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Blitze im Kopf

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10.04.20 16:29
16 Ab 16 Jahren
In Arbeit

Liebes Zukunfts-Ich,

Wenn du diesen Brief liest, wirst du nicht gerade in der
besten Stimmung sein. Ich möchte dir sagen, dass es okay ist. Ich habe dir
etwas in die Box getan, an der dieser Brief befestigt ist und hoffe, dass es
dir zumindest kurz ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Ich höre auf zu schreiben und greife mit meiner rechten
Hand nach dem kleinen Plüschpinguin, den ich vor ein paar Tagen in dem
finnischen Geschäft am Marktplatz gekauft hatte. Der Pinguin hatte mich so
verzaubert, dass ich ihn jemandem schenken wollte, aber ich wusste nicht, wem.
Ich packe ihn in die kleine Geschenkbox, die ich dazugekauft hatte und mache
sie zu. Dann greife ich wieder zum Stift.

Du kannst die Box jetzt aufmachen, wenn du magst. Oder
wenn du nicht magst, brauchst dus auch nicht.

Den letzten Satz streiche ich wieder durch.

Jetzt wird ein neuer Abschnitt deines Lebens beginnen,
vor dem du immer Angst hattest. Bei dem du immer gehofft hattest, er würde nie
geschehen. Es tut mir so Leid, Anna.

Hast du schon die Kunstblumen gekauft, die du dir immer
vorgestellt hast? Also wenn ich jetzt daran denke, wie du deinen Rollstuhl
schmückst, dann stelle ich mir Kunstefeu und kleine, gelbe Blumen vor, die um
die Stange des Stuhls gewickelt sind, so wie die Blumen um die Fahrräder in
Amsterdam, die du so schön fandest. Weißt du noch?

Ich hoffe, dass du alt bist. So alt, dass du dich an
diesen Brief nicht erinnern kannst. Oder dass du zumindest nicht mehr genau
weißt, was hier drinnen steht. Und ich hoffe, dass du jemanden gefunden hast,
der mit dir die Hänge runterfährt, so wie Vanessa damals. Weißt du noch, als du
bei deinem dritten Schub deine Beine nicht gespürt hast und sie mit dir im
Rollstuhl Mario Kart gespielt hat oder Stunts auf dem Bürgersteig machen
wollte? Und weißt du noch, wie viel du damals gelacht hast, obwohl du solche
Angst hattest? Das kannst du jetzt auch noch. Du bist eine der stärksten
Personen, die ich kenne.

Versuche bitte, nicht allzu lange traurig über Dinge zu
sein, die du sowieso nicht ändern werden kannst. Ich weiß, dass es schwer sein
wird. Ich habe die Diagnose immer noch nicht ganz verarbeitet, aber ich bin
sicher, dass du die Krankheit schon akzeptiert hast. Und genauso wirst du jetzt
akzeptieren müssen, dass du nicht mehr laufen kannst. Es ist ein Prozess. Das
hat Frau Haude immer gesagt, weißt du noch? Du musst Herr dieses Prozesses
werden.

Bleib stark.

Deine Anna

 

Ich lege den Stift weg und stecke den Brief in den blauen
Umschlag, den ich mit „falls du im Rollstuhl sitzt“ beschriftet hatte. Dann
öffne ich meine alte Weinkiste und lege den Umschlag zu den zahlreichen
anderen.

Falls du nicht mehr Klavier spielen kannst

Falls dein Gedächnis Probleme macht

Falls du mal Windeln brauchst

 

Fast jeden möglichen Fall habe ich mittlerweile durch.
Ich möchte vorbereitet sein. Auf etwas, dass plötzlich und unangemeldet kommen
kann. Mittlerweile habe ich gelernt, dass die Menschen niemals genau das sagen
werden, was du von ihnen hören möchtest. Aber ich werde die richtigen Worte für
mich selbst finden.

Ich schaue auf die Uhr.

„Shit!“

Panisch springe ich auf, greife nach meiner Jacke und
meinen Schuhen.

Auf dem Weg zum Bahnhof fällt mir auf, dass ich mich mal
wieder viel zu kalt angezogen hatte.

Autorennotiz

über Kritik würde ich mich sehr freuen.

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Sätze: 36
Wörter: 548
Zeichen: 3.205

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Diese Story wird neben Alltag auch in den Genres Drama, Bildung, Entwicklung, Nachdenkliches gelistet.

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