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Statistik
| Kapitel: | 4 | |
| Sätze: | 107 | |
| Wörter: | 1.679 | |
| Zeichen: | 9.641 |
Klank. Die Spitzhacke traf den Beton. Beim Herausziehen der Spitze aus der Wand rieselten kleine Steine und feiner Staub auf den Boden des Kellers sowie auf Heinrichs Hose und Schuhe. Heinrich ließ sich davon nicht abhalten. Er holte aus und schlug erneut zu.
Klank. Nicht mehr lange und er würde den Zugang offenlegen können. Wie oft hatte er sich aufgeregt, wie umständlich der Zugang über die alte Höhle war.
Klank. Bald könnte er direkt in seinem eigenen Haus Kontakt aufnehmen. Es war nicht nur seine schwerste Aufgabe, sondern auch seine wichtigste bisher.
Klank. Die Spitzhacke drang tiefer ein und größere Steinbrocken lösten sich, als er sie hinauszog. Er wischte sich den Schweiß von der höher werdenden Stirn und stützte sich kurz auf dem Werkzeug ab.
Als er vor vier Jahren das erste Mal aus Neugier die Höhle betrat und Kontakt aufnahm, hätte er niemals gedacht, wie sehr es sein Leben verändern könnte. Eine Träne lief ihm übers Gesicht, als er an das Opfer seiner Frau und Tochter nachdachte. Es erfüllte ihn mit unendlichem Stolz. Beide hatten so viel beigetragen. Wenn sie nicht gewesen wären, hätte er niemals so viel wachsen können. Er holte erneut aus und stach die Spitzhacke in die Wand vor ihm.
Klong. Das Geräusch wurde dumpfer. Hatte er sich endlich weit genug vorgegraben, um die Betonschicht komplett zu durchbrechen?
Klong. Heinrich erwischte sich, wie er darüber nachdachte, wie es danach weitergehen würde. Er schüttelte den Kopf. Er musste sich darüber keine Gedanken machen.
Klong. Er musste nur seinen Part erfüllen. Seine Familie und er wurden schon so sehr gesegnet, warum sollte er jetzt Zweifel bekommen?
Klong. Wolfgang war inzwischen alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. Er könnte seinen Platz übernehmen. Und Heinrich könnte die wichtigste Aufgabe überhaupt übernehmen.
Klong. Er könnte den gleichen Weg gehen, wie seine Frau und Tochter. Nur in seinem Fall komplett aus freien Stücken.
Krack. Das Geräusch der Spitzhacke, die auf die Wand fiel, änderte sich erneut. Es klang, als würden einzelne Steine auf der anderen Seite der Wand auf den Boden rieseln.
Heinrich hatte es geschafft. Der Durchgang war fast geschafft. Er ließ sein Werkzeug fallen und kratzte wie wahnsinnig mit den Fingernägeln an dem losen Mauerwerk. Das Loch, das er freilegte, war gerade groß genug, um einen Finger hindurchzustecken. Seine Nase näherte sich dem Loch und er zog scharf die Luft ein. Leicht süßlich und modrig-feucht. Nicht vergleichbar mit dem muffigen Kellergeruch. Er meinte, im Tiefen der Höhle, zu der er einen Zugang gegraben hatte, etwas zu hören, das sich quälend langsam über die scharfkantigen Steine schob, dann hob er den Kopf und schaute in Richtung der Kellertür.
Wie groß würde Wolfgangs Rolle wohl sein? Heinrich konnte es sich kaum ausmalen, aber es erfüllte ihn mit Stolz. Sein Sohn war gerade alt genug, um seinen Führerschein zu machen und würde jetzt schon so eine Verantwortung übernehmen. Heinrich war nie so einfühlsam wie sein Sohn, nie so verantwortungsbewusst und schon gar nicht so einfallsreich. Wie gerne würde er die Errungenschaften seines Sohnes miterleben und mitansehen, wie er eine neue Ära erschuf?
Aber der Hunger. Er musste gestillt werden.
Die Landstraße erstreckte sich vor ihm. Sie führte ihn durch Brettheim und Grauenfels direkt in sein Heimatdorf. Keine Abzweigung, keine Möglichkeit zu wenden oder es sich anders zu überlegen. Einsam und starr geradeaus. Beim Anblick der Straße fühlte er sich zum ersten Mal seit Jahren verstanden.
Fast zehn Jahre später fühlte sich Jonas in Brettheim sofort wieder wie 21 – ein verschlafenes Nest, aus dem man nur mit der Bahn entkommen konnte.
So schnell, wie er hineingefahren war, war er wieder draußen. Und willkommen zurück auf der Landstraße. Links die Felder, rechts der Wald für die nächsten drei Kilometer.
Was er über Brettheim sagen konnte, konnte Jonas so aber nicht über Grauenfels wiederholen. Grauenfels war klein, bekannt für seine gepflegten Gärten – So war es zumindest in Jonas Erinnerung.
Aber vielleicht betrog sie ihn, denn was sich ihm darbot, wirkte eher wie das Gegenteil. Hauswände waren beschmiert, das Ortsschild fehlte, die Gärten zugewachsen und nicht mehr einsehbar.
Unbewusst war Jonas bereits abgebremst und rollte nur noch durch die Siedlung. Der Regen schien sich seiner Geschwindigkeit anzupassen und man konnte nur noch von einem Nieseln reden. Irgendwo in der Nachbarschaft hörte er einen lauten Schrei und das donnernde Bellen von Hunden.
Auch wenn Jonas zugeben musste, dass es verstörend war, wie schnell ein ganzes Dorf verkommen konnte, war ihm die Ablenkung gerade recht gekommen.
Seine Gedanken kreisten um Grauenfels, auch als er es bereits hinter sich gelassen hatte.
Aber er konnte der Realität nicht weiter ausweichen, als das gelbe Schild mit Aufschrift Islingen ihn in seinem Heimatort begrüßte. Darunter war eine Holztafel angebracht, wo mit großen schönen Lettern “Aktuelle Veranstaltungen” eingraviert war, nur das Schild darunter war leer. Schön, dass wenigstens hier noch alles beim Alten war. Bei dem Gedanken musste Jonas laut schnauben und bog dann in die Straße zu seiner Rechten ein. Noch einmal links und auf der linken Seite…
Er hielt am Straßenrand an und schaute weiter geradeaus. Sein Blick schweifte nach unten auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb fünf und er hatte sich nicht angekündigt. Bestimmt war es besser, wenn er erst morgen seine Eltern aufsuchte.
Jonas startete den Motor wieder und fuhr ohne einen Blick nach links weiter die Straße entlang. Wenn er sich nicht komplett irrte, gab es hier in der örtlichen Gaststätte ein paar Fremdenzimmer. “Zur Traube” oder “Zum Adler” müsste es gewesen sein; so wie man sie in jedem Dörfchen in der Gegend finden kann.
Durch die dünnen Vorhänge bahnte sich nicht nur das Licht des Mondes einen Weg in das kleine Zimmer, auch eine Straßenlaterne erhellte den Raum, als wäre es helllichter Tag. Nur das stetige Rieseln von Wasser in der Regenrinne drang ihm zu Ohren.
Jonas lag auf der viel zu weichen Matratze und nahm zum wiederholten Male sein Handy in die Hand. Er scrollte durch seine Kontakte: ehemaliger Kollege, seine Eltern, ein Vertriebler, ein ehemaliger Kollege, Mia …
Eine beendete Beziehung und ein Wechsel des Arbeitgebers und schon kennt man keinen mehr. Nein, wahrscheinlich ging es nur ihm so.
Er scrollte wieder nach oben und blieb bei Mias Nummer hängen. Ihre Vorwürfe hallten nach: mehr Aufmerksamkeit, weniger Arbeit.
Es brachte nichts darüber nachzudenken. Sein Finger öffnete das Kontextmenü und war kurz davor das kleine Mülleimersymbol auf dem Bildschirm zu berühren, bevor er weiter nach oben scrollte.
Daniel. Fast ganz oben angekommen, hielt er inne. Hatte er einen Kollegen, der so hieß? Einen Kontakt bei einem Dienstleister oder Kunden? Aber dann hätte er sicher auch einen Nachnamen oder eine geschäftliche Mailadresse hinterlegt.
Den einzigen anderen Daniel, der ihm einfiel, war ein alter Schulfreund. Einer der letzten, mit dem er noch Kontakt hatte, als er nicht mehr in Islingen wohnte.
Mit einem Mal setze Jonas sich auf und fing an eine Nachricht zu schreiben.
“Guten Abend Daniel, …” er löschte den Inhalt wieder. Es klang alles zu formell. Wie oft hatte ihm Mia gesagt, dass seine Nachrichten nicht persönlich genug waren. Wenn er noch bei ihr wäre, müsste er das gar nicht …
“Nein”, stoppte er sich und murmelte vor sich hin. “Ich muss das nicht; Ich will das.”
Er stand auf und ging zu dem kleinen Waschbecken in einer Nische neben der Zimmertür. Es war gerade groß genug, um die Hände nass zu machen, ohne genug Platz, um sich beim Einseifen auch den Handrücken zu waschen. Jonas spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht.
Das kalte Nass holte ihn wieder ganz aus der Müdigkeit, die ihn unbemerkterweise langsam einholte. Auf dem Rückweg zum Bett hörte er den PVC-Boden an einigen Stellen quietschen und die darunterliegenden Dielen knarzen.
“Hey Daniel, lange nichts mehr von dir gehört. Ich bin grad in Islingen. Wohnst du noch hier? Vielleicht finden wir die Tage ja mal Zeit für ein Bierchen. Gruß Jonas”
Mit flauem Gefühl im Magen, aber doch irgendwie erleichtert, legte sich Jonas wieder hin. So schnell wie ihn das kalte Wasser vor wenigen Minuten fit gemacht hatte, so schnell verging sein wacher Moment auch wieder und langsam kam die Erschöpfung an.
Das Licht in dem Fenster ging aus. Der Neuankömmling musste sich wohl schlafen gelegt haben. Er war offensichtlich allein hier.
Walter hoffte, dass Wolfgang es nicht versauen würde. Es war schließlich eine gute Chance. Und es musste schnell gehen.
“Er wartet nicht gern”, murmelte er vor sich hin und lehnte sich nach vorne, um den Motor anzulassen.
Es ging schon Jahre so. Wolfgang zögerte viel zu oft und wartete bis der Hunger fast nicht mehr auszuhalten war.
“Vielleicht spürt er ihn nicht so wie ich?”
Walters Frage hing in der Fahrerkabine, doch keiner war anwesend, um sie ihm zu beantworten. Wer hätte das auch können. Nur einer.
Aber wahrscheinlich stimmte es. Er war ihm schließlich so nah. Es war eine große Ehre. Bei den Gedanken zeichnete sich ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht des Mannes ab.
Doch als er den Blick über die Felder streifen ließ, an denen er vorbei in Richtung Grauenfels fuhr, verschwand das Lächeln wieder. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Backenzähne knirschten.
“So langsam. Wie weit könnten wir sein, wenn Heinrich noch hier wäre?”
Die ersten Häuser von Grauenfels kamen in sein Sichtfeld.
“So viele Möglichkeiten.”
Sein Blick wanderte auf den Beifahrersitz, wo seine Waffe, geladen und gesichert, lag.
“So viel Zögern.”
Er hustete etwas Schleimiges hervor und wischte es an der Brust seiner Uniform ab.
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