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Kapitel: | 5 | |
Sätze: | 355 | |
Wörter: | 6.286 | |
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Das Telefon klingelt. Ich liege bäuchlings auf dem weißen, viel zu weichen Bett, das nicht mein eigenes ist, und kann mich nicht rühren. Es ist, als wäre ich angekettet oder gelähmt, zu Salz erstarrt oder schlicht und ergreifend gestorben. Ich fühle mich wie Jesus Christus, nachdem sie ihn vom Kreuz abgenommen haben. Dabei steht mir meine Kreuzigung erst noch bevor.
Die ganze Nacht habe ich damit verbracht, darauf zu hoffen, dass entweder die Zeit oder mein Herz stehen bleibt. Normalerweise bin ich kein gläubiger Mensch und ich habe auch nicht vor, heute einer zu werden, aber ich erwische mich bei einem kurzen Stoßgebet: „Lass es aufhören!“
Aber wer auf dieser Welt lässt schon etwas sein, wenn es beim ersten Mal nicht funktioniert? Diese Verbissenheit, mit der wir von frühster Kindheit an angefixt werden, ist die Geißel der gesamten Menschheit.
„Gib niemals auf!“, sagen sie dir, singen sie dir vor. Comicfiguren, Schauspieler, Liedermacher, Schriftsteller, sie alle haben eine Geschichte zu erzählen, deren Botschaft lautet: „Wer aufgibt, hat schon verloren! Wer aufgibt, wird nie etwas erreichen!“ Und jeder ahnt, dass, wer nichts erreicht, sein Leben verschwendet. Diese Blöße will sich niemand geben. Keiner will am Ende vor den göttlichen Richter treten und zugeben müssen, ein Nichtsnutz gewesen zu sein.
Die Verbissenheit ist die neue Nächstenliebe. Sie wird verwechselt mit Interesse, mit Anteilnahme, mit Mitgefühl. Beide Tugenden werden gespeist aus der Angst vor den Konsequenzen einer gesunden Ignoranz. Krankhafte Verbissenheit. Krankmachende Verbissenheit. Lasst mich in Frieden, ich habe aufgegeben!
Ich habe den Eindruck, das Klingeln wird schriller, lauter, drängender. Das Telefon verliert die Nerven. Es ist einer dieser Borderliner-Typen, die mit Selbstmord drohen, wenn man ihnen nicht seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
„Beachte mich! Beachte mich!“, schreit es mir ins Ohr, „Es ist sehr wichtig! Es geht um Leben und Tod! Wenn du jetzt nicht rangehst, wird diese niedliche Katze eingeschläfert! Hey, du! Hörst du mich? Sei nicht so unhöflich! Was bist du eigentlich für ein Mensch, der andere einfach warten lässt? Du weißt, worum es geht, warum antwortest du nicht?“
Ich liege da und wünsche mir, eine Katze zu sein, die man einschläfert. Die Fäden der Welt scheinen in diesem Hotelzimmer zusammenzulaufen. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso das Telefon nicht endlich aufgibt. Wenn es kein Atomkrieg ist, ist es nicht wichtig, denke ich.
Aber es ist kein Atomkrieg. Es ist schlimmer. Es ist Amanda, die nicht lockerlässt, weil sie nicht loslassen darf, weil sie irgendjemandem Bericht erstatten muss, der sie zur Sau machen würde, wenn sie ihm erklären müsste, dass Robert Beckmann sich nicht aus dem Bett bewegen wollte. Arme Amanda, zermahlen zwischen den Zahnrädern „Industrie“ und „chronische Unlust“.
Ich wuchte meinen Arm herüber, taste nach dem Folterinstrument, nehme den Hörer ab, genieße einen Augenblick seliger Stille, führe den Hörer dann an mein Ohr, reiße ihn aber sofort wieder fort. Amanda keift so laut, dass man sie noch im Nebenzimmer hören muss.
Als ich ihr gestehe, dass ich noch im Bett liege, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Wir sind hinter dem Zeitplan. Wir sind immer hinter dem Zeitplan.
Ich murmele eine Entschuldigung, die ich nicht ernst meine und bleibe liegen.
- Ob ich gestern Abend getrunken habe?
- Gott, nein.
- Ob ich sonst irgendetwas genommen habe? Ihr könne ich es sagen, wenn ich ein Problem hätte.
- Nein, keine Sorge.
-Ob sie mir Kaffee nach oben schicken soll? Ob ich schon Frühstück gehabt habe?
- Nein, ich will schlafen, nicht wach werden.
- Ich sei anstrengend geworden in letzter Zeit.
- Das tut mir leid.
- Sie mache ja auch nur ihren Job.
Ich finde es ungerecht, dass ihr Job daran gekoppelt ist, wie gut ich funktioniere. Das sage ich ihr aber nicht. Ich will mich nicht mit ihr verbünden. Sie betrachtet mich schließlich auch nicht als etwas anderes als eine Maschine, die sie bedienen muss.
Sie hat längst aufgelegt. Ich halte den Telefonhörer immer noch in der Hand wie eine Mordwaffe. Man verwächst mit den Dingen, die einem schicksalshaft werden, denke ich – halb Mensch, halb Telefon.
Es dauert eine Weile, bis ich mich davon überzeugen kann, dass sich da unter mir ein Fußboden befindet, auf dem ich stehen und gehen kann. Leider versinke ich nicht, als ich meine Füße aufsetze und mich aufrichte.
Das Telefon klingelt. Es ist Amandas Handy. Sie lässt mich stehen und geht in der Lobby herum, während sie wichtige Daten in das Gerät abfeuert, als wäre sie ein Automat.
Ich blicke mich verlegen um. Es ist zu spät, um hier unerkannt rauszukommen, deshalb kassiere ich vernichtende Blicke. Die Band sitzt auf einer Sitzgruppe und vertreibt sich die Zeit mit Zickereien. Ihr Hass richtet sich gegen alles und deshalb gegen nichts im Speziellen. Sie hassen diese Veranstaltung, aber sie hassen auch mich, weil ich der Grund dafür bin, dass sie zu spät zu ihren Stylisten kommen werden. Sie hassen ihre Stylisten, aber sie hassen es auch, in der Öffentlichkeit nicht perfekt auszusehen. Sie hassen die Öffentlichkeit, aber sie hassen es auch, nicht beachtet zu werden.
Ich wage es nicht, mich zu ihnen zu setzen. Es gibt nicht direkt böses Blut, aber es gibt da dieses Schweigen zwischen uns. In letzter Zeit haben wir uns nichts mehr zu sagen. Wir schämen uns voreinander, können es aber nicht zugeben. Wir sind zu stolz, zu voreingenommen und zu verwundbar.
Diese Freundschaft ist fragil. Ein falsches Wort und etwas könnte explodieren, von dem wir nicht wissen wollten, dass es überhaupt existiert. Wir wollen uns nicht verletzen, aber uns dazu überwinden, uns pfleglich zu behandeln, können wir auch nicht mehr.
Jede Gruppe kommt irgendwann in eine solche Phase, das ist völlig normal. Gruppen funktionieren nicht. Irgendwann entdecken die Mitglieder ihre eigenen Interessen, ihre eigenen Vorstellungen und finden, dass sie mehr verdienen als „das“. Es ist die Katerstimmung nach dem Überschwang. Die Ernüchterung. Die Realisation, dass sie eigentlich mehr gewollt haben, als sie bekommen haben. Wir alle fühlen uns betrogen – voneinander. Gleichzeitig wissen wir, dass das ungerecht ist. Es war einfach nicht genug.
Das Blut, das wir geleckt haben, hat nicht ausgereicht, um uns zu befriedigen. Im Gegenteil: Jetzt sind wir süchtig danach, gönnen uns gegenseitig nicht den Ruhm, die Annehmlichkeiten, die Erfolge. Denn ihr Ruhm hätte auch meiner sein können. Meiner ganz allein!
Mein Versagen hingegen färbt auf sie ab und sie fürchten, ich, ich ganz allein, könnte ihre Karrieren ruinieren.
Das Problem ist der Stil. Damals, als wir angefangen haben, hatte ich tausend Ideen. Ich stolperte von einem kreativen Hoch zum nächsten. Ich schrieb Songs und Texte in allen Rausch- und Bewusstseinszuständen. Nominalstil ironisch durch Füllwörter gebrochen. Manchmal wachte ich morgens am Schreibtisch auf und vor mir lag ein ganzer Stapel vollgeschriebener Blätter. Ich musste sie nur noch einmal durchgehen, den Anteil an Schrott aussortieren und behielt eine Sammlung faszinierender Zeugnisse meines Unterbewusstseins zurück, an dessen Aktivität ich mich nicht erinnern konnte.
Damals machten sie Witze darüber, dass ich nachts von Heinzelmännchen besucht, betäubt und ausgebeutet würde. „Die guten Sachen nehmen sie dann mit und verkaufen sie an Lady Gaga.“
Nun konnten wir uns alle drauf einigen, dass wir nicht klingen wollten wie Lady Gaga, das Problem war jedoch, dass wir klangen wie ich. Über Jahre etablierte ich einen Sound, einen Stil, eine Marke, einen Wiedererkennungswert. Das festigte die Rollenverteilung innerhalb der Gruppe: Meinen Ehrgeiz, ihre Bequemlichkeit. Sie verließen sich auf meine Fähigkeiten, spielten, was man ihnen sagte und sahen gut aus, wenn man sie fotografierte.
Dabei wollte ich nie so ein Künstler sein, kein Martin Gore, kein Noel Gallagher, kein Billy Corgan. Ich wollte nicht die Rechte an unser Musik, ich wollte nicht den größten Anteil der Tantiemen. Ich wollte nicht um jeden Preis und für alle Zeit „der Kopf“ sein. Am Anfang mag das vielleicht nützlich gewesen sein, als wir uns für eine Richtung entscheiden mussten, aber es kristallisierte sich heraus, dass ich das Talent hatte und sie die Verbissenheit. Man kann aus einer Diktatur keine Demokratie machen, wenn der Diktator gute Arbeit leistet und selbst wenn er seine Arbeit schlecht macht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass alles im Chaos versinkt, größer. Gleichberechtigung, Frieden und Toleranz sind die unwahrscheinlichsten aller Entwicklungen.
Sie wollten es unbedingt. Sie trieben mich an, motivierten, kritisierten und setzten ihr Vertrauen in mich. Jetzt stehe ich kurz davor, sie enttäuschen zu müssen. Schreibblockade. Da ist nichts mehr, das ich zu sagen habe. Sie ahnen es, denn ich meide auch das informelle Gespräch mit ihnen.
Wir zeigen gute Miene zu bösem Spiel.
Ein Großraumtaxi fährt vor. Wir trotten hinaus, zwängen uns hinein und lassen Amanda alles Weitere regeln.
Wir bekommen die Haare zurecht gelegt und die Hautunreinheiten abgedeckt. Jemand hat uns angemessene Kleidung besorgt. Ich fühle mich wie verkleidet, wie ein Trottel, der versucht, cool auszusehen, indem er einerseits elegant Steifheit und andererseits saloppe Lässigkeit imitiert.
In Wirklichkeit bin ich ein Nervenbündel. Ich bin unzufrieden mit meinen Haaren, ich mag meine Nase nicht. Meine Augenbrauen haben die falsche Form und ich habe das dringende Bedürfnis, mir den Mund auszuspülen.
Trixie sieht wie immer blendend aus. Man hat ihre elfengleiche, bleiche Gestalt in einen weißen Hauch von Stoff gehüllt und ihrem Gesicht ein dramatisches Makeup verpasst. Man nimmt ihr sowohl die Gefahr als auch die Unschuld ab.
Während ich sie ansehe, beneide ich sie um ihre Fähigkeit, eine Person abseits der Bassgitarre zu sein. Während ich das Gefühl habe, verwachsen zu sein mit meiner Rolle, der Gitarre, dem Mikrofon, dem Telefon, schwebt sie. Über den Dingen, über den Problemen, über den Konflikten. Ihre Grazie, ihre Unnahbarkeit lassen sie glänzen wie ein Wesen von einem anderen Stern.
Sie lächelt nicht. Das alles langweilt sie. Es ist ihr zur Gewohnheit geworden, die Ikone spielen zu müssen. So kalt ihr Ausdruck auch ist, sie ist nicht nur das Bild, das sie von sich abgibt, nicht nur eine Statue ihrer selbst. Würde man sie reden lassen, statt sie auf ihr Äußeres zu reduzieren, hätte sie so einiges zu erzählen. Aber sie schweigt, sie kennt ihren Platz.
Wir beide sind so lange befreundet, dass wir uns in- und auswendig kennen und ich sollte nicht so von ihr denken und schon gar nicht reden. Sie versucht nur, sich selbst zu schützen hinter dieser Maskerade. Sie versucht nur, aufzufallen hinter mir.
Ich habe die Eigenheit eines etwas zu starren Blicks, der viele Menschen irritiert und ihnen Unwohlsein verursacht. Deshalb vermeide ich es, Leute zu lange anzusehen. Obwohl Trixie sich nicht vor mir schämt, wende ich den Blick schließlich ab. Ich schäme mich.
Gekauert in meinen Sessel starre ich stattdessen in den übermächtigen Spiegel, den irgendein sadistischer Innenarchitekt mit Glühbirnen umrandet hat, weshalb dem garstigen Ding keine einzige Unebenheit in meinem Gesicht verborgen bleibt.
„Keine Krawatte, nehme ich an?“, werde ich gefragt.
Ich schüttele den Kopf und Amanda trägt das Ding, das mich verdächtig an eine Galgenschlinge erinnert, zurück in den Fundus.
„Aber gegen diese Augenringe müssen wir etwas tun.“
Ich nicke folgsam und lasse die Fachkraft Hand anlegen. Es riecht nach wundersamen Ölen und Tinkturen. Mein Gesicht wird gereinigt, gekühlt, eingecremt und abgerubbelt. Die Augenringe sind verschwunden, die Müdigkeit bleibt.
Es ist ein Wunder, dass sie mich noch alleine atmen lassen, denke ich, als mir jemand die Schuhe zubindet.
Ich starre an die Wand. Um mich herum wuseln die Menschen herum, geben sich gegenseitig Anweisungen, beschimpfen sich, treiben sich an. Das alles ist meine Schuld, weil ich nicht pünktlich sein kann.
Alex liegt auf einem Sofa in der Ecke und blättert gelangweilt in einer Zeitschrift. Sein Gesicht hat man nicht rundsanieren müssen. Für ihn interessiert sich ohnehin niemand. Schlagzeuger stehen selten im Mittelpunkt des Interesses und genießen damit die Vorteile der Anonymität im Privatleben und die des Ruhms, wenn sie in der Öffentlichkeit auftreten. Er weiß gar nicht, wie privilegiert er ist, denke ich. Seine Arroganz ist Ignoranz. So wie es meistens der Fall ist. Man darf den Menschen nicht böse sein, zumeist wissen sie es nicht besser, wenn sie andere mit ihrem Verhalten oder ihren Aussagen verletzen.
„Es ist seltsam, wie konventionell du geworden bist, Robert“, sagt er träge.
Ich weiß nicht, was er damit ausdrücken will und schweige zurück.
„Das ist nicht schlimm“, rudert er schließlich zurück, „Nur seltsam.“
„Alles ist im Fluss“, sage ich, um nicht sagen zu müssen, dass alles den Bach runter geht.
Der graue Anzug kratzt, aber ich traue nicht, mich zu bewegen. Er könnte verknittern und dann sehe ich auf den Fotos später aus wie jemand, der keine Ahnung von solchen Dingen hat.
Das Telefon klingelt. Irgendwo hinter der Absperrung wird ein Journalist von seinem Chef zur Schnecke gemacht. Vielleicht ist er nicht aggressiv genug gewesen, vielleicht hat er sich einen Rest Menschlichkeit bewahrt. Ich ertappe mich dabei, Mitleid mit ihm zu empfinden, wie er da steht, sich abwendet von der Masse, in deren Mitte er steht und nur noch „ja, ja, ja, natürlich…“ sagen kann.
Um ihn und uns herum blitzen die Fotoapparate. Ich starre ins Nichts, in die Blendung und versuche, freundlich und offen auszusehen.
Trixie inszeniert sich und überstrahlt die ganze Gruppe. Ihr Bild wird morgen in den Zeitschriften auftauchen und man wird ihren Mut loben und vielleicht auch ihre Authentizität – als könnte man so etwas an einem Foto ablesen.
Alex und Hendrik stehen stumm herum wie die Fische, ihre Haltung ist dabei aber elegant wie die zweier Pfauen.
Irgendwo im Hintergrund wartet Amanda und schaut verzweifelt auf ihre Uhr. Sie erträgt Verspätungen noch nicht einmal, wenn sie diese nicht zu verantwortet hat. Irgendeine Künstlerin hat den Verkehr mit ihrem extravaganten Kleid aufgehalten. Irgendeine Band hat zu lange Autogramme geschrieben. Irgendwo ist eine Champagnerfalsche zerborsten, weil jemand sie hat fallen lassen. Irgendein Platzanweiser hat seinen Plan verlegt. Irgendein Fotograf hat das Foto seines Lebens geschossen. Irgendein Fan ist im Pulk kollabiert. Jemand hat seine Mutter mit auf den Teppich gebracht, um ihr eine Freude und fünf Minuten Ruhm zu bereiten – und vielleicht auch, um für sich selbst ein bisschen Aufmerksamkeit zu generieren.
Wir stehen länger da als geplant. Ich bin zu ungeduldig für Staus. Ich muss in Bewegung bleiben, wenn ich nicht Gefahr laufen will, auf der Stelle tot umzufallen. Ich beginne zu schwitzen. Mein Herz schlägt im Panikmodus. Ich bin blind vor lauter Licht, taub vor lauter Lärm.
Wenn man stehen bleibt, kommen unweigerlich die Fragen. Irgendwo aus dem Nichts heraus werde ich angebrüllt: „Freuen Sie sich auf den Abend?“
Pflichtbewusst brülle ich zurück: „Ja, natürlich. Das ist für uns Entspannung. Die meisten Künstler gehen zu Preisverleihungen, weil sie gerade arbeitslos sind, aber für uns ist das wie Urlaub.“
„Welcher Gruppe würden Sie eine Auszeichnung am meisten gönnen?“
„Der Putzkolonne, die morgen früh den ganzen Flitter und die Kokainrückstände auf den Toiletten aufwischen muss. Ich denke ich werde bleiben, um ihnen applaudieren zu können und falls wir einen Preis gewinnen sollten, werden wir ihn ihnen überlassen.“
Aber wir wissen bereits, dass wir keinen Preis gewinnen werden. Wir sind nur hier, weil wir gerade arbeitslos sind und uns davon ablenken lassen wollen, dass wir feststecken. Man hat uns zwar eingeladen, aber nicht darum gebeten, aufzutreten. Dafür ist unsere letzte Veröffentlichung zu lange her.
Morgen werden sie sagen, die „typischen Robert-Beckmann-Antworten“ hätten dem aufgesetzten Glamour dieser Veranstaltung den Spiegel vorgehalten, so wie man es von ihm kenne. Seine gelangweilt vorgetragene Ironie sei der Verputz über einer fundamentalen Bitterkeit, mit der er das kulturelle Geschehen der Republik kommentiert.
Und damit heften sie sich dann das Zertifikat „Kulturkritik“ ans Hemd, während sie im nächsten Beitrag darüber fachsimpeln, warum Trixie zu einem solch eleganten Kleid keine hohen Schuhe trägt.
Ich weiß, dass Trixie diese Dinge ärgern, auch wenn sie es nicht zeigt. Und sie weiß, dass sie mich ärgern und es ärgert sie, dass ich nichts dazu sage. Die vielen unausgesprochenen Konflikte drohen uns irgendwann zu zermahlen. Aber nicht heute. Heute steht sie stumm und schmollend da und sieht so aus, als wäre das alles nur Pose.
Ob nun das Schmollen, die gelangweilt vorgetragene Ironie oder das geheuchelte Interesse der Presse und der Damen, die sich deren Berichte beim nächsten Friseurtermin zu Gemüte führen, das alles ist der Inbegriff der Oberflächlichkeit. Um das zu erkennen, muss man kein „Kulturkritiker“ sein. Man muss lediglich das Geschäft mit der Langeweile verstehen, die sie „Unterhaltung“ nennen.
Hendrik flüstert mir etwas ins Ohr. Weiter hinten hat er etwas gesehen und als ich aufblicke und sich meine schmerzenden Augen an das grelle Licht gewöhnt haben, sehe auch ich in der Masse der sogenannten Fans, wie ein paar Leute Schilder hochhalten. Es sind die üblichen Liebesbekundungen für die gerade angesagten Teenieidole, die mit Geld zugeschissen werden, damit sie sich hier blicken lassen. Diese Botschaften sind normalerweise nicht für uns, aber auf einem Schild sehe ich groß und breit den Spruch: „Zionisten boykottieren!“
Nicht schon wieder, denke ich und klopfe Hendrik aufmunternd auf die Schulter.
Dann habe ich auch schon das nächste Mikrofon vor dem Gesicht: „Wann können die Fans mit einem neuen Album rechnen?“
Ein Stich ins Herz, Atemnot, Blackout.
„Äh“, sage ich.
Jemand schreit: „Verräter!“
„Entschuldigung, was haben Sie gefragt?“
„Euer nächstes Album?“
„Wir sind gerade dabei, neue Songs zu schreiben“, lüge ich.
„Können Sie uns denn schon etwas verraten? Zum Beispiel in welche Richtung Sie gehen wollen?“
„Nein, das wollen wir noch geheim halten“, sage ich, „Aber eine große Inspiration sind immer die Anfeindungen, denen wir ausgesetzt sind. Ich weiß, dass normalerweise empfohlen wird, so etwas zu ignorieren, aber wenn man Dinge einfach totschweigt, um das eigene Wohlbefinden zu erhalten, breiten sie sich aus.“
„Von welchen Dingen reden Sie?“
„Nun, es dürfte allseits bekannt sein, dass Hendrik Sternheim, unser Gitarrist, des Öfteren dafür angegriffen wird, dass er Jude ist. Und sowas geht einfach gar nicht. Wir reden allenthalben über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ignorieren dabei aber, dass auch in den selbstbesoffenen Kreisen der Linken in diesem Land der Antisemitismus wenigstens zähneknirschend, wenn nicht sogar hoffierend, toleriert wird. Da heißt es dann: „In unserer Rassismuskritik ist die Antisemitismuskritik bereits enthalten, aber was Israel tut, ist schon schlimm!“ Dabei wird stillschweigend die rechte Idee, dass Menschen wie Hendrik in diesem Land doch noch irgendwie fremd und anders sind, dass ihr Blut anders zusammengesetzt ist, akzeptiert. Es erschreckt uns, dass diese ganze Problematik oft vollkommen ignoriert wird. Hendrik und andere Juden in diesem Land werden mit verantwortlich gemacht für die Politik eines Landes, in dem sie zufällig geboren wurden und in dem sie Familie und Freunde haben. Und wenn uns unterstellt wird, wir seien ignorant, was die politischen Entwicklungen in Israel angeht, dann frage ich mich, ob nicht auffällt, wie unangemessen und unhöflich das gegenüber Hendrik ist.“
Morgen werden sie schreiben: „Robert Beckmann – moralisch überlegene Selbstbesoffenheit“
„Heißt das, Sie fordern dazu auf, Ihnen weitere Hassbotschaften zukommen zu lassen, damit diese Sie inspirieren?“
„Nennen Sie das heute kritischen Journalismus?“, frage ich zurück und wir werden vorwärts geschleust. Bald hat der Spießroutenlauf ein Ende. Weiter hinten sehen wir schon das Eingangstor der Halle. Amanda wartet dort, bleibt im Schatten und tippt etwas in ihr Handy. Sie überprüft wohl, was gerade live in den sozialen Medien geschrieben wird. Die ersten Fotos von uns werden schon hochgeladen sein.
„Sehr gut“, sagt sie, als wir bei ihr angekommen sind, aber sie meint nicht meinen Einsatz für Hendrik oder mein Statement, sondern die Aufmerksamkeit, die ich dadurch generiert habe. Ihr ist es egal, was ich sage, Hauptsache, die Leute reden darüber. In ihrem Geschäft geht es nicht um Inhalte, sondern um Emotionen. Manchmal frage ich mich, ob sie und wir überhaupt am gleichen Strang ziehen und das gleiche Ziel haben.
Das Telefon klingelt. Jemand, der vor uns sitzt, stellt es schnell stumm und tut so, als wäre nichts gewesen.
„Wie unprofessionell!“, kommentiert Amanda leise, aber niemand stimmt ihr zu.
Ich schließe die Augen, als die Show beginnt und habe nicht vor, sie an diesem Abend noch einmal aufzumachen. Ich weiß nicht mehr, warum ich hier bin, warum ich jemals davon geträumt habe, hierher zu kommen.
Amanda hatte es vorgeschlagen: „Damit ihr mal wieder zusammen gesehen werdet. Immerhin seid ihr eine Band und nicht bloß Robert mit Begleitkapelle.“
Aber sind wir das?, frage ich mich. Trixie, die neben mir sitzt, spielt schon länger mit dem Gedanken, in die USA auszuwandern. Dort lebt und arbeitet ihr Freund und wer kann es ihr verübeln, wenn sie ihre Zeit lieber mit ihm als mit mir verbringen will? Alex hat für ein Nebenprojekt programmieren gelernt und legte gelegentlich Minimal-Techno in Undergroundclubs auf. Er sagt, es bereite ihm Spaß, mal was anderes zu machen. Hendrik hat letztes Jahr geheiratet und ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis er sich lieber um seinen Nachwuchs als um unser Karriere kümmern will. Es sei ihm gegönnt. Recht hat er. Alles ist im Fluss…
Die große Freiheit der Erwachsenenwelt. Die Türen sollten auch mir offen stehen, sie sollten mir sogar besonders offen stehen, denn ich bin der verdammte Kopf, das Gesicht, das Gehirn, der Frontmann, die Stimme, die Person von Interesse. Aber mir sind die Hände gebunden. Ich klebe an meinem Image, besser: Es klebt an mir, ohne dass ich es will. Auf meinen Schultern liegen die Aufgaben und die Verantwortung. Sie lasten so schwer, dass ich schon bis zu den Knien in den Morast eingesunken bin.
Der Morast, das sind einerseits die Erwartungen und andererseits die Errungenschaften. Sechs Alben. So steht es in unserem Vertrag. Sechs Alben, oder wir müssen uns heraus kaufen. Vier reguläre Studioalben habe ich geschrieben, eine Best-Of-Compilation sollte uns etwas Zeit erschleichen. Aber jetzt muss ich es doch zu Ende bringen. Ich fürchte mich davor, zu versagen, aber der anhaltende Erfolg kotzt mich an. Ich will niemanden enttäuschen, würde aber eine diebische Freude empfinden, wenn einmal ein Musikmagazin einen Verriss über eine unserer Platten schriebe.
Die Popkulturpresse, dieser abgehobene Haufen Möchtegern-Hipster, die im Alter um die 40 immer noch ihren Teenager-Träumen vom Rockstartum hinterher trauern, leitet ihre Authentizität vom Urteil über die Werke anderer Leute ab und wer Robert Beckmann, dessen Authentizität zu keinem Zeitpunkt je in Frage gestanden hat, wohlgesonnen ist, der kann darauf hoffen, auch ein wenig von seiner Strahlkraft abzubekommen. Wer Beckmann mag, der kann kein schlechter Mensch sein, so scheint es.
Irgendwann muss ich im Unbewusstsein beschlossen haben, mich selbst nicht mehr zu mögen, weil ich es nicht mehr ertrage, ein guter Mensch zu sein.
Hinter meinen geschlossenen Augen stelle ich mir vor, wie wir gleich einen Preis gewinnen werden. Ich würde da unten stehen und ich wäre halb-betrunken und ich würde ins Mikrofon lallen, für wie unwichtig ich Auszeichnungen für Kunstwerke erachte: „Sich seinen Ausdruck legitimieren zu lassen, kommt einer Selbstaufgabe gleich und ich bedauere jeden einzelnen Menschen, dessen Selbstbewusstsein nicht dazu ausreicht, um hinter seinen Worten, Gedanken, Bildern und Inszenierungen zu stehen, ohne dass diese von irgendeiner hochnäsigen Jury oder einem tumben Publikum anerkannt werden. Wer für andere und deren Anerkennung schreibt, der ist nur einen Schritt von der Vereinnahmung durch die Autoritäten entfernt.“ Und dann würde ich die Trophäe stehen lassen und morgen mein Gesicht in den Zeitungen und den Fernsehnachrichten sehen. „Ist er jetzt zu weit gegangen?“ würden sie fragen. Und Amanda würde sagen: „Gut gemacht!“
Als ich die Augen öffne, starrt mir eine Kamera ins Gesicht. Ich versuche, ein neutrales Gesicht aufzusetzen, nicht zu grinsen, natürlich lächeln konnte ich noch nie.
Applaus brandet auf. Musik schallert durch den Saal. Wir sitzen so weit hinten, dass wir kaum ein Wort vom Geschehen vorne auf den Bühne mitbekommen.
Hier sitzen nur diejenigen, die nicht gewinnen werden, das wissen wir und wenn es eine Chance gegeben hätte, dass wir gewinnen, hätte ich meine Rede mit den anderen abstimmen müssen, aber in Tagträumen darf man egoistisch sein.
Und dann stelle ich mir vor, wie Trixie am Mikrofon steht und sagt: „Die blassesten Menschen arbeiten in der Musikindustrie hinter den Kulissen. Man kann sich gut vorstellen, wie sie auf der Berufsschule für Buchhalter Jahrgangsbeste wurden und als Anerkennung ein Buch mit witzigen Anekdoten zum Beruf des Steuerberaters geschenkt bekommen und wie sie heute noch gerne darin blättern und sich der guten alten Zeiten erinnern. Der alte Pythagoras hatte Recht: Der Urstoff des Universums sind die Zahlen – Nicht Töne oder Musik.“ Das ist etwas, das sie sagen würde, aber niemand fragt sie.
Sie ist einer den klügsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe und gleichzeitig einer der frustriertesten. Ihre Schweigsamkeit gehört zu ihrem Charakter, aber sie deswegen auf attraktives Beiwerk zu reduzieren, ist unfair. Niemand nennt Hendrik einen „Augenschmaus“ oder eine „Gitarrenelfe“ oder „das schöne Gesicht einer garstigen Band“, obwohl auch er sich lieber zurückhält.
„Als Frau in einer Band, musst du dich mit deinem Körper ausdrücken, nicht mit Worten. Sie wollen nicht hören, was du denkst, sondern nur welches Kleid du trägst. Wenn du also etwas zu sagen hast, muss du dich schon nackt ausziehen und es dir auf die Brüste schreiben!“ Ich wünschte, sie hätte das vorhin auf dem Teppich gesagt, aber niemand hat sie gefragt und sie neigt nicht dazu, sich in den Vordergrund zu drängen und Raum einzunehmen.
Wir sind in zwei Kategorien nominiert: Als beste alternative Gruppe und für das beste Musikvideo.
Ich finde es absurd, dass unter „alternativer Musik“ hier nur verstanden wird, was elektrische Gitarren beinhaltet, wo die wirkliche Undergroundmusik doch längst vom Hip-Hop dominiert wird. Mir scheint, diese Veranstaltung ist in den 90ern hängen geblieben und unwillig, die Augen der Wirklichkeit zuzuwenden. Rock ist längst nicht mehr „alternativ“, sondern Konvention. Alex hat Recht. Aber nicht nur ich, sondern alles um uns herum ist konventionell geworden. Pop kann man vollständig vergessen. Pop ist tot. Pop ist eine lebende Leiche, die herumkriecht, weil sie das für notwendig hält, um sexy zu wirken, denn sie weiß, ihre Musik wird sich nicht verkaufen, ihr Sex aber schon.
Ich fühle mich nicht wohl in der Gesellschaft von verkleideten Heavy-Metal-Bands, deren Sängerinnen eine klassische Gesangsausbildung genossen haben müssen, um akzeptiert zu werden. Das geht gegen meinen Anspruch des Dilettantismus, den ich an Rockmusik anlegen. Sie muss von unten kommen, von gelangweilten Kids, die nichts mit ihrer Freizeit anzufangen wissen, die ihre Wut und Frustration herausschreien, die nichts anderes können, als mit absurder Lautstärke ihre Misstöne zu kaschieren. Rockmusik kommt nicht von der Akademie oder aus dem Opernhaus. Rockmusik kommt aus der Gosse, zumindest sollte sie so aussehen oder so tun.
Ich fühle mich Punkbands fremd, die auf schrille Farben als Verkaufsargument setzen, die ihre T-Shirts bügeln und ihre Krawatten gar nicht so ironisch tragen, die Makeup auflegen, weil sie das für gewagt halten. Es berührt mich peinlich, wenn sie breitbeinig auf der Bühne stehen und so tun, als würden sie mit ihrer Gitarre onanieren.
Es deprimiert mich, einen Diskjockey als Musiker anerkannt zu sehen und ich bedauere die Hintergrundtänzerinnen, die nur dazu da sind, jemand anderen gut aussehen zu lassen. Niemand sollte sein Gesicht zugunsten eines anderen verstecken müssen, denke ich.
Da ist die neue Lieblingsband der Jugendradiosender, vier schlaksige Strahlemänner, denen ihr schwäbischer Zungenschlag nicht peinlich ist. Die Provinz ist die neue Talentschmiede. Sie tragen betont abgewetzte Jeanshosen und ihr Haar ungekämmt. Einer von ihnen spricht ins Mikrofon und hält dabei den Preis für die beste „alternative Gruppe“ in der Hand: „Es freut uns, dass endlich auch mal eine Band, die deutschen Texten schreibt, diesen Preis gewinnt. Wir finden die deutsche Musikszene muss sich nicht verstecken, sondern sollte ruhig zu sich selbst stehen.“
Mir wird übel.
„Wir wissen, dass, wenn wir nicht englisch singen, die internationale Vermarktung schwerer ist, aber wir haben uns bewusst dazu entschieden…“
„Wenn er jetzt noch erwähnt, dass du seine größte Inspiration bist, versuch bitte, nicht auf meine Schuhe zu kotzen“, flüstert Hendrik mir aufmunternd zu, „Du bist ganz blass.“
„Das hier ist schlimmer, als ich dachte“, sage ich.
„Was hast du denn gedacht?“, fragt Trixie.
„Dass ich vielleicht durchschlafen könnte“, sage ich.
Das stroboskopartige Licht, das den Saal durchflackert, als ein beliebter Partykracher gespielt wird, wäre das Todesurteil für einen Epileptiker, aber die Zeiten von Ian Curtis sind vorbei. Menschen wie er, findet man nicht mehr auf Veranstaltungen wie dieser. Nichts an diesen Künstlern ist mehr gefährlich oder unvorhersehbar. Sie tun, was man ihnen sagt, es ist ihr Geschäft, sie verkaufen, was gekauft wird.
„Die neue Heimatliebe“ könnte das Motto dieser Preisverleihung sein. Es tritt auf: Eine bayrische Boygroup, die zu Discobeats schuhplattelt und zu deren Bühnenbild ein Maibaum gehört, um den herum eine Schar Mädchen in zu kurz geratenen Dirndln herumspringt. Pop nennen sie ihren Stil, der mich eher an Musikantenstadl auf Speed erinnert.
Ein allseits beliebter Komiker betritt die Bühne und reißt einen Witz auf Kosten einer amerikanischen Sängerin, die kein Wort von alldem versteht. Sie lächelt, weil die Kamera auf sie gerichtet ist.
Eine ganz in Goldfolie gehüllte Rapperin legt einen Beinahe-Striptease zu Vollplayback hin.
Dann ist es Zeit für fünf Minuten Ernsthaftigkeit. Ein alternder und gesättigter Campino imitiert Bono und macht auf irgendeine humanitäre Krise am anderen Ende der Welt aufmerksam. Es wird ein Film gezeigt, der dazu bewegen soll, Geld an irgendeine Organisation zu spenden, denn wir gehören zwar zur Generation „Post-Pop“, aber wir haben trotzdem ein (schlechtes) Gewissen. Entsprechend enthusiastisch fällt der Applaus aus. Wer Gutes tut, der fühlt sich gut. Das ist die positive Message des Abends.
Das Video, mit dem wir nominiert sind, ist das zu dem einen neuen Song, der immer auf Best-of-Platten drauf ist, damit auch die Fans, die sonst bereits alles haben, sie kaufen. Weil das natürlich Abzocke ist, haben wir versucht, den Song wenigstens visuell gut umzusetzen – wenn man so etwas überhaupt kann. Ich habe nichts gegen das Konzept von Musikvideos, auch wenn diese Kunstform im Aussterben begriffen zu sein scheint und ehemals gefeierte Musikvideoregisseure in der Bedeutungslosigkeit versinken, wenn sie nicht ganz zum Film wechseln.
Ein gutes Video erzählt eine Geschichte und setzt nicht bloß die Band in das beste Licht. Es ist auch nicht bloß Werbung, wie Thom Yorke behauptet, sondern eine weitere Möglichkeit, ein Statement abzugeben – oder zumindest einem anderen Künstler eine Plattform dafür zu bieten. Ich war immer der Meinung, dass Musik Bilder im Kopf der Hörer entstehen lassen muss, mehr noch als Romane oder Gedichte es tun. Ein richtig gutes Musikstück schickt den Zuhörer auf eine Reise und bringt ihn mit neuen Erfahrungen und Eindrücken zurück. Vielleicht verändern sie ihn, vielleicht inspirieren sie ihn. Ich bin ein Mensch, der in Bildern denkt, nicht in Tönen, Harmonien, Rhythmen oder Melodien. Ich beschreibe Landschaften, wenn ich Musik mache, ich male Portraits von Menschen, wenn ich Texte schreibe. Ich sehe Farben, wenn ich Klänge höre und ich spüre die Ästhetik einer Songstruktur als Gänsehaut auf meiner Haut.
Körperliche Reaktionen auf ein geistiges Erlebnis sind mein Gradmesser für Qualität. Muss ich mich übergeben oder liege ich zitternd und hemmungslos weinend auf dem Boden, so weiß ich, dass die Anstrengung es wert ist, zu Ende gebracht zu werden. Leider liege ich in letzter Zeit nur noch geschwächt und verstummt auf meinem Bett. Ich träume nicht mehr. Ich sehe nicht mehr durch den Nebel um mich.
Unser Video, das eher ein Kurzfilm ist, ist in dunklen Brauntönen gehalten. Er wirkt sehr erdig und klamm. Es zeigt Szenen aus Shakespeares „Hamlet“, denn Hendrik fand, dass nach „Hamlet“ keine originelle Geschichte mehr geschrieben wurde und wir konnten zu dieser Zeit ein wenig Originalität gut gebrauchen.
Trixie schlüpfte in die Rolle des Dänenprinzen, durfte Zweifel, Ironie, Angst und Entschlossenheit darstellen. Sie erstach Alex mit einem Degen und starb schließlich selbst einen theatralischen Tod. Ich hatte einen kurzen Auftritt als Ophelia, die von Blumen bekränzt ins Wasser geht. Man lobte mich dafür, die Rolle einer Frau zu spielen, niemand erwähnte Trixies Leistung in der Hauptrolle. Sie hasst das Video deswegen und ist froh, dass wir dafür nicht ausgezeichnet werden.
Stattdessen gewinnt ein amerikanischer Teenager, dessen Fans im Internet für ihn und sein Werk abgestimmt haben. Der bartlose Knabe kommt auf die Bühne und gibt sich dabei Mühe, einen möglichst coolen und schleppenden Gorillagang zu performen. Er fühlt sich wohl der Hip-Hop-Kultur verbunden, seine Stimme klingt aber eher wie die eines Chorknaben – zumindest auf seinen Platten. Er blökt etwas auf Englisch ins Mikro und das Gekreische geht los. Das ist ein einziger Alptraum, denke ich.
Das Telefon klingelt. Man hat vergessen, mich zu fragen, ob und wann ich morgen geweckt werden möchte.
„Nein danke“, sage ich und lege auf.
Ich habe die Aftershowparty sausen lassen und bin allein und zu Fuß ins Hotel zurückgegangen. Mir wurde klar, dass ich von vorne herein zu nüchtern für einen solchen Abend gewesen bin und ich niemandem außer mir selbst deswegen einen Vorwurf machen darf. Ich hoffte, von der kühlen Nachtluft wenigstens ein bisschen betrunken zu werden, um klarer denken zu können. Wäre ich radikaler und aggressiver gewesen, hätte diese Nacht vielleicht das Ende der Band besiegelt, aber ich bin nicht Zack de la Rocha. Ich bin zu zimperlich, zu wenig entscheidungsfreudig. Das Gefühl für richtig und falsch habe ich irgendwann in den letzten Jahren restlos verloren. Ich schaffe es nicht, den Faden abzuschneiden, an dem ich hänge – selbst wenn er mich langsam aber sicher erdrosselt.
Als ich im Hotel ankomme, fühle mich nur noch ausgetrockneter. Also raus aus dem Anzug und unter die Dusche.
Um zu schlafen, bin ich viel zu aufgekratzt, also liege ich jetzt erschöpft aber wach auf dem frisch duftenden Bett und zappe durch die Untiefen des Nachtprogramms. Auf irgendeinem Sender zeigen sie eine Wiederholung der Preisverleihung und ich bleibe beim kafkaesken Bild dieses festlich aufpolierten Saals hängen. Aus der Ferne des Hotelzimmers erreicht das Lichtarrangement seine volle Wirkung. Wie im Märchen leuchten die erwartungsvollen Augen der Gäste vor der Show – nur meine sind geschlossen.
Ich mache mir ein Bier aus der Minibar auf und genieße dieses seltsame Gefühl der Depersonalisation, wenn man sich selbst beobachtet und feststellt, was für ein Trottel man ist.
Eine dünne, blonde Frau nimmt ihre Trophäe entgegen und weint ein paar Krokodilstränen, als sie ihren Fans, ihrem Manager und ihren Eltern dankt. Ich erinnere mich nicht an diese Szene. Habe ich geschlafen? Schlafe ich gerade? Ich bin mir unsicher. Welche Bruchstücke fehlen meiner Erinnerung sonst noch?
Ich schalte den Fernseher aus und starre in das, was die Großstatt „Dunkelheit“ nennt. Die plötzliche Reizarmut schnürt mir den Brustkorb ein. Ich bin sie nicht mehr gewohnt. Die Hintergrundgeräusche des Straßenverkehrs wirken mit einem Mal bedrohlich, viel näher, viel präsenter. Als stünde mein Hotelbett mitten auf der Umgehungsstraße.
Die meisten Sinneswahrnehmungen sind nutzlos, versuche ich mich zu beruhigen. Man kann sich nicht gegen sie wehren, man kann nur versuchen, sie zu kanalisieren oder zu übertönen. Das ist was ich mein Leben lang getan habe: Die Welt um mich herum übertönen, weil sie mir in ihrer nackten Beliebigkeit, in ihrer Unordnung und Gleichzeitigkeit Angst einjagte.
Jetzt, wo ich verstummt bin, kommen die Einflüsse zurück, die Eindrücke, gegen die ich wegen meiner Schwäche nicht mehr ankämpfen kann. Ich bin dem Lärm der anderen ausgesetzt, dem Licht, den Kameras, ihren Pfeilen und Lanzen. Wenn ich nicht rede, reden die anderen. Wenn ich nichts sage, werden sie alles falsch machen.
Wann bin ich so geworden? Oder war ich schon immer so und habe es nur jetzt erst erkannt? Zum ersten Mal überlege ich ernsthaft, was andere wohl von mir halten mögen. Robert Beckmann, der Mann, der immer ein Widerwort parat hat, der nicht nur immer Recht haben muss, sondern seine Gegner auch rhetorisch vernichten will. Robert Beckmann, der Mann, der keine Gnade kennt, den alle fürchten, dessen Zunge so scharf ist, dass die Leute um ihn herum trippeln wie um einen Diktator. Robert Beckmann und seine stalinistische Aura…
Ich stehe auf und schließe das Fenster, das ich geöffnet hatte, weil ich immer bei offenem Fenster schlafe. Sofort entsteht ein Vakuum der Lautlosigkeit. Todesart: Erstickung durch Dreifachverglasung.
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Kapitel: | 5 | |
Sätze: | 355 | |
Wörter: | 6.286 | |
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