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BETWEEN US

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17.11.25 17:20
16 Ab 16 Jahren
Heterosexualität
In Arbeit

Stink sauer ging ich in mein Zimmer und lies die Tür lautstark ins Schloss fallen! Wütend, traurig und total aufgebracht blieb ich inmitten des Raumes, vor meinem Schreibtisch stehen und versuchte meine Gefühle irgendwie wieder unter Kontrolle zubekommen. Ich atmete mehrmals tief ein und aus aber irgendwie wurde es nur schlimmer! Schon im nächsten Moment fegte ich mit einer Armbewegung alles vom Schreibtisch. Meine ganzen Unterlagen fielen nach unten und gerieten völlig durcheinander. Meine Schreibtischlampe fiel ebenfalls mit einem klirren zu Boden. Beim Aufprall zersprang die Glühbirne und die Scherben verteilten sich. „Scheiße!", fluchte ich, drehte mich um, ging zur Tür und wollte rausgehen um Handfeger und Schaufel zu holen, wollte gerade die Türklinke runter drücken, hielt inne und ließ meine Hand wieder hinab. Ich drehte mich um, lehnte mich gegen die geschlossene Tür, ließ mich zu Boden sinken und gab meinen Gefühlen nach. Laut fing ich an zu schluchzen und die Tränenbahnten sich ihren Weg über mein Gesicht. Ich weiß nicht wie lange ich hier schon saß, meine Augen waren leer und trocken, genauso wie mein Inneres! Ich fühlte Nichts, rein gar nichts! Ich schlang meine Arme um meine Beine, meine Stirn ruhte auf meinen Knien.

Ich öffnete die Augen, hob meinen Kopf, schaute zum Fenster und sah das es draußen bereits dunkel geworden war. Ich atmete noch einmal tiefdurch, erhob mich und ging zum Bett um mein Handy zunehmen ohne mich daran zu erinnern das auf dem Boden überall Scherben verteilt waren in die ich auch schon im nächsten Moment mit dem rechten Fußreintrat. Ich versuchte einen lauten, schmerzhaften Schrei zu unterdrücken, sackte aus Reflex und Schmerz zusammen. Wieder fing ich an zu weinen, diesmal vor Schmerzen. Wie blöd konnte ich eigentlich sein? Langsam hob ich meinen Fuß wo das Blut direkt durch meine Socke sickerte. Der Anblick meiner blutenden Fußsohle war verstörend und löste ein seltsames Gefühl in mir aus. Es brannte, schmerzte und tat einfach nur höllisch weh!
„Mama, Papa!" rief ich laut und schmerzerfüllt. Kaum zu glauben, dass ich ausgerechnet die zwei um Hilfe bitten musste, die doch an meiner beschissenen Situation Schuld waren. Ich wollte gerade erneuert nach ihnen rufen, als plötzlich die Tür mit einem Ruck aufging.
„STOP!" rief ich, erschrocken als die Tür aufgerissen wurde. „Nicht weitergehen! Hier liegen Scherben auf dem Boden. Ihr müsst euch Schuhe anziehen!" warnte ich meine Eltern. „Oh mein Gott Liebling, was ist passiert?" entfuhr es meine Mutter panisch als sie das Chaos und das Blut an meinem erhobenen Fuß sah. Die Schmerzen wareneinfach fürchterlich! Ich versuchte so gut es ging auf einem Bein zustehen. „Könntet ihr mich bitte zuerst aus diesem Scherbenmeer befreien!" flehte ich meine Mutter an. Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen kam mein Vater mit Schuhen an den Füßen zurück. Scherbenknirschend kam er zu mir. „Ich werde dich jetzt hochheben und rüber auf dein Bett legen, Ok?" Mit zusammengebissenen Zähnen gab ich ihm nickend die Erlaubnis und atmete noch einmal tief durch ehe er mich hochhob und aufs Bett legte, als würde ich nichts wiegen.

Meine Mutter hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls Schuhe angezogen und die Scherben am Boden entfernt.
Meine Mutter sah sich meinen Fuß genauer an.
„Wir müssen dich in die Notaufnahme bringen, du hast leider eine Scherbe im Fuß stecken." sagte sie mit besorgter Miene, ich spürte wie mir schlecht wurde.
Gemeinsam halfen meine Eltern mir ins Auto und wir fuhren ins Krankenhaus.

Ungefähr Zwei Stunden später lag ich endlich auf einem Zimmer im Krankenhaus. Ich bekam an meinem Fuß eine örtliche Betäubung, die Scherbe wurde entfernt, die Wunde gereinigt, Geröngt,  desinfiziert und mit ein paar Stichen genäht. „Es wird nur eine hauchdünne Narbe zurückbleiben ohne Einschränkungen, da weder Nerven noch sehnen beschädigt worden sind!" versicherte mir, der mich behandelnder Arzt.

Das hast du ja wirklich ganz toll hinbekommen! Kati. Ich darf mindestens 2 Wochen nicht auftreten! Muss noch drei Tage zur Beobachtung hier im Krankenhaus bleiben und Zuhause heißt es dann absolutes Schonen und an Krücken laufen! Genau so stellt sich doch jeder den Anfang seiner Sommerferien vor! In 10 Tagen muss ich wieder kommen zum Fäden ziehen.

Ein Blick auf die Wanduhr verrät mir das es schon 22:38 Uhr ist. Ich knipste die Nachttischlampe aus und versuche verzweifelt eine einigermaßen vernünftige Schlafposition zu finden, als mir das endlich gelang, fiel ich in einen leichten Schlaf, voller chaotischer Träume. Ich wachte des  öfteren auf weil die Betäubung innerhalb der nächsten zwei Stunden komplett nachgelassen hatte, was zu starken Schmerzen geführt hatte. Um so glücklicher war ich als die Nacht dann endlich vorbei war.

Am nächsten Morgen, es muss so gegen Neun gewesen sein verließen die Ärzte nach der Visite gerade das Zimmer. Ich bekam noch etwas gegen die Schmerzen und einen Entzündungshemmer. Danach lag ich nun da, allein in meinem Zimmer und starrte Löcher in die Decke. Meine Gedanken schweiften zum gestrigen Tag und das Gespräch mit meinen Eltern, bevor alles eskalierte. Ich soll nach den Sommerferien auf ein Internat mit Privatschule nach Köln! KÖLN! Das sind mehr als 300 Kilometer von meinem Zuhause entfernt! 300 Kilometer die mich nicht nur von meinem Zuhause entfernen werden, sondern auch von meinen Eltern, Freunden, Hobbys, der Schule und meinen ganz normalen Alltag! Mein ganz normales Leben mit dem ich soweit zufrieden war, würde dann einfach vorbei sein. Ich muss dann bei null anfangen und genau das jagt mir eine Riesen Angst ein! „Aber es ist doch nicht für immer!" versuchte mich meine Mutter zu beruhigen, wobei sie kläglich scheiterte. „Eins, maximal zwei Jahre!" fügte sie noch hinzu. „Zwei Jahre?? Wollt ihr mich verarschen? Dann habe ich bereits meinen Abschluss!" erinnerte ich meine Eltern und sah sie fassungslos abwechselnd an. „Das wissen wir doch und selbst wenn..." meldete sich nun auch mein Vater. „WAS selbst wenn?" schnitt ich ihm das Wort ab und sprang wütend vom Sessel auf. „Es ist doch egal wo du deinen Abschluss machst, solange du ihn am Ende machst!" beendete mein Vater seinen Satz. Entsetzt über seine Worte sah ich ihn an. Wusste gar nicht was ich sagen sollte. Ich schloss die Augen, atmete einmal tief durch und ließ mich zurück in den Sessel sinken. „Warum?" fragte ich. „Warum soll ich überhaupt auf ein Internat? Ich habe euch doch nie Kummer bereitet, nie in Schwierigkeiten gebracht und bringe immer gute Noten mit nachhause!" Meine Augen füllten sich mit Tränen. Warum wollen meine Eltern mich nicht bei sich haben? Ich versuchte ruhig zu Atmen und wartete auf eine Antwort. „Um Himmelswillen Kati! Das klingt aus deinem Mund gerade zu als wollten wir dich loswerden!" erschrocken sah meine Mutter mich an und begann zu erklären. „Ich bekam vor etwa vierzehn tage einen Brief von sehr wichtigen Leuten! Sie fragten mich ob ich mich für vorerst einem Jahr nach Afrika versetzen lassen würde um dort den unterentwickelten und kranken Kindern zu helfen. Es mangelt dort wie man weiß nur zu genüge an Erfahrenen Schwestern und Ärzten. Und so wurde ich und noch 2 Kollegen gefragt." lächelnd sah meine Mutter mich an. Meine Mutter wirkte plötzlich viel aufgeweckter, strahlender. Man sah ihr auf einmal gar nicht mehr an das sie langsam auf die vierzig zuginge. „Du weißt genau wie sehr mir Kinder am Herzen liegen! Wie könnte ich dieses Angebot ausschlagen?" fügte sie hinzu. Natürlich liebte meine Mutter Kinder über alles und sie war eine liebevolle und Großartige Kinderärztin. Manchmal könnte man meinen das sie die kranken Kinder wie die ihre eigenen behandelt. Sie gibt ihnen so viel Liebe und Geborgenheit und hat dennoch genügend für mein Vater und mich übrig. „Dann gehe ich davon aus das du diesen Leuten bereits zugesagt hast!?" fragte ich sie, wohl wissend da sich die Antwort schon kannte. Sie nickte. „Aber ich kann doch hier bei Papa bleiben!" Hoffnung keimte in mir auf. „Papa und ich schaffen es auch solange alleine..." „Das geht leider nicht!" unterbrach mich nun mein Vater. Fragend sah ich ihn an. „Ich habe einen sehr komplizierten Fall rein bekommen auf den ich mich voll und ganz konzentrieren muss, werde überwiegend in der Kanzlei sein und oder auf Geschäftsreise!" erklärte er seine aktuelle Situation. „Aber dieser Fall wird ja auch mal Zu ende gehen!" versuchte ich es noch einmal. „Kati, du weißt ganz genau das so ein Fall Wochen aber auch Monate andauern kann! Kannst du dich noch an den von vor zwei Jahren erinnern? Der hat 1 Jahr und 4 Monategedauert." erinnerte er mich. Wo er recht hatte. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. „Was ist wenn ich Nein sage?" „Dann können wir es diesmal leider nicht berücksichtigen!" sagte mein Vater. „Das heißt eure Entscheidung steht fest? fragte ich beide entsetzt. „Ja!" antworteten beide wie aus einem Mund, sahen sich an und dann wieder mich. Mir fiel die Kinnlade runter. „Und seit wann treffen wir Entscheidungen nicht mehr gemeinsam?" fragte ich sie wütend. Ich war bitterlich Enttäuscht das so eine große Entscheidung so rein gar nicht mit mir vorher besprochen wurde! „Was hätte es geändert Kati? Glaubst du wir haben nicht tagelang überlegt und nächtelang wachgelegen? Schlag uns eine bessere Idee vor!" forderte meine Mutter mich auf. „Ich...ähm..." begann ich zu stottern. Angestrengt überlegte ich. „Ich könnte doch trotzdem hierbleiben! Ich bin schließlich kein Kind mehr!" schlug ich vor. „Natürlich bist du kein Kind mehr aber dennoch bist du erst Sechzehn! Wenn dir hier während unserer Abwesenheit was passiert, bekommen wir richtig Ärger mit dem Jugendamt. Sie könnten dich uns sogar noch wegnehmen! Du bist noch keine Achtzehn!" pflichtete mir mein Vater bei. „Erstens, wird mir NICHTS passieren! Und Zweitens, sollte mir doch etwas passieren, was nicht passieren wird, kann ich doch immer noch..." „NEIN KATHARINA!" stieß mein Vater nun lauter werdend hervor. Sein Geduldsfaden schien allmählich zu reißen. „Unsere Entscheidung steht fest! Du wirst nach den Sommerferien nach Köln auf das Internat gehen und somit ist die Diskussion hiermit beendet!" Mein Vater erhob sich von der Couch und verließ das Wohnzimmer. Wütend und Traurig zugleich sah ich ihm hinterher bis er aus dem Raum verschwand. Sah dann zurück zu meiner Mutter. „Es tut mir leid! Liebling." „Einen scheiß tut es!" wutentbrannt stand ich ebenfalls auf und rannte auf mein Zimmer.

Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss...

Ich lag in meinem Krankenhausbett und starrte die sterile weiße Decke an. Die Gedanken an all das ließen mich nicht los. Der Schmerz meiner Verletzung war inzwischen fast nebensächlich geworden, was mir wirklich wehtat, war das Gefühl von Verrat. Ich fühlte mich ausgeschlossen, alleingelassen, und diese plötzliche Veränderung machte mir Angst. 'Ich kann nicht einfach nach Köln ziehen', dachte ich und biss mir auf die Lippe. 'Das ist nicht mein Leben.'

„Plötzlich klopfte es leise an der Tür, meine Mutter Clara. Sie hielt einen Becher mit heißer Schokolade in der Hand, trat ein und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. „Hey, Liebes", sagte sie mit einem sanften Lächeln. Doch ich schaute sie nur stumm an. Meine Mutter seufzte. „Ich weiß, dass du sauer bist, weil wir diese Entscheidung getroffen haben. Aber du musst verstehen, dass wir das nicht tun, um dich zu bestrafen. Wir wollen, dass du sicher bist. Dass du gut aufgehoben bist." „Gut aufgehoben? In einer völlig fremden Stadt, ohne meine Freunde, ohne mein Zuhause? Mama, das ist doch kein Leben!", fauchte ich. Meine Stimme bebte vor Emotionen. Meine Mutter stellte den Becher zur Seite und nahm meine Hand in der ihre. „Es tut mir leid, Katharina. Wirklich. Aber manchmal muss man Entscheidungen treffen, die einem das Herz brechen. Glaubst du, es ist für mich leicht?"
Ich schwieg, aber spürte, dass meine Mutter ebenfalls kämpfte.

Die wenigen Tage im Krankenhaus waren geprägt von einer eigentümlichen Stille. Meine Gedanken rasten, aber gleichzeitig fühlte ich mich wie betäubt. Die Realität, dass ich bald in Köln sein würde, schien immer näher zu rücken, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.Meine beste Freundin Julia konnte mich leider nicht besuchen kommen um mich aufzuheitern, da sie mit ihren Eltern im Urlaub ist. Dabei brauche ich sie doch genau jetzt! Ich habe ihr noch nichts von all dem gesagt, das muss warten bis sie wieder da ist, ich möchte ihr nicht den Urlaub vermiesen. Unserem besten Freund Danny habe ich ebenfalls nichts gesagt als er mich am zweiten Tag besuchte. Er weiß lediglich nur das ich einen großen Streit mit meinen Eltern hatte und die Vorgehensweise des Unfalls. Ich werde mich mit beiden treffen sobald Julia aus ihrem Urlaub zurück ist. Das wird kein leichter Tag, schon bei dem Gedanken stiegen mir wieder Tränen in die Augen.

Am Tag meiner Entlassung kam mein Vater vorbei. Er wirkte müde, so als hätte er in den letzten Nächten kaum geschlafen. Er setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett, stützte die Ellbogen auf die Knie und sah mich lange an, bevor er sprach. „Katharina", begann er, seine Stimme ungewohnt weich, „ich weiß, dass du dich verloren fühlst. "Aber sieh mich an, der Fall von dem ich sprach hat vor nicht ganz drei Wochen begonnen. Ich schlafe kaum, bin selten zuhause und wenn doch, esse oder schlafe ich, wie also soll ich dann für Dich da sein? Bitte sei nicht weiter sauer auf uns! Deiner Mutter geht es wirklich nicht gut damit und mir auch nicht!" Mein Vater richtete sich in seinem Stuhl auf und nahm einen Schluck von seinem mitgebrachten Kaffee. Ich schaute ihn überrascht an. Mein Vater war nie jemand gewesen, der seine Gefühle offen zeigte. Wir schwiegen eine Zeit lang. Ich hing in meinen Gedanken und fragte mich ob ich wirklich zu hart zu meinen Eltern war? "Papa?" begann ich. Müde Augen schauten mich an. Oh Gott, ich weiß nicht wann ich meinen Vater das letzte mal so erledigt gesehen hatte. "Es tut mir leid! Ich möchte nicht das es euch meinetwegen schlecht geht, hab es wohl ein bisschen übertrieben." Ich nestelte schuldbewusst an meiner Bettdecke herum ohne meinen Vater aus den Augen zu lassen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und ehe ich mich versah, stand er auf und nahm mich vorsichtig in den Arm. Erleichterung durchströmte meinen Körper. Ich erwiderte seine Umarmung und murmelte ein "Sorry".

Zwei Wochen waren vergangen, seit ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Die Sonne brannte warm vom Himmel, die letzten drei Wochen der Sommerferien hatten begonnen, und trotzdem fühlte ich mich, als hinge ein grauer Schleier über allem. Es war, als wollte der Sommer an mir vorbeiziehen, ohne dass ich wirklich Teil davon war. Ich hatte mich ein wenig erholt, körperlich zumindest. Die Wunde die genäht werden musste, verheilte gut. Doch innerlich, da war alles noch genauso durcheinander wie vorher. Köln rückte näher, unausweichlich, und ich wusste, dass ich es nicht länger vor Julia und Danny geheim halten konnte. Also schrieb ich Julia, dass wir uns treffen müssen. Sie antwortete sofort mit lauter Begeisterung, dass sie mich endlich wiedersehen wollte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, sie freute sich auf einen unbeschwerten Nachmittag, während ich wusste, dass ich ihr etwas sagen musste, das sie enttäuschen würde. Wir verabredeten uns für Samstag im alten Stadtpark, unserem Treffpunkt seit Jahren. Dort, wo wir schon als Kinder Fangen gespielt hatten, wo wir stundenlang über Zukunftsträume und Unsinn geredet hatten. Danny war natürlich auch dabei, er hatte sofortzugesagt.

Als ich ankam, saßen die beiden schon auf unserer Bank unter der große Eichen. Julia sah sonnengebräunt und entspannt aus, ihr Lächeln war wie immer ansteckend. Danny grinste, als er mich sah, stand auf und nahm mich kurz in den Arm. „Na, Krankenhausheldin! Wieder fit?" neckte er mich, und ich musste lächeln. „So halbwegs", antwortete ich und setzte mich zu ihnen. Julia musterte mich besorgt. „Du siehst blass aus, Kat. Geht's dir wirklich gut?" Ich nickte. „Ja... also, körperlich schon. Ich musste nur ein bisschen was verarbeiten." Ein Moment Stille entstand, und ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Das war der Moment. Ich hatte mir vorher so viele Sätze überlegt, wie ich es ihnen schonend beibringen wollte aber jetzt war mein Kopf leer. „Ich muss euch was sagen", begann ich leise und spielte mit dem Reißverschluss meiner Tasche. „Es ist... es ist was wegen Köln." Danny runzelte die Stirn. „Köln? Was ist mit Köln?" Ich atmete tief durch. „Ich soll nach den Sommerferien auf ein Internat gehen. In Köln!" Ich machte eine kurze Pause. "Eins, maximal 2 Jahre, gegebenenfalls die Schule dort beenden." Julia blinzelte mich an, als hätte sie nicht richtig verstanden. „Was? Wieso das denn?" Ich seufzte. „Meine Mutter wird nach Afrika versetzt. Sie arbeitet dort für ein Kinder-Hilfsprojekt. Und mein Vater... er hat einen großen Fall in der Kanzlei übernommen. Er wird kaum zuhause sein. Sie wollen nicht, dass ich die ganze Zeit alleine bin. Also... haben sie entschieden, dass ich ins Internat gehe." Julia starrte mich an, fassungslos. „Das ist nicht dein Ernst..." „Leider doch", sagte ich leise. „Ich war auch völlig überrumpelt. Sie haben das schon beschlossen, bevor sie überhaupt mit mir geredet haben." Danny legte mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter. „Das ist heftig. Aber... vielleicht ist es gar nicht so schlimm? Köln ist groß, und du lernst sicher viele neue Leute kennen." „Genau das ist das Problem, Köln ist riesig! Zudem will ich keine neuen Leute kennenlernen", entfuhr es mir. „Ich will euch. Ich will hierbleiben, meine letzten Schuljahre hier machen, alles was wir geplant haben..." Meine Stimme bricht. Julia stand auf und ging ein paar Schritte zur Seite. „Ich kann's einfach nicht glauben", murmelte sie. „Wir haben doch noch so viel vorgehabt! Der Sommer, die Abschlussfeier, alles..." Mir stiegen Tränen in die Augen. „Ich weiß. Glaub mir, ich will das auch nicht. Aber ich kann nichts dagegen tun." Julia drehte sich zu mir um, die Augen glänzten. „Dann genießen wir wenigstens die Zeit, die bleibt, okay? Drei Wochen und die gehören uns!" Ich nickte dankbar. Trotz der Traurigkeit spürte ich plötzlich ein kleines bisschen Wärme. Vielleicht war das mein letzter Sommer hier aber er würde trotzdem unvergesslich werden.

Heute war mein Geburtstag und ehrlich gesagt hatte ich nicht vor diesen zu feiern. Mir war einfach nicht danach. Zu viele Gedanken, zu viel Ungewissheit und das ständige Gefühl, dass die Tage bis Köln wie Sand durch meine Finger rannen. Der Morgen begann ruhig. Meine Mutter hatte Pfannkuchen gemacht mit Erdbeeren und etwas zu viel Puderzucker, wie jedes Jahr. Sie versuchte, fröhlich zu wirken, aber ich sah die Schatten in ihren Augen. Wahrscheinlich dachte sie an Afrika, an den Abschied, an all das, was auf uns zukam. Ich dachte auch daran und versuchte gleichzeitig, es zu verdrängen. Als ich gerade mein Glas leer trank, hörte ich Schritte hinter mir. Mein Vater stand in der Tür. Er trug wie immer einen Schicken Anzug, die Krawatte perfekt gebunden. Er sah müde aus, wie immer in letzter Zeit aber sein Blick war weich. „Alles Gute zum Geburtstag, mein Mädchen", sagte er leise und kam näher. Ich lächelte zaghaft. „Danke, Papa." Er setzte sich neben mich, griff in die Tasche seines Jacketts und holte eine kleine Schachtel mit Samt bezogen hervor. „Ich wollte dir das noch geben, bevor ich los muss. Ich hab heute leider wieder einen langen Tag vor mir, es tut mir leid das ich an deinem Geburtstag nicht Zuhause sein kann." Ich nickte. Ich wusste es. Ich wusste es immer. Er schob mir die Schachtel hin. Ich öffnete sie und darin lag eine feine, silberne Kette, schlicht, mit einem kleinen Anhänger in Form eines Schlüssels. Ich nahm sie vorsichtig in die Hand. Sie fühlte sich kühl an, glatt und irgendwie schwer. „Er soll dich daran erinnern, dass du immer nach Hause findest", sagte er, kaum hörbar. In seiner Stimme lag etwas, das ich selten bei ihm gehört hatte, ein Hauch von Wehmut. Ich spürte, wie mir plötzlich die Kehle zuschnürte. „Danke... sie ist wunderschön." Er lächelte leicht, stand auf und trat hinter mich. Mit ruhigen Bewegungen legte er mir die Kette um den Hals, schloss den Verschluss und ließ seine Hände kurz auf meinen Schultern ruhen. „Du wirst das großartig machen, Kati. In Köln. Überall. Du bist klüger und stärker, als du glaubst. "Ich stand auf, drehte mich zu ihm um und bevor ich etwas sagen konnte, zog er mich einfach in seine Arme. Sein vertrauter Geruch stieg mir in die Nase, beruhigend. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter und spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er mich das letzte Mal so umarmt hatte. „Ich hab dich lieb, Papa", flüsterte ich. Er nickte, hielt mich einen Moment länger fest. „Ich dich auch, mein Mädchen."Als er ging, blieb der Duft seines Aftershaves im Raum zurück und eine Stille, die fast wehtat. Ich fasste den kleinen Schlüssel um meinen Hals und wünschte mir, die Zeit einfach anhalten zu können.
Der Rest des Tages verging langsam. Ich las ein bisschen, scrollte durch alte Fotos, versuchte, nicht zu viel nachzudenken. Julia und Danny hatten sich den ganzen Tag nicht gemeldet, was mich ehrlich gesagt leicht verletzte. Nicht mal eine kurze Nachricht? Ich tippte etwas in unser Chatfenster, löschte es dann aber wieder. Am Nachmittag kam meine Mutter plötzlich ins Zimmer. „Kati, zieh dir bitte etwas Hübsches an", sagte sie mit diesem Ton, bei dem man wusste, dass Widerworte zwecklos waren. Ich runzelte die Stirn. „Wieso? Ich dachte, Papa arbeitet heute?" „Tut er auch", meinte sie rasch. „Aber ich dachte, wir zwei könnten etwas Schönes unternehmen. Nur wir, bevor alles so stressig wird. "Ich sah sie an. Ihre Augen glänzten leicht, und ich konnte nicht sagen, ob sie nervös oder aufgeregt war.„Okay", murmelte ich schließlich und stand auf. Ich zog mir ein leichtes Sommerkleid an, ließ die Haare offen und legte mir unbewusst die Kette zurecht, die mein Vater mir geschenkt hatte.
Als ich die Treppe hinunterging, sah ich meine Mutter lächelnd an der Tür stehen. „Bereit?" Ich nickte und hatte keine Ahnung, was gleich auf mich zukommen würde.Wir stiegen ins Auto, und sie fuhr los, ohne viel zu sagen. Ich dachte, wir würden wirklich irgendwo essen gehen. Aber als wir nach einer kleinen Schleife wieder in unsere Straße einbogen, sah ich sie fragend an. „Ähm... du wolltest doch essen gehen?" „Ja" sagte sie und lächelte. „Aber wir müssen vorher noch kurz was holen."Als wir wieder zuhause ankamen, bat sie noch kurz mit ins Haus zu kommen. Ich öffnete die Haustür und wurde im nächsten Moment von einem Schwall aus Licht, Musik und Stimmen überrumpelt.„ÜBERRASCHUNG!!!" Ich blieb wie versteinert stehen. Überall hingen Lichterketten, Girlanden, Ballons. Julia, Danny und einige andere meiner Freunde standen mitten im Raum, strahlend, lachend, mit einem Kuchen, der aussah, als würde er gleich in sich zusammenfallen. „Alles Gute zum Geburtstag, Kati!" rief Julia und fiel mir um den Hals. Mir schossen sofort Tränen in die Augen. „Ihr seid doch verrückt" brachte ich kaum heraus. Danny grinste. „Na, irgendwer musste dich ja zum Lachen bringen, bevor du uns verlässt." Ich lachte, wischte mir die Tränen weg und für ein paar Stunden war die Welt wieder leicht. Musik, Lichter, Stimmen.
Julia hatte eine Playlist mit unseren Lieblingssongs zusammengestellt, Danny war für den Grill zuständig und schwor, dass der Rauch nicht seine Schuld war. Wir tanzten, lachten, erzählten Geschichten, die wir längst hundertmal gehört hatten einfach, weil sie sich gut anfühlten.
Später, als die Sonne längst verschwunden war und alle bis auf Danny und Julia gegangen waren, saßen wir auf der Hollywoodschaukel. Julia lehnte sich an meine Schulter, Danny stocherte gedankenverloren in einem Stück Kuchen herum. „Na?" fragte Julia leise. „War's eine gute Überraschung?" Ich nickte und lächelte. „Die beste überhaupt. "Ich griff unbewusst an die Kette an meinem Hals, spürte das kühle Metall zwischen meinen Fingern. In diesem Moment wusste ich, dass sie mehr war als nur ein Geschenk. Sie war ein Versprechen. Ein Stück Zuhause, das ich mitnehmen konnte, egal wohin ich ging.

Die letzten Tage vergingen wie in einem merkwürdigen Schwebezustand, jeder Moment schien kostbarer als der vorherige. Danny, Julia und Ich verbrachten fast jede freie Minute zusammen, als wollten wir die Zeit noch einmal dehnen, bevor Köln mich verschluckte.
Ich sah Julia zuerst, wie sie lachend auf mich zugerannt kam, die Hände voller bunter Postkarten und kleiner Zettel. Ihre freche, blonde Kurzhaarfrisur hatte diesmal eine neonblaue Strähne, die im Sonnenlicht fast leuchtete. Sie trug eine enge, zerrissene Jeans mit einem weißen Crop-Top. Ihre Boots klapperten auf dem Pflaster, und obwohl ihr Outfit wild und bunt war, wirkte alles so unglaublich stimmig, so wie sie selbst: frech, aufgeweckt und unerschütterlich. Ich konnte kaum fassen, wie sie immer so viel Lebensfreude ausstrahlen konnte, selbst jetzt, wo wir wussten, dass ich bald weg war. Es war fast irritierend, wie wenig Trauer sie zeigte, ich hätte gedacht, sie würde genauso traurig sein wie ich, doch sie war die Energie, die uns alle ein Stück am Boden hielt.
Danny folgte ein paar Schritte hinter ihr, ruhig und bedacht, die Hände lässig in den Hosentaschen, wie immer. Er trug eine Cargopants, dazu ein helles Poloshirt und darüber eine dünne Weste , wie er es immer tat. Seine kurzen, leicht gelockten Haare waren akkurat gestylt, die Brille saß wie immer perfekt auf der Nase. Er war der Ruhepol in unserem Trio, der kluge Kopf, der witzige Beobachter, derjenige, der immer wusste, wann er ein Lächeln auf unser Gesicht zaubern musste. Ich konnte mich auf ihn verlassen, egal was kam und genau das machte ihn zu meinem sicheren Anker.
Wir drei waren ein kunterbunter Haufen, jeder von uns so verschieden und doch auf eine merkwürdige Weise perfekt zusammenpassend. Manchmal saßen wir auf der alten Bank im Stadtpark, Julia kichernd, Danny die Augen zusammengekniffen, während er meine Gedanken erriet, und ich mittendrin, hin und hergerissen zwischen Freude und dem bitteren Wissen, dass diese Tage zu Ende gingen.
Beim Packen halfen sie mir aktiv mit. Julia griff nach meinem Lieblingskleid, schmiss es schwungvoll in den Koffer und drehte sich dabei wie auf einer Bühne, dass die Strähne in ihrem Haar wie ein kleiner Regenbogen flackerte. „Kati, das darfst du nicht vergessen! Wir haben so viele Abenteuer hier gehabt, und das muss mit!“ Sie zwinkerte mir zu, als wäre alles halb so schlimm. Ich musste lachen, trotz der Schwere, die auf meinen Schultern lastete.
Danny legte meine Bücher ordentlich übereinander, faltete die Pullover vernünftig zusammen und warf mir zwischendurch kleine Kommentare zu, die mich zum Schmunzeln brachten. „Du packst ja wie eine Chaos-Künstlerin“, sagte er und grinste dabei. „Aber keine Sorge, ich rette das optische Ungleichgewicht.“ Ich musste wirklich lachen, seine Art, alles zu ordnen, brachte Ruhe in das emotionale Chaos in mir.
Die Abende verbrachten wir oft zusammengerollt auf der Wiese hinter dem Haus. Julia lag neben mir, zeigte mir wild gestikulierend, wie sie ihren kommendes Jahr plante, während Danny still neben uns saß, mir zwischendurch sanft die Hand drückte, wenn mir Tränen in die Augen stiegen. Es war verrückt, zwischen Lachen und Träumen, Chaos und Ordnung, fühlte ich mich so lebendig wie seit Wochen nicht mehr.
Und doch, jedes Mal, wenn ich zu ihnen sah, wusste ich, bald würde das alles nur noch Erinnerung sein. Die bunte Energie von Julia, die kluge Ruhe von Danny, unsere gemeinsamen Witze, die Spaziergänge, unsere Abenteuer und die endlosen Gespräche, alles würde sich verändern, so bald Köln uns trennte. Ich hielt die kleine Kette um meinen Hals fest und flüsterte leise: "Wir schaffen das… irgendwie."
Am Tag vor meiner Abreise stand der kleine Transporter vor unserem Haus, bereit, die wenigen Koffer und Kartons, die ich mitnehmen konnte, nach Köln zu bringen. Ich stand auf dem Bürgersteig, die Arme verschränkt, während mein Vater die Kartons in den Wagen hob. Jeder Griff, jede Bewegung machte die Realität greifbarer, bald würde ich weg sein.
Julia war wie immer quirlig, hüpfte auf und ab, half mir dabei, die Sachen zu ordnen, und kicherte bei jedem kleinen Missgeschick. „Kat, du hast echt zu viel Kram!“, neckte sie mich, während sie eine kleine Box mit alten Fotos in den Wagen schob. Ich musste lachen, aber gleichzeitig zog sich meine Brust vor Schmerz zusammen.
Danny war konzentriert und still, überprüfte akribisch, ob nichts verrutschte, ob alles sicher im Wagen lag. „Alles muss fest stehen, sonst rutschen die Bücher durch den Transporter“, erklärte er sachlich, während er einen Stapel meiner Lieblingsbücher gerade rückte. Ich sah ihn an und musste innerlich schmunzeln. Kein anderer hätte so genau auf meine Sachen geachtet, kein anderer so sehr auf Details geachtet, und genau das machte ihn zu dem verlässlichsten Freund, den ich mir vorstellen konnte.
Meine Eltern standen daneben, ruhig, fast ein bisschen zurückhaltend. Mein Vater half, wo er konnte, doch ich spürte seine Anspannung. Meine Mutter wirkte fast ein wenig unruhig, als wollte sie jeden Moment festhalten, machte hier und da ein Foto bevor er vorbei war. Ich konnte sehen, dass es ihnen schwer fiel, mich gehen zu lassen und das machte es noch schwieriger, die Fassung zu bewahren.
Als die letzten Kartons verladen waren, lehnte ich mich gegen den Transporter, die Hände gegen das kühle Dach gestützt. Ein letzter Blick auf alles, was ich zurückließ: mein Zimmer, mein Zuhause, mein gewohntes Leben. Julia trat neben mich, legte mir die Hand auf die Schulter. „Mach dir nicht so einen Kopf, Kat. Wir schaffen das. Ich meine, wir drei, wir sind unkaputtbar.“ Ich nickte, spürte die Tränen steigen, wollte sie aber nicht zulassen. Danny legte mir ebenfalls die Hand auf den Arm, ein stilles Zeichen, dass er da war, dass er mich nicht allein ließ.
Mein Vater schloss die Heckklappe des Transporters. „Alles drin?“, fragte er, die Stimme ein bisschen rauer als sonst. Ich nickte nur, starrte auf die geschlossene Heckklappe und wusste, dass morgen ein neuer Abschnitt begann. Julia und Danny standen dicht neben mir, und ich spürte, dass egal wie weit die Entfernung war diese Verbindung, dieses kunterbunte Chaos aus Freundschaft, Mut und Verlässlichkeit, würde bleiben.

Die Nacht vor meiner Abreise war kurz. Zu kurz. Ich hatte kaum geschlafen. Zu viele Gedanken, zu viele Gefühle, die sich unaufhörlich in meinem Kopf drehten. Immer wieder hatte ich auf die Uhr geschaut, gehofft, dass die Zeit vielleicht langsamer vergeht. Doch sie tat das Gegenteil. Zumindest fühlte es sich für mich so an. Als der erste Lichtstreifen durch die Vorhänge fiel, gab ich den Versuch zu Schlafen endgültig auf. Ich stand auf, noch etwas benommen, und begann, meine Tasche für die Fahrt zu packen. Es kamen nur die wichtigsten Dinge rein, meine Unterlagen für das Internat, darunter die Anmeldeformulare, mein Portemonnaie, mein Handy und meine Kopfhörer. Ich schmunzelte und legte noch meine Schlafmaske dazu. Alles war still im Haus, nur das zwitschern der Vögel von draussen war zuhören, weiter entfernt, bellte ein Hund. Ich stellte die Tasche neben meine Zimmertür auf den Boden, atmete tief durch und ging ins Bad, um mich fertig zu machen.Nach dem Duschen zog ich ein beiges Sommerkleid an, Knie lang, das locker fiel und an den Schultern feine Träger hatte. Auf die Tasche legte ich eine dünne, hellblaue Jeansjacke. Dazu trug ich meine hellbraunen Chelsea Boots, eingelaufen, bequem, fast wie ein Stück Zuhause an den Füßen. Jeder Handgriff fühlte sich heute seltsam schwer an: Zähne putzen, Haare kämmen, Gesicht waschen.
Ich betrachtete mich nochmalvon Kopf bis Fuß im Spiegel, länger als sonst. Meine braunen Haare fielen mir fast bis zur Brust, leicht gewellt. Meine Augen, mal grün, mal braun, je nach Licht, wirkten sie heute müde. Mein Gesicht war blass aber fast makellos. Nur die kleine Narbe auf meiner Stirn, knapp am Haaransatz über dem rechten Auge, blitzte im Licht auf. Mein Blick blieb an ihr hängen, sie war kaum zu sehen, nur wenn das Licht im richtigen Winkel darauf fiel oder man genauer hinsah. Ich wusste nur, dass ich sie schon hatte, seit ich klein war. Meine Mutter hatte mir einmal erzählt, ich wäre als Kind gestürzt und hätte mir den Kopf aufgeschlagen. Mehr nicht.
Manchmal hatte ich ein seltsames Gefühl. Kein richtiges Bild, eher wie ein kurzer Blitz, ein verschwommenes Flackern in meinem Kopf. Wasser, Kinderlachen, etwas Kaltes, Dunkles. Dann war es wieder weg, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Manchmal bildete ich mir ein das es was mit der Narbe zu tun hatte. Ich war sechs, vielleicht sieben aber alles, woran ich mich erinnere, ist, dass wir plötzlich an einem neuen Ort gezogen waren. Meine Eltern sagten, es war beruflich. Ich hatte nie weiter nachgefragt, habe ihnen aber auch nie von diesen Bildern erzählt die manchmal vor meinem innerem Auge auftauchten, sie wussten nur von den Albträumen die mich manchmal heimsuchten, konnte diese aber nie richtig deuten, mal war es ein schrei um genauer zu sein, jemand der meinen Namen schrie, mal sah ich fließendes Wasser, schwarz wie die Nacht. Ich wachte bisher immer schweißgebadet auf, mein Körper umhüllt von Angst. Mit den Träumen begann auch meine Angst vor Gewässer und der Dunkelheit und ich weiß bis heute nicht warum. Allein der Gedanke an tiefes Wasser löst Panik in mir aus. Ich habe nie Schwimmen gelernt, nicht einmal versucht. Jedes mal wenn ich in der nähe eines Sees stand oder jemand ins Wasser sprang, verkrampfte sich alles in mir. Manchmal glaubte ich, mein Körper würde sich an etwas erinnern, das mein Kopf vergessen hatte.
Ich strich mit dem Finger sanft über die Narbe sie fühlte sich glatt an. Ich atmete tief durch, nahm meine Tasche, und ließ den Blick noch einmal durchs Zimmer schweifen, die Sonne, der angenehme geruch der Sommerluft, dieser vertraute Platz, mein Zuhause. Für einen Moment wünschte ich mir, ich könnte die Zeit zurück drehen, zurück an den Tag bevor meine Eltern mir sagten ich solle auf ein Internat nach Köln.
Als ich gegen 7 die Treppe hinunterging, hörte ich schon leises Stimmengewirr von unten. Für einen Moment blieb ich auf halber Treppe stehen und lauschte. Es roch nach Kaffee, nach frischen Brötchen und ein wenig nach der Vanillekerze, die meine Mutter manchmal morgens anzündete, wenn sie nervös war. Ein vertrauter, heimeliger Geruch und gleichzeitig ein Stich mitten ins Herz.
Unten saßen sie alle schon. Meine Eltern und zu meiner Überraschung auch Julia und Danny. Julia strahlte wie immer, als wäre das hier kein Abschied, sondern einfach ein weiterer Sommertag. Sie trug eine locker sitzende Shorts mit einem Crop-Top, ich glaube ich habe sie noch nie etwas anderes tragen sehen als Bauchfrei seit wir 15 waren, seit dem hatte sie auch ein Bauchnabelpiercing, immer ein anderer sie fand die verrücktesten Schmuckstücke. Mal im Internet, mal auf irgendeinem Flohmarkt oder aus dem Urlaub. Aktuell war es ein kleiner bunter Gecko der aussah als würde er in ihren Bauchnabel reinkriechen und oberhalb ihres Nabels wieder herraus kommen, den hatte sie sich letztens in Spanien gekauft. Und natürlich trug sie ihre schwarzen Boots. Danny saß neben ihr, wie immer ordentlich, aber trotzdem lässig. Cargohose, ein dunkelblaues Poloshirt. Die Brille saß perfekt, keine Haarsträhne fehl am Platz, alles an ihm wirkte ruhig und kontrolliert, fast tröstlich.
„Guten Morgen, Schlafmütze!“ grinste Julia als ich ins Esszimmer trat und schob mir einen Teller mit Pancakes und Sirup hin. „Wir dachten, du lässt uns hier alleine frühstücken.“
Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Guten Morgen.“
Meine Stimme klang schwächer, als ich erwartet hatte. Meine Mutter lächelte mich liebevoll an, aber ich sah, wie angespannt sie war. Ihr Blick huschte immer wieder zu mir, als wollte sie sich mein Gesicht einprägen. Mein Vater reichte mir den Orangensaft, seine Hand zitterte kaum merklich. Niemand sprach es laut aus, aber jeder wusste, was dieser Morgen bedeutete.Wir aßen in ruhiger Stille, unterbrochen von kleinen, unbeholfenen Versuchen, Normalität herzustellen. Julia erzählte von einer verrückten Autofahrt ihrer Eltern, Danny kommentierte, wie seltsam leise mein Viertel ohne uns sein wird. Wir lachten kurz, so ein Lachen, das mehr Schmerz als Freude enthält. Ich sah sie alle an, einen nach dem anderen. Meine Eltern, die versuchten stark zu sein. Julia, die mit einer fast schon trotzig, fröhlichen Energie dagegen ankämpfte, traurig zu sein. Danny, der seine Hände um die Kaffeetasse gelegt hatte, als müsste er sich an ihr festhalten.Und ich mittendrin, zwischen fröhlichkeit, traurigkeit und dieser unbarmherzigen Realität, dass gleich alles anders sein würde.
Nach dem Frühstück half Julia mir, den Tisch abzuräumen. Sie redete viel, wahrscheinlich, um nicht daran zu denken was gleich sein wird. Danny kontrollierte noch einmal meine Tasche, ob alle Unterlagen wirklich drin waren. „Ich will nicht, dass du wegen so etwas Banales gleich am ersten Tag Ärger bekommst“, sagte er mit einem schiefen Lächeln. Ich lächelte zurück, doch in meiner Brust zog sich alles zusammen.
Später vor der Haustür blieb ich stehen, drehte mich noch einmal um und sah sie alle an, meine Eltern, Julia und Danny.
Meine Mutter kam zu mir, legte ihre Hände auf meine Wangen und küsste mich auf die Stirn. „Ich bin so stolz auf dich, mein Mädchen.“
Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen stiegen und nickte nur, unfähig zu antworten. Julia zog mich fest in die Arme. „Du wirst da oben alles aufmischen, ich weiß es. Und wehe, du vergisst uns!“
Ich lachte leise. „Nie im Leben.“ Eine Träne bahnte sich still und heimlich ihren Weg über mein Gesicht.
Danny trat als Letzter vor mich. Kein großes Wort, kein Drama. Nur er, leise, ehrlich.
„Pass auf dich auf, Kat.“ Seine Stimme war ruhig, aber ich hörte das Zittern darin. Dann zog er mich kurz, aber fest an sich. Der Moment war still, fast heilig.
Schluchzend schaute ich Julia und Danny an. “Ich werde euch schrecklich vermissen!” Wir drei fielen uns nochmals in die Arme ehe ich mich langsam löste und zum Auto ging.
Ich stieg ins Auto und schnallte mich an, während mein Vater sich ans Steuer setzte, den Motor startete und langsam losfuhr. Meine Mutter winkte, Julia und Danny standen nebeneinander am Straßenrand. Ich sah sie im Rückspiegel, bis sie kleiner und kleiner wurden. Und in dem Moment, als wir die Straße verließen, wurde mir bewusst, dass ich gerade ein Stück von mir selbst zurückließ und in ein Leben fuhr, das ich noch nicht kannte.

Wir fuhren schon eine ganze weile, wie lange, wusste ich nicht mehr, da ich nach etwa einer stunde aufgehört hatte auf die Uhr zu schauen, ich versuchte mich abzulenken. Lesen, Musik hören, scrollte durch Instagram, Tik Tok und co. Machte Fotos wenn ich etwas schönes während der Fahrt sah. Mein Vater räusperte sich neben mir. "Es wird dir sicher gefallen in Köln. Ich war schon ein paar mal dort auf Geschäftsreise" er lächelte. Ich zuckte die schultern, unklar ob er es sehen konnte.
"Du musst dir unbedingt den Kölner Dom ansehen wenn du die Zeit hast. Das war das erste was ich mir bei meinem ersten Aufenthalt dort angeschaut habe, ich war sogar ganz oben, die Aussicht ist fantastisch! Aber ich muss dich warnen, der Weg dorthin dauert dich ganze 533 Stufen bis zur Spitze, anstrengend aber definitiv Lohnenswert!"
Ich sah aus dem Augenwinkel das er mich kurz ansah. "Wow, das sind eine Menge Stufen" brachte ich eher desinteressiert hervor.
"Oder die Altstadt!" platzte es plötzlich aus ihm heraus. „Du wirst sie Lieben! Mit den malerisch, bunten Häusern, den kleinen Gassen mit Kopfsteinpflaster und den zahlreichen Cafeś. Ich sehe es schon Bildlich vor mir wie du mit deinen neuen Freunden in eines der Cafés sitzt und den Nachmittag verbringst."
Ich sah zu meinem Vater, er schmunzelte.
'Meinen neuen Freunden?' das zu hören verpasste meinem Herzen einen Stich. Wollte ich überhaupt neue Freunde? Wollen andere mich überhaupt als ihre Freundin? Ich seufzte. "Danke Papa, ich werde bestimmt Mal die Gelegenheit haben, mir Köln anzusehen."
Ich hätte ihm am liebsten gesagt, das er aufhören soll, ich bin diejenige die dort leben MUSS nicht er. Ob es mir dort gefallen wird, wird die Zeit zeigen. Aus aktueller Sicht gibt es von mir ein klares nein. Ich hasste es, mich auf was neues einlassen zu müssen. Neue Gegend und neue Leute. Es machte mir Angst. Warum konnte mein Leben nicht einfach weiterlaufen wie bisher, es war alles so perfekt. Aus dem Fenster schauend, spielte ich gedankenverloren an dem Schlüsselanhänger meiner Kette.
Mein Vater legte plötzlich seine Hand auf mein Knie.
"Kati, ich weiß das es schwer für dich ist, ich weiß das du dir nichts sehnlicher Wünscht als das ich Umkehre und dich zurück nach Hause bringe aber bitte gibt der Sache eine Chance" mein Vater drückte sanft mein Bein. Ich biss mir auf die Lippe, versuchte die Tränen zu unterdrücken. Was machte ich mir eigentlich vor, ich konnte vorher nichts ändern und auch jetzt nicht. Vielleicht sollte ich anfangen das alles zu akzeptieren. Ich atmete Tief und setzte ein lächeln auf. "ich Versuch es."
"Das freut mich!" Mein Vater lächelte zurück. "Wollen wir an der nächsten Raststätte eine Pause machen? Wir fahren jetzt schon seit zwei Stunden, ich könnte mir gut Mal kurz die Beine vertreten!?"
Ich sah auf mein Handy, es würde bei guter Verkehrslage also noch gut eine Stunde dauern. Ich nickte. "Na klar, das können wir gerne machen"
Keine 10 Minuten später, fuhr mein Vater auf den nächsten Rastplatz.
Wir gingen auf die Toilette, aßen einige Snacks die Mama uns eingepackt hatte, tranken was und gingen ein Stück spazieren.
"Ahhh... das tat gut" sagte mein Vater als wir uns zurück ins Auto setzten. Er startete den Motor und wir fuhren weiter.

Nacheiner Weile fragte mein Vater mich ob ich zufällig meine Schlafmaske eingepackt hatte, ich bejahte und fragte ihn warum?
"In etwa einer halbe Stunde, befahren wir eine Brücke die über den Rhein führt, ich meine nur falls es für dich einfacher sein sollte." Ich bemerkte wie sein Griff ums Lenkrad fester wurde, als wäre er nervös.
Ichschluckte. Ich hasste Brücken. Um so breiter der Fluss, um so länger die Brücke um so schlimmer war es. Ich malte mir manchmal die schlimmsten Szenarien aus, die Brücke stürzte ein oder ein Unfallpassierte und wir stürzen von der Brücke. Nicht gerade die besten Gedanken für jemand der nicht schwimmen konnte. Ich holte meine kleine Tasche hervor wühlte kurz darin und zog die Maske hervor.
"Da ist sie!" zeigte ich die Maske, nervös triumphierend.
"Ich werde sie direkt aufsetzen und mir Musik anmachen"
"Mach das mein Schatz" mein Vater lächelte mir noch einmal aufmunternd zu. Ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren, aktivierte das Noise-Canceling, startete ein Hörbuch und setzte mir die Maske auf.

Irgendwann spürte ich ein sanftes rütteln an meiner Schulter. Ich zog mir die Maske von den Augen, blinzelte gegen das grelle Licht und entfernte meine Kopfhörer. Mein Vater lächelte mich liebevoll an. "Wir sind da, du scheinst eingeschlafen zu sein"
Ich richtete mich in meinem Sitz auf und schaute einmal durch das Seitenfenster. Mein Blick fiel direkt auf ein Gebäude es wirkte auf den ersten Blick modern. helle, glatte Fassaden, Der Eingangsbereich war eine einzige Glasfront durch die sicher warmes Licht nach außen drang wenn es draußen dunkel wurde. Keine hohen Mauern, keine verschlossenen Türen, alles schien offen, fast einladend. Anders als ich es mir vorgestellt hatte. Ich habe mit Absicht nicht vorher nach dem Internat gegoogelt aus Angst aber ich bin positiv Überrascht. Und doch lag ein Knoten in meinem Bauch.
Ich stieg aus dem Auto und schulterte meine Tasche, die dünne Jacke über meinen Arm.
"Wow, es sieht gar nicht aus wie ein Internat" sprach ich meine Gedankenlaut aus.
Mein Vater stellte sich neben mich. "Was hast du denn gedacht wie es ausschauen würde?" Fragte er mich überrascht.
"Dunkel? Kalt? Hohe Mauern?" Versuchte ich zu witzeln.
"Du liest eindeutig zu viele Bücher" lachte Er.
"Komm, lass uns reingehen!" Er ging los und ich folgte ihm.

Der Eingangsbereich war breit, barrierefrei, fast wie ein Versprechen, dass hier jeder willkommen sein sollte, egal mit welchen Schwächen oder Narben man kam. Vor dem Haus wuchs ein Baum, dessen Blätter im Wind raschelten, als wollten sie mir zuflüstern: "Hier beginnt etwas Neues."
Ich spürte die warme Sommerluft auf meiner Haut, hörte das entfernte Summen einer Straßenbahn, und irgendwo lachte jemand, gedämpft aber ehrlich.
Und trotzdem stand ich da, unsicher mit klopfendem Herzen und fragte mich, ob hinter diesen Fenstern wirklich ein Platz für mich war.

Mein Vater öffnete die schwere Glastür, wir traten beide ein, schauten uns um und versuchten uns zu orientieren. Kaum war die Tür hinter uns ins Schloss gefallen, umfing mich eine ungewohnte Stille, der erste Schritt halte auf dem dunklen Steinfußboden wieder.
Als ich mich umsah, zeigte sich mir ein heller, breiter Flur, fast steril und doch irgendwie warm. Links, ein Treppenhaus mit einer roten Wand, rechts weiter weg eine Tür mit einem Schild, das ich aus der Entfernung nicht lesen konnte.
Dann entdeckte ich sie, die kleine Theke am Ende des Ganges, hinter der eine ältere Frau saß, freundlich, aber beschäftigt. Anmeldung, stand schlicht auf einem Schild vor ihr.
Ich zeigte in die Richtung der Anmeldung. "Da, Papa"
Mein Vater folgte meinem Finger und nickte. "Na dann." Er setzte sich in Bewegung. Ich zögerte kurz, atmete tief durch, strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ging los.
Jeder Schritt klang lauter, als er sollte. Meine Finger glitten unbewusst über die glatte Wand, während ich mich dem Empfang näherte.
Mein Vater blieb vor dem Empfang stehen, er wartete. Die Dame hinter der Glasscheibe, telefonierte und hob mit einem lächeln kurz die Hand um uns zu signalisieren das sie noch einen Moment brauchte.
Nach nur wenigen Minuten legte sie auf, notierte etwas und widmete ihre volle Aufmerksamkeit uns zu.
"Schönen guten Tag, wie kann ich ihnen helfen?" Fragte sie freundlich, ihr Blick wanderte zwischen meinem Vater und mir.
"Guten Tag, Matthias Bieler mein Name und das ist meine Tochter Katharina Bieler, sie Zieht heute in das Internat ein." stellte mein Vater uns vor und zog mich näher ran.
"Ah, Hallo Herr Bieler, schön sie persönlich zu treffen, wir hatten einige Male miteinander telefoniert" erwiderte die Empfangsdamen freundlich, stand auf und kam um den Tresen herum. Sie reichte meinem Vater die Hand und dann mir. "Hallo Katharina es ist schön dich kennenzulernen, meine Name ist Frau Ulbrecht aber du darfst gerne Anett zu mir sagen."
"Hallo Anett, es freut mich ebenfalls, sie dürfen Kati sagen." erwiderte ich ebenso freundlich.
„Das Sie klingt so förmlich, einigen wir uns lieber gleich auf das Du, einverstanden?" sagte sie mit einem Lächeln.
"OK!" Ich lächelte.
"Nicht so schüchtern, ich weiß, das ist sicher alles neu und vielleicht auch angsteinflößend aber mach dir keine Gedanken, es wird dir bei uns bestimmt gefallen!" Versuchte sie mich aufzumuntern. Mir wurde etwas warm ums Herz. Es war schön, so liebevoll in Empfang genommen zu werden.
"Also gut. Herr Bieler." Wendete sich Anett nun an meinen Vater. "Ich benötige dann bitte einmal die restlichen Unterlagen die sie mitbringen sollten."
"Kati, die hast du doch oder?" Fragte er mich.
"Ähm ja, Moment." Ich öffnete meine Tasche, holte die Unterlagen hervor und reichte sie Anett.
Sie nahm sie entgegen und überflog sie mit gekonnten Blick.
"Hier fehlt leider noch eine Unterschrift von dir Kati!" Sie zeigte auf eine Abschnitt am Ende des Blattes.
"Oh." Entfuhr es mir. "Kein Problem." Ich nahm ihr das Blatt aus der Hand, stellte mich an die Theke und unterschrieb.
"Sehr schön, Danke" sagte sie und nahm das Blatt wieder an sich.
Sie ging hinter die Theke und heftete alles fein, säuberlich in einen Ordner. "Dann sind wir damit soweit durch, Ich rufe eben einmal beim Bereichsleiter an, er wird euch dann zeigen wo es in die Wohnbereiche geht und wo sich Kati's Zimmer befindet." wir nickten gleichzeitig.
"Ihr könnt euch solange da drüben in den Wartebereich setzen!" Sie zeigte in eine Ecke, wir drehten uns um.

Der Wartebereich lag gleich neben der Anmeldung halb offen, mit einer großen Glasfront, durch der das Tageslicht sanft auf den Bodenfiel.
An der rechten Wand stand eine dunkelgraue Couch, tief und einladend, als würde sie sagen: 'Setz dich kurz, atme durch.' Daneben standen zwei hellbraune Sessel, leicht versetzt, ein niedriger Holztisch in der Mitte, darauf ein paar Zeitschriften. Links an der Wand war eine Art Küchenzeile mit einem Kaffeevollautomaten, der die Ecke mit dem warmen Duft nach frisch gemahlenen Bohnen füllte. Daneben stand ein Wasserspender, aus dem das Licht der Fensterfront wie kleine Reflexe tanzte.
Ich ging zur Couch und ließ mich auf ihr sinken, spürte, wie die Anspannung langsam nachließ. Der Stoff fühlte sich weich an, der Raum war angenehm temperiert.
Man hörte das Leise Surren der Geräte, das gleichmäßige Geräusch vermischte sich mit entfernten, gedämpften stimmen.
Für einen Moment wirkte alles ruhig, fast friedlich. Als würde die Welt draußen kurz pausieren, während man hier auf das nächste Kapitel wartete.

Etwas später saßen wir im Büro des Bereichsleiter, sein Name war Herr Theiße, er war genauso freundlich wie Anett.

Er und mein Vater unterhielten sich noch über ein paar Kleinigkeiten was das finanzielle betraf. Herr Theiße holte einige Unterlagen hervor. "So das sind einmal die Regeln des Hauses oder wie du es wahrscheinlich kennst Katharina, die Hausordnung, ließ sie dir bitte demnächst in ruhe, sorgfältig durch und halte dich dran! Einige Punkte habe ich schon markiert, die möchte ich direkt durchgehen, wenn es die Zeit erlaubt!?" Er schaute Abwechselnd zwischen meinem Vater und mir hin und her. "Natürlich Herr Theiße" sagte mein Vater.
"Alles klar dann lege ich einfach mal los." sagte Er und begann.
"1. Jeder ist für sein Zimmer, egal ob Einzel-Oder Doppelzimmer selber zuständig, es wird erwartet das es Sauber ist und bleibt, das Streichen der Wände ist nicht gestattet, wir wünschen auch nicht das Nägel oder Pinnnadeln benutzt werden, nichts was die Tapete beschädigt.
2. Haustiere sind nicht erlaubt, ganz egal wie klein sie sind, auch keine Fische oder Amphibien.
3. Der Konsum von Alkohol und Zigaretten ist nicht für Jugendliche unter 18 Jahren gestattet und dann auch nur Außerhalb des Internats!
4. Die Wohnräume zwischen Jungen und Mädchen sind getrennt, auf er Linken Seite vom Eingang ist sozusagen der Jungenflügel das der Mädchen rechts vom Eingang.
5. Besuchszeiten finden Hauptsächlich in den Ferien statt dann dürfen die Kinder nach Hause fahren oder die Eltern können für wenige Tage herkommen, es gibt extra ein paar Gästezimmer für Besucher." Herr Theiße atmete einmal kurz durch.
Er klärte mich noch über die Ruhezeiten am Tag, der Nacht und der Ausgangszeiten auf.
Zum Schluss musste ich einmal mit einer Unterschrift bestätigen das ich alles verstanden hatte, muss dann später nochmal unterschreiben wenn ich den Rest gelesen habe.
"Wenn sie jetzt keine weiteren Fragen haben, würde ich ihn noch einen Kurzen Rundgang durchs Haus, dem Gelände, der Klassenräume und der Gemeinschaftsräume geben, im Anschluss gehen wir dann zu deinem Zimmer Katharina!"
"Ich habe erst Mal keine Fragen" sagte ich und sah zu meinem Vater. "Nein ich auch nicht, es war alles sehr verständlich"
"Sehr schön." Sagte Herr Theiße und erhob sich.

Wir verließen das Büro, gingen durch einen langen Flur bis wir wieder am Eingang standen und gingen die Treppe mit der roten Wand nach oben ins 1. Stockwerk, unsere Schritte hallten leise durch den Aufgang. Oben angekommen erklärte Herr Theiße uns, dass es Links zu den Wohnräumen der Jungen ging und Rechts zu denen der Mädchen. Wir gingen an der Treppe vorbei durch eine große Tür. Dahinter war ein Aufenthaltsraum, darin befanden sich einige Sofas, Sessel und viele Pflanzen. Ein Tischkicker und ein Billardtisch befanden sich mittig im Raum, Leise Musik war aus den Lautsprechern an der Wand zuhören. Wir gingen durch den Großen Raum, durch eine weitere Tür. "Das ist die Bibliothek, hier können sie Hausaufgaben nachschlagen, lernen oder einfach nur in ruhe ein Buch lesen, hier drin wird sich bitte immer Leise aufgehalten um niemanden zu stören "erklärte er uns. Der Raum war fast genauso groß wie der vorherige. Rechts waren Bodentiefen Fenster an denen Tischgruppen standen, links vom Raum standen hohe Regale voll mit Büchern, weiter hinten gab es eine Ecke um es sich mit einem Buch gemütlich zu machen, ich mochte diesen Raum jetzt schon.

Wir gingen zurück nach unten, rechts von der Treppe kommend durch einen kurzen aber breiten Flur dann öffnete der Bereichsleiter eine Glastür, und plötzlich änderte sich die Luft. Vor uns lag der Innenhof ein geschützter, stiller Ort mitten im Herzen des Gebäudes. Ringsum zogen sich die Gänge des Hauses mit ihren Bodentiefen Fenstern entlang, durch die man Bewegungen, Stimmen und Schatten von Schülern erkennen konnte. Aber hier, im Zentrum, war es ruhig. Ein breiter Kiesweg führte im Kreis um ein Beet, in dessen Mitte ein alter, großer Ahornbaum stand. Seine Krone spannte sich weit aus, als wollte sie den ganzen Hof beschützen. Darunter standen Holzbänke, eine davon leicht im Schatten. Auf der anderen Seite sah ich zwei Mädchen, die lachten. Der Bereichsleiter lächelte. „Das ist unser Innenhof. Viele Schüler verbringen hier ihre Pausen oder lernen nachmittags draußen. Im Sommer ist es hier besonders schön."

Ich nickte stumm.

Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fenstern und ließ die Blätter des Baumes glitzern. Vom kleinen Brunnen in der Ecke kam das leise Plätschern von Wasser, und irgendwo in der Nähe zwitscherte ein Vogel.
Mein Vater lächelte kurz. „Das ist wirklich ein schöner Ort." Ich sagte nichts.
Der Bereichsleiter ging weiter, führte uns über den Innenhof durch die nächste Tür. Einige Schüler blickten kurz auf. Ich drehte mich noch einmal um, bevor ich rein ging. Der Baum bewegte sich kaum, Die Blätter raschelten leise obwohl kein Wind zu spüren war.
Herr Theiße zeigte uns noch meinen Zukünftigen Klassenraum, den Musikraum, den Chemie-/Physikraum und den Kunstraum.
Zum Schluss gingen wir zurück über den Innenhof zum Hauptgebäude, in den Mädchenflügel und hielten vor einer Tür.
"So Katharina, das ist dein Zimmer, Du hast vorerst ein Einzelzimmer, das können wir aber im Lauf des Jahres wenn die Möglichkeit besteht oder du den Wunsch äußerst noch ändern" erklärte Herr Theiße und schloss die Tür auf.

"Deine Eltern haben schon die Wichtigsten Möbel liefern und aufbauen lassen, deine anderen Sachen sind gestern Abend ebenfalls eingetroffen"

Ich trat in das Zimmer und blieb einen Moment stehen. Der vertraute Duft von frischer Bettwäsche und den neuen Möbeln lag in der Luft. Ein Lächeln huschte über meine Lippen, als ich den Blick durch den Raum schweifen ließ. Auf dem Bett lag meine Lieblingsbettwäsche, sorgfältig aufgezogen. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einer kleinen Lampe und meinem Laptop, genau wie zu Hause. Die schneeweißen Vorhänge bewegten sich leicht im Luftzug, und über dem Bett spannte sich ein schlichter, moderner Himmel. Für einen Moment fühlte es sich an, als wäre ich gar nicht fortgegangen. Der große Kleiderschrank bot genug Platz für alle meine Sachen. Am Fußende des Bettes stand ein weißes Bücherregal, davor der Karton mit meinen Lieblingsbüchern. In der linken Ecke, gleich neben der Tür, stand mein Lesesessel mit dem passenden Fußhocker, mein Lieblingsplatz. Hier und da stapelten sich noch Kartons und Koffer mit meinen privaten Dingen.
„Man könnte meinen, Mama war hier", sagte ich leise und sah zu meinem Vater. Er lächelte sanft. „Mama nicht, aber sie hat dem Umzugsunternehmen ein Foto von deinem Zimmer mitgegeben, Sie wollte, dass es hier so ähnlich aussieht, damit es sich nicht ganz so fremd anfühlt." Er legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Für einen Augenblick spürte ich, wie der Kloß in meinem Hals größer wurde. Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln. „Das war eine schöne Idee. Es gefällt mir wirklich sehr gut."
Und während ich mich umsah, spürte ich, wie ein kleines Stück Zuhause den Weg hierher gefunden hatte.

Der Bereichsleiter verabschiedete sich von uns und ließ mein Vater und mich allein.
„Na dann habe ich ja noch ein bisschen was zu tun." sagte ich zu meinem Vater und zeigte auf die Koffer und Kartons.
„Das hast du wohl, wollen wir noch zusammen was trinken gehen oder willst du gleich loslegen?"
„Mach dich ruhig auf den Weg Papa, du hast schließlich noch eine lange Fahrt vor dir." sagte ich ruhig und trat weiter ins Zimmer ein.
„Bist du dir sicher? Ich kann noch etwas bleiben." fragte er etwas besorgt.
„Ja Papa, wirklich. Du weißt doch, mit gewissen Dingen soll man umgehen wie ein Pflaster!"
Mein Vater seufzte, wohl enttäuscht das ich keine Zeit mehr mit ihm verbringen wollte.
„Es ist nur." ich hielt kurz inne. „Um so mehr zeit wir jetzt noch miteinander verbringen, um so schwieriger fällt mir dann der Abschied, nimm es mir bitte nicht übel!" versuchte ich ihm so schonend wie möglich zu erklären.
Er sah mich kurz an und öffnete dann seine Arme. Ich zögerte kurz, ging dann aber auf ihn zu und umarmte ihn.

Eng umschlungen standen wir eine weile in meinem neuen Zimmer, Tränen suchten sich ihren Weg über mein Gesicht. Nun war es soweit. Ich hasste Abschiede. Dieser Augenblick verwirklichte nun all das was ich nicht wollte und lies es zur Realität werden.
Erst der Abschied von Mama, meinen Freunden, meinem Zuhause und nun auch von Papa. Das Herz wurde mir immer schwerer.
„Hey, ganz ruhig. Ich verspreche dir in den Herbstferien sehen du und ich uns wieder und wenn es gar nicht geht, komm ich mal wenn es die Zeit erlaubt am Wochenende vorbei, ok?" versuchte er mich zu beruhigen.
Ich lies langsam von der Umarmung ab, Papa zog eine Packung Taschentücher aus seiner hinteren Hosentasche.
„Vorbereitung ist alles" sagte er mit einem lächeln und reichte sie mir. Ich musste lachen. Er weiß genau wie sentimental ich sein kann. Ich trocknete die Tränen und schnäuzte mir die Nase.
„Dankeschön" sagte ich, zwischen Tränen und lachen.
„Da ist ja mein Lieblingslächeln" er tippte mir auf die Wange wo sich ein Grübchen abzeichnete wenn ich lächelte.
„Papa!" ermahnte ich ihn.
„Schon gut, schon gut" sagte er mit erhobenen Händen. „Dann werde ich mich jetzt los machen, mach dir nicht zu viele Gedanken. Wir werden an dich denken und wenn was ist, ruf einfach an, ok?"
„Ok" sagte ich knapp und nickte.
Ich lächelte. „Ich habe dich lieb!"
„Ich dich auch mein Mädchen" er zog mich nochmal in eine kurze Umarmung und ging dann zur Tür. Er schaute mich nochmal an und verschwand dann.
Nun stand ich da, mitten in einem fremden Zimmer, in einem Fremden Gebäude, in einer Fremden Stadt. Um mich von all den Gedanken abzulenken, widmete ich meine Aufmerksamkeit den Unausgepackten Sachen.

Es war erst Freitag Nachmittag, ich hatte also noch das ganze Wochenende Zeit um meine Sachen auszupacken und das Zimmer nach meinen Geschmack herzurichten aber ich wollte zumindest meine Kleidung in den Schrank tun. Somit machte ich mich an den ersten Karton auf dem 'Kleidung' geschrieben stand. Ich bügelte die Kleider, Tops und T-Shirts ordentlich auf und hängte sie geordnet in den Schrank. Shorts und Röcke legte ich zusammen und räumte sie in eines der Fächer, genauso wie Pullover, Strickjacken und Lange Hosen, bis auf die langen Hosen brauchte ich davon jetzt nichts solange es noch warm war. In einem weiteren Karton war meine Unterwäsche, Socken, Schals, Mützen und Handschuhe. Als ich den Karton öffnete, musste ich schmunzeln. Ganz oben drauf lag ein eingerahmtes Bild, es zeigte, Danny, Julia und Mich am Tag meiner Geburtstagsfeier. Julia mit ihren bunten, kurzen Haaren, Danny mit seinem schiefen Grinsen und Mich, die in diesem Augenblick wirklich glücklich aussah. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich bin noch keine 24 Stunden weg aber ich vermisste sie jetzt schon. Ich presste das Bild an meine Brust. Atmete durch, versuchte mich zu beruhigen, brachte das Bild dann rüber zu meinem Schreibtisch und stellte es links neben die kleine Lampe, so hatte ich sie immer bei mir. Ich lächelte und kümmerte mich dann weiter um das einsortieren des Kartons. Unmotiviert öffnete ich einen Koffer. Ich benötige meine Badezimmerutensilien die konnten schlecht bis Sonntag im Koffer bleiben. Seufzend trug ich den kleinen Koffer ins angrenzende Bad, sortierte alles auf die Ablagen, in den Hängeschrank und in die Dusche. Nachdem das erledigt war, setzte ich mich kurz an den Schreibtisch als auch schon mein Handy Vibrierte. Eine Nachricht von Julia in unserem Gruppenchat, eine weitere von Danny. Julia schickte ein Bild, sie hatte sich neue Schuhe gekauft, Orangefarbende Boots mit schwarzer Sohle. Danny schickte einen Smile der das Gesicht verzog, er konnte Julias chaotischen Style nicht nachvollziehen, bei ihm brauchte alles seine Ordnung. Ich lachte und schrieb das die Schuhe toll aussehen und perfekt zu ihr passten. Es war bereits Abendbrotzeit. Ich war so beschäftigt das ich die Zeit völlig vergessen hatte. Ein klopfen riss mich aus meinen Gedanken, ich ging zur Tür und öffnete sie. Anett stand mit einem lächeln davor. "Hallo Anett." Lächelte ich ebenso zurück.
"Kati Liebes, es gibt bald Abendbrot, wenn du möchtest begleite ich dich in die Mensa!?", Bot sie mir höflich an.
"Ähm, ja, das wäre nett ich glaube Herr Theiße hat wohl vergessen mir zu zeigen wo sie ist!", Lachte ich.
"Kein Problem", erwiderte sie. "Darf ich einen Blick in dein Zimmer werfen?", Neugierig sah sie mich an, warf einen Blick über meine Schulter.
"Ja natürlich" ich trat einen Schritt beiseite.
Anett trat einen Schritt in mein Zimmer und sah sich um. "Oh, du hast ja noch gar nichts ausgepackt!?", Sie kratzte sich am Kopf und sah mich verwundert an. Ich ging zum Kleiderschrank und öffnete ihn. "Doch meine Klamotten habe ich schon in den Schrank geräumt und auch meine Utensilien für das Badezimmer. Die anderen Sachen haben Zeit, habe mich erst Mal um das nötigste gekümmert, ich will ja nicht das mir langweilig wird", lachend schloss ich den Schrank wieder.
Anett ging durch mein Zimmer zum Schreibtisch, nahm das gerahmte Bild in die Hand. "Deine Freunde?", fragte sie.
"Ja, die besten! Ich vermisse sie jetzt schon!", gab ich zu.
Sie beobachtet das Bild eine Weile. "Wow ihr 3 seit wirklich einzigartig, jeder für sich" Anett schmunzelt und stellt das Bild zurück.
"OK Kati, lass uns gehen sonst futtern die anderen alles weg" witzelt sie und geht zurück Richtung Tür.
'Die anderen' mir wird etwas mulmig. "Sind denn schon viele da?" Ich nahm mein Handy, mein Schlüssel, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich folgte Anett durch den Flur bis zur Treppe.
"Nein, heute ist es noch ziemlich ruhig, die meisten bleiben bis Sonntag Zuhause oft diejenigen die schon etwas länger hier sind, die, die zum ersten Mal kommen, reisen schon eher an, so wie du." Wir gingen die Treppe hinunter, am Empfang vorbei, durch einen weiteren Flur. An der Wand hängen vereinzelnd Bilder, sie sehen aus wie Projekte verschiedener Schüler vom Kunstunterricht.
"Wie viele beginnen in diesem Schuljahr neu hier?" Fragte ich Anett, während ich mir beim Vorbei gehen die Bilder weiter anschaute.
"Mit dir sind es 3, ich glaube in Klasse 9 und 10. Du bist in der 11. Richtig?" Sie öffnet eine Doppeltür und wir traten in die große Mensa ein.
"Ja" antwortete ich knapp. Mein Blick schweifte durch die Mensa. Nur wenige Schüler sind hier, ich schätzte ungefähr 20. Die Mensa ist groß, größer als gedacht und hat bestimmt Platz für 30 weitere Schüler. Es gibt große runde Gruppentische, 4er und 2er Tische. Alle sitzen irgendwie zusammen. Links vom Eingang  befindet sich die Essensausgabe, sie erstreckt sich bis hinter zur Wand, dahinter eine ältere Frau und ein Jüngerer Mann. Vielleicht Mutter und Sohn? Über der Ausgabe befinden sich eine schräg angebrachte Tafel, auf ihnen Handgeschrieben was es zu den heutigen Hauptmahlzeiten gibt, ganz rechts das Café Angebot.

"So Kati das ist die Mensa, hier bekommst du Frühstück, Mittag, Kaffee/Kuchen, Abendbrot und es wird immer eine Nachtmahlzeit Angeboten", riss mich Anett aus meinen Gedanken.
"Danke dir Anett das du mich hergebracht hast" ich lächle ihr zu.
"Findest du dich nach dem Essen alleine zurück?"
"Ja! Danke! Der Weg hierher war nicht all zu schwer" ich lächelte sie dankend an.
"OK, gehe einfach rüber an die Ausgabe und nenne deinen Namen, wenn du das OK bekommen hast, kannst du dich bedienen. Ich wünsche dir einen guten Appetit und später eine gute Nacht."
"Vielen Dank, das wünsche ich dir auch später Anett!"
Mit einem 'Danke' wendete sie sich zum gehen ab.
ich ging hinüber zur Theke, die ältere Dame füllte gerade einen Korb mit Brot auf und kam dann zu mir herüber.
Sie setzte ein freundliches lächeln auf. "Hallo, ein neues Gesicht?"
Ich errötete leicht. "Ja. Mein Name ist Katharina Schilling, heute angereist."
"Herzlich Willkommen Katharina!" sie wendete sich dem PC zu, tippte etwas ein und nickte.
"Dankeschön" erwiederte ich kurz.
"Alles klar, du bist schon im System hinterlegt, da drüben findest du Tabletts, Teller, Besteck und Servietten. Nimm dir was du magst. Heute ist es noch nicht so sehr bestückt wie in Zukunft weil erst so wenige Schüler da sind, das ändert sich dann in den nächsten Tagen. Ich gehe kurz ins Büro und hole deinen Ausweis." sie wendete sich mit einem lächeln ab und verschwand durch einer Tür. Ich nahm mir was ich brauchte, bestückte 2 Teller mit Brot, Margarine, Aufschnitt, etwas Gemüse und füllte ein Glas mit Orangensaft, suchte mir dann einen Freien Platz. Einige Schüler blickten kurz auf, widmeten sich dann aber wieder ihrem Essen und den Gesprächen zu.
Nach einer Weile trat die Dame von der Ausgabe an meinen Tisch und reichte mir meinen Ausweis.
"Den bitte immer zu den Mahlzeiten mitbringen, da hinten bei dem Geschirr ist ein Lesegerät, kurz ranhalten und fertig, das ist deine Anmeldung."
"Alles klar!" ich nickte verstehend. Ich sah mir den Ausweis genauer an, ein Bild von mir, mein Voller Name und ein Barcode, schlicht und übersichtlich. Die Dame war bereits wieder verschwunden als ich aufblickte.
Ich hatte schnell aufgegessen, nahm das Tablett und schob es in das Rückgaberegal. Ich nahm mir noch einen Apfel fürs Zimmer aus dem Obstkorb und verließ die Mensa. Als ich durch den Flur zurück zum Zimmer schlenderte, klingelte mein Handy 'Mama' stand auf dem Display. Ich drückte auf den grünen Hörer.
"Hallo Mama" begrüßte ich sie glücklich.
"Hallo mein Schatz, ich habe dich auf Lautsprecher, Papa sitzt neben mir"
"Hallo auch an Papa" lachte ich. "Bist du gut Nachhause gekommen?"
"Naja nicht so gut wie die Hinfahrt aber ok, bin auch ganz schön erledigt" ich hörte ihn lachen.
"Ja das kann ich mir vorstellen! Ich komme gerade vom Abendessen und bin auf dem Weg zurück in mein Zimmer" langsam ging ich die Treppen rauf.
"Ach Mama, danke für die Zimmereinrichtung, es ist fast wie Zuhause"
"Schön das es dir gefällt! Kannst mir ja mal ein Foto schicken."
"Mach ich sobald ich mit auspacken fertig bin, habe heute erst mal den Kleiderschrank eingeräumt und die Utensilien fürs Bad verstaut"
"Kein Stress liebes" sagte sie. "Und wie gefällt es dir dort bisher?"
Ich zuckte die Schultern und verdrehte die Augen als ich merkte das sie das ja gar nicht sehen konnte. "Der erste Eindruck ist ganz ok, bisher sind alle sehr freundlich."
"Schön zu hören, hast du schon andere Schüler kennengelernt?" fragte sie neugierig.
"Nein Mama, mit mir sind hier villeicht 25 Schüler bissher, die restlich reisen erst spätestens Sonntag an." nahm ich ihr den Wind aus den Segeln.
"Schade" seufzt sie. "Na dann eben in den nächsten Tagen!" gab sie aufmunternd wieder.
"Bestimmt! Ok ihr 2 ich muss auflegen, ich kann sonst nicht meine Tür aufschließen." Ich stand bereits vor meiner Tür, in der der einen Hand den Apfel und Schlüssel, in der anderen Hand das Handy welches ich krampfhaft versuchte zwischen Schulter und Ohr zu klemmen.
"Kein Problem mein Schatz, hab noch einen schönen Abend und Schlaf schön! Wir lieben dich!"
"Ich Liebe euch auch, wir hören uns!" Ich legte auf und schloss die Tür auf.

An diesem Abend passierte nicht mehr viel, tatsächlich war ich um halb 8 fertig umgezogen für die Nacht, saß eingekuschelt in meinem Bett, aß den Apfel aus der Mensa, laß ein wenig in einem Buch, schrieb mit Danny und Julia oder scrollte durch Instagram. Keine halbe Stunde später raffte mich die Müdigkeit so hin das ich beschloss zu schlafen, ich zog die vorhänge zu, machte die kleine Lampe auf dem Schreibtisch an und löschte das große Licht. Binnen weniger Minuten schlief ich ein.

Kalt.
Wasser.
Dunkelheit.

Ein helles Lachen, irgendwo ganz nah dann ein Schrei.
Jemand ruft meinen Namen.
„Kati!"
Die Stimme klingt panisch, bricht ab.

Etwas glitzert. Sonnenlicht auf Wasser. Ein Schatten. Hände, die nach mir greifen.
Ein dumpfes Geräusch, als würde die Welt für einen Moment anhalten.
Dann Stille.

Ich will atmen, doch es geht nicht. Alles zieht, dreht sich, verschwimmt.
Nur noch das Gefühl, zu fallen.
Und diese Stimme, flüsternd, verzweifelt:
„Nein... bitte nicht..."

Ich fuhr hoch.
Mein Atem ging schnell, das Herz schlug bis zum Hals. Für ein paar Sekunden wusste ich nicht, wo ich war. Das gedämpfte Licht, der Geschmack von Angst.
Ich erkenne die Umrisse meines Zimmers.
Ich war im Internat. In Sicherheit.
Trotzdem war mir eiskalt.
Ich zog die Decke fester um mich, atmete tief ein und versuchte, das Zittern zu stoppen.
Bilder blitzten in meinem Kopf auf, Wasser, Dunkelheit, Stimmen aber sie zerrannen, sobald ich sie festhalten wollte.
„Nur ein Traum", flüsterte ich heiser. Doch selbst das klang nicht überzeugend.
Ich blieb noch lange wach, starrte zur Decke.
Ich hatte das Gefühl, dass da etwas in mir war, das ich längst vergessen hatte.
Doch um so mehr ich versuchte mich zu erinnern um so unklarer wurden die Bilder.
Irgendwann schlief ich wieder ein. Unruhig aber traumlos.

Ich schlief lange am nächsten Tag, als ich die Augen öffnete war es bereits nach 9 Uhr.
Draußen war es grau, Regentropfen liefen am Fenster hinunter als ich die Vorhänge öffnete, das Wetter glich meiner Gefühlslage.
Ich war Müde, unausgeschlafen, gerädert.
Ich erinnerte mich an die Nacht aber der Traum war endgültig aus meinen Erinnerungen verschwunden.
Ich machte mein Bett vernünftig, ging duschen, zog mich an.
Den Samstag verbrachte ich mit Frühstücken, Kartons und Koffer ausräumen, Zimmer herrichten. Ich hatte mich so in die Arbeit gestürzt das ich die Zeit völlig vergaß bis mein Magen sich meldete, ich hatte das Mittagessen völlig vergessen.
Ich ging hinunter in die Mensa, schaute ob ich eine Zwischenmahlzeit abgreifen konnte. Und tatsächlich, Kaffee, Tee, Kakao. Gebäck, ein Kuchen, Croissants vom Frühstück. Ich nahm mir einen Kaffee und ein Croissant, setzte mich an einen 2er Tisch. In der Mensa war nur eine kleine Gruppe, sie kannten sich wohl schon aus dem Vorjahr.

Gerade als ich meinen letzten Schluck Kaffee nahm, öffnete sich die Tür. Eine Gruppe von vier Schülern kam herein, zwei Mädchen, zwei Jungs, vielleicht in meinem Alter. Sie redeten durcheinander, lachten laut, so als wäre das Internat ihr zweites Zuhause.
„...dieses Jahr sind's drei Neue, hab ich gehört", sagte eines der Mädchen, kaum dass sie an den Tischen vorbeigingen.
„Ja, zwei kommen erst morgen", antwortete ein anderer. „Aber eine ist wohl schon da. Sie wurde gestern beim Abendessen gesehen."
„Die mit den dunklen Haaren?"
„Keine Ahnung. Ich hab nur gehört, sie ist in der Elften."
Ich hielt kurz inne. Mein Löffel klirrte leise gegen die Tasse.
Sie redeten über mich. Ganz sicher.
Die Gruppe blieb ein paar Meter entfernt stehen. Jemand deutete unauffällig in meine Richtung. Ich spürte ihren Blick im Nacken, dieses kribbelnde Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl man so tut, als merkt man's nicht.
Für einen Moment wurde es still. Dann wechselte plötzlich jemand das Thema, zu laut, zu offensichtlich.
„Also, habt ihr schon gehört? Herr Lenz soll jetzt auch Chemie unterrichten!"
„Oh Gott, der Arme!"
Lachen.
Zu gezwungen.
Ich tat so, als würde ich auf meinem Handy tippen, doch mein Magen zog sich zusammen. Es war dieses typische Gefühl, das man bekommt, wenn man neu irgendwo ist, man weiß, man ist Thema, aber keiner traut sich, Hallo zu sagen.

Ich nippte an meinem Kaffee, der inzwischen kalt war, und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
Vielleicht bildete ich's mir nur ein, dachte ich. Vielleicht war's Zufall.
Ich hob den Blick. Die Gruppe von vorhin kam langsam auf mich zu, erst einer, dann die anderen hinterher. Ich spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte. Für einen Moment überlegte ich, einfach aufzustehen und zu verschwinden, bevor sie überhaupt etwas sagen konnten.

Das Mädchen vorne blieb stehen. Sie hatte hellbraune Haare, die zu einem lockeren Zopf gebunden waren, und ein entschlossenes, aber irgendwie verlegenes Lächeln.
„Hey", sagte sie vorsichtig. „Ähm... du bist neu, oder?"
Ich nickte. „Ja."
„Okay..." Sie sah kurz zu den anderen, dann wieder zu mir. „Ich wollte mich kurz entschuldigen. Wir waren eben vielleicht ein bisschen laut. Und... na ja, wir hätten dich einfach ansprechen sollen, statt über dich zu reden."
Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte nicht erwartet, dass jemand so ehrlich reagiert.
„Schon okay", murmelte ich schließlich. „Ich hab's ja nicht wirklich gehört."
Was natürlich gelogen war.
Das Mädchen grinste leicht. „Ich bin Nora." Sie zeigte auf die anderen. „Das sind Ella, Max und Leon. Wir sind jetzt das 2. Jahr hier."
„Kati", stellte ich mich vor.
„Willkommen, Kati." Sie lächelte offen, und ich merkte, dass es echt gemeint war. „Die ersten Tage sind immer ein bisschen komisch. Aber keine Sorge, das legt sich."
Leon, der etwas hinter ihr stand, kratzte sich am Kopf. „Wir haben echt nicht über dich gelästert, falls du das denkst. Es war nur... na ja, du bist halt neu. Da redet man automatisch."
Ich zuckte die Schultern. „Ist schon gut."
Und irgendwie meinte ich es sogar so.
„Na dann", sagte Nora, und ihre Stimme klang jetzt lockerer, „Wenn du später Lust hast wir treffen uns manchmal im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss. Da läuft Musik, manchmal Filme. Ganz entspannt. Komm einfach vorbei, wenn du magst."
Ich nickte leicht, überrascht über das Angebot.
„Vielleicht."
„Cool." Sie grinste. „Dann bis später vielleicht. Und... willkommen im Chaos."
Die Gruppe lachte leise, winkte kurz und ging dann zurück zu ihrem Tisch.
Ich blieb noch einen Moment sitzen, mein Blick blieb an dem Regentropfen am Fenster hängen. Irgendwie war mein Herzschlag jetzt ruhiger.
Vielleicht, dachte ich, war das hier ja gar nicht so ein schlechter Anfang.

Später, als ich schon lange zurück auf meinem Zimmer war, nahm ich meinen Mut zusammen und beschloss in den Gemeinschaftsraum zu gehen. Sie waren alle so nett vorhin, ich sollte diese Chance ergreifen bevor ich am Ende hier ganz alleine bin.
Ich öffnete die Tür zum Raum, lautes Gelächter und das Geräusch einen Queue der gegen eine Billardkugel stößt kommt mir entgegen.
Ich schaute durch den Raum, Nora und Leon saßen auf dem Sofa und unterhielten sich, Max und Ella spielten Billiard. 3 weitere Schüler saßen weiter hinten auf dem Sofa und schienen sich zu unterhalten.
"Kati!" hörte ich Noras stimme meinen Namen rufen, ich setzte ein leichtes lächeln auf. Nora kam mir entgegen. "Schön das du gekommen bist!" Sie nahm meine Hand und zog mich mit zum Sofa, Ella und Max unterbrachen ihr Spiel und kamen ebenfalls rüber. Ich errötete etwas, fühlte mich wie Frischfleisch und hasste es im Mittelpunkt zu stehen.
Ich räusperte mich nervös, "Hi" gab ich mit einen wink in die Runde.
"Erzähl uns von dir Kati!" Sagte Nora ganz aufgeregt.
"Ähm, von mir.... So viel gibt es da gar nicht" versuchte ich auszuweichen.
"Wie alt bist du, woher kommst du, warum bist du hier? Hast du einen Freund? Sowas halt" Nora lachte. Sie erinnerte mich etwas an Julia, so aufgeweckt, neugierig und keine scheu vor fremden. Ich schmunzelte.
"Ich bin gerade 17 geworden, komme aus Hildesheim und ich bin hier ...." Nora unterbrach mich. "Aus Hildesheim?? Scheiße! Lass das 300 Kilometer sein?" Ungläubig schaute sie mich an.
"Jap, 307 um genau zu sein" berichtigte ich sie.
"Warum so weit weg von Zuhause? Gibt es keine Internate bei euch in der Nähe?"
"Meine Eltern wollten nur das Beste für mich und das scheint wohl dieses zu sein" Ich zuckte die Schultern.
"Das ist echt krass!"
"Ich hätte meine Eltern zum Mond geschossen wenn sie mich soweit von Zuhause weg in einem Internat angemeldet hätten!" Mischte sich nun Ella ein.
"Habe ich versucht!" Lächelte ich gequält. "Der spaß endete für mich im Krankenhaus." Ich hielt kurz inne, alle 4 schauten mich schockiert an und dachten wohl das gleiche, ich musste lachen. "Nein, nein nicht das was ihr denkt!" Versuchte ich sie sofort zu beruhigen und winkte ab.
"Als meine Eltern mir eröffneten das ich nach den Sommerferien auf ein Internat soll bin ich ziemlich wütend geworden, nach dem Gespräch ging ich auf mein Zimmer, und Fegte vor wut mit einer Armbewegung alles von meinem Schreibtisch, später nachdem ich mich gefühlt stundenlang ausgeheult hatte, trat ich in eine Scherbe der Glühbirne die zuvor zerbrochen war, somit verbrachte ich quasi die erste Woche der Sommerferien im Krankenhaus"
"Ouch" kam es von Max.
"Das bin ich, der Tollpatsch in Person" ich lachte und die anderen stiegen mit ein.
"Und warum bist du hier?" Fragte nun Leon.
"Meine Mutter ist Kinderärztin und wird für eins oder zwei Jahre nach Afrika versetzt. Mein Vater ist Anwalt und arbeitet seit wenigen Wochen an einem extremen, aufwendigem Fall. Solche Fälle führen dazu das er kaum bis gar nicht Zuhause ist. Meine Eltern möchten mich nicht alleine Zuhause lassen, somit bin ich hier gelandet."
"Krass" wiederholte Nora, es schien das dies eines ihrer lieblingswörter war.
Ella saß direkt neben mir, stupste mich mit ihrer Schulter an. "Und hast du einen Freund?" Fragte sie neugierig.
"Nein, ich habe mich bisher immer auf die Schule konzentriert"
"Wow, dabei bist du so ein hübsches Mädel, die Jungs müssen doch Schlange stehen!?"
"Ich weiß nicht" sagte ich schulterzuckend, röte stieg mir ins Gesicht, ich lächelte verlegen. "Habe um ehrlich zu sein nie darauf geachtet" gab ich klein bei.
Um das Thema zu wechseln fragte ich warum die anderen alle hier sind. Nora ihre Mama ist Alleinerziehend, arbeitet viel. Ella ihre Eltern befanden sich in einem Scheidungsjahr, sie wollen nicht das sie das alles mitbekam, wird ab nächstes Jahr nach ihrem Schulabschluss wieder Nach Hause ziehen. Max verstand sich nicht so gut mit seinem Vater und bestand darauf das er auf ein Internat kommt. Leons Mama ist ebenfalls Alleinerziehend. Er verlor vor knapp über einem Jahr seine kleine Schwester bei einem Autounfall. Seine Mutter kommt über den Tod nicht hinweg da sie die Unfallverursacherin ist und sich in Psychiatrische Behandlung befindet.
Ich schluckte schwer, mein Herz zog sich zusammen.
"Das tut mir wirklich leid! Und da komm ich um die Ecke mit einer so banalen Sache." Ich blinzelte eine träne weg.
Wir wechselten das Thema. Ich erfuhr das alle so ziemlich aus der nähe kamen, nicht ganz eine Stunde entfernt. Nora kam jetzt in die 11. Klasse also würde sie mit mir zusammen sein, was mich ehrlich beruhigte, so war ich nicht ganz allein. Ella beginnt jetzt die 10. Klasse und macht ihren Abschuss. Max und Leon waren in der 9. Klasse, würden voraussichtlich ebenfalls bis zum Abschluss der 10. Klasse hierbleiben.
Wir unterhielten uns über alles mögliche, Hobbys, Interessen, das Internat, die Zukunft. Später gingen wir zusammen zum Abendessen.

Am Abend ließ ich mich Müde aber glücklich ins Bett fallen, ließ den Tag Revue passieren. Nora sagte mir das morgen 16 Uhr ein Treffen mit den neuen und denen stattfinden würde die schon länger als ein Jahr hier sind um sich kennenzulernen.
Ich telefonierte kurz mit meinen Eltern und schrieb mit Danny und Julia wie mein Tag verlief.
Julia erzählte mir das sie sich eine fette Sommergrippe eingefangen hatte, ausgerechnet jetzt wo die Schule wieder beginnen wird.
Ich wünschte ihr eine schnelle Genesung und wünschten beide eine Gute Nacht, legte dann das Handy beiseite.
Diese Nacht war es ruhig, keine Albträume, nichts.

Sonntag nach dem Frühstück, konzentrierte ich mich voll und ganz auf die Vorbereitung der Schule. Beschriftete Ordner, schrieb meinen Namen in die Schulbücher, kontrollierte meine Stifte. Ich holte den Schulplaner und den Zettel mit dem Stundenplan hervor, trug für die nächste 4 Wochen den Stundenplan in den Schulplaner ein. Andere würden jetzt wahrscheinlich sagen: "Was für eine Streberin" aber nein das bin ich nicht, ich bin was die Schule angeht, einfach nur gerne Organisiert. Ich startete meinen Laptop, installierte und richtete das Programm für den Unterricht ein. Hier war einiges anders als an meiner alten Schule, hier brauchte man nicht für jedes Fach einen Hefter, könnte man machen aber vieles wird Digital erfasst, so reichen 2 Ordner für jeweils 3 Fächer mit Trennregister, der Rest wird auf dem Laptop festgehalten. Was einem nicht erspart bleibt sind die schweren Bücher.
Als ich damit durch war, beschloss ich noch den Karton mit meinen Büchern auszupacken, dann stand der hier nicht mehr sorum und das Regal sah nicht mehr so leer aus.
Das war schnell erledigt. Ich faltete auch diesen Karton zusammen, nahm die anderen dazu und brachte diese zum Altpapier.
Auf den Rückweg kam mir eine eine Frau wohl mit ihrem Sohn entgegen, ich vermutete etwa im gleichen Alter wie ich. Er trug weiße Adidas Schuhe, eine Dunkelblaue, weite Jeans, einen Weißes Shirt. Seine Haare waren etwas wild und fast Schwarz. Sein Blick traf meinen nur kurz aber lang genug das mir der Atem stockte.
Diese Augen.
Blau grau, fast stahlfarben, das weiße Shirt betonte seine Augen nur noch mehr.
Wir gingen aneinander vorbei, nach einigen Schritten blieb ich stehen, dreht mich kurz um. Ich kannte ihn nicht, davon war ich überzeugt. Und doch war da etwas ... ein seltsames Gefühl, tief in mir. Als hätte ich diese Augen schon Mal gesehen. Irgendwo. Irgendwann.
Ich versuchte mich zu erinnern aber so sehr ich mich auch anstrengte, da war rein gar nichts.
Es war dieses Gefühl wenn einem das Wort auf der Zunge liegt, zum greifen nah aber es fiel einem nicht ein.
Ich hasste dieses Gefühl, es kam immer und immer wieder solang ich mich zurück erinnern kann, nach meinen Träumen, wenn plötzlich Bilder vor meinem inneren Auge aufblitzten und jetzt als ich diese Augen sah. Das kann doch kein Zufall sein, oder? Bildete ich mir das alles nur ein, spielte meine Fantasie mir einen Streich?
Schnellen Schrittes ging ich durch den Flur, die Treppe hoch, stieß fast mit einem anderen Schüler zusammen. "Sorry", murmelte ich. Ich stürmte in mein Zimmer, direkt ins Bad und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Ich blickte auf, sah direkt in den Spiegel. Das kalte Wasser tropfte von meinem Kinn, einzelne Strähnen hatten sich aus meinem Zopf gelöst und klebten an meinem Gesicht. Unter meinen Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet, der Kajal war verlaufen, die Wimperntusche verschmiert. Soviel zu Wasserfest. Ich wischte mit der Hand über die Wange, doch es machte alles nur schlimmer.
Ein stilles Lächeln huschte über meine Lippen, fast spöttisch.
"Toll gemacht Kati", murmelte ich leise.
Aber eigentlich meinte ich nicht das Make-Up.
Ich starrte in meine Augen, suchte nach etwas, das mir erklären konnte, warum die Augen von dem Jungen mich so getroffen hatten.
Doch alles was ich sah war ein Mädchen, das versuchte, ruhig zu atmen, während ihr Herz noch immer raste.
Plötzlich klopfte es an meiner Tür, ich erschrak.
Ich ging zur Tür. Nora.
Sie blickte mich lächelnd doch dann erschrocken an, kam direkt in mein Zimmer.
"Oh mein gott Kati, ist was passiert? Du siehst ja fürchterlich aus!?", besorgt sah sie mich an.
Ich lächelte. "Nein, nein alles in Ordnung!", versicherte ich ihr.
"Ich hatte mir Wasser in Gesicht gespritzt und vergessen das ich mich heute morgen geschminkt habe"
Nora legte eine Hand auf ihren Brustkorb und atmete erleichtert aus. "Na Gott sei Dank!"
"Ich gehe mich eben frisch machen." Sagte ich zu Nora als ich mich zurück ins Bad machte. Sie folgte mir.
Mit einem Abschminktuch entfernte ich das Make-Up, wusch nochmal mein Gesicht, trocknete es und cremte es ein.
Ich schaute Nora an. "So besser?", lächelte ich.
"Viel besser, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt", meinte sie lachend. "Ich wollte, nach dir sehen weil du noch nicht beim Essen warst"
Ich schaute auf meine Uhr am Handgelenk, es war fast 13 Uhr.
"Oh shit, entschuldige, ich war so in den Vorbereitungen für die Schule vertieft das ich die Zeit völlig vergessen habe"
"OK, kein Problem, kommst du noch mit runter?"
"Ja, klar! Ich habe einen Bärenhunger" ich hielt mir den Bauch der bereits knurrte. Der fremde Junge war erst Mal vergessen.
Nach dem Essen verabschiedete ich mich von den anderen, wir verabredeten uns für 16 Uhr im Gemeinschaftsraum.
Es dauerte nicht lange und ich erwischte mich bereits beim Mittagessen dabei wie ich die Mensa nach dieser einen Person absuchte aber er war nicht da und kam auch nicht. Wer weiß warum er hier war, vielleicht wurde er abgemeldet und ich würde ihn nie wieder sehen?
Ich war irgendwie Müde, obwohl ich die Nacht gut geschlafen hatte und beschloss mich etwas hinzulegen, stellte mir vorher noch einen Wecker um nicht das Treffen zu verschlafen.
Dunkelheit umhüllte mich, es war kalt.
Ich hatte Angst, spürte das Zittern meines Körpers, ich wimmerte.
Jemand rief meinen Namen und plötzlich waren sie da, diese Augen.
Erneuert rief jemand mein Name, spürte ein rütteln.
Die Stimme wurde Lauter, drang weiter zu mir durch.
"Kati! Wach auf!"
Ich schreckte auf. Stieß mit jemanden zusammen, hielt mir sofort den Kopf.
"Au verdammt" hörte ich Noras Stimme.
Ich blickte auf, sah was geschehen war und beugte mich zu ihr rüber.
"Oh Gott Nora! Es tut mir soo leid! Hast du starke schmerzen?" Ich legte meine Hand auf ihre Schulter während ich mir ebenfalls den Kopf rieb.
"Nein, geht schon, denke ich." Versicherte sie mir.
"Und dir? Geht es dir gut? Hattest du einen Albtraum? Ich habe mir echt Sorgen gemacht. Du hast irgendwie gewimmert, ich dachte du würdest weinen und dein Körper hat gezittert" noch besorgter als vorhin schaut sie mich an, ihre Stirn in Falten.
Ich schloss für einen Moment die Augen.
Ich schluckte.
Meine Hand zitterte noch immer als ich sie von Noras Schulter nahm.
Ich schüttelte den Traum beiseite, setzte ein lächeln auf.
"Ja es ist alles gut, ich kann mich nicht wirklich erinnern."
Ich stand auf und Blickte zu Nora. "Warum bist du hier?" fragte ich sie um vom Thema abzulenken. Ich konnte mich sehr wohl erinnern, die Dunkelheit, die Angst die ich verspürt hatte, die Augen die mich ansahen. Besser als je zuvor erinnerte ich mich an meinem Traum und er wollte nicht verblassen, er heftete sich wie ein Schatten an mich. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
"Ich dachte mir ich hol dich zu dem Treffen ab dann musst du nicht alleine da auftauchen" Nora stand ebenfalls auf, rieb sich nochmal die Stelle am Kopf und lächelte mir zu.
"Das ist wirklich nett von dir, ich verschwinde nochmal ins Bad dann können wir gerne gehen."
Sie nickte und ging zu meinem Schreibtisch.
Ich ging ins Bad und verschloss die Tür, lehnte mich kurz gegen diese, schloss die Augen und atmete tief durch. Sofort fühlte ich mich wie im Traum, ich riss die Augen auf.
Ich ging nochmal auf die Toilette, wusch meine Hände, mein Gesicht und richtete meine Haare.
Ich versuchte mein Gedankenkarussell zu stoppen. Was hatte Plötzlich dieser Junge in meinem Traum zu suchen, ich verstand die Welt nicht mehr. Es war diesmal so anders, intensiver.
Ich schloss die Badezimmer Tür auf und trat zurück ins Zimmer, Nora saß am Schreibtisch und musterte das Bild von Julia, Danny und mir.
"Ihr schaut glücklich aus" gibt sie von sich und blickt vom Bild auf.
"Das waren wir auch" ein Kloß blieb in meinem Hals stecken.
"Bis meine Eltern entschieden, mich hierher zu schicken" fügte ich hinzu.
"Das tut mir leid" sagte Nora leise, stand auf und stellte sich vor mich.
"Das sind Julia und Danny, du erinnerst mich sehr an Julia. Sie ist sehr aufgeweckt, hat keine scheu vor fremden und ist ein bisschen überdreht" beschrieb ich meine beste Freundin.
Empört sah Nora mich an, fasste sich ans Herz, als hätte ich ihre gesamte Existenz beleidigt.
„Überdreht, ich? Niemals!"
Sie ging zwei Schritte zurück, als wäre sie eine Schauspielerin im letzten Akt eines Theaterstücks, die im Scheinwerferlicht ihre Ehre verteidigen musste.
„Ich bin eine Vision, keine Übertreibung."
Stille.
Wir prusteten beide los und hielten uns die Bäuche vor lachen.
Es tat gut, so zu lachen. Es lenkte mich von all dem schlechten ab, das was ich geträumt hatte und was ich die ganze Zeit fühlte.
Ein Gefühl von Glück kehrte zurück.
Und dafür war ich Nora jetzt schon dankbar. Vielleicht war dies der beginn einer ganz neuen Freundschaft.

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Autor

MiraBellenbaums Profilbild MiraBellenbaum

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Kapitel: 9
Sätze: 1.163
Wörter: 15.583
Zeichen: 88.968

Kurzbeschreibung

Nichts ist mehr, wie es war. Ein Streit mit ihren Eltern endet für Kati mit einem Scherbenhaufen in ihrem Zimmer und in ihrem Leben. Wegen beruflicher Veränderungen wird sie auf ein Internat nach Köln geschickt, weit weg von allem, was ihr wichtig ist. Dort trifft sie einen Jungen, der ihr seltsam vertraut vorkommt. Dessen Augen sie nicht mehr loslassen. Die zwei ahnen nicht, dass sie ein tragisches Geheimnis verbindet. Eine Wahrheit die alles verändert.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Alltag auch in den Genres Liebe, Drama, Angst und Familie gelistet.

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