriger Mann. Ihm reichte, was er besaß – was sich natürlich leicht sagen ließ, wenn man zu den reichsten Männer des Landes gehörte…

Sein Führungsstil war von Zögern, verpassten Chancen und verspätetem Handeln geprägt. Sein Privatleben hatte immer Vorrang vor dem Geschäftsleben. Vielleicht hatte er seine Kindheit als zu eng empfunden, den Druck als unangemessen und zu stark für das Gemüt eines Kindes. Maxwell Junior muss ein sensibler, emotionaler Mann gewesen sein.

In einem seiner Briefe an Gwendoline schrieb er: „Was hätten Du, ich und der Wohlstand unserer Familie nur gewonnen, wenn nicht ich mit diesen Entscheidungen betraut worden wäre, sondern Du!“

Wie sein Großonkel Zachary Merriweather vertrieb sich Maxwell Junior die Zeit mit allerlei Bastelleien. Nur, dass er sich nicht für Maschinen interessiert, oder irgendetwas nützliches, gewinnbringendes konstruierte. Maxwell liebte Laubsägearbeiten und noch heute finden sich auf dem Speicher von Victorias londoner Haus einige dieser naiven Kunstwerke. Man schmückte nach Maxwells Tod zwar nicht mehr die Wände damit, aber um sie fortzuschaffen, hing man dann insgeheim doch zu sehr an ihnen – so sehr, dass man sie seinerzeit sogar nach London geschafft hatte. Irgendwo ganz unten in einer Umzugskiste, unsichtbar für die Träger und Umzugshelfer, aber doch erstaunlich sorgfältig verpackt. Dies ist ein typisch englischer Umgang mit Familiengeschichte und Tradition: Vordergründig hält man sich bedeckt, verweist – wenn überhaupt – nur subtil auf große Errungenschaften der eigenen Vorfahren. In Wirklichkeit aber bedeuten diese Dinge nichts. Man verehrt und liebt seine Vorfahren nicht für die großen und allseits bekannten Tatsachen, sondern für ihre kleinen Spleens und Eigenheiten. In Victorias Haus gibt es keine Spinnmaschine – nicht einmal eine kleine, nicht einmal zur Dekoration -, aber an sorgfältig ausgesägten Holzplatten, die Landschaften oder Märchenszenarien zeigen, mangelt es nicht.

Maxwell Junior war alt geworden mit der Vorstellung, der Erbe zu sein. Er wuchs in seine Aufgaben nicht hinein, sondern war bereits ein fertiger Mann, der seine Tagesabläufe, seine Vorlieben und seine Lebensziele nicht mehr änderte, nachdem sein Vater verstorben war und ihm die Führung eines Konzerns überließ. Ein Mann von Mitte 40 gewöhnt sich nur schwer an eine neue Verantwortung.

Seine Zeit an der Spitze der Firma blieb ereignis- und glanzlos. Jedoch prägte er das Schicksal der Familie auf andere Weise.

Er änderte die Erbbestimmungen, die von Zachary Merriweather festgehalten worden waren, dahingehend, dass auch Mädchen als Erben berücksichtigt werden konnten. Die Satzung des Erbvertrags in Sachen des Familienfideikommis, welche auf die übliche Weise des 18. Jahrhunderts formuliert worden war, sah dies nicht vor und es galt nicht nur als absolut unüblich, sondern auch als respektlos dem großen Vorfahr gegenüber, dessen Entscheidungen zu revidieren.

Maxwell Junior unternahm diesen sehr radikalen Schnitt in der Familiengeschichte jedoch nicht nur aus Gründen der Genugtuung gegen sein eigenes und das Schicksal seiner ältesten Schwester, sondern auch weil er – wie viele seiner männlichen Vor- und Nachfahren – nur in der Lage gewesen war, eine Tochter zu zeugen. Er wollte also vor allem sicher gehen, dass sie den Besitz erbte und nicht irgendein ihm unbekannter Cousin dritten Grades. Ob sein Vorgehen juristisch korrekt war – wenn es schon ethisch-moralisch fragwürdig erschien -, beschäftigte einige Rechtsanwälte und die Mitglieder des ein oder anderen Privatclubs in Manchester und Umgebung. Jedoch unternahm niemand je einen rechtlichen Schritt gegen die Verfügung und so wurde Maxwells Bestimmung in die Praxis umgesetzt.

 

Als Barbara Merriweather im Januar 1872 und im Alter von fast 30 Jahren die Firma, die Verwaltung des Landsitzes und des Vermögens übernahm, stellte sie eine Kuriosität im England ihrer Zeit dar. Eine unverheiratete Frau als Oberhaupt einer Familiendynastie und Geschäftsfrau sorgte für Erstaunen, Anfeindungen und Misstrauen. Sie selbst sagte: „Queen Elizabeth hat unter den gleichen Voraussetzungen ein ganzes Land regiert und zum Ruhm geführt!“

Leider war Barbaras Zeit an der Spitze des Betriebes nicht so sehr von Erfolg gekrönt wie die Regentschaft der vorbildhaften Königin. Die Wirtschaftskrise setzte ein und ließ die Preise auf Grund des Überangebots an Baumwollprodukten einbrechen. Gleichzeitig rächte sich das Desinteresse von Barbaras Vaters. Dringende, kostenintensive Investitionen waren aufgeschoben worden. Die Maschinen waren veraltet, zu langsam, zerschlissen und zu gefährlich. Über kurz oder lang mussten Unsummen Kapital in die Fabriken gesteckt werden – und das, obwohl die Zukunft der Textilindustrie in England derzeit ziemlich düster aussah.

Barbara investiert. Sie löste angespartes Kapital auf, verkaufte, was zu verkaufen war und steckte das Geld in die Renovierung ihrer Fabrikhallen. Sie war allerdings nicht erfahren genug, um abschätzen zu können, ob und wann eine Investition Sinn ergab. Da sie im Überfluss aufgewachsen war, wusste sie nicht, wie man Risiken kalkulierte und so steckte sie Geld in marode Betriebsstätten, deren Rettung von vorne herein ausgeschlossen gewesen war. Sie hätte das Geld genauso gut verbrennen können, sagte man damals, als man sie für ihre Maßnahmen belächelte.

Am Ende dieser unrühmlichen Fehlplanungen stand die Schließung aller Fabriken bis auf einer und der beinahe Ruin Barbaras. Arbeiter mussten entlassen werden. Die Arbeitersiedlungen, die einst von der Familie Merriweather geplant und errichtet worden waren, verkamen erst zu Slums, dann zu Geisterstädten.

Im Frühjahr 1873 schließlich beschloss sie den Landsitz der Familie zu verkaufen und in das Stadthaus nach Manchester zu ziehen, das zuvor nur als Büro und Verwaltungszentrale verwendet wurde. Sie wolle den Menschen nahe sein, die für sie arbeiteten, soll sie argumentiert haben und meinte damit sicher nicht, dass sie sich mit ihnen gemein machen wollte. Viel mehr wollte sie ihren Sekretären, Beratern und Anwälten auf die Finger schauen, denn sie war eine misstrauische und eigenwillige Person, die sich von Fehlschlägen nicht aus der Bahn werfen ließ.

Die Wirtschaftskrise sorgte in jenen Tagen für Aufstände und teilweise bürgerkriegsähnliche Zustände in den Quartieren der Arbeiter. Auch begannen die Iren dem schwelenden Wunsch nach einer Loslösung von Großbritannien deutlicheren Ausdruck zu verleihen.

Barbara, die in und um Manchester eine große Menge irischer Immigranten beschäftigte, fürchtete, dass, im Falle einer Schließung der Fabrik, der Zorn sich auf ihrer Person entladen würde. Sie setzte alles daran, die Arbeitsplätze zu erhalten und den Betrieb fortzuführen. In den folgenden Jahren verbuchte sie erhebliche Verluste und verschuldete sich so tief, dass ihr nur eine Möglichkeit blieb, das Unternehmen zu retten.

Sie heiratete Samuel Cartwright, den Sohn eines Bankiers, der sowohl Geld, als auch wirtschaftlichen Sachverstand in die Ehe einbrachte. Er war wesentlich jünger als Barbara und allein das kam in der damaligen Zeit einem erneuten Skandal gleich.

Was Cartwright bewog, diese Ehe einzugehen, ist nicht ganz geklärt. Vielleicht suchte er die Herausforderung. Vielleicht drängten ihn seine Eltern, die Geschäftsfreunde der Familie Merriweather gewesen waren. Dass es sich nicht um eine Liebesheirat handelte, sondern um eine Zweckehe, war ein so offenes Geheimnis, dass es kaum die Bezeichnung „Geheimnis“ verdiente.

Etwa ein Jahr nach der Eheschließung – genauer am 10. Mai 1874 - wurde das erste und einzige Kind der Verbindung geboren. Arthur Cartwright war weniger das Produkt echter Zuneigung, als der Pflichterfüllung. Als sich herausstellte, dass Arthur ein lebhaftes und gesundes Kind sein würde, dachten Barbara und Samuel keine Sekunde mehr daran, womöglich noch ein zweites Kind zu bekommen. – Und die Gefahr einer ungeplanten Schwangerschaft schafften die beiden aus der Welt, indem sie auf getrennten Schlaf-, Wohn- und Arbeitsbereichen bestanden.

Mit Samuels Geld gelang es indes, die Fabrik und die Garnproduktion aufrecht zu erhalten. Für diese Leistung verlieh Königin Victoria Samuel Cartwright im Jahr 1878 den Titel eines Baronets. Fortan nannte er sich Sir Samuel Cartwright, 1st Baronet of Cromford und legte größten Wert darauf, auch von anderen so genannt zu werden.

Im Sommer 1879 starb Barbara Cartwright an einer Krankheit, welche die Ärzte in Ermangelung einer richtigen Diagnose als „Gehirnfieber“ bezeichneten. Sie war in den letzten Monaten vor ihrem Tod sehr schwach geworden und hatte mit neurologischen Ausfällen zu kämpfen. Es gab keine Therapie, die ihr auch nur Erleichterung verschaffen konnte und so verstarb sie allein und unter großen Schmerzen.

Arthur war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt und erlebte den Tod seiner Mutter als traumatisch. Vom Beginn seines Lebens an, war sie seine einzige Bezugsperson gewesen. Seinen Vater sah er selten und Liebe oder zumindest Zuwendung konnte er von ihm nicht erwarten.

„Ich bin als Waisenkind aufgewachsen!“, erklärte Arthur Cartwright später immer wieder. Die Beziehung zu seinem Vater kann man ohne Umschweife als schwer gestört bezeichnen. Kurz nach dem Tod seiner Mutter wurde Arthur in einem Internat untergebracht, wo er eine vortreffliche Ausbildung, jedoch keinerlei zwischenmenschliche Vertrautheit genoss. Dabei handelte es sich bei ihm um einen sehr sensiblen und harmoniebedürftigen Charakter.

Im Alter von 13 Jahren wurde Arthur dann am Eton-College einschult. Damit gewährleistete Samuel seinem Sohn weiterhin die bestmögliche Erziehung und verfrachtete ihn gleichzeitig an einen Ort, der weit genug von Manchester entfernt lag, sodass der Junge ihm nicht durch Besuche auf die Nerven fallen konnte.

Im Sommer 1892 kehrte Arthur nach Manchester zurück und Samuel glaubte nun, einen geschliffenen, erwachsenen und reifen Mann vor sich zu haben, der würdig und in der Lage sein würde, sein Werk und seinen Titel weiterzuführen. Doch Arthur machte schnell und heftig deutlich, wie sehr er seinen Vater verabscheute.

„Nichts hat er geleistet“, sagte er einmal, „Sein Geld hat den Betrieb gerettet. Mit Geld kann jeder alles retten! In seiner Familie hat nie jemand etwas zum Fortschritt der Wirtschaft dieses Landes beigetragen. Sie haben immer nur von der Arbeit anderer profitiert wie Parasiten.“ Später revidierte Arthur diese Aussage und schob seinen Ausbruch und seine blinde Aversion gegen seinen Vater als eine jugendliche Phase der Rebellion, des Übermuts und der Herausforderung. „Ein etwas dramatisches Gemüt lag den Merriweathers schon immer im Blut“, entschuldigte er sich.

Arthurs aufmüpfige Phase resultierte schließlich in einer übereilten Ehe mit Eireann Brodie, der Tochter des Kammerdieners seines Vaters. Samuel erlaubte zwar, dass das junge Paar in seinem Haus in Manchester lebte, missbilligte die mittellose Katholikin jedoch mit jeder Faser seines Körpers.

Eireann gebar bereits innerhalb des ersten Jahres nach der Hochzeit eine Tochter, die sie Siobhan nannte. Vier Tage nach der Geburt verstarb Eireann an einer Infektion. Ihre letzten Wünsche waren, dass Siobhan als Katholikin erzogen werden und Arthur dieses Haus und den Einfluss seines Vaters verlassen sollte und weil man einer sterbenden Mutter derartige Wünsche nicht abschlagen durfte, setzte Arthur sie in die Tat um. Er wollte seiner Tochter ein besserer Vater sein, als sein Vater es für ihn gewesen war und er wollte, dass Siobhan mit einer Mutter aufwuchs.

Deshalb heiratete er nur wenige Wochen nach Eireanns Tod Rosamunde Clearwater, die Tochter eines Zahnarztes. Die erste gemeinsame Tochter war ein Siebenmonatskind. Zu Ehren der Königin, die die Familie einst geadelt hatte, nannte Arthur das Mädchen Victoria.

Ende des Jahres 1895 verließ die junge Familie Manchester, das finstere Stadthaus mit der vergifteten Atmosphäre und zog in ein Herrenhaus im londoner Stadtteil Kensington. Es war Rosamundes Wunsch gewesen, in die Hauptstadt zu ziehen, weil sie es für eine Familie ihres Standes für angemessen hielt, dort ein Haus zu besitzen.

Am 29. September 1899 verstarb Samuel Cartwright an einem Schlaganfall, ohne dass Arthur ihn je wieder gesehen hatte und ohne dass er seine Beerdigung besuchte.

Ein Jahr später, im Herbst des Jahres 1900, unternahm Arthur den finalen Schlag seiner Rache gegen seinen Vater. Er verkaufte die Anteile an der Fabrik und allen anderen Investitionen, die Samuel je getätigt hatte, sowie das Anwesen in Manchester, um fortan als londoner Bürger und Privatmann zu leben, sein Geld in einem Fond anzulegen und seine mehr als ausgedehnte Freizeit mit Tee- und Abendgesellschaften, sowie Jagdausflügen und Tanzveranstaltungen zu verbringen. Er förderte Künstler, kulturelle Einrichtungen und Veranstaltungen und erkaufte sich so schnell eine Stellung und einen Namen in der höheren Gesellschaft Londons.

 

 

Dies alles sei der eigentlichen Geschichte vorangestellt, die zu erzählen mich Victoria ermutigt hat. So möchte ich Sie, verehrte Leser, mit diesem Hintergrundwissen zu einer Abendgesellschaft im Sommer des Jahres 1913 entführen.

Arthur Cartwrights Einladungen waren begehrt und er selbst stand in höchstem Ansehen auf Grund seines Engagements und seines vortrefflichen Geschmacks in allen Bereichen der Kunst. Er entdeckte Schriftsteller, Schauspieler, Musiker und Maler, bevor sie berühmt wurden und meistens wurden sie durch ihn berühmt. Theaterintendanten, Galleristen und Verlagshäuser verließen sich auf sein Urteil und ihre Repräsentanten erschienen stets mit großem Interesse bei Cartwrights kleinen Parties, wenn angekündigt war, dass der große Förderer mal wieder eine Neuentdeckung vorzustellen hatte. In Cartwrights Salon wurden Karrieren geboren, so sagte man.

An jenem Abend – Victoria versicherte mir, dass es der 19. Juli gewesen sein muss, dieses Datum würde sie nie vergessen – hatte Arthur Cartwright angekündigt eine sensationelle, junge Opernsängerin vorstellen zu wollen, der eine große Karriere beschieden sein müsse. Er hatte sie zwei Wochen zuvor in einem kleinen, abseitigen Theater ein unbedeutendes Stück singen hören und hatte ohne lange nachzudenken, seine Karte in ihre Umkleide bringen lassen. Am nächsten Tag war Violet Brighman bei Arthur persönlich vorstellig geworden. Sie tranken Tee, besprachen sich, fanden sich sympathisch und arrangierten diese kleine Festivität der aufstrebenden Sängerin zu Ehren.

Und da war sie nun, Violet Brighman, ausgenommen schlank und schön für eine Opernsängerin. Sie trug ein schlichtes Kleid, um sich mit aufgesetzter Bescheidenheit zu schmücken. Oh, sie hatte Kalkül und Charme. Violet Brighman sah aus wie Julia Capulet und hatte Ambitionen wie Lady McBeth. Andere Menschen waren für sie nichts weiter als Publikum und sie wusste, welche Rollen gut ankamen. Eine Künstlerin, die sich um ein Dauerarrangement bewarb oder zumindest um ein Sponsoring, musste dem entsprechen, was die Sponsoren erwarteten. Ein aufgedonnerter, exaltierter Paradiesvogel gewann keine Gönner, aber das bescheiden gekleidete Mädchen mit der außergewöhnlichen Gottesgabe einer herausragenden Stimme, rührte die Herzen dieser Herren, denen ihr Leben so langweilig sein musste, dass sie ihre Zeit in einem Opernhaus totschlugen. Diese Leute wollten betrogen werden. Sie bezahlten Geld dafür.

Also sorgte Violet dafür, dass sie an jenem Abend das am wenigsten aufwändige Kleid, das dezenteste Makeup und den zurückhaltendesten Schmuck trug. Ihr blondes Haar jedoch verriet, dass auch sie nicht von der Eitelkeit jener Tage unberührt geblieben war: Es war für den heutigen Anlass gebleicht und in Locken gelegt worden. Die Damen, die Violets Maskerade durchblickten, rümpften die Nase über diese neuartige Form der Aufgesetztheit. Wo kam man denn hin, wenn man nicht einmal mehr der Bescheidenheit trauen konnte?

Den Herren entgingen derartige Zwischentöne und sie konzentrierten sich auf den gesanglichen Vortrag, den Violet zur Klavierbegleitung zum Besten gab. Nun, vielleicht ließen sie sich auf ein wenig von ihrem Lächeln, ihren tadellosen Zähnen und ihrer leichthin dargebotenen Koketterie ablenken. Doch der Effekt war in beiden Fällen derselbe: Sie waren hin und weg. Eine solche Frau… Oh, man hätte eine solche Frau sicher niemals heiraten können, aber träumen würde man ja wohl noch dürfen…

Wie mussten solche Blicke und solche Gedanken, die – wenn sie schon zu so früher Stunde und in Gesellschaft der Damen nicht laut ausgesprochen wurden - aber doch ganz deutlich in den Gesichter der musikbegeisterten Herren zu lesen standen, auf den Ehemann der Sängerin wirken?

Benjamin Brighman, der achtzehn Monate zuvor Violet geehelicht hatte, begleitete seine Frau für gewöhnlich zu gesellschaftlichen Anlässen, weil es sich so gehörte und weil es Violet von ihm verlangte: „Ich bin eine Person von öffentlichem Interesse. Ich muss mich auf solchen Veranstaltungen sehen lassen. Wenn ich das nicht tue, werden sie eine andere Sängerin engagieren. Und wenn ich dort ohne meinen Mann auftauche, na dann werden sie anfangen zu reden.“

Das sah Benjamin natürlich ein und er gestand sich ein, dass es schrecklichere Zeitvertreibe gab, als auf einer Party Champagner zu schlürfen und sich Komplimente über seine Frau anhören zu müssen. Natürlich waren es geheuchelte Komplimente, aber damit konnte er umgehen, indem er Dankbarkeit in gleichem Maße zurückheuchelte. So funktionierten diese Gesellschaften, dachte Benjamin und arrangierte sich damit, dass niemand ihn tatsächlich um seine Frau beneidete und ihm jeder durch die Blume zu verstehen gab, was er doch für ein vollständiger Narr gewesen war, um die Hand dieser Person anzuhalten.

„Ihre Frau wickelt sie alle um den kleinen Finger“, sagten sie. Oder: „Sie müssen wirklich glücklich sein, diese Vorstellung jeden Tag geboten zu bekommen.“ Oder: „Ein reizendes Wesen, ihre Violet. Man trifft nicht oft Frauen von ihrem Temperament.“

Benjamin lächelte dann und erwiderte etwas in der Art: „Ein Leben mit ihr wird niemals langweilig.“ Oder: „Ich bin froh, dass sie die ganze Aufmerksamkeit bekommt und ich mich unbemerkt dem Angebot an Knabbereien hier widmen kann.“

Er wusste natürlich, dass sie ihn für einen Weichling hielten, der seine Frau nicht zu zügeln verstand, denn er wusste sehr genau, wie englischer Spott funktionierte. Dieser ging einher mit überspitzter Höflichkeit und konnte im Falle eines offenen Streits nicht eindeutig nachgewiesen werden. Doch Benjamin war ein Mann, der es außerdem verstand, Dinge auf sich beruhen zu lassen und den Beleidigungen – offen ausgesprochene, wie versteckte – nicht trafen. Seiner Meinung nach, nahm man einem gehässigen Menschen alle Angriffsfläche, wenn man über seine Gehässigkeiten hinwegging wie über eine nebensächliche Bemerkung über das Wetter.

 

Über die genaueren Umstände, die zur Hochzeit zwischen Benjamin Brighman und Violet Mason geführt hatten, unterhielt man sich nur hinter vorgehaltener Hand, doch es schien allgemein die Annahme vorherrschend zu sein, dass Violet die Eheschließlung durch die Drohung mit einer pikanten Geschichte an die Presse zu gehen, bei Benjamins Vater erzwungen hatte. Diese Geschichte hatte verschiedene Varianten: Die einen meinten, sie hätte eine Affäre mit Benjamin gehabt, ohne dass dieser die Absicht gehabt hatte, sie zu heiraten. Die anderen sagten, sie hätte eine Affäre mit dem alten Lord Brighman gehabt und nutzte diesen Umstand für lukrative Erpressungen. Wieder andere meinten, sie sei hinter ein dunkles Geheimnis gekommen, das über der alten Adelsfamilie schwebte und verlangte die Hand des jüngsten Sohnes als Schweigepfand.

Die Wahrheit war wesentlich banaler und weit weniger abenteuerlich: Benjamin Brighman hatte sich Hals über Kopf in die Sängerin verliebt und nicht nachgedacht, als er ihr den Antrag machte. Nun, nachgedacht hatte er wohl schon, doch er war zu einer überstürzten, emotionalen Entscheidung gekommen, die jedem Engländer nur zum Nachteil gereichen musste. Zum Zeitpunkt dieser Abendgesellschaft – nur eineinhalb Jahre nach der Hochzeit – war er zu dieser Erkenntnis bereits gekommen.

Benjamin, der von eher ruhigem und ausgeglichenem Gemüte war, neigte zwar zu Sentimentalitäten, jedoch nicht zu Selbstmitleid. Seine Situation musste er akzeptieren und er war sich sicher, dass es weit schlimmere Schicksale gab, als mit einer wunderschönen Frau von so hervorragendem Talent verheiratet zu sein. Er argwöhnte, ob sein zurückhaltendes Verhalten vielleicht nur Problemen geschuldet war, sich an das Leben als Ehemann zu gewöhnen und war sich fast sicher, eines Tages zum Gefühl der leichtfüßigen Verliebtheit zurückzufinden. Denn es war keinesfalls so, dass er Violet abstoßend fand. Viel mehr hatte ihn ein Gefühl der Furcht ergriffen. Furcht vor dem Unbekannten, vor der Wildheit, vor dem Erwachsen-sein. Dieses neue Leben hatte ihn überfahren, überrollt, noch ehe er es hatte kommen sehen, noch ehe er über eine geeignete Vorbereitung hatte nachdenken können. Die ersten Monate einer Ehe gingen immer einher mit einer latenten Überforderung und einer gewaltigen Umstellung im Lebensstil und Benjamin brauchte Zeit, mit derartig tiergreifenden Veränderungen fertig zu werden. Jetzt musste er sich dies eingestehen, nachdem das verwirrende Hochgefühl der ersten Verliebtheit dem Schock eines neu eingerichteten Alltags gewichen war.

Benjamins Familie stammte aus dem Süden Yorkshires. Er war der jüngste Sohn einer recht alten Familie von niederem Landadel. Aufgewachsen war er in dem Gutshof, der zugleich der Familiensitz war. Als jüngstes Kind genoss er die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner allzeit besorgten Mutter. Sie erzog ihn zur Weichheit, wie der Vater sie öfters rügte. Doch wie es das Schicksal des Jüngsten in derartigen Kreisen ist, so erweckte er nur selten das erstgemeinte Interesse des Vaters.

Benjamin war noch ein Kind, als seine ältesten Brüder heirateten und selbst Kinder zeugten und seine ältere Schwester sich dafür entschied, in ein Kloster einzutreten. Kurz gesagt: In der Erbfolge der Brighmans spielte Benjamin keine Rolle. Diese Entrechtung ging jedoch gleichzeitig mit einer Befreiung von den strengen Pflichten eines Erbfolgers einher. Benjamin genoss Freiheiten, die sich seine Geschwister nicht erlauben durften. Dazu gehörte nicht zuletzt, sein Umzug nach London, sein Wunsch dort im Verlagswesen zu arbeiten und eine Frau mit zweifelhaftem Ruf zu ehelichen, die nicht bereit war, ihre Karriere einem Familienleben zu opfern.

Wenn es nach Lord Brighman gegangen wäre, so wäre Benjamin in die Armee eingetreten, wie es sich noch immer für einen jüngeren Sohn gehört hatte. Einem Jungen seines Standes stand eine Offizierslaufbahn offen und gerade im Hinblick auf die derzeitigen Entwicklungen auf dem Kontinent winkten glänzende Möglichkeiten, sich einen Namen zu machen. Aber der alternde Lord musste sich dem Willen seines jüngsten Sohnes beugen, der eine Karriere in der Armee kategorisch ablehnte und genauso stur wie eigenwillig argumentierte. Und so ließ der Vater seinen Sohn ziehen, eine Arbeit bei einer mittelgroßen Verlagsgesellschaft mit angeschlossener Druckerei in London annehmen und das Leben eines modernen Städters führen, das ein alter Landedelmann niemals würde nachvollziehen können.

                                                  

Und hier war er nun. Benjamin hielt sich an seinem Champagnerglas fest und sich selbst, so gut es ging, im Hintergrund. Dies war die Bühne seiner Frau und er hatte sich nie zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit hingezogen gefühlt.

Nachdem sich das Publikum, das zuvor andächtig im Halbkreis um das Klavier und die Sängerin herum gestanden hatte, sich in kleinere Grüppchen aufgelöst und im Salon verteilt hatte, streifte Benjamin ein wenig verloren durch den Raum auf der Suche nach einer Beschäftigung. Er kannte niemanden außer seiner Frau auf der Veranstaltung näher und niemand kannte ihn abseits all der abstrusen Gerüchte, sodass keiner der anderen Gäste sich seiner erbarmte und ihn in ein Gespräch verwickelte.

Auf dem Weg von einem Buffettisch zum nächsten schnappte Benjamin einige Gesprächsfetzen auf, die ihn hoffen ließen, auch weiterhin in Ruhe gelassen zu werden. Er tat sich lieber gütlich am kunstvoll dekorierten Räucherlachs und der üppigen Fruchtplatte, auf der exotische Obstsorten in mundgerechten Happen angeboten wurden. Er probierte außerdem den ein oder anderen französischen Käse mit Brot, bis er glaubte, sich zurückhalten zu müssen, um nicht als gierig oder verfressen zu gelten.

„Was halten Sie von den Entwicklungen auf dem Balkan?“

„…und deshalb glaube ich, dass es jetzt an der Zeit ist, in Rüstungsanleihen zu investieren…“

„Wenn Sie mich fragen sind diese Scharmützel nichts weiter als ein Vorgeplänkel vor noch größeren Unruhen…“

„Die Brüder da unter kennen doch nichts anderes als Gewalt….“

„…zu viele verschiedenen Volksgruppen auf engstem Raum. Das ist das eigentliche Problem.“

„Österreich sollte anfangen, die Interessen der Serben ernst zunehmen, oder sich ganz aus diesem Pulverfass zurückziehen.“

Oh, die Engländer wissen es wie immer am besten, dachte Benjamin, hielt sich jedoch mit Kommentaren zurück. Gab es denn kein anderes Thema als diesen elendigen Krieg auf dem Balkan? Seit Monaten wechselten sich Friedensverträge mit Kriegserklärungen ab, wurden Grenzen neu gezogen, Nationen neu gegründet und niemand fragte sich, was das alles für die Menschen bedeutete, die auf dieser unglückseligen Halbinsel lebten. Eitelkeiten, dachte Benjamin. Es geht um nichts anderes als Eitelkeiten!

Und so wandte er sich einer anderen kleinen Gesprächsgruppe zu, aus der er soeben folgendes Gesprächsfragment aufgeschnappt hatte: „Und das ist, was diese Frauen so gefährlich macht! Sie fordern etwas, das unserer Demokratie mehr schadet als nutzt.“

Es war die sonore Stimme eines Gentlemans, der es gewohnt war, Reden in großer Lautstärke und getragenem Duktus vorzutragen. Er musste entweder Parlamentarier, Rechtsanwalt oder Priester sein, dachte Benjamin, noch ehe er den Besitzer dieses durchdringenden Basses mustern konnte.

Es stellte sich heraus, dass er mit dem Parlamentarier gar nicht so weit daneben gegriffen hatte. Gerald Whitney, den Benjamin sofort an seiner fettfeisten Erscheinung erkannte, saß für die Liberalen im Verwaltungsrat des Bezirks Kensington. Es war unmöglich, ihn nicht zu kennen. Die Zeitungen liebten sein Gesicht und er liebte die Presse als Mittel, um seine Ansichten unter das Volk zu bringen.

„Sollen wirklich die ungebildeten Fabrikarbeiterinnen die Politik bestimmen?“, sagte er gerade, „Sollen wirklich ihre Stimmen so viel wert sein wie die Stimme eines Professors oder Unternehmers? Wenn wir diesen Frauen das Wahlrecht geben, so öffnen wir damit Tür und Tor für Anarchismus und Sozialismus.“

Um den kleinen, rundlichen Mann, der sein Plädoyer voller Überzeugung und mit geradezu aggressivem Stoizismus formulierte, standen fünf weitere Personen: Vier Frauen und ein Mann. Letzterer, der in seinem altmodischen Anzug wie ein Fossil des vergangenen Jahrhunderts aussah, nickte steif und ernst bei jeder wohlgesetzten Pause, die Whitney einlegte. Im Gegensatz zu dem rundlichen und rotbackigen Politiker wirkte er eher fahl, kränklich und ausgemergelt. Der graue Schnurrbart, der mit geometrischer Genauigkeit gestutzt worden war, ließ ihn älter aussehen, als er war. Sein Erscheinungsbild strahlte jene Art von Korrektheit aus, die ein aufrichtiger Engländer zwar zu schätzen wusste, im tiefsten Inneren aber im höchsten Maße unsympathisch, wenn nicht sogar verdächtig, fand.

Benjamin kannte ihn nicht und erfuhr erst später, dass es sich um einen ortsansässigen Richter handelte, der die Gesellschaften der Familie Cartwright nur deshalb besuchte, weil er insgeheim ein Auge auf die jüngste Tochter der Familie geworfen hatte. Nachdem im Gegenzug Victoria kein Auge für ihn hatte, darf davon ausgegangen werden, dass der Herr seinen Lebensabend als Junggeselle bestritten hat.

Jedenfalls fühlte er sich dazu berufen, Gerald Whitney in seiner Position zu bestätigen. Er sagte in einer seltsam rauen, brüchigen Stimme, die der des Politikers in jeder Hinsicht unähnlich war: „Ganz Recht. Die Frau braucht kein Wahlrecht, berührt doch die Politik nur ganz am Rande ihre Lebens- und Aufgabenbereiche. Es wäre ungerecht, ihr eine gleichberechtigte Stimme zu geben, wo doch die Männer in sehr viel höherem Maße von Politik und Wirtschaft betroffen sind. Im Übrigen ist es auch völlig unnötig. Sobald eine Frau heiratet, wird sie ohnehin den Ansichten ihres Mannes folgen. Somit ist die Stimme des Mannes als Gemeinschaftsstimme der Partnerschaft zu betrachten.“

Benjamin blieb etwas abseits stehen und wartete, was eine der Frauen darauf antworten würde. Von den vier Frauen waren zwei jung und zwei älter. Eine der älteren hob zu einem Statement an. Da sie neben Gerald Whitney stand, argwöhnte Benjamin, dass es sich um dessen Frau handeln musste. Die beiden ähnelten sich in Körperform und Gesichtsfarbe – und wie sich nun herausstellte auch in den Ansichten: „So ist es. Frauen sollten sich nicht für Politik interessieren. Sie sind dafür einfach nicht geschaffen und es schickt sich nicht, schreiend und randalierend durch die Straßen zu ziehen. Welcher Mann will schon solch eine Kratzbürste heiraten? Oder wie sehen Sie das Victoria?“

Victoria antwortete pflichtbewusst und in bestem Smalltalk-Tonfall: „Ich interessiere mich kein bisschen für Politik. Darüber müssen Sie schon mit Siobhan sprechen.“

Fünf Blicke richteten sich augenblicklich auf die zweite junge Dame, welche in der Gruppe stand und bisher noch kein Wort gesagt hatte. Sie sagte auch jetzt nichts und nippte nur an ihrem Champagner-Glas. Es bedurfte einer neuerlichen Aufforderung der Politikergattin: „Siobhan, Sie interessieren sich für Politik? Sagen Sie nur nicht, sie sympathisieren mit diesen Suffragetten?“

Bevor Siobhan etwas erwidern konnte, fiel ihr die zweite ältere Frau ins Wort und ließ süffisant folgende Spitze fallen: „Oh, sie sympathisiert mit allen möglichen Gruppierungen. Nur nicht mit ihrer Familie.“

Man konnte förmlich spüren, wie die umstehenden Personen die Luft zwischen den Zähnen einsogen. War man hier soeben Zeuge eines halboffen ausgetragenen Familienzwistes geworden?

Rosamunde Cartwright war dafür bekannt, sich häufig im Ton zu vergreifen und unangemessene Aussagen zu tätigen. Deshalb war sie so beliebt. Mit ihr konnte man immer eine Überraschung erleben und neben ihr sahen die eigenen Manieren immer tadellos aus…

Siobhan blieb kühl und wartete sogar noch die Gemeinheit ihrer Schwester ab, ehe sie sich verteidigte.

Victoria sagte: „Kein Wunder, wenn du ins Gerede kommst. Wenn du dich statt fürs Heiraten nur für… wofür interessierst du dich gerade?“

„Es ist besser, durch so etwas ins Gerede zu kommen, als dadurch, dass man jedem graumelierten Hagestolz, der mit Geldscheinen winkt, schöne Augen macht“, sagte Siobhan und die Luft, die zuvor eingesogen worden war, stockte einen Augenblick in den Kehlen der Zuhörer, die daraufhin einen Hustenreiz unterdrücken mussten.

„Was willst du damit sagen?“, zischte Victoria schnell, bevor jemand anderes das Thema wechseln konnte.

Siobhan blickte sich verstohlen um, setzte ihr leicht boshaftes Grinsen auf und flüsterte ihren Zuhörern zu: „Dass ich auf dem dreckigen Kleid einer Fabrikarbeiterin mehr Ehre und Würde entdecken kann als in den Referenzen all dieser Leute hier zusammen.“

Benjamin musste sich anstrengen, um Siobhans Worte zu verstehen. Fast hätte er sich dabei erwischt, sich vorzubeugen, um die Gruppe aktiv zu belauschen. Ein wenig fühlte er sich beleidigt durch die junge Frau und ihre pauschale Missgunst, doch dann erinnerte er sich daran, dass ihre Aussage überhaupt nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war und er das, was er gehört hatte, mit Diskretion – auch vor dem eigenen Urteil – behandeln musste. So betrachtet, amüsierte es ihn fast, wie zwei punktgenau platzierte Sätze, eine zuvor so einige und harmonische Gruppe sprengen konnten.

Inzwischen hatte Benjamin begriffen, dass es sich bei den beiden jungen Frauen um Victoria und Siobhan Cartwright – die beiden Töchter des Hauses - handeln musste. Sie unterhielten sich zusammen mit ihrer Mutter Lady Rosamunde Cartwright mit den höchstgestellten Gästen der Gesellschaft und sollten wohl eigentlich für ein fröhliches, jugendliches, frisches Ambiente sorgen.

Dieses hatte Siobhan gründlich verdorben und nun waren Victoria und Lady Cartwright um Schadensbegrenzung bemüht. Gleichzeitig versuchten sie selbst zu verdauen, was eben geschehen war. Im Gesicht der Lady spiegelten sich Wut und der innere Kampf dieselbe zu zügeln. Victoria dagegen schwankte zwischen Trotz, Entsetzen und Scham. Es gelang ihr nicht, ihre Emotionen zu verbergen, wagte es jedoch nicht, ihnen Ausdruck zu verleihen.

Benjamins Eindruck der beiden Schwestern war ambivalent. Er musste sich eingestehen, dass er ihre Streiterei amüsant fand – aus Sicht eines unbeteiligten Zuschauers zumindest. Andererseits war ihm natürlich bewusst, dass hier eine Grenze überschritten worden war und Siobhan sich gegenüber Victoria und den anderen Gästen mehr als ungebührlich verhalten hatte. Ein wenig Mitleid mit Victoria regte sich in ihm.

Die beiden Schwestern, so ungleich sie erschienen, hingen einander in Sachen Schönheit in nichts nach. Während Victoria ihrer Mutter sehr ähnlich sah, wenngleich wesentlich schlanker noch, aber doch mit dem Ansatz einer fraulichen Figur, war Siobhan hochgewachsen und so dünn, dass das grüne Kleid, das sie trug, an ihr herabhing wie ein nasser Sack. Es war ohne Zweifel nicht an ihre Maße angepasst worden und einige Zentimeter zu weit. Ihre knabenhafte Figur schien die junge Frau jedoch nicht zu stören, denn sie weigerte sich offenbar, die ein oder andere unzureichend ausgestattete Stelle ihres Körpers mit den üblichen Hilfsmitteln zu unterfüttern oder auszustopfen.

Victoria hatte dergleichen nicht nötig. Ihr Körper war in jeder Hinsicht üppig, was nicht zu verwechseln ist mit „dick“ oder „unförmig“. Sie war kleiner als Siobhan, besaß dafür aber eine Figur, die sich bei Männern größerer Beliebtheit erfreute. Wie bei ihrer Mutter traten Victorias Augen etwas zu weit hervor und wirkten sehr rund und groß, als würde sie sie permanent in Erstaunen oder Schrecken aufreißen. Ihre Lippen waren voll und so weiblich wie ein Mund nur sein konnte.

Diese Sinnlichkeit fehlte in Siobhans eher spitzem Gesicht. Ihre Augen blickten eher abgründig – oder zumindest aufreizend - als scheu. Ihr Mund umspielte ein abfälliges Lächeln, das all jenen galt, die sie innerlich verabscheute. Oh, aber sie wusste sich zu bewegen. Sie glitt elegant und agierte anmutig wie eine Tänzerin auf dem Parkett. Dagegen wiederum wirkte Victoria plump und ungeschickt.

Man musste die beiden Mädchen nicht persönlich kennen, um zu verstehen, dass sie sich fortwährend in einem harten und erbarmungslosen Konkurrenzkampf befanden, den Victoria verbissen und Siobhan leichtfertig und unüberlegt ausfocht.

 

Elfengleich war Siobhan hinfort geschwebt und hatte die fünf anderen stehen lassen, gab ihnen keine Chance mehr etwas zu erwidern und hielt es auch selbst nicht für nötig ihre Aussagen zu relativieren. Benjamin blickte ihr nach und… lächelte. Unwillkürlich und ohne eine Rechtfertigung dafür zu finden. Es gehörte sich nicht, in seiner Position und in dieser Situation zu lächeln und damit Partei zu ergreifen. Es gehörte sich nicht, als verheirateter Mann, einer unverheirateten Frau nachzulächeln. Und doch konnte er es nicht unterdrücken. Er merkte es ja noch nicht einmal.

Siobhan entschwand in Richtung der Terrasse, wo sich um diese Zeit niemand mehr aufhielt. Alle Gäste tummelten sich entweder um das Büffet herum oder bewunderten die hochwertige und geschmackvolle Einrichtung des Salons und des restlichen Hauses, das sie von hier aus betreten oder sehen konnten. Noch war es zu früh für die Herren, sich ins Raucherzimmer zurückzuziehen, aber es konnte nicht mehr lange dauern. Im Nebenzimmer des großen Salons wurden stärkere Alkoholika und Zigarren gereicht. Außerdem bestand die Möglichkeit der einen oder anderen Partie Whist beizuwohnen.

Benjamin verabscheute derartige Gesellschaft und Gespräche über Geschäfte, Investitionen, die Qualität einer bestimmten Cognac-Sorte, Pferderennen oder Politik. Sie waren mit ein Grund dafür gewesen, warum er vom Landsitz seiner Familie in die Stadt gezogen war. Leider war er dadurch sozusagen vom Regen in die Traufe geraten. Nirgends hatte er in seinem bisherigen Leben eine derartige Oberflächlichkeit ausgemacht wie in Londons Oberschicht.

Er wusste, dass man ihn ansprechen würde, sich zu der Herrenrunde zu gesellen. Er war der Ehemann des Ehrengastes und selbst, wenn man ihn in der großen Gesellschaft sich selbst überließ, so mussten die Herren ihn doch berücksichtigen, wenn sie sich zum Rauchen, Trinken und Spielen zurückzogen. Dies wollte Benjamin unbedingt vermeiden und spürte, wie seine Füße ihn langsam in Richtung der Terrasse trugen. Er schlenderte ebenso unwillkürlich wie er eben gelächelt hatte. Manchmal spielte ihm sein Körper derartige Streiche…

Siobhan stand an der Brüstung des Balkons und blickte hinunter in die Schatten, die die Blumenbeete im Hinterhof zu verschlucken begannen. Die Nacht brachte angenehme Frische in die Stadt und die aufziehende Dunkelheit dämpfte die allgegenwärtige Geschäftigkeit in den Straßen etwas. Zeit zum Durchatmen. Zeit, um in sich zu gehen. Zeit, um allein ein Glas Sekt zu genießen und den Tag und den Abend ausklingen zu lassen.

Siobhan zitterte. Vielleicht vor Kälte. Vielleicht vor Aufregung. Benjamin bemerkte es sofort, als er sich ihr näherte, denn die junge Frau versuchte mit aller Gewalt ihre körperlichen Reaktionen auf ihre innere Aufgewühltheit zu verbergen.

„Guten Abend“, sagte Benjamin so unverkrampft und unverbindlich wie möglich. „Mein Name ist Benjamin Brighman. Ich bin der Ehemann von Violet, um die sich da drin alles dreht heute Abend.“

„Ich wäre eine schlechte Gastgeberin, wenn ich das nicht wüsste“, erwiderte Siobhan ruhig und reserviert. Die Kontrolle über ihre Stimme hatte sie sogleich wieder gefunden. Ihre Hände zitterten weiter, sodass sie ihr Sektglas auf dem Steingeländer der Terrasse abstellte und die Arme vor der Brust kreuzte, um das lästige Anzeichen von Schwäche vor den Augen dieses Fremden zu verbergen.

„Sie sind nicht die Gastgeberin“, fiel Benjamin ihr ins Wort, „Wenn ich richtig informiert bin, hat Ihr Vater uns eingeladen und diese Feierlichkeit organisiert.“

„Na schön“, sagte Siobhan, „Dann wäre mein Vater ein schlechter Gastgeber, wenn er mich nicht zuvor über die zu erwartenden Gäste einweihen würde.“

Benjamin lächelte, über den genervten Vortrag der Tochter des Hauses. Es lag ein wenig Ironie darin, die Siobhans Abscheu gegen Formalitäten und eine korrekte Ausdrucksweise verriet.

Siobhan erwiderte das Lächeln und entspannte sich ein wenig. Dann streckte sie ihrem Gegenüber die Hand hin und stellte sich vor: „Ich bin Siobhan Cartwright. Ich hoffe der Abend ist nach Ihrem Geschmack. Ich nehme an, die Herren werden sich demnächst nach nebenan zurückziehen. Spielen Sie Karten, Mr. Brighman?“

„Äh… nein, eigentlich nicht“, antwortete der Angesprochene und es entstand eine unangenehme Pause des Schweigens.

Schließlich sagte Siobhan: „Ich auch nicht.“

„Nun, ich habe nicht vor, mich den anderen Herren anzuschließen. Meine Lungen sind außerdem ein wenig empfindlich, was allzu dichten Rauch angeht.“

„Man sagte uns, Sie seien ein wenig sonderbar.“ Siobhan legte entweder keinen Wert darauf oder bemerkte nicht, dass ihre Wortwahl und ihr Gesichtsausdruck durchaus als beleidigend empfunden werden konnten.

Benjamin empfand so und verspürte mit einem Mal den Wunsch, dieser jungen Dame auf elegante Weise ihr loses Mundwerk mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Er fragte: „Was hat man Ihnen denn über mich gesagt? Wollen wir doch mal sehen, wie verlässlich Ihre Quellen sind.“

Siobhans Mundwinkel zuckten nach oben und ihre Augen blitzten eine Millisekunde lang verschwörerisch auf. Es macht ihr Spaß, mit jemandem zu sprechen, der sich nicht vor den Dingen verstecken wollte, die über ihn gesagt wurden. Leider hatte sie geblufft und alles, was sie über Benjamin zu berichten wusste, war: „Ihr Vater besitzt ein paar Ländereien in der Nähe von Doncaster. Diese sind bereits seit mehreren hundert Jahren im Besitz der Familie Brighman und in dieser Zeit konnten sich Ihre Vorfahren ein beträchtliches Vermögen zusammen sparen.“

„Erzählen Sie mir jetzt, dass ich von der Arbeit anderer Leute profitiere?“, fragte Benjamin, der sich an Siobhans Aussagen über die schmutzigen Kleider von Fabrikarbeiterinnen erinnerte, „Glauben Sie mir, es ist vergeudete Zeit, meinem Vater dahingehend ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen. Und ich… ich werde von dem ganzen Vermögen ohnehin so gut wie nichts jemals abbekommen. Zumal man sich da gerne täuscht, was die Menge der verfügbaren Mittel angeht…“

Siobhan winkte ab. Sie interessierte sich nicht für Rechtfertigungen. „Ihre Mutter ist Deutsche“, setzte sie wieder an, „Sie haben zwei Brüder und eine Schwester, sind das jüngste Kind und das einzige Mitglied ihrer Familie, das nicht in Yorkshire lebt. Letztes Frühjahr haben Sie Miss Violet Mason geheiratet, die jetzt Mrs. Violet Brighman ist und sich offenbar mit diesem Namen schmücken will wie mit einer hübschen Brosche.“

Benjamin wollte fragen, was sie damit ausdrücken wollte, ließ es aber bleiben. Er wusste, was sie meinte: Violet hatte sich am heutigen Abend keine Minute mit ihrem Ehemann unterhalten, was als eindeutiges Zeichen gewertet werden musste, dass sie ihm nichts zu sagen hatte. Das Gerücht, dass sie ihn nur geheiratet hatte, um ihren gewöhnlichen Namen loszuwerden, wurde durch solch ein Verhalten natürlich nicht zerstreut.

Stattdessen entschied Benjamin sich, zum Angriff überzugehen: „Sie haben Ihre Schwester und Ihre Mutter eben ganz schön brüskiert.“

Sie blickten beide hinein in den von warmem Licht erhellten Salon und sahen dort neben dem Klavier Victoria, Lady Rosamunde, Mr. und Mrs. Whitney stehen. Sie unterhielten sich weiter, als sei nichts geschehen, blickten noch nicht einmal herüber zu Siobhan und Benjamin – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich über die beiden unterhielten.

Typisch englisch, dachte Benjamin wieder, nachdem er von Siobhan an die Herkunft seiner Mutter erinnert worden war. Vielleicht hatte er all seine unenglischen Eigenschaften und die Fähigkeit „Englischkeit“ auf den ersten Blick zu erkennen, von ihr geerbt. Einmal hatte seine Mutter Benjamin, der zu diesem Zeitpunkt vielleicht zehn Jahre alt gewesen sein mochte, mit in ihre alte Heimatstadt genommen und ihm ein Fest versprochen, das in der ganzen Stadt von allen Menschen gleichzeitig gefeiert wurde. So hatte er den Karneval in Köln miterlebt und danach die kühle, britische Zurückhaltung schätzen gelernt, auch wenn ihm selbst dieser Charakterzug nur bedingt zu Eigen war. Ehrlichkeit und Offenheit hatten sicher ihre Vorzüge, aber manchmal war Benjamin auch dankbar dafür, höflich behandelt zu werden, obwohl er wusste, dass sein Gegenüber ihn nicht ausstehen konnte. Manchmal… wenn ihm sein Gegenüber nichts bedeutete. Manchmal… aber nicht jetzt und nicht hier.

„Sie haben das Gespräch nur zur Hälfte mitbekommen und sind etwas voreilig mit ihrem Urteil über mich“, sagte Siobhan, ohne dass es so wirkte, als interessierte es sie, welches Urteil Benjamin oder irgendjemand über sie fällte. „Sie haben zuvor mich beleidigt und es scheint mir angemessen und im Geiste dieser Veranstaltung zu sein, diese feindliche Gesinnung zurückzugeben. Außerdem sind Sie – im Gegensatz zu mir - offensichtlich in erschreckendem Maße uninformiert.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Benjamin etwas erschrocken, weil der letzte Satz ihm trocken und spröde entgegen geschleudert wurde wie ein ernstgemeinter Vorwurf.

Doch Siobhan lächelte schon wieder ihr verschwörerisches Lächeln: „Rosamunde ist weder meine Mutter, noch ist Victoria meine Schwester.“

Das wusste Benjamin natürlich, hielt es aber für höflich und angemessen, die allseits bekannten, komplizierten, aber keines Falls anstößigen Familienverhältnisse der Cartwrights nicht auseinander zu sezieren, wenn er gerade sein erstes Gespräch mit einem Mitglied dieser Familie führte. Der Smalltalk auf einer Party war nicht für derlei Nachforschungen gedacht. Da aber Siobhan offenbar auf der Feststellung der korrekten Verhältnissen bestand, lenkte Benjamin ein und sagte: „Das weiß ich natürlich. Jedoch dachte ich, dass sie einander lieben wie es jede andere Familie auch tut. Immerhin teilen sie ein Dach, eine Geschichte, eine Vergangenheit. Die tatsächlich Abstammung ist da doch nur eine Marginalität.“ Für den letzten Satz wollte Benjamin sich auf die Zunge beißen, denn er implizierte auf eine sehr hintergründige, englische Art und Weise, dass Siobhans Mutter irgendwie Schande über die Familie gebracht hatte.

Siobhan reagierte entsprechend reserviert. Sie hatte die unbeabsichtigte Unterstellung sehr wohl wahrgenommen und schnaubte leise und verächtlich: „Sie entlarven sich, so zu sprechen. Aber es ehrt sie, dass sie es dennoch tun. Ehrlichkeit sollte mit Respekt belohnt werden, statt mit Missfallen, finden Sie nicht?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, sagte Benjamin, „Aber wenn ich Sie beleidigt haben sollte, so entschuldige ich mich hiermit in aller Form.“ Er vollführte eine angedeutete Verbeugung und wirkte dabei so lächerlich, dass Siobhan laut auflachte, sich dann die Hand vor den Mund hielt und versuchte, ihr Amüsement herunterzuschlucken.

„Sie machen es nur noch schlimmer“, sagte sie hinter der vorgehaltenen Hand, „Aber ich vergebe Ihnen!“

Nun lachte auch Benjamin, der für einen kurzen Augenblick gedacht hatte, Siobhan tatsächlich getroffen zu haben.

„Meine Mutter starb kurze Zeit nach meiner Geburt“, führte sie danach aus, „Sie stammte aus Irland und verfügte kurz vor ihrem Tod, dass ich katholisch erzogen werden sollte.“

„Doch war sie keine ehrlose Frau“, fügte Benjamin hinzu, der das Gefühl hatte, seine Entgleisung von vorhin wieder gut machen zu müssen.

„Sie war keine Dirne, meinen Sie“, sagte Siobhan und blinzelte, „Nun sie war mit unserem Vater verheiratet. Das stimmt wohl und Vater willigte ein, ihren letzten Wunsch, meine Taufe und Erziehung betreffend zu erfüllen. Nett von ihm, nicht wahr?“

„Ja, natürlich!“, bestätigte Benjamin etwas verwirrt.

„Sie sollten nicht so blind in rhetorische Fallen tappen, Mr. Brighman. Ein Kind, das in einer Familie mit zutiefst protestantischer Tradition plötzlich katholisch erzogen wird? Eine Mutter, die das von ihrem Ehemann verlangt? Ein Vater, der es zulässt, die eigene Tochter derart von ihrer Familie entfremden zu lassen? Ich werde ihnen erklären, wie es wirklich war… Oder vielleicht kommen Sie selbst darauf?“, Siobhan wartete einen Augenblick.

Benjamin schwieg.

„Na schön. Nur wenige Wochen nach dem Tod meiner Mutter heiratete mein Vater Rosamunde da drüben und nur sieben Monate nach meiner Geburt, erblickte Victoria dort das Licht der Welt. Was sagen Sie dazu?“

Benjamin wusste nicht, wie er auf Siobhans herausfordernden Blick reagieren sollte. Er entschied sich, das Offensichtliche nicht auszusprechen.

„Ich möchte Sie nicht langweilen oder schmutzige Wäsche waschen, sondern Ihnen nur die Ausgangssituation für all diese kleinen Sticheleien erörtern“, erläuterte Siobhan, bevor sie fortfuhr, „Niemand hält es für einen Skandal, dass Victoria nur sieben Monate jünger ist als ihre ältere Schwester.“

„Nun, sie ist ehelich geboren, genau wie Sie. Ihre Voraussetzungen sind die gleichen, würde ich sagen.“

Siobhan lachte bitter: „Sie sind noch nicht lange in London, nehme ich an. Meine Mutter hat Arthur gehasst. Sie hat ihn und seine Familie abgrundtief verabscheut. Sie wollte nicht, dass ihr Kind in dieser Familie groß wird und entschied sich auf ihrem Totenbett dafür, alles ihr nur Mögliche zu tun, um ihr Kind von der Familie, in der es leben würde, zu entfremden. Gleichzeitig war dies ein Schlag in Arthurs Gesicht. Seine erstgeborene Tochter, eine Katholikin! Das ultimative, äußere Zeichen für einen bis dahin geheim gehaltenen Umstand.“

Eine weitere Pause gab Benjamin die Möglichkeit, das Gespräch abzubrechen, fortzugehen und sich nicht weiter in die internen Angelegenheiten der Familie Cartwright einzumischen. Gott allein weiß, welchen Lauf die Geschichte genommen hätte, wenn Benjamin genau das getan hätte. Doch er blieb, teilweise, weil er sich einredete, Siobhan alleine stehen zu lassen, erschiene sehr unhöflich, zum größten Teil aber, weil auch er sich einer interessanten Geschichte nicht entziehen konnte.

Siobhan lächelte erneut geheimnisvoll und herausfordernd, wurde aber enttäuscht. Benjamin ließ sich nicht dazu hinreißen, bei ihrem Ratespiel mitzuspielen. Sie versuchte es dennoch ein weiteres Mal: „Sehen Sie sich unsere Haare an.“

„Was ist damit?“, fragte Benjamin.

„Bemerken Sie es nicht?“, gab Siobhan zurück, „Die meines Vaters sind rabenschwarz. Victorias sind braun wie die ihrer Mutter und die Haare meiner Mutter waren dunkelblond. Weder in der Familie meines Vaters, noch in der Familie meiner Mutter hat es jemals einen Fall von Rothaarigkeit gegeben.“

„Hmm…“, Benjamin dachte nach. Es war ihm natürlich aufgefallen, dass Siobhans Haare in einem Rot leuchteten, das keinem der anderen Familienmitglieder zu Eigen war, doch er hatte sich nichts dabei gedacht. Sie und Victoria trugen das Haar in einer sehr ähnlichen Flechtfrisur, waren vermutlich von der gleichen Bediensteten frisiert worden und deshalb erschienen gerade die Haare auf den ersten Blick als eine der wenigen Ähnlichkeiten zwischen den Schwestern.

„Das Problem an dieser Sache ist, dass der ehemalige Stallmeister meines Großvaters rothaarig war und dessen ganze Familie fast ausschließlich aus Rothaarigen bestand und so natürlich schnell feststand, dass meine Mutter ihrem Ehemann… nun ja… Hörner aufgesetzt haben musste, wenn Sie verstehen, was ich meine. Diese Gewissheit hat natürlich die letzte Zuneigung, die Arthur und Eireann vielleicht noch für einander empfunden haben mochten, zerstört. Als sich abzeichnete, dass meine Mutter nicht überleben würde, ließ sie mich vom Pfarrer, der ihr die letzte Ölung zuteil werden ließ, taufen. Sehen Sie mich an, Mr. Brighman, ich bin gebrandmarkt!“

So theatralisch hätte Benjamin es nicht ausgedrückt, schließlich war Siobhan nicht ausgestoßen oder weggegeben worden. Aber Siobhans Hang zur Theatralik war von Anfang an etwas gewesen, das ihn zu ihr hinzog, ohne dass er es erklären konnte. Ihm gefiel ihre Ausdrucksweise, auch wenn sie übertrieben gewesen sein mochte.

„Haben Sie denn diesen… nun ja… Stallmeister einmal kennen gelernt?“, fragte Benjamin.

„Ich weiß nicht viel über ihn, außer dass er wie meine Mutter Ire und katholisch gewesen ist. Ich weiß noch nicht einmal, ob er noch lebt. Aber das tut auch nichts zur Sache. Was Victoria und vor allem Rosamunde gegen den Strich geht, ist, dass ich das Vermögen der Cartwrights erben werde, ohne zur Familie zu gehören oder den Traditionen zu folgen. Es ist vielleicht kein Skandal eine sieben Monate ältere Schwester zu sein, aber aus einem roten Haarschopf lassen sich ganz vorzügliche Gerüchte weben. Sehen Sie, Rosamunde macht mir das Leben schwer, seit ich denken kann. Können Sie sich ein Kind vorstellen, das die Schulferien hasst? Ich bin dieses Kind gewesen! Ich sehe es als einen Akt der Gnade an, dass mein Vater, also Arthur, mich bereits in jungen Jahren auf ein katholisches Mädcheninternat schickte. Ich verfluche jeden Tag, an dem ich aufwache und beim Frühstück in Rosamundes Gesicht blicken muss, wie sie mir zuflötet, ich solle ihr die Butter oder die Marmelade herüber reichen und nicht alles für mich beanspruchen.“

Wieder entstand eine Pause, in der die beiden schwiegen und sich gegenseitig musterten. Siobhan sah einen erschrockenen Mann, dem diese Informationen wohl zu intim und zu offen gewesen waren. Sie ruderte zurück und sagte etwas kleinlaut: „Entschuldigen Sie. Ich hätte Sie damit nicht belästigen sollen. Sie sind vermutlich der einzige Mensch auf dieser Feier, der diese Hintergründe nicht kennt und ich habe hin und wieder einfach das Bedürfnis, jemandem meine Sicht der Dinge darzulegen. Ich hatte gehofft, in Ihnen einen unvoreingenommenen Zuhörer gefunden zu haben. Immerhin haben Sie sich an meine Seite gestellt, als ich mich selbst von der Gruppe ausschloss. Aber ich sehe nun, dass ich Ihnen wohl zu viel zugemutet habe.“

Benjamin, der ein Gentleman war, wollte abwinken und Siobhan beipflichten, ihr beistehen und sie keinesfalls allein lassen, wenn die ganze Welt gegen sie zu sein schien. Es gehörte sich nicht, eine junge Frau fortwährend einen solchen Krieg ausfechten zu lassen. Doch als er ihr ins Gesicht blickte, sah er kein hilfloses Mädchen, das unverschuldet in eine missliche Lage gebracht wurde, sondern eine Kämpferin, die selbst nicht vor unfairen Mitteln zurückschreckte, eine stolze und sture Person, die an ihrem Krieg gewachsen und durch ihn das geworden war, was sie ist. Und er zweifelte daran, dass Siobhan seine Hilfe brauchte. Viel mehr war er sich sicher, dass er in ihr eine wesentlich stärkere Person gefunden hatte, als die, für die er selbst sich hielt.

Er blieb dennoch neben Siobhan stehen, die sich ihr Champagnerglas wieder genommen hatte und den Rest daraus in einem Schluck austrank: „Ich hasse das Zeug“, kommentierte sie.

Benjamin schwieg. Schwäche und Weichheit waren Dinge, die ihm sein Vater immer vorgehalten hatte, doch nun wurde ihm zum ersten Mal bewusst, was sein alter Herr damit gemeint haben musste. Sie hatte ihn eingeschüchtert. Sie hatte ihn eingenommen. Sie hatte ihn eingewickelt. Und er kam nicht los. Er kam nicht fort. Er wollte nicht, dass sich diese Situation jetzt auflöste. Violet ließ sich bei den Lachshäppchen feiern und für ihr Talent beneiden, die Herren rotteten sich zusammen, um im Zimmer nebenan allerlei furchtbar männliche Dinge auszudiskutieren und die Damen ergingen sich in phrasenhaften Gesprächen über nichtanwesende Personen, denen sie entweder wohl und unwohl gesonnen waren. Wenn Siobhan fortging oder ihn fortschickte, würde er allein sein. Und auf einem englischen Gesellschaftsabend gab es nichts schlimmeres, als allein zu sein. Und er würde damit nicht so leichtfertig umgehen können, wie Siobhan es möglicherweise konnte, weil sie aus ihrer Abneigung gegen all diese Oberflächlichkeit keinen Hehl mehr machte. Benjamin aber war das Gefühl von Abneigung gegen bestimmte Personen fremd. Er dachte immer das Beste von den Menschen, wusste aber gleichzeitig, dass er sich damit zumeist selbst betrog.

Er musste das Gespräch aufrecht erhalten, fiel ihm ein. Er musste irgendetwas finden, das Siobhan dazu ermutigte, weiter zu reden, das sie interessierte und nicht langweilte. Am besten etwas Provokantes. Benjamin ertappte sich dabei, Siobhan gefallen, sie beeindrucken zu wollen. Was sie beeindruckte, das hatte er vorhin ja herausgefunden, war Ehrlichkeit ohne Rücksicht darauf, ob diese Ehrlichkeit jemanden angreifen konnte. Sie mochte Herausforderungen und die Möglichkeit sich rechtfertigen zu können und sie hatte eine Meinung. Deshalb begann Benjamin folgendermaßen: „Sie sympathisieren also mit den Suffragetten?“

„Wieso nicht?“, schnappte Siobhan zurück. Benjamin hatte nicht erwartet, dass sie so giftig reagieren würde und wollte sich sogleich für seine Frage entschuldigen. Doch Siobhan kam ihm zuvor: „Entschuldigen Sie. Ich bin ein wenig überreizt und es strengt mich an, mich ständig zu erklären. Ich bin müde. Und ich bin es leid.“

„Das verstehe ich natürlich“, sagte Benjamin und suchte bereits nach einem neuen Gesprächsthema, mit dem er die junge Frau bei sich halten konnte.

Da atmete Siobhan tief ein und sagte: „Es gibt keinen vernünftigen Grund, den Frauen das Wahlrecht zu verweigern. Es ist erwiesen, dass Frauen nicht weniger intelligent sind als Männer und außerdem sind sie von den Entscheidungen des Parlamentes genauso betroffen wie Männer. Aber es ist ja nicht nur das Wahlrecht. Frauen sollten die gleichen Chancen und die gleichen Bildungsmöglichkeiten erhalten wie Männer. Sie sollten die Universitäten besuchen können und arbeiten, ohne dass es eine Schande für sie darstellt. Aber das können Sie vermutlich nicht verstehen.“

„Wie meinen Sie das?“

„Für Menschen wie Sie ist doch jede Form von Arbeit eine Schande. Das protestantische England, das durch die Arbeit seines Volkes groß geworden ist, empfindet ebendiese Arbeit als Zeichen von Gottlosigkeit. So geht doch die Lehre, oder nicht? Reichtum auf Erden ist ein Zeichen göttlicher Liebe. Armut die Strafe für begangene Sünden.“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich so denke?“, fragte Benjamin verärgert über diese Unterstellung.

„Sie sind der Sohn eines Großgrundbesitzers. Ich kenne keinen solchen, der sich nicht das Feudalsystem zurückwünscht.“

Benjamin verzog sein Gesicht zu einem leicht verschmitzten Grinsen, das sonst eigentlich nicht zu seiner Art gehörte: „Sie kennen mich noch nicht. Sehen Sie, ich bin der jüngste Sohn. Ob das Feudalsystem wieder eingeführt wird oder nicht, kümmert mich kein bisschen. Mir entstünde dadurch weder Vor- noch Nachteil.“

„Sie kümmern sich also nur um ihren persönlichen Vor- oder Nachteil?“, griff Siobhan auf.

Benjamin fiel darauf nichts ein und so ging er selbst zum Angriff über: „Sie wollen mir also Egoismus unterstellen? Nun, halten Sie es denn nicht auch für allzu leicht, in ihrer Stellung die Positionen der Suffragetten oder sogar die der Sozialisten zu unterstützen? Sie, der hier in diesen Mauern rein gar nichts passieren kann, die Sie hier wohl behütet leben können und für den Rest Ihrer Tage ausgesorgt haben, ohne selbst jemals eine Fabrik von innen gesehen zu haben? Es mag vielleicht ungewöhnlich sein, solche Ideen zu verteidigen, aber eben vielleicht doch nichts anderes als ein Ausdruck von Langeweile, dem Willen zur Provokation oder eines schlechten Gewissens. Oder vielleicht auch purer Ignoranz?“

„Nichts dergleichen“, sagte Siobhan. Von ihrer Müdigkeit war nun nichts mehr in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie freute sich, das konnte Benjamin genau erkennen. Sie freute sich, dass sich endlich einmal jemand für ihre persönlichen Beweggründe interessierte, statt sie stillschweigend als unverschämte Göre abzuqualifizieren. „Mir zu misstrauen, weil ich reich bin, ist nur natürlich. Doch ich bin es nicht. Und ich werde es vermutlich auch nie sein. Sie stehen hier vor dem Abschaum der Familie Cartwright – wie Lady Rosamunde es so schön ausdrückt. Vater wird mich enterben, davon bin ich überzeugt. Victoria bekommt immer, was sie will. So ist ihr Charakter: Opportunistisch. Ihr ist es egal, was sie sagen oder tun muss. Hauptsache, am Ende bemühen sich alle, sie zufrieden zu stellen.“

Mit einem Mal bemerkte Benjamin die tiefsitzende Bitterkeit, die Siobhan mit Boshaftigkeit und Radikalität zu überdecken suchte. All ihre Härte, ihre Abscheu, ihre Verachtung gingen auf das Gefühl zurück, systematisch ins Abseits gedrängt worden zu sein. Von Kindesbeinen an hatte man sie spüren lassen, dass sie anders war, dass sie nicht dazu gehörte, dass sie nicht verdient hatte, was ihr zuteil wurde und dass sie der rechtmäßigen Erbin im Weg stand.

„Es ist lächerlich“, sagte Siobhan, „Ich habe nicht die Ambitionen dieses Haus und all das Geld eines Tages zu erben. Sie kann es haben und soll glücklich damit werden. Es ist mir egal.“

Benjamins Gedanken wanderten ab. Er stellte sich vor, wie die Kindheit dieser jungen Frau ausgesehen haben und wie traurig und lieblos sie aufgewachsen sein musste, um heute so wütend und kompromisslos aufzutreten.

„Aber was wollen Sie tun? Wo wollen Sie leben?“, fragte Benjamin, als er die Resignation, die sich hinter all dem Witz und der Aggressivität in den Augen Siobhans versteckte, erkannte.

„Ach, Sie dürfen die Dinge, die ich sagte, nicht so ernst nehmen“, sagte Siobhan plötzlich und setzte ein fröhliches Gesicht auf, das eine Maske war, wie Benjamin sofort bemerkte.

„Na, dann belügen Sie mich“, forderte er in ähnlich fröhlichem Tonfall.

„Ich könnte nach Irland gehen und für die Republik kämpfen. Es gibt so viele Möglichkeiten und so viele Alternativen zu diesen Affen in ihren Kleidern und Anzügen.“

 

Vom Salon her drang eine süßliche Stimme hinaus auf die Terrasse und rief nach Siobhan: „Könntest du bitte einen Moment in die Küche kommen, Schätzchen?“

Es war Lady Rosamunde und Siobhan sah sich gezwungen, dem Ruf zu folgen. Sie lächelte Benjamin zum Abschied noch einmal zu und entschuldigte sich. Dann ging sie hinüber in den Salon und trat durch eine Tür in einen Raum, der offenbar die Küche war.

Benjamin blieb zurück mit ihrem leeren Champagner-Glas und den Gedanken, die ihn sogleich überkamen: War es nicht ungewöhnlich, dass eine völlige Fremde, ihm ihr Herz ausschüttete? Und war es nicht ungehörig, dass er zuhörte und sie ermunterte, weiter zu reden? Galt er jetzt als neugierig? Hatte er eine verzweifelte Phase dieses jungen Dings ausgenutzt, um an intime Informationen der Familie Cartwright zu kommen? Hatte er gerade Dinge gehört, die die Cartwrights in einen handfesten Skandal verwickeln konnten? Oder war er einfach nur ein Gentleman gewesen, der sich einer jungen Frau als moralische Stütze angeboten hatte? Er beschloss, dass die Entscheidung dieser Fragen einzig dadurch getroffen werden konnte, wie er mit den Informationen jetzt umging. Er musste sie diskret behandeln, ohne Zweifel. Er musste sie am besten gleich wieder vergessen. Sie – Siobhan.

 

 

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Kapitel: 5
Sätze: 671
Wörter: 13.803
Zeichen: 85.433

Kurzbeschreibung

Im Jahr 1913 treffen sich die aufmüpfige Industriellentochter Siobhan und Benjamin, der jüngere Sohn eines Landadligen und verheiratet mit der umtriebigen Violet, bei einer Abendgesellschaft. Fortan kreuzen sich ihrer beider Lebenswege immer wieder, wobei sie den Widrigkeiten ihrer Zeit trotzen müssen. Während Siobhan sich für die Unabhängigkeit Irlands engagiert, muss Benjamin in den Großen Krieg ziehen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Historik auch in den Genres Krieg, Katastrophe und gelistet.