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| Kapitel: | 30 | |
| Sätze: | 3.078 | |
| Wörter: | 54.690 | |
| Zeichen: | 313.695 |
Klank. Die Spitzhacke traf den Beton. Beim Herausziehen der Spitze aus der Wand rieselten kleine Steine und feiner Staub auf den Boden des Kellers sowie auf Heinrichs Hose und Schuhe. Heinrich ließ sich davon nicht abhalten. Er holte aus und schlug erneut zu.
Klank. Nicht mehr lange und er würde den Zugang offenlegen können. Wie oft hatte er sich aufgeregt, wie umständlich der Zugang über die alte Höhle war.
Klank. Bald könnte er direkt in seinem eigenen Haus Kontakt aufnehmen. Es war nicht nur seine schwerste Aufgabe, sondern auch seine wichtigste bisher.
Klank. Die Spitzhacke drang tiefer ein und größere Steinbrocken lösten sich, als er sie hinauszog. Er wischte sich den Schweiß von der höher werdenden Stirn und stützte sich kurz auf dem Werkzeug ab.
Als er vor vier Jahren das erste Mal aus Neugier die Höhle betrat und Kontakt aufnahm, hätte er niemals gedacht, wie sehr es sein Leben verändern könnte. Eine Träne lief ihm übers Gesicht, als er an das Opfer seiner Frau und Tochter nachdachte. Es erfüllte ihn mit unendlichem Stolz. Beide hatten so viel beigetragen. Wenn sie nicht gewesen wären, hätte er niemals so viel wachsen können. Er holte erneut aus und stach die Spitzhacke in die Wand vor ihm.
Klong. Das Geräusch wurde dumpfer. Hatte er sich endlich weit genug vorgegraben, um die Betonschicht komplett zu durchbrechen?
Klong. Heinrich erwischte sich, wie er darüber nachdachte, wie es danach weitergehen würde. Er schüttelte den Kopf. Er musste sich darüber keine Gedanken machen.
Klong. Er musste nur seinen Part erfüllen. Seine Familie und er wurden schon so sehr gesegnet, warum sollte er jetzt Zweifel bekommen?
Klong. Wolfgang war inzwischen alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. Er könnte seinen Platz übernehmen. Und Heinrich könnte die wichtigste Aufgabe überhaupt übernehmen.
Klong. Er könnte den gleichen Weg gehen, wie seine Frau und Tochter. Nur in seinem Fall komplett aus freien Stücken.
Krack. Das Geräusch der Spitzhacke, die auf die Wand fiel, änderte sich erneut. Es klang, als würden einzelne Steine auf der anderen Seite der Wand auf den Boden rieseln.
Heinrich hatte es geschafft. Der Durchgang war fast geschafft. Er ließ sein Werkzeug fallen und kratzte wie wahnsinnig mit den Fingernägeln an dem losen Mauerwerk. Das Loch, das er freilegte, war gerade groß genug, um einen Finger hindurchzustecken. Seine Nase näherte sich dem Loch und er zog scharf die Luft ein. Leicht süßlich und modrig-feucht. Nicht vergleichbar mit dem muffigen Kellergeruch. Er meinte, im Tiefen der Höhle, zu der er einen Zugang gegraben hatte, etwas zu hören, das sich quälend langsam über die scharfkantigen Steine schob, dann hob er den Kopf und schaute in Richtung der Kellertür.
Wie groß würde Wolfgangs Rolle wohl sein? Heinrich konnte es sich kaum ausmalen, aber es erfüllte ihn mit Stolz. Sein Sohn war gerade alt genug, um seinen Führerschein zu machen und würde jetzt schon so eine Verantwortung übernehmen. Heinrich war nie so einfühlsam wie sein Sohn, nie so verantwortungsbewusst und schon gar nicht so einfallsreich. Wie gerne würde er die Errungenschaften seines Sohnes miterleben und mitansehen, wie er eine neue Ära erschuf?
Aber der Hunger. Er musste gestillt werden.
Die Landstraße erstreckte sich vor ihm. Sie führte ihn durch Brettheim und Grauenfels direkt in sein Heimatdorf. Keine Abzweigung, keine Möglichkeit zu wenden oder es sich anders zu überlegen. Einsam und starr geradeaus. Beim Anblick der Straße fühlte er sich zum ersten Mal seit Jahren verstanden.
Fast zehn Jahre später fühlte sich Jonas in Brettheim sofort wieder wie 21 – ein verschlafenes Nest, aus dem man nur mit der Bahn entkommen konnte.
So schnell, wie er hineingefahren war, war er wieder draußen. Und willkommen zurück auf der Landstraße. Links die Felder, rechts der Wald für die nächsten drei Kilometer.
Was er über Brettheim sagen konnte, konnte Jonas so aber nicht über Grauenfels wiederholen. Grauenfels war klein, bekannt für seine gepflegten Gärten – So war es zumindest in Jonas Erinnerung.
Aber vielleicht betrog sie ihn, denn was sich ihm darbot, wirkte eher wie das Gegenteil. Hauswände waren beschmiert, das Ortsschild fehlte, die Gärten zugewachsen und nicht mehr einsehbar.
Unbewusst war Jonas bereits abgebremst und rollte nur noch durch die Siedlung. Der Regen schien sich seiner Geschwindigkeit anzupassen und man konnte nur noch von einem Nieseln reden. Irgendwo in der Nachbarschaft hörte er einen lauten Schrei und das donnernde Bellen von Hunden.
Auch wenn Jonas zugeben musste, dass es verstörend war, wie schnell ein ganzes Dorf verkommen konnte, war ihm die Ablenkung gerade recht gekommen.
Seine Gedanken kreisten um Grauenfels, auch als er es bereits hinter sich gelassen hatte.
Aber er konnte der Realität nicht weiter ausweichen, als das gelbe Schild mit Aufschrift Islingen ihn in seinem Heimatort begrüßte. Darunter war eine Holztafel angebracht, wo mit großen schönen Lettern “Aktuelle Veranstaltungen” eingraviert war, nur das Schild darunter war leer. Schön, dass wenigstens hier noch alles beim Alten war. Bei dem Gedanken musste Jonas laut schnauben und bog dann in die Straße zu seiner Rechten ein. Noch einmal links und auf der linken Seite…
Er hielt am Straßenrand an und schaute weiter geradeaus. Sein Blick schweifte nach unten auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb fünf und er hatte sich nicht angekündigt. Bestimmt war es besser, wenn er erst morgen seine Eltern aufsuchte.
Jonas startete den Motor wieder und fuhr ohne einen Blick nach links weiter die Straße entlang. Wenn er sich nicht komplett irrte, gab es hier in der örtlichen Gaststätte ein paar Fremdenzimmer. “Zur Traube” oder “Zum Adler” müsste es gewesen sein; so wie man sie in jedem Dörfchen in der Gegend finden kann.
Durch die dünnen Vorhänge bahnte sich nicht nur das Licht des Mondes einen Weg in das kleine Zimmer, auch eine Straßenlaterne erhellte den Raum, als wäre es helllichter Tag. Nur das stetige Rieseln von Wasser in der Regenrinne drang ihm zu Ohren.
Jonas lag auf der viel zu weichen Matratze und nahm zum wiederholten Male sein Handy in die Hand. Er scrollte durch seine Kontakte: ehemaliger Kollege, seine Eltern, ein Vertriebler, ein ehemaliger Kollege, Mia …
Eine beendete Beziehung und ein Wechsel des Arbeitgebers und schon kennt man keinen mehr. Nein, wahrscheinlich ging es nur ihm so.
Er scrollte wieder nach oben und blieb bei Mias Nummer hängen. Ihre Vorwürfe hallten nach: mehr Aufmerksamkeit, weniger Arbeit.
Es brachte nichts darüber nachzudenken. Sein Finger öffnete das Kontextmenü und war kurz davor das kleine Mülleimersymbol auf dem Bildschirm zu berühren, bevor er weiter nach oben scrollte.
Daniel. Fast ganz oben angekommen, hielt er inne. Hatte er einen Kollegen, der so hieß? Einen Kontakt bei einem Dienstleister oder Kunden? Aber dann hätte er sicher auch einen Nachnamen oder eine geschäftliche Mailadresse hinterlegt.
Den einzigen anderen Daniel, der ihm einfiel, war ein alter Schulfreund. Einer der letzten, mit dem er noch Kontakt hatte, als er nicht mehr in Islingen wohnte.
Mit einem Mal setze Jonas sich auf und fing an eine Nachricht zu schreiben.
“Guten Abend Daniel, …” er löschte den Inhalt wieder. Es klang alles zu formell. Wie oft hatte ihm Mia gesagt, dass seine Nachrichten nicht persönlich genug waren. Wenn er noch bei ihr wäre, müsste er das gar nicht …
“Nein”, stoppte er sich und murmelte vor sich hin. “Ich muss das nicht; Ich will das.”
Er stand auf und ging zu dem kleinen Waschbecken in einer Nische neben der Zimmertür. Es war gerade groß genug, um die Hände nass zu machen, ohne genug Platz, um sich beim Einseifen auch den Handrücken zu waschen. Jonas spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht.
Das kalte Nass holte ihn wieder ganz aus der Müdigkeit, die ihn unbemerkterweise langsam einholte. Auf dem Rückweg zum Bett hörte er den PVC-Boden an einigen Stellen quietschen und die darunterliegenden Dielen knarzen.
“Hey Daniel, lange nichts mehr von dir gehört. Ich bin grad in Islingen. Wohnst du noch hier? Vielleicht finden wir die Tage ja mal Zeit für ein Bierchen. Gruß Jonas”
Mit flauem Gefühl im Magen, aber doch irgendwie erleichtert, legte sich Jonas wieder hin. So schnell wie ihn das kalte Wasser vor wenigen Minuten fit gemacht hatte, so schnell verging sein wacher Moment auch wieder und langsam kam die Erschöpfung an.
Das Licht in dem Fenster ging aus. Der Neuankömmling musste sich wohl schlafen gelegt haben. Er war offensichtlich allein hier.
Walter hoffte, dass Wolfgang es nicht versauen würde. Es war schließlich eine gute Chance. Und es musste schnell gehen.
“Er wartet nicht gern”, murmelte er vor sich hin und lehnte sich nach vorne, um den Motor anzulassen.
Es ging schon Jahre so. Wolfgang zögerte viel zu oft und wartete bis der Hunger fast nicht mehr auszuhalten war.
“Vielleicht spürt er ihn nicht so wie ich?”
Walters Frage hing in der Fahrerkabine, doch keiner war anwesend, um sie ihm zu beantworten. Wer hätte das auch können. Nur einer.
Aber wahrscheinlich stimmte es. Er war ihm schließlich so nah. Es war eine große Ehre. Bei den Gedanken zeichnete sich ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht des Mannes ab.
Doch als er den Blick über die Felder streifen ließ, an denen er vorbei in Richtung Grauenfels fuhr, verschwand das Lächeln wieder. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Backenzähne knirschten.
“So langsam. Wie weit könnten wir sein, wenn Heinrich noch hier wäre?”
Die ersten Häuser von Grauenfels kamen in sein Sichtfeld.
“So viele Möglichkeiten.”
Sein Blick wanderte auf den Beifahrersitz, wo seine Waffe, geladen und gesichert, lag.
“So viel Zögern.”
Er hustete etwas Schleimiges hervor und wischte es an der Brust seiner Uniform ab.
“Hey, ewig nicht mehr gesehen, Johnny! Komm rein!”
Jonas blieb einen Moment perplex stehen, bevor er sich in Bewegung setzte und leicht schmunzelnd den Flur betrat. Johnny hatte ihn schon Jahre keiner mehr genannt.
“Danke.”
Nach ein paar anfänglichen Nettigkeiten saßen die beiden sich am Esstisch gegenüber. Jonas nahm die angebotene Tasse Kaffee entgegen und sah sich im Zimmer um. Keine Zimmerpflanzen, keine Bilderrahmen, keine Vasen oder Deko-Objekte. So sah seine Wohnung vor Mia auch aus … und so wird sie wahrscheinlich auch wieder aussehen, wenn er wieder nach Hause fährt.
“Na, was haste gemacht? Du hattest irgendwie Internetseiten programmiert oder so? Läuft das noch?”
“Haha, eher betrieben. Also, was andere verbrochen haben, muss ich irgendwie ans Laufen bekommen.” Eher Stirnrunzeln bei Daniel.
“Der Internetseiten-Flüsterer für alle Fälle”, fasste Daniel zusammen.
“So könnte man es sagen.” Jonas musste kurz grinsen. “Und du hattest Dachdecker gelernt oder?”
“Nee, Fliesenleger. Aber mach ich nich mehr. Ich hab doch bei dem Schneider die Lehre gemacht und der Penner hat mit den Stunden vorne und hinten beschissen. Ich bin jetzt beim Klein, drüben in Eize. Der macht so automatische Türen in Bürogebäuden und zahlt echt gut für 20 Stunden. Umso mehr Zeit hab ich nebenbei für schwarz. Kannste dir nich ausdenken, wie viele zwar schwarz anheuern, aber nur, wenn du ne Ausbildung hast. Da is dann plötzlich egal, ob de Maler bist oder Dachdecker, die vertrauen drauf, dass du n Bad renovieren kannst.”
“Machst du viel nebenbei? Hast du keine Angst, davor erwischt zu werden?”
“Haha, ach was. Wir warn neulich zu zweit sogar beim Walter für Laminat und Wandfarbe. Und der is Bulle.”
Jonas lachte und nahm einen Schluck vom Kaffee. Übersäuert und gleichzeitig wässrig. Neben den ganzen Vollautomaten zu Hause und im Büro, dem Espresso im edlen Restaurant und Businesshotels war so ein schlecht gemachter Filterkaffee ein bisschen wie Heimkommen.
“Und du wohnst hier alleine? Du hattest doch eine Freundin damals oder?”
“Janine? Das is schon Jahre vorbei. Wollte Abstand und sich finden, meint sie und kommt dann ein paar Monate später an und sagt, sie sei schwanger. Wir hams nochmal versucht, aber es gelassen. Aber ich seh Finley noch alle zwei Wochen.” Daniel sah nicht sehr betrübt darüber aus, seinen Sohn nicht oft zu sehen, dann zog sogar ein Lächeln über sein Gesicht: “Der Name war ihre Idee, mich hat keiner gefragt.”
Jonas zwang sich ein kleinlautes Lachen heraus. Vom eigenen Kind getrennt sein, wollte er sich nicht mal vorstellen. Wenn er und Mia eines gehabt hätten, hätte es sie vielleicht mehr zusammengeschweißt?
“Und du?”, riss ihn Daniel aus den Gedanken.
“Was meinst du?”
“Du hattest doch die eine mit den roten Haaren oder?”
“Mia.”
“Genau, Mia. Is sie auch in Isle? Hättest sie ruhig mitbringen können!”
“Mia … ist nicht mehr. Wir haben uns auseinandergelebt.” Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: “Und sie sich bevor ich das wusste mit einem anderen wieder zusammengelebt.”
“Scheiße, Mann. Doch lieber Bier statt Kaffee?”
“Nein, nein. Schon gut.” Ist ja nur meine gesamte Zukunft, die ich geplant habe.
“Lass uns über was anderes reden”, unterbrach Jonas seinen eigenen Gedankengang. “Was ist denn in Grauenfels los? Alles vollgeschmiert und runtergekommen, ich hab es fast nicht wiedererkannt.”
“Wie viel Zeit hast du? Hahaha.” Daniels schallendes Lachen hallte im Esszimmer wider.
“Kennst du noch Wolfgang?”
Jonas schüttelte nach kurzer Zeit den Kopf. Nicht, dass er überhaupt noch viele Namen im Gedächtnis hatte. Ohne sein Kontaktbuch auf dem Smartphone würde er nicht mal die Namen seiner ehemaligen Kollegen kennen.
“Aber Wolli sagt dir noch was? Schon immer dick, kaum Freunde, Mobbingopfer Nummer 1?”
“Wolli? Der ist nach der Vierten in diese Sonderschule gekommen, oder?”
Daniel nickte. “Konnt keinen Job halten, fing an als ‚Dämon‘ zu streamen – und das bringt Kohle. Im Internet wurd er aber auch gemobbt. Aber jetzt gib dir das: Da ham welche aus Mitleid gespendet und das hat ihm so gefalln, dass er immer mehr gemacht hat, was die Leute dazu bringt, ihn zu hassen.”
“Warum ignorieren die ihn nicht einfach?”
“Ich hab schon mit n paar von denen geredet. Manche sagen, er muss aus dem Internet raus, weil er mit zu jungen Mädchen schreibt, andere finden es witzig, wenn er sich aufregt oder rumbrüllt. N Kumpel hatte einen Onkel in Graue und der meinte, er konnte da über ein halbes Jahr nur jede dritte oder vierte Nacht schlafen ohne von Gebrüll, Gehupe oder Feuerwerk geweckt zu werden. Hat eiskalt die Bude verkauft und is weggezogen.”
Jonas ließ sich das durch den Kopf gehen. Natürlich Social Media-Kanäle, die so spalten und Skandale haben, sind sicher gut geklickt und wenn man es richtig anstellt, springt sicher der ein oder andere Euro raus. Vor allem wenn der Aufwand sich in Grenzen hält. Anscheinend streamt der Dämon nur einmal am Tag ein paar Stunden Videospiele und regt sich über seine Hater auf. Damit erstellt sich der Content quasi selbst. Schlau gemacht. Nur, wer will so leben?
“Ziehs dir einfach rein. Such”Dämon Besuch” oder “Dämon Hater” oder so. Die ham ganze Stunden an Videos über den gemacht. Sind halt einfach die treusten Fans. Haha.”
Mit den Worten “Pass mal auf!” drehte Daniel sich im Sitzen um und schnappte sich sein Tablet vom Sideboard.
“Das is eins von den Besuchsvideos, wie dies nennen”, sagte er, während er das Tablet auf einen kleinen Ständer stellte und so drehte, dass auch Jonas den Bildschirm sehen konnte.
Aus den leicht blechern klingenden Boxen des Tablets liefen an Hip-Hop und Schlager erinnernde Lieder, in denen immer wieder von Wolfgang, Wolli und seinem Alter Ego Dämon die Rede war. Jonas verstand nicht alle Anspielungen, aber das was er heraushören konnte, waren Anschuldigungen des Rassismus, Sexismus, eventuelle Pädophilie, starke Überheblichkeit und Arroganz. Das ganze gepaart mit angeblicher Dummheit, fehlender Bildung und sozialen Kontakten klang das eher nach einem Menschen, den man bemitleiden und helfen sollte.
Im dazu gehörigen Video sah man, wie mehrere junge Männer in einem Auto nach Grauenfels unterwegs waren. Vor allem bei den Graffitis, beschmierten und fehlenden Schildern wurde extra draufgehalten.
Eine Stimme aus dem Off erklärte nach kurzer Zeit etwas über die Anreise und auch über einen sogenannten Pilgerpfad, den die Besucher wohl ansteuerten. Sie fuhren von Islingen durch Grauenfels nach Brettheim, nur um von dort aus zum örtlichen Supermarkt zu laufen und einen Radweg in Richtung Grauenfels zu nehmen.
Das schien eine Route zu sein, die der Dämon des Öfteren in seinem Video zeigte und daher hatte es sich augenscheinlich zu einem Ritual unter den Besuchern entwickelt. Auch wenn das alles Jonas komplett absurd erschien, ließ er es erstmal unkommentiert. Ein gewisser Reiz, was noch kommen würde, zeigte sich auch bei ihm.
Auf dem Radweg wimmelte es nicht nur an Beschmierungen und Müll, sondern irgendein Spaßvogel hatte sogar aus Holz angefertigte Wegweiser in die Erde gerammt, richtungsweisend in die “Höhle des Dämons”, wie es genannt wurde.
Als sie schließlich in Grauenfels ankamen, wurden tatsächlich die mitgebrachten Boxen stark heruntergeregelt und es gab auch keinerlei Geschrei. Hatten diese Pilger tatsächlich Mitleid mit den anderen Anwohnern? Allerdings könnte es auch sein, dass sie den Dämon nur überraschen und nicht vorwarnen wollten.
Die Stimme aus dem Off bestätigte, dass es sich bei dem Haus vor ihnen um die Höhle handelte.
Jonas pausierte das Video. Die gelbe Hauswand war an manchen Stellen nach außen gewölbt, was wenn er sich nicht irrte für Schimmel in den Wänden sprach. Der Putz war an vielen Stellen herabgefallen und das Dach wirkte auch nicht mehr ganz gerade. Umzäunt war das Grundstück von einem locker mannshohen Maschendrahtzaun, an den jemand mit unzureichendem Geschick versucht hatte, eine Abdeckplane zu befestigen. Es erschwerte etwas die Sicht auf den Garten und das Erdgeschoss des Hauses, aber es sah so aus, als würde der kleinste Wind die Plane mitnehmen können.
“Schon krass”, murmelte Daniel. “Hat er geerbt von seinem Vater, weil sei Mutter und Schwester spurlos verschwunden sind, als sei Vater starb. Soll sie wohl nie gesucht ham und war wohl einfach froh, dass er alles für sich allein hat.”
“War das schon vorher so runtergekommen? Grauenfels hatte ich immer so akkurat in Erinnerung.”
“Es sah nicht SO aus, aber es war nie auf dem Stand wie die anderen Häuser in Graue. Siehst du die Scheune da links neben dem Haus? Durch die Tür kannste Müllsäcke sehen. Das soll schon gemacht worden sein, als er noch nich der Herr des Hauses war.”
Jonas sah sich das Gebäude an, welches dem Haus gegenüber stand und mit dem Haus zusammen eine Art Durchgang von Tor bis zur Garage bildete. Die Gebäude formten ein schönes Hufeisen, wäre nicht alles so heruntergekommen.
Als Scheune hätte er das Gebäude allerdings nicht erkannt. Es erinnerte fast mehr an alte Burgruinen. Mit Steinen unterschiedlicher Beschaffenheit aufeinandergestapelt, an manchen Stellen rissig und das Dach wirkte an einer Seite eingefallen; so waren die Wände um das Holztor - welches ironischerweise stabiler wirkte als der steinerne Rest - gestapelt und wehrten sich mit aller Macht gegen die Schwerkraft.
“Ich starte wieder”, sagte Jonas halb fragend, halb informierend und wartete nicht lange auf Rückmeldung.
“Wolli, schauste wieder Tierpornos oder klaust du Videos?”, rief der Mann hinter der Kamera, als er in Rufweite des Hauses war. Jonas sah etwas verwirrt zu Daniel.
“Soll er wohl gemacht ham, aber keine Ahnung, was da stimmt.”
Die Pilger standen anscheinend länger vor dem Haus, denn hin und wieder gab es einen Schnitt und die Schatten wanderten langsam um die jungen Männer. Mal gab es den ein oder anderen Schrei reingeschnitten, meistens eine Beleidigung oder Aufforderungen, sich einer Diskussion zu stellen oder seine Position zu rechtfertigen. Ein anderes Mal flog eine halb leere Dose in Richtung eines Fensters und verfehlte nur knapp. Dann kam der Schnitt zur Szene, als Wolfgang sich aus dem Haus und an den Zaun begab.
“Es is mitten unner der Woch und ihr habt nix bess’res zu tun, als herzukommen und Scheiße zu baun! Verpisst euch, bevor ich die Bullen ruf, ihr arbeitslosen Studenten!”
Der Wutausbruch erntete nur schallendes Gelächter.
Jonas bekam kurzzeitig nur wenig von dem Brüllwettkampf der beiden Seiten mit. Er sah sich den Streamer genauer an.
Die Haare hingen ihm in öligen Strähnen ins Gesicht und über die offensichtlich immer mehr sichtbare Kopfhaut. Die Kleidung - ein schwarzes T-Shirt und khakifarbene Shorts - schienen so groß, wie es sie in normalen Geschäften nicht zu kaufen gibt, klebten an seiner Statur wie die Pelle an einer Fleischwurst.
Auf dem schwarzen Shirt und den wuchtigen Schultermassen konnte man umso besser etwas sehen, das wie Staub oder Schuppen aussah. Die Kleidung schien schon länger nicht mehr gewaschen und Jonas wollte sich gar nicht ausmalen, wie modrig der Geruch sein musste.
Das Gesicht war glattrasiert und wirkte in Kombination mit der Aufgequollenheit durch das Übergewicht unnatürlich ballonartig. Außer einem starken Unterbiss wies das Gesicht aber keine augenscheinlichen Auffälligkeiten auf.
Wenn er weiter nach unten ging und von dem Bauch absah, der wie ein mit Wasser gefüllter Plastiksack bei jeder Bewegung nachzuschwingen schien, kam er nicht umhin bei den Beinen und Füßen hängen zu bleiben.
Die Beine hatten gerötete Stellen und an der ein oder anderen Stelle sah es fast wie eine offene Wunde aus. Die Füße waren in Schuhe reingestopft worden, deren Ferse so plattgetreten war, dass sie als Latschen dienten.
Jonas war vom Anblick nicht nur angewidert, sondern auch schockiert. Das war der kleine Wolli. Er hatte ihn selbst nicht groß gemobbt, aber war auch nie dazwischengegangen, wenn er im Kreis ganz allein war. Hätte er eingreifen sollen? Hätte das etwas geändert?
“Wie ihr wieder guckt und nur hier vorbeikommt, weil euer eigenes Leben so scheiße is!”
“Nee, Wolli. Ich hab ne Freundin und kein schimmelndes Haus”, entgegnete einer der Pilger, der links vom Kameramann stand.
“Wenigstens hab ich n Haus. Nich so wie du kleiner Arbeitsloser, der noch bei Mutti im Keller wohnt.”
“Ich muss dich enttäuschen, ich wohne in einer eigenen Wohnung, aber du wohnst doch noch im Elternhaus!”
“Halt’s Maul Brillenschlange! Wenn du ernsthaft denkst, ich könnte dir nicht das Wasser reichen.”
“Was dann Wolli…”
“DAS HEIßT DÄMON! Für dich sogar eher GOTT!” Der Streamer brüllte aus voller Kehle und unterbrach den Besucher.
“Jetzt ist aber mal langsam gut”, kam eine ältere Stimme von rechts. Die Kamera schwenkte und ein älterer Mann kam langsam auf die Gruppe zu.
“Wir gehen gleich”, versuchte der Kameramann zu beschwichtigen.
“Des is mir inzwischen egal”, antwortete der Mann, der vermutlich ein Nachbar des Dämon war und wandte sich dem Streamer zu. “Hör doch mal auf, die Videos ins Internet zu machen. Du provozierst doch die Leut und wir ham den Ärger!”
“ICH MACH NUR MEINEN JOB! Wenn ihr auch mal die Polizei rufen oder was gegen die Leut machen würdet, hätten wa des Problem net! Ich steh allein gegen all die Arschlöcher!”
Jonas schaute nach unten auf den Fortschrittsbalken des Videoplayers. Das war nicht mal die Hälfte. “Oh Gott”, stöhnte er leise und erntete dafür ein Grinsen von Daniel.
“Wie lang hastn vor zu bleiben?”
Daniel hatte gerade das Tablet wieder zur Seite gelegt und leerte den Rest seines Kaffees in einem Zug.
“Mindestens eine Woche. Vielleicht länger, aber ich bin mir nicht sicher.”
“Dann geh selbst mal vorbei. Schau dirs an, wie er rumbrüllt. Hab ich auch schon g’macht.”
Auf dem Weg zu seinem Zimmer fuhr Jonas wieder durch Grauenfels und musste an den Streamer denken, der hier wohnte. Nicht, dass er ihm jetzt einen Besuch abstatten würde, aber er sah die Veränderungen des Ortes mit anderen Augen.
An der Hauswand neben ihm war nicht nur irgendein Graffiti, sondern da stand “Dämonenzeit”. Links davon führte eine kleine Gasse direkt zu einer kleinen Bäckerei.
Gerade groß genug, um Platz für die Theke und drei Stehtische zu bieten. Als Jonas sich eine der drei Parkbuchten schnappte, sah er eine junge Frau neugierig aus der Fensterfront schauen und die Augen verdrehen.
“Guten Tag”, sagte Jonas mit aufgesetztem Lächeln, als er die Bäckerei betrat. Die Verkäuferin musterte misstrauisch. Sie sah aus, als sei sie Mitte zwanzig. Braune Locken fielen ihr bis aufs Schulterblatt. Ihr Gesicht war leicht rundlich trotz ihrer schlanken Figur.
“Tag. Falls du den Weg wissen willst, kauf wenigstens vorher was”, erwiderte sie nach einem kurzen Zögern.
“Wie bitte?”
“Oh, keiner von den Verrückten? Ähm … Womit kann ich helfen?” Auch wenn das Lächeln nur erzwungen war, es hatte etwas Charmantes an sich.
“Keiner von den Verrückten … Sie meinen, diese Besucher vom Dämon?”
“Ja. Und?”, sie sah ihn erwartungsvoll an mit ihren großen, grünen Augen.
“Ähm … bin ich nicht?”, versuchte Jonas die Situation zu entschärfen.
“Haha, ja. Hatte ich so verstanden, aber ich meinte, was sie haben wollen?” Sie deutete auf die Theke vor ihr.
Jonas spürte, wie seine Ohren heißer wurden und räusperte sich kurz.
“Eine Butterbrezel und einen Kaffee, bitte. Aus der Tasse, nicht im Becher, wenn es geht.”
“Klar.” Mit diesen Worten drehte sie sich um und bediente eine Kaffee-Pad-Maschine hinter ihr. Jonas schimpfte mit sich selbst, nicht vorher auf die Ablage hinter ihr geschaut zu haben, aber stellte sich schließlich an einen der Stehtische.
“So, Butterbrezel und Kaffee.” Ein Teller und eine Tasse landeten vor seiner Nase, die ganz im Smartphone versunken war.
“Danke”, murmelte er ohne aufzusehen, griff nach der Brezel und hob den Kopf vom Bildschirm, aber statt in das Laugengebäck zu beißen, wich er einen Schritt zurück. Die Verkäuferin stand noch immer an seinem Tisch und sah ihn aufmerksam an.
“Es kommen nicht viele her mit fremdem Kennzeichen, die den Dämon kennen, aber meinen ihn nicht besuchen zu wollen. Von der Presse? Da wären Sie nicht der Erste.”
“Nein, ich … Ich bin in der Gegend aufgewachsen, Islingen. Bin nur mal wieder in der Heimat.”
“Achso. Haben Sie dann den Dämon in der Anfangszeit mitbekommen oder woher kennen Sie ihn?”
“Tatsächlich war ich schon nicht mehr hier, als er anfing. Nehme ich zumindest an.” Fügte er hinzu. Sicher sein könnte er sich nicht, dass er damals nicht schon aktiv war und einfach noch nicht genug Aufmerksamkeit bekommen hatte, um Jonas aufzufallen. Wie lange war der Dämon schon bekannt? Das müsste er mal recherchieren.
“Jedenfalls ist es heute ruhig. Zumindest noch.”
“Kommen denn viele Besucher vorbei?”
“Mh. Pilgerpfad nennen die das. Solange die sich benehmen, bezahlen und keine anderen Kunden stören, sollen sie gerne vorbeikommen, aber die sind oft angetrunken.”
Angetrunkene Jugendliche, die zu einer der Person unterwegs sind, die im Internet gemobbt wird, um sie zu provozieren und zu schlechten Aussagen oder Handlungen zu bringen. Was könnte da nur schiefgehen?
“Ich hoffe, da ist noch nichts passiert?”
“Es ist nur manchmal unangenehm, aber nichts Schlimmeres. Zumindest hier bei uns nicht”. Ihr Gesicht verdüsterte sich.
“Wo dann … wenn ich fragen darf?”, warf er schnell hinterher.
“Jürgen ist verschwunden. Er trank öfter mal über den Durst und dann auch mit den Jugendlichen, aber von einem Tag auf den anderen war er weg.”
Ein kalter Schauer lief Jonas über den Rücken. War es so einfach zu verschwinden?
“Wurde niemand informiert?”
“Klar, aber die sind anonym unterwegs und es sind so viele wechselnde Gesichter. Es wurde schnell fallen gelassen.” Die junge Frau seufzte.
Das Gespräch verebbte mit der Zeit und als das Telefon klingelte, weil jemand eine Vorbestellung aufgeben wollte, eilte die Verkäuferin wieder zurück und bevor sie mit dem Telefonat fertig war, hatte Jonas bereits Teller und Tasse geleert und winkte nochmal zum Abschied, bevor er sich zum Auto aufmachte.
Ohne den Motor anzulassen, saß er auf dem Fahrersitz und betrachtete die Bäckerei. Die junge Frau war immer noch am Telefonieren und ihre Locken tanzten bei jeder Bewegung ihres Kopfes leicht mit.
Jonas nahm sein Smartphone in die Hand, suchte die Notiz-App und diktierte hinein: “Recherche Dämon von Grauenfels. Seit wann aktiv, seit wann bekannt, seit wann gehasst. Grauenfels vorher, nachher. Verschwundener Dorfalki.”
Es war eine alte Angewohnheit von ihm nach Terminen sich Punkte in sein Smartphone zu diktieren, denen er noch nachgehen wollte. Er wusste auf jeden Fall, was er diesen Abend über auf seinem Smartphone ansehen würde, während er die Gedanken an seine Eltern und Mia bewusst nach hinten schob und versuchte sie zu verdrängen.
Das grausame Piepsen seines Handyweckers riss ihn aus den Träumen und Jonas sah sich kurz verwirrt im unvertrauten Dunkel um, bis ihm klar wurde, wo er sich befand. Er war über Nacht mit dem Handy direkt neben seinem Kopf eingeschlafen, weil er sich bis nach Mitternacht immer weiter in den Kaninchenbau begeben hatte, der das Dämongame war.
Eigentlich dachte er anfangs, dass er es bei ein paar kleinen Videos und vielleicht der ein oder anderen Suche belassen würde, aber nach kurzer Zeit hatte er es bereut, nicht seinen Laptop aus dem Auto mitgenommen zu haben, um die Videos in voller Größe zu bestaunen. Besuchsvideos waren nur die Spitze des Eisbergs.
So, wie er anfangs noch Mitleid mit dem Streamer hatte, so wandte es sich recht schnell zu einer Abneigung, die fast schon Verachtung war. Nichts, was ihn dazu bringen würde, sich auf den Weg zur Höhle des Dämons zu machen und ihn zu provozieren … zumindest nicht, wenn er nicht ohnehin schon hier wäre.
Nachdem Jonas ein paar erstaunlich gut produzierte Videos gefunden hatte, die das Dämongame in Gänze beschrieben und über die wichtigsten Insider aufklärten, kamen wie erwartet die Videovorschläge von alleine und bald war er über Streamzusammenfassungen zu Aufnahmen aus privaten Onlinegesprächen gekommen.
In ersteren gab er sich gern auf der einen Seite als der große Macher, der erreicht hatte, was jeder will und kaum einer schafft: Sich mit Online Content selbstständig machen und unabhängig von einem Job zu sein. Dass er dafür abhängig vom Spenderwillen seiner Zuschauer war, schien ihm egal und auch gutgemeinte Ratschläge oder spendable Fans wurden beim kleinsten Gegenwind gebannt. Auf der anderen Seite mimte er beim Streamen oft den Sensiblen und Verletzten, der mit dem ganzen ihm entgegenschwappenden Hass nicht zurechtkam. Der zwar niemals aufgeben würde, weil er für seine Fans weiterkämpft, aber der wirklich nicht weiß, wie er es weiter schaffen soll. Dass nach solchen tränenreichen Aussagen der Spendentopf sich oft schneller füllte, schien ihn gut aufzuheitern.
In den Gesprächen mit Zuschauern und vor allem seinen Kritikern hingegen, schien sich mehr von seiner echten Seite zu zeigen. Er haderte nicht, hin und wieder auch mal rassistische oder sexistische Ansichten zu vertreten, nutzte seine Macht, seinen Gesprächspartner zu bannen und damit das Wort zu entziehen, wenn ihm nicht nach dem Mund geredet wurde und zeigte sich als den unbesiegbaren Mann von Welt, der denkt viel zu wissen, aber meist nach wenigen Worten jedem im digitalen Raum klar machte, dass er von der aktuellen Thematik keine Ahnung hatte.
Ob der Haut das Organ-Sein abgesprochen, Handwerker als zu dumm und Studenten als faul dargestellt, die Welt aus der Sicht eines Zehnjährigen erklärt wurde; es war zumindest nie nicht unterhaltsam, wenn Dämon anfing, sich mit seinen Gesprächspartnern zu verstehen und sie ihm die irrwitzigsten Aussagen herauskitzeln konnten. Vor allem, weil selbst nach der Auflösung, dass ihn ein Kritiker hier zu einer problematischen Aussage verführt hatte, sein Ego es nicht einsehen konnte, dass er falsch lag und sein Position verteidigte, auch wenn er alle anderen Teilnehmer der Diskussion bannen musste.
Jonas konnte nachvollziehen, wie sich aus dem tollpatschigen, gemobbten Mann, der im Internet nach sozialen Kontakten suchte, dieses Phänomen und dieses Ziel des Hasses werden konnte. Er hieß es nicht gut, aber er würde lügen, wenn er es nicht nachvollziehen könnte.
Er blickte auf die Uhr und verfluchte sich, dass er noch immer den Wecker so eingestellt hatte. 05:30 Uhr leuchtete ihm entgegen. Perfekt, um aufzustehen, Zähne zu putzen, die Kleidung zu wechseln und mit einer frischen Tasse Kaffee, nochmal zu prüfen, ob alle Systeme laufen, bevor die ersten Kunden versuchen sich zu verbinden. Nur, dass es nicht mehr seine Aufgabe war.
Bis zu der Sache mit dem Kaffee konnte er die Liste aber zumindest abarbeiten.
“Das ist wirklich nicht mehr lustig!”
Die Ausruf des jungen Mannes wurde von der anderen Seite der Leitung mit einem verächtlichen Schnauben kommentiert. Er saß mit seinem Handy vor dem Schreibtisch. Auf seinem Monitor lief ein stummgeschalteter Live-Stream, der einen leeren Bürostuhl in einem heruntergekommenen Raum zeigte.
“Vergeudet nicht unsere Zeit.”
“Sie sind die Polizei. Wenn Jürgen verschwunden ist, müssen Sie doch…”, begann er, wurde aber harsch unterbrochen.
“Erklärt uns nicht, wie wir unseren Job machen sollen. Wir wissen von eurem Online-Spiel mit dem Dämon.”
Im Live-Stream kam ein dicker Mann ins Bild und ließ sich auf den Stuhl fallen. Seine Augenringe waren dunkel, sein Blick leer. Er fing an, wie wild zu brüllen und auf den Tisch zu schlagen, sodass die Kamera wackelte.
“Aber es ist ernst diesmal.” Die Verzweiflung war aus der Stimme nicht zu überhören. Doch der Polizist schien es entweder zu überhören oder ignorierte es.
“Wir haben fähige Leute da unten. Wenn es was Meldewürdiges geben würde, wüssten wir das vor euch.”
“Aber…” Doch die Worte verendeten im Nichts. Der Polizist hatte bereits aufgelegt.
“Wo ist Jürgen dann? Er gehörte schon zum Pilgerpfad und er kann doch nicht von einem Tag auf den nächsten verschwinden!”
Er starrte den Mann auf seinem Monitor an. Wolli, den er seit Jahren verfolgte und über den er sich lustig machte. Wer ihn besuchte, der folgte dem Pilgerpfad, der im Dämongame inzwischen so verankert war, wie der Dämon selbst.
Und Jürgen gehörte fest dazu. Er war der einzige Grauenfelder, der den Pilgern freundlich entgegenkam. Vermutlich, weil es dazu gehörte, ein paar Flaschen Bier für ihn mitzubringen. Opfergaben.
“Warum sollte er jetzt plötzlich weg sein?”
In dem Video mit einem der Nachbarn hieß es, er wäre wegen der Pilger umgezogen. Aber das ergab keinen Sinn.
Der Mann im Live-Stream tobte weiter vor sich hin, schwang eine stumpfe Machete durchs Bild und geiferte vor Wut, während sich sein Chat über ihn lustig machte.
War Wolli doch zu mehr fähig als nur zu großen Reden?
Das Handy war noch auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett gelegen, als er vom Gemeinschaftsbadezimmer im Flur wieder kam. So gesehen war es sein eigenen Badezimmer, denn zumindest in diesem Stockwerk schien kein anderer Gast einquartiert zu sein. Islingen ist vermutlich auch nicht das größte Urlaubsziel.
Als Jonas das Handy nun aber wieder an sich nahm, sah er sofort die Anrufe in Abwesenheit. Ein kurzer Moment war die Hoffnung da, dass es sich um Mia handelte, aber es war ein ehemaliger Kollege.
“Moin Marco.” Jonas hatte schon zurückgerufen, bevor er darüber nachdenken konnte, ob er es ignoriert.
“Jonas! Gut, dass du zurückrufst. Ich hab gehört, du hast mit Kalle geklärt, dass wir dich in Notfällen dazu ziehen können?”
“Wir hatten nur über mögliche nachgelagerte Aufträge als externer Berater gesprochen.”
“Wie auch immer. Ceph ist im Backfill-full und über die Anwendung können wir den Speicher nicht mehr freigeben.”
Jonas holte tief Luft, bedacht darauf, nicht zu sehr ins Mikro zu atmen. “Die Doku, die ich erstellt hatte?”
“Ich hab die Erlaubnis von Kalle, deinen VPN wieder zu reaktivieren”, erwiderte Marco und überhörte die Rückfrage komplett.
“Runde auf bei den Stunden, die ich unterstützt habe”, sagte Jonas und seufzte, bevor er auflegte und sich in Richtung Auto machte.
Laptop hochfahren, zwei Befehle eingeben und darauf warten, dass die Systeme wieder liefen.
Sein Blick schweifte durch das Auto, auf dessen Beifahrersitz er gerade saß, während der Laptop auf seinem Schoß den CPU-Lüfter anwarf. In der Tür an der Beifahrerseite sah er etwas aus dem Augenwinkel. Eine kleine Schachtel. Er musste sie nicht aufmachen, um zu wissen, was darin war.
Zwei kleine goldene Ohrstecker mit zwei winzigen, aber vielfarbig schimmernden Opalen darin. Hätte er die Mia schon gegeben oder hätte er noch die zwei Wochen bis zu ihrem Geburtstag ausgehalten? Er war nie wirklich gut darin, etwas zurückzuhalten, von dem er dachte, es würde anderen eine Freude sein.
Ein Geräusch von der Mittelkonsole riss ihn aus den Gedanken. Sein Handy hatte vibriert. Er las die Textnachricht von Marco: “Danke. Du hast mir den Arsch gerettet. Die zwei Stunden, die du geholfen hast, waren es wert ;-)”
Das bisschen Geld war es eigentlich kaum wert, aber das Gefühl etwas repariert, ein Problem behoben zu haben, war ein gutes Gefühl.
Er klappte den Laptop zu und brachte ihn wieder zum Kofferraum, bevor er sich ans Steuer setzte. Um die Uhrzeit gab es eigentlich nicht viel, was er machen könnte, aber Bäckereien sollten schon offen haben.
Als er sein Auto auf dem Parkplatz abstellte und einen ersten Blick durch die Fensterfront warf, fielen ihm sofort die braunen, leicht gelockten Haare auf. Die Verkäuferin von gestern war halb über der Arbeitsplatte gebeugt, aber er konnte nicht erkennen, was sie tat.
Jonas öffnete die Tür trat ein und lächelte breit, als die junge Frau vor ihm etwas genervt von ihrer Arbeit aufsah.
“Keine Angst, keiner von den Verrückten”, sagte er. “Guten Morgen.”
“Oh, ein Frühaufsteher. Guten Morgen.” Da war wieder dieses charmante Lächeln. Doch direkt danach war es wieder verschwunden. Die Verkäuferin hatte den Blick wieder gesenkt und ignorierte ihn. Jonas runzelte die Stirn.
“Du musst damit jetzt klarkommen. Ich kann daran jetzt auch nichts ändern”, sagte sie nach unten gebeugt.
“Wie bitte?”
Jonas war sichtlich verwirrt und suchte ihren Blick, doch der Kopf blieb gesenkt. Als er noch ein paar Schritte näher an die Theke ging, ging ihm augenblicklich ein Licht auf.
Von der Theke verdeckt, stand ein Junge, vielleicht acht oder neun Jahre alt, neben der jungen Frau und hatte ein Tablet in der Hand.
“Entschuldigung. Er konnte heute nicht zur Schule, weil er krank ist. Oder allergisch gegen Buchstaben, ich weiß es nicht”, fügte sie mit leicht genervtem Ton hinzu.
“Haha, kein Problem”, erwiderte Jonas und wollte etwas hinzufügen, bevor es eine peinliche Stille geben könnte. Leider war er dazu nicht schlagfertig genug und stand mit halboffenem Mund da.
“Was darf’s denn sein?”
“Ähm .. ein Kaffee und haben Sie auch belegte Brötchen?”
“Keins fertig, aber ich kann eins machen. Käse? Salami? Schinken? Irgendwelche Wünsche?”
“Käse und Salami gerne; Grünzeug brauch ich keins.”
Nachdem er den Kaffee bereits in die Hand gedrückt bekommen hatte, ging Jonas zu einem der Stehtische und zückte sein Smartphone. Obwohl er den Blick nicht vom Bildschirm hob, merkte er kaum, was er da eigentlich ansah. Im Hintergrund beschwerte sich nämlich der Junge lautstark.
“Aber wieso geht das WLAN hier nicht? Ich kann jetzt gar nichts machen, Mama!”
“Gib mir kurz einen Moment das Brötchen vorzubereiten, Nils.”
“Aber Mama, was soll ich denn machen?”
“Was hatte ich dir gesagt, Nils: Wenn wir beim Bäcker sind und Kunden sind da?”
“Abwarten, nichts anfassen und ruhig sein.”
“Dann mach das, bitte!”
“Aber da wusste ich nicht, dass ich kein WLAN hab!”
Jonas konnte es komplett nachvollziehen. Ohne WLAN den ganzen Tag in der Bäckerei zu sitzen, musste sicher langweilig sein für den Jungen. Nils, hieß er wohl.
Die Mutter des Jungen stellte den Teller vor ihm auf den Stehtisch und seufzte laut. “Entschuldigung. Normalerweise ist er ruhiger, aber wenn er kein WLAN hat … die junge Generation halt”, fügte sie kopfschüttelnd hinzu.
“Ja … die jungen Leute”, erwiderte Jonas und versuchte nicht ertappt zu wirken, was ihm bestimmt misslang.
“Was ist denn das Problem? Ich kenne mich ein bisschen damit aus.”
“Ach, das ist nicht …”, fang die Verkäuferin an, wurde aber von einer Jungenstimme direkt neben dem Tisch unterbrochen.
“Wirklich? Bitte reparier das WLAN! Bitte!”
Jonas sah lächelnd zu dem Jungen, nahm das Tablet, welches ihm hingehalten wurde und sah zur Sicherheit die Mutter noch einmal fragend an. “Darf ich?”
“Bitte, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht.”
Jonas entsperrte das Tablet und wollte es gerade genauer unter die Lupe nehmen, als er nochmal unterbrochen wurde.
“Josephine übrigens.”
“Was?” Er war schon so in Gedanken, dass er kurz mit der Info nichts anfangen konnte. Dafür erntete er ein leises Kichern von der jungen Frau neben ihm.
“Mein Name. Ich bin Josephine. Und der kleine Mann, der ihnen vielleicht seinen Tag zu verdanken hat, ist Nils.”
“Freut mich, ich bin Jonas.”
Während er die Einstellungen des Tablets prüfte, bemerkte Jonas eine im Hintergrund geöffnete App. Es war ein Zeichenprogramm.
Das geöffnete Bild war eine schwarze Öffnung in einer Felswand, die Jonas an die Schillerhöhle erinnerte. Zeichenstrichmännchen versuchten von der Höhle weg zu laufen, wurden aber von Tentakeln in die Dunkelheit gezogen.
Jonas starrte das Bild eine Zeitlang an, dann bemerkte er den unruhigen Jungen neben sich. Schnell schloss er die App. Er räusperte sich und ging dann mit dem Tablet in die Knie. “Willst du zuschauen?”
Nils nickte nur und schaute gebannt auf den Bildschirm.
“Ich habe gerade nachgesehen, wie die IP von deinem Tablet ist. Das ist sowas wie die Adresse, die dein Tablet hier im WLAN bekommen hat. Und der DNS-Server wurde nicht automatisch übernommen, sondern fest eingetragen. Vermutlich vom WLAN daheim. Das ist sowas wie die gelben Seiten. Wenn wir ihm jetzt einfach sagen, er soll die festen gelben Seiten vergessen, dann fragt dein Tablet im WLAN nach, wie er die hier erreicht, merkt sich das und dann sollte es wieder gehen.”
Er gab Nils das Tablet zurück.
“Funktioniert wieder.”
“Danke”, sagte der Junge, nahm das Tablet und lief damit wieder in Sicherheit hinter den Tresen, bevor Jonas leise Geräusche eines Videos hören konnte.
“IP und DNS kenne ich nicht, aber glauben Sie wirklich, dass Nils noch die gelben Seiten kennt?” Josephine war an seinen Tisch zurückgekehrt und hatte ein Muffin auf einem Teller dabei.
“Danke. Sie haben mir viele graue Haare erspart.”
“Du”, sagte Jonas. Diesmal war es an Josephine verwirrt zu schauen.
“Duzen wir uns doch einfach”, fügte er etwas schnell hinzu.
“Gerne.” Und wieder das charmante Lächeln.
Die sich öffnende Tür unterbrach die beiden und Josephine kehrte hinter die Theke zurück. “Morgen, Renate. Dinkelbrot ungeschnitten, wie immer?”
“Morgen. ja, bitte.” Jonas sah kurz auf und die ältere Dame an, die langsam bis zur Theke geschlurft war. Ihre Kleidung war zwar adrett, zueinander passend und gebügelt, aber auf allem lag eine Art muffiger Staub. Er konnte den modrigen Kellergeruch quasi riechen, der oft an den alten Sachen seines Großvaters haftete.
“Wir wolln euch hier net”, fuhr sie Jonas aus heiterem Himmel an.
Bevor er reagieren konnte, war ihm allerdings Josephine schon in die Bresche gesprungen: “Er ist nicht wegen Wolfgang hier. Er ist Islinger.”
“Ahh …”, machte Renate nachdenklich, machte aber keine Anstalten, sich zu entschuldigen.
“Ja, ich war aber schon lange nicht mehr in der Gegend.”
“Un von wo bisch du weg?”
Jonas musste bei der Frage etwas grinsen. Das letzte Mal musste er sie in der Kindheit gehört haben, von einer Frau in einem ähnlichen Alter.
“Schäfer, altes Neubaugebiet von Islingen, in der Nähe vom Kindergarten.”
“Schäfer? Welle von den Guten. Richt dein Leut’ a Gruß aus.”
Erst als die Dame wieder aus der Bäckerei war, fiel Jonas auf, dass Nils sich etwas weiter in das Hinterzimmer der Bäckerei zurückgezogen hatte. Sich vorsichtig umschauend, kam er wieder heraus.
Josephine folgte Jonas Blick und seufzte. “Sie tut dir nichts. Sie ist vielleicht manchmal schroff, aber würde doch keiner Fliege was zu Leide tun.”
Nils verzog das Gesicht, als hätte er etwas Bitteres gegessen, zuckte dann mit den Schultern und schenkte seine volle Aufmerksamkeit wieder dem Tablet.
“Er fremdelt manchmal ein wenig, aber wenigstens dir gegenüber scheint er offen zu sein.”
“Ach, wenn Renate das Tablet wieder hinbekommen hätte, würde er sie wahrscheinlich auch ganz anders sehen.” Jonas zwinkerte Josephine zu und schaute zu Nils.
Der schüttelte heftig den Kopf. Sein Blick sah aus, als würde er es nicht mal im Spaß überdenken wollen.
“Sie riecht”, sagte er schließlich leise. “Alle Bösen riechen.”
“Nils!”, ermahnte ihn Josephine, die sich gerade auf den Weg in das Hinterzimmer machen wollte. “So etwas sagt man nicht.”
“Weißt du Nils, ältere Menschen haben manchmal Probleme damit, aber das heißt nicht…”, begann Jonas einzulenken, aber das starke Kopfschütteln des Jungen unterbrach ihn.
“Nicht nur alte. Aber alle Bösen.”
“Okay, das reicht! Schluss damit oder das Tablet kommt für den Rest des Tages weg!” Nils zuckte zusammen, als er Josephine laut werden hörte und wandte seine volle Aufmerksamkeit wieder aufs Tablet.
“Vielleicht einfach nur eine empfindliche Nase?”, versuchte Jonas in Richtung Hinterzimmer zu beschwichtigen.
“Er muss trotzdem lernen, dass das nicht geht.”
“Und, wo gehts heute noch hin?”, fragte Josephine Jonas, als dieser seine leeren Teller und die Tasse wieder zur Theke brachte.
“Ich weiß nicht. Ich wollte …” eigentlich zu meinen Eltern, brachte Jonas den Satz in Gedanken zu Ende, wollte es aber nicht aussprechen. Es wäre so ein Leichtes, sich mal bei ihnen zu melden.
“Ich wollte mir auch mal das Treiben hier in Grauenfels ansehen. Keine Angst, keine Provokation, nur aus Neugierde eine Runde Spazieren gehen”, fügte er schnell hinzu, um nicht falsch verstanden zu werden.
“Mhh, mach mir nur keinen Unfug. In letzter Zeit fährt Walter Meier öfter hier durch. Er ist Polizist und wenn ich das richtig verstanden habe, ist er meist gar nicht im Dienst, aber hat Waffe und Dienstwagen dabei. Du weißt ja noch, wie das so auf dem Dorf läuft”, sie zwang sich zu einem Lächeln, ließ es aber wieder fallen, bevor sie weitersprach: “Jedenfalls scheint er der erste Polizist zu sein, der wirklich hinter Wolfgang steht. Wenn er denkt, du provozierst ihn …”
“Ich gehe wirklich nur spazieren und am Haus vorbei. Vielleicht brauche ich eine kleine Verschnaufspause in der Nähe und bleibe stehen, aber keine Provokationen, ich verspreche es.” Jonas hielt gespielt ernst eine Hand nach oben, während er die andere auf seine Brust legte.
“Haha, na los. Verschwinde! Und komm morgen wieder zum Frühstück vorbei. Ist sonst nichts los hier.”
“Ach, ich bin also nur der Lückenfüller?”, feixte er hinterher und war bereits an der Tür, als er hinzufügte: “Mach’s gut, Josephine und gute Besserung, Nils.”
“Du auch, Jonas und danke nochmal!”
Irgendwie fühlte sich diese Unterhaltung so natürlich an. Während er selbst mit Daniel um Worte ringen musste, konnte er in dieser Bäckerei einfach loslassen.
Noch immer grinsend machte Jonas sich auf den Weg durch das Dorf. Inzwischen war es spät genug, dass hier und da ein grimmig dreinblickender Mann die Dreißiger Zone ignorierte. Vermutlich auf dem Weg zur Arbeit oder anderen Verpflichtungen.
Gestern war es ihm nicht aufgefallen, da es frisch geregnet hatte, aber jetzt, wo die Sonne gerade dabei war die Straßen zu trocknen, stieg ihm eine gewisse Muffigkeit in die Nase. Eigentlich hätte die Sonne noch nicht stark genug dafür sein sollen, aber Jonas empfand es geradezu als dampfig auf dem Weg.
Unterwegs konnte er gut den Grad der Zerstörung sehen, den die sogenannten Pilger im Dämongame so hinterließen. Es war keine komplette Verwüstung, aber die Bushaltestelle hatte einiges abbekommen. Kein Glas ohne Sprung, von der kleinen Sitzbank war die Lehne abgerissen und “Dämon”, “Dämonenzeit” und “Kaggstudenten” waren auf die Reste der Bank gekritzelt.
Bis auf Letzteres könnte man es vielleicht auf die hiesige Dorfjugend schieben, aber der Ort war fast zu klein, um etwas wie eine Dorfjugend zu haben. Zumindest in seiner Kindheit lebten hier nur ein paar Haushalte mit Kindern. Wolfgang war sicher einer davon, aber sie hatten nie Kontakt.
Etwas weiter waren an einem Dreißiger-Schild zwei Richtungsangaben gekritzelt worden. Einerseits war die Richtung zur “Höhle des Dämon” ausgewiesen, andererseits war “Öffentliche Toilette” auf das Schild geschrieben worden und der Pfeil zeigte auf den Vorgarten des nächstgelegenen Hauses.
Kopfschüttelnd folgte er dem Schild in Richtung Wolfgangs Haus. Obwohl er dafür nicht wirklich ein Schild gebraucht hätte. Die Straßen in Grauenfels konnte man an einer Hand abzählen, Einwohner sollten es unter zweihundert sein. Zumindest war es das früher und von einem Neubaugebiet oder großen Ausbauten war nicht viel zu sehen. Geändert hatte sich, zumindest in der Hinsicht, nicht viel.
Wenige Schritte und Jonas konnte die gelbe Fassade langsam hinter der nächsten Ecke hervorragen sehen. Das Haus lag leicht am Hang, so dass es sich anfühlte, als würde das heruntergekommene Gebäude vor ihm türmen, als er den Weg von unten bestritt.
Es war fast genauso, wie er es in den Besuchsvideos bewundern konnte. Die blaue Plane war an einigen Stellen nicht mehr so richtig am Zaun befestigt und an anderen Stellen waren Löcher hineingeschnitten. Ebenso sah es so aus, als wäre der Innenhof noch verdreckter und vermüllter als er es bei den Videos war.
Doch viel mehr als ein paar Blicke schenkte er dem Haus und dem Hof nicht. Stattdessen ging er den Hügel komplett hinauf, wo die Straßenränder unbefestigter wurden, die Straße enger und es sich fast eher wie ein alter Radweg anfühlte.
Von hier oben sah das Haus eher klein und unbedeutend aus. Er ließ den Blick schweifen und musste sich korrigieren. Mit diesem Ausblick sah Grauenfels klein und unbedeutend aus.
“Hier oben müsste doch irgendwo…”, murmelte Jonas, als er sich zu seiner Linken in das kleine Waldstück spähte.
Gegenüber der Höhle des Dämonen grenzte ein kleiner Hang an die Straße und auf diesem Hang ist ein kleines Waldgebiet. Wenn sich Jonas nicht komplett irrte, sollte dort eine kleine Ruine einer Burg sein oder fast eher nur eines Turmes. Den Grundriss des Gebäudes konnte man erkennen, aber keine der noch stehenden Wände war höher als ein Meter.
Nach kurzer Zeit hatte er einen Trampelpfad gefunden und folgte ihm vorsichtig. In den Jahren, in denen er nicht mehr hier war, ist die Ruine weiter zugewachsen und sie war von außerhalb des Waldes kaum noch zu sehen.
Er ließ sich auf einer hüfthohen Mauer nieder und schaute sich um. Eigentlich hätte er mit leeren Getränkedosen oder -flaschen, mit Schmierereien oder Schildern gerechnet, aber diesen Ort hatten die Pilger wohl noch nicht entdeckt oder er war ihnen egal.
Wenn es nur um die Provokation geht, macht es natürlich keinen Sinn, wenn das Opfer die Andenken gar nicht erst sieht.
Sein Handy vibrierte. Er war sich eigentlich nicht mal sicher, dass er hier Empfang hatte. Marcos Name wurde ihm angezeigt.
“Hi Marco”, sagte er nachdem er den Anruf abgenommen hatte.
“Hey Jonas. Keine Angst, Systeme laufen noch alle. Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass Kalle das mit der Abrechnung mit dir klären wollte.”
“Mhh. Sag ihm, dass er noch bis Ende des Monats warten soll. Vielleicht ruft ihr ja nochmal an.” Eigentlich eher wahrscheinlich.
“Ich geb es ihm weiter. Danke nochmal für heute Morgen. Hast du jetzt eigentlich schon was Neues?”
“Im Moment will ich …” Aus den Augenwinkeln konnte Jonas eine Bewegung zwischen den Bäumen ausmachen. Allerdings nicht im Wald, sondern auf der Straße unten. Mehrere Figuren auf dem Weg zu dem gelben Haus, dass er gut durch die Bäume erkennen konnte.
“Im Moment will ich erstmal entspannen. Ich melde mich Ende des Monats bei Kalle. Ich muss weiter, sorry.”
“Oh okay. Alles klar. Mach’s gut dann!”
Jonas legte auf und ging ein paar Schritte in Richtung Waldrand und Hang. Von dort hatte er einen perfekten Blick auf das Haus des Streamers.
Drei junge Männer standen davor, zwei davon mit Rucksack. Einer holte gerade drei Bierflaschen heraus und gab den anderen beiden je eine.
Pilger, Alkohol und am Fenster im ersten Stock konnte man eine Bewegung sehen. Alle Zutaten für eine interessante und spannende Auseinandersetzung waren gegeben.
“Komm raus, Fetti!”
Keiner der Männer zückte eine Kamera oder ein Handy. Im Gegensatz zu den meisten Besuchsvideos, die Jonas gesehen hatte, waren die Pilger hier nicht nur zur Belustigung da. Vielleicht war dan den Worten des Dämon doch mehr dran, als man im Normalfall sah. Aber warum machte er dann immer noch weiter.
“Wolli, du fette Sau! Zeig dich, du Feigling!”
Während einer der Männer weiter brüllte, nahm der zweite nochmal einen Schluck vom Bier und warf dann die halbvolle Flasche in Richtung Haus, wo sie an der Wand zerschellte und das Bier an der Außenfassade hinablief.
Einen kurzen Austausch, den Jonas nicht hören konnte später, trank der andere junge Mann einen großen Schluck und gab die halbvolle Flasche an den Werfer weiter. Wieder in Richtung Haus, aber das Klirren klang komplett anders. Aus seinem Blickwinkel konnte Jonas es nicht mit Gewissheit sagen, aber anscheinend hatte die Flasche eines der Fenster erwischt.
Die ganze Aktion war etwas komplett anderes, als er erwartet hatte. Wolfgang hatte provoziert und damit natürlich diese Leute mit angelockt, es war also nicht unbegründet, aber auf jeden Fall nicht gerechtfertigt.
“Da schwabbelt er ja!”
“Hau von meinem Grundstück ab, du Arschloch!” Noch bevor Jonas den Streamer sehen konnte, hörte er bereits den ersten Schrei. “Ich ramm dir die nächste Flasche so dermaßen in den Arsch, dass du nicht mehr aufstehst!”
Höhnendes Gelächter folgte. “Komm doch her, wenn du dich traust. Du versteckst dich doch eh hinter deinem Zaun!”
“Der Zaun ist nicht zu meinem Schutz da”, entgegnete Wolfgang. Endlich war er nicht mehr verdeckt durch Bäume und Hauswand. Er hatte einen schwarzen Kapuzenpullover an, der ein unregelmäßiges weißes Muster hatte oder einfach mit Flecken übersät war.
“Was is dein Problem? Ich will hier nur mein Leben leben!”
“Dann rotz nich so n Scheiß ins Internet! Wie war das mit dem Amoklauf in Dresden, hm?”
“Was denn? Ihr seid doch genauso Terroristen. Warum soll ich Mitleid haben, wenn es mit mir auch keiner hat?”
Der Werfer trat urplötzlich gegen das Zauntor, das ins Wanken geriet. “Du fette Mistmade! Komm raus und fang dir eine!”
Das musste eine der Aussagen sein, die Jonas noch nicht gehört hatte. Er konnte sich dunkel an einen Amoklauf in Dresden beim letzten Weihnachtsmarkt erinnern. Mit Glück konnte man den Mann schnell stoppen, aber zwei Menschen kostete es das Leben.
Trotz der Herangehensweise mit der er nicht übereinstimmte, konnte er auf einmal etwas mehr mit den Pilgern sympathisieren.
“Ihr rennt sowieso, wenn ich rauskomme!”
“Probier es aus! Trau dich!” Wieder ein Tritt gegen das Tor, dann packte der Werfer das Tor mit den Händen und fing an daran zu rütteln.
“HAU AB!”, schrie der Dämon und zog mit einer schnellen Bewegung, die man ihm nicht zugetraut hätte, etwas großes Schwarzes aus der Tasche seines Kapuzenpullovers. In einer Bewegung holte er aus und schlug, wo eben noch die Hände des Besuchers waren.
“Du feige Sau! Was hast du da? Ne Taschenlampe? KOMM RAUS!” Der letzte Schrei des Pilgers hallte im ganzen Dorf nach und eine Straße weiter fing ein Hund zu bellen an.
“Nur Brüllen kann er. Da sieht man, wie dumm ihr seid!”
“Sagt ein Sonderschulversager. Komm raus oder traust du dich nur, wenn es kleine Kinder vor deinem Tor sind, Fettsack?” Der zweite Pilger mit dem Rucksack stieg mit ein.
“Geh du zurück in deine Dönerbude! Du hast in Deutschland eh nichts zu sagen!”, erwiderte Wolfgang so leise, dass Jonas es fast nicht gehört hätte.
“Wow, Wolli! Auch noch rassistisch?”
“KOMM JETZT RAUS!”, unterbrach der Werfer die beiden und trat erneut gegen das Zauntor. “Mach das noch einmal und du trittst nie wieder.”
Aber bevor er nochmal treten konnte, hatte der schwarzhaarige Pilger seinen Kollegen bereits an der Schulter gepackt und zurückgehalten. Er sagte ihm etwas, was Jonas nicht hörte und deutete die Straße herunter.
Leider versperrten einige Bäume die Sicht und Jonas wollte seine Position nicht zu sehr ändern, daher wartete er nur ab. Einer der Besucher war bereits verschwunden, als ein Polizeiauto um die Ecke kam.
Die anderen beiden nahmen etwas Abstand zum Zaun, auch wenn der Werfer nochmal etwas leise zu Wolfgang zu sagen schien.
“Ja, dann mach das, aber du rennst eh weg wie ein kleines Kind, weil die Bullen kommen!” Der Streamer schien weiter zu versuchen ihn aufzustacheln.
Ein älterer Mann, mindestens Mitte 50, stieg aus dem Auto. Seine Polizeiuniform saß irgendwie nicht richtig und seine grauen Haare schienen heute noch keinen Kamm gesehen zu haben. Obwohl sein Äußeres nicht viel her machte, hatte sein Gang etwas Autoritäres. Er streckte den Arm aus, wie um den Dämon von den Pilgern zu teilen, doch der Streamer rauschte sofort zum Zauntor und stand schon neben dem Polizisten.
Jonas konnte nur Bruchstücke ausmachen, aber es klang als wollte er ihn überzeugen, dass die Pilger verhaftet werden müssen. Ein kleines Hin und Her entstand, bis es dem Polizisten zu viel wurde.
“Lass mich meinen Job machen!”, fuhr er Wolfgang an.
“Ich will auch nur meinen Job machen, aber die Hurensöhne lassen mich nicht!”, entgegnete er ebenso aufgebracht.
“Dann geh rein und mach das!”
Die beiden verbliebenen Besucher schien das sehr zu belustigen. Wolfgang stapfte sichtlich genervt und außer Atem wieder in Richtung seines Hauses, während der Polizist die Personalien aufnahm.
Mindestens ein Platzverweis, eventuell kommt es zu einer Anzeige wegen Sachbeschädigung, mutmaßte Jonas im Stillen und blickte auf die Uhr seines Handys. Sein Spaziergang ging schon fast zwei Stunden. Zeit sich auf den Weg zurück zu machen.
Er versuchte seinem Hinweg eins zu eins zu folgen, merkte aber, dass er an einer etwas anderen Stelle wieder herauskam, als er in den Wald hineinging. Zu seiner Linken sah er einen ausgetretenen Pfad, den er schon komplett vergessen hatte. Er führte direkt zu einer Höhle.
In seinen Jugendtagen war er nur einmal zusammen mit ein paar Freunden dorthin gegangen, aber als sie dort ankamen, hatten sie sich doch nicht getraut weiter als in den Eingang zu gehen. Das Licht verschwand dort fast auf unnatürliche Weise nach jedem Schritt, den man tat und ein modriger, feuchter Geruch lag in der Luft. Den Geruch könnte Jonas niemals vergessen.
Damals war es eine Art Mutprobe unter den Jungs wenigstens ein paar Schritte hinein zu wagen, denn jeder in Islingen und Umgebung kannte die Geschichte von Christian und der Höhle.
Christian war einige Jahre älter als Jonas, war damals aber schon nicht mehr am Leben. Als er 13 Jahre alt war, soll er sich aufgemacht haben in die Höhle. Er hatte dort oft gespielt und angeblich konnte man dort bunte Mineralsteine finden, die in allen Farben schillerten. Aber eines Tages soll er zu tief in die Höhle gegangen sein.
Die Erklärung der Erwachsenen war, dass es viele ungesicherte Löcher und Abgründe in der Höhle gab und dass es sich um einen tragischen Unfall handelte. Jedes Elternteil verbot seinen Kindern die Höhle aufzusuchen und man sandte ein Petition ans Bürgermeisteramt, dass man die Höhle versperren solle.
Soweit Jonas wusste, ist daraus allerdings nie etwas geworden. Und das Interesse flachte in überaus seltsamer Geschwindigkeit ab. Nur bei den Kindern und Jugendlichen nicht. Denn für sie war es klar, dass Christian nicht einfach irgendwo in einen Abgrund fiel. Von Zwergen, die nicht mochten, dass man ihre Edelsteine stiehl über Drachen im Speziellen und Monster im Allgemeinen, bis hin zu einem wilden Kannibalen waren fast alle Geschichten dabei.
Und so gingen sie alle mindestens einmal hinein, wenn auch nur wenige Schritte.
Ein Schauer lief Jonas über den Rücken und er wandte sich vom Weg ab, die zu der natürlichen Höhle führte und ging wieder in Richtung des Hauses, welche die Höhle des Dämonen genannt wurde. Eine witzige Ironie, wenn nicht wirklich Menschen zu Schaden gekommen wären.
Als Jonas am Haus des Streamers vorbeiging, war dieser bereits nicht mehr im Hof und auch die Besucher waren nicht vor Ort, ganz zu schweigen von dem Streifenwagen. Ohne groß stehenzubleiben, schaute er nur kurz nach den Einschlagstellen der Bierflaschen und bemerkte, dass eines der Fenster von innen durch ein Stück Holz verdeckt war. Die Scheibe davor war nur noch eine gezackte Umrandung. Also hatte er wirklich getroffen.
Man konnte von beiden Parteien halten was man wollte, aber beide stachelten es auch weiter an. Ob es der Streamer war, der doch wissen musste, wie sich solche Aussagen auf seine negativ eingestellte Gefolgschaft auswirkte oder die Pilger selbst, die ihn nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen wollten.
Ohne den Hass hätte er keine Themen und vermutlich sehr viel weniger Aufmerksamkeit, auf der anderen Seite hätten die Kritiker vermutlich um einiges weniger Unterhaltung. Eine Symbiose oder eine Parasitäre Beziehung von beiden Seiten aus?
Aus den Augenwinkeln leuchtete etwas auf und er schaute nach links, nur um hinter der Ecke den Streifenwagen aufzufinden. Er hatte also hier gewartet. Vermutlich, um den dritten Besucher auf seinem Weg zurück abzufangen.
“Auf dem Weg zum Wolfgang? Oder schon wieder auf dem Heimweg?”, begrüßte ihn der Polizist, beide Hände am Gürtel an dem auch die Dienstwaffe hing. Jonas beschloss mit offenen Karten zu spielen, zumindest mit halboffenen.
“Nein, ich war nur spazieren”, sagte er in so ruhigem Ton, wie möglich.
“Aber du weißt, wer Wolfgang ist?” Der Polizist grinste, als hätte er ihn gerade der Lüge überführt.
“Klar, ich komme aus Islingen, wie sollte ich nicht?”
“Personalausweis”, verlangte der Mann schnippisch.
“Gerne, aber dann wüsste ich auch gerne mit wem ich es zu tun habe”, antwortete Jonas während er seinen Geldbeutel aus der Tasche holte.
“Meier, Polizeiinspektion Ötisheim”, kam die Antwort, während er den übergebenen Personalausweis studierte. “Ich weiß ja nicht, wo Oranienburg ist, Postleitzahl klingt aber nicht nach Islingen.”
“Ich komme aus Islingen, bin aber inzwischen weggezogen.”
“Schäfer aus Islingen, mh?” Der Polizist gab ihm den Ausweis zurück. Jonas antwortete nicht, sondern wartete ab, was als Nächstes kommen würde.
“Du kannst gehen”, sagte Meier leicht genervt.
“Okay. Schönen Tag noch”, antwortete der junge Mann übertrieben freundlich und machte sich auf den Weg zu seinem Auto.
Nach einiger Zeit des unbequemen Suchen und Lesens, stellte Jonas den kleinen Holzstuhl zur Seite und rückte den Tisch direkt neben das Bett. Er war inzwischen zurück in seinem Zimmer und hatte den Laptop mit nach oben genommen, um das ein oder andere nochmal genauer zu recherchieren, aber der Stuhl war nach fünf Minuten schon ungemütlich geworden; nach dreißig Minuten war er nicht mehr tragbar.
Die neusten Streitgespräche, die er heute zwischen dem Dämon und seinen Pilgern mitbekommen hatte, zeigten ihm, dass es vielleicht noch viel mehr Aussagen des Influencers gab, die er nicht kannte. Er wollte sich ein genaueres Bild machen und vor 16 Uhr wollte er bei seinen Eltern nicht anrufen. Sie könnten ja noch unterwegs sein.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es schon nach halb vier war. Vielleicht lieber erst nach 17 Uhr, korrigierte er sich. Außerdem war er gerade so tief in den Themen.
Relativ schnell hatte Jonas neben den einschlägigen Videoportalen und dem ein oder anderen Nachrichtenähnlichen Blog über den Dämon auch eine Chatgruppe entdeckt. Er haderte noch etwas mit sich, ob er dieser wirklich beitreten wollte. Den Browser-Tab konnte er ja erst mal noch offen lassen.
Je tiefer er in den Sumpf eintauchte, den das Dämongame darstellte, desto mehr eklige Aussagen traten zu Tage, aber auch mehr und mehr übertriebene Aktionen der Gegenseite kamen ans Licht. Vor allem mit der Einsamkeit des Streamers wurde oft gespielt, indem man sich als Freund und Verbündeter oder gar mögliche Partnerin ausgab. Natürlich waren das alles nur Fallen, in die er mal um mal trat und sich weiter Lächerlichkeit preisgab.
Aber konnte man ihm das wirklich verdenken? Wir alle suchen ja Nähe und soziale Kontakte und auch wenn er seine schlechten Seiten hat, sollte das kein Grund sein, dieses Grundbedürfnis eines Menschen auszunutzen. Jemandem die Liebe vorspielen, ausnutzen und dann einfach zu einem anderen zu gehen …
Nein, das war nicht dem Dämon passiert, sondern ihm.
Wie viele schlechte Entscheidungen trennen uns wirklich, wenn wir alle auf die gleichen Köder reinfallen? Wie sehr wurde er vielleicht nur in eine Rolle gedrängt, aus der er sich nicht zu verteidigen weiß?
Sympathie dem Dämonen gegenüber war es nicht, was Jonas empfand, aber eine andere Art der Verbundenheit. Eine, die ihn auf seltsame Weise anekelte und seine Abneigung eher verstärkte. Sah er seine eigenen Fehler in dem Streamer wieder, in verstärkter Form?
Er riss sich aus dem unschönen Gedankengang heraus und nahm sein Smartphone in die Hand. Egal, wie lange er es herauszögerte, irgendwann müsste er anrufen.
Die Nummern seiner Eltern. Waren sie überhaupt noch aktuell?
Zumindest die Festnetznummer ist sicher die gleiche. Es war noch eine dreistellige Durchwahl; eine wahre Rarität in der heutigen Zeit.
Es klingelte. Zweimal, dreimal. Jonas atmete erleichtert aus und spürte die Anspannung aus seinem Körper weichen, als das Tuten plötzlich aufhörte und eine Frauenstimme sich meldete.
“Schäfer, Hallo?” Etwas emotionslos, aber auf jeden Fall seine Mutter.
“Ich bin’s … Jonas”, fügte er hinzu und wartete ab. Keine Reaktion oder nur eine langsame, aber er konnte die Stille nicht aushalten. “Ich bin in der Gegend und dachte, ich komme euch die Tage mal besuchen. Habt ihr Zeit?”
“Ist sie dabei?” Keine anderen Rückfragen, immer noch so emotionslos.
“Nein, ich bin alleine. Sie …”, Jonas suchte nach den richtigen Worten, musste aber nicht lange überlegen, da ihn die Stimme unterbrach.
“Schön, dass du dich meldest. Bei uns passt es immer. Wann wärst du denn in Islingen?” Die Tonlage veränderte sich mit einem mal.
“Ich melde mich nochmal. Vermutlich nicht vor nächster Woche.” Diese plötzliche Stimmungsschwankung und das komplette Desinteresse an allem anderen schmerzte. Mia war nicht mehr, aber war es wirklich so schwer sich für ihn zu freuen.
“Gut, gib Bescheid. Ich bezieh das Bett in deinem Kinderzimmer frisch.”
“Ja … mache ich. Bis dann.” Jonas legte auf, bevor seine Mutter sich verabschieden konnte.
Nächste Woche war noch so lange hin. Da müsste er sich noch etwas beschäftigen und diese Chatgruppe klang interessant, sagte er sich in Gedanken selbst, während er mit dem Handrücken über seine Augen strich.
Was er vor sich auf dem Bildschirm mitlas, glich mehr einem Newsfeed als einer Chatgruppe. Natürlich mischten sich Kommentare unter die Posts, aber was die Nachrichten dominierte, waren Links zu Besuchsvideos, Fotos, Artikeln und kleine Texte rund um Infos, die man nicht nur über Wolfgang, sondern Grauenfels allgemein und sogenannte “andere Player im Game” gefunden hatte.
Der Polizist Meier, die Ortsvorsteherin, eine Nachbarin, die angeblich dem Dämonen schon geholfen hat und sogar Josephine kamen in den Mitteilungen vor. Da er kaum mit einer anderen Person Kontakt hatte, sah er sich zuerst die Posts zu Josephine an und bemerkte schnell, dass sie einfach nur positiv aufgefallen war. Die Art wie über sie geredet wurde, missfiel ihm zwar aus irgendeinem Grund, aber ihr Spitzname “Süßes Teilchen vom Bäcker” zeigte zumindest, dass sie nicht auf Ablehnung durch die Pilgerschaft gestoßen war.
Ganz anders verhielt es sich mit der Nachbarin und dem Polizisten. Bei beiden gab es mehrere Infos zu angeblicher schmutziger Wäsche aus der Vergangenheit, die ans Tageslicht gebracht wurde, sowie einige Fotos, die offenbar heimlich gemacht wurden. Beim Einkaufen, bei der Gartenarbeit, beim Autofahren, … es schien als sei man nirgendwo sicher, wenn man auf der Abschussliste der anonymen Massen stand.
Jonas scrollte wieder zum Ende der Nachrichten und las sich die neusten Mitteilungen durch. Einer der Pilger plante wohl einen Besuch am folgenden Wochenende. Aus Hamburg bis in den Süden Deutschlands, nur um mit einem Menschen, den man hasste ein paar Worte zu wechseln und dann einen Platzverweis oder schlimmeres zu kassieren.
So wie es aussah, suchte er Mitfahrer, um sich das Spritgeld zu teilen und auf der Fahrt unterhalten zu werden. Einen hatte er schon gefunden und Menschen aus anderen Teilen Deutschlands stimmten bereits zu, auch vor Ort sein zu wollen.
Anusficker, JuHass, Grimmepreisträger1988, Wolli7, Dämonentöter, … Kreative und beleidigende Nutzernamen gaben sich auf der Plattform die Hand. Und alle vereint in ihrer Abneigung gegen den einsamen Mann in seinem heruntergekommenen Haus.
Er schloss den Chat wieder und sah sich nochmal die anderen offenen Tabs an. Einer davon stach ihm besonders ins Auge, denn es hatte eigentlich zu gar nichts geführt. Die Suche nach dem verschwundenen Dorfalki.
Weder Zeitungsartikel, noch Pilgerberichte. Natürlich erzählten sich die Wolfgangs Kritiker früher gegenseitig von ihren Pilgerreisen und dort kam auch ein Alkoholiker vor, der viel vor sich hin brabbelte. Ob es darum ging, was er früher alles beruflich erreicht hatte, wenn die Stimmung noch gut war bis hin zum Schimpfen auf den gesamten Ort und dass sich alles verändert hätte, schon bevor Wolfgang mit dem Auftreten im Internet anfing. Alles ging seiner Meinung nach den Bach herunter.
Aber vom Verschwinden selbst oder davon, dass keiner mehr diesen Mann gesehen hatte, davon stand nichts im Netz.
War die Suche zu speziell?
Jonas versuchte die Suche anzupassen: “Verschwundene Grauenfels”. Ein paar Artikel über Vorkommnisse vor Jahrhunderten, dann einer über Christian. Das erinnerte ihn wieder an früher und die feuchte Höhle. Er änderte seine Suche erneut.
“Grauenfels Höhle”. Ein Artikel von vor zwölf Jahren. Nachdem Kinder beim Spielen in der Nähe des Höhleneingangs gesehen wurden, wurde die Höhle tatsächlich abgesperrt. Ein weiterer Verweis auf Christian und die Gefahren in schlecht erkundeten Höhlen. Dazu noch der Name “Schillerhöhle”.
Jonas zog scharf die Luft ein, als er den Namen las. Das war die Höhle, er war sich sicher. Als er in der Schule das erste Mal von Friedrich Schiller hörte, hatte er seine Eltern gefragt, ob er was mit der Höhle zu tun hätte, aber sie wurde nicht nach dem Dichter benannt, sondern nach den schillernden Steinen, die auch Christian zum Verhängnis wurden.
Als er nach der Höhle selbst suchte, fand er nur ein paar Querverweise auf die Schließung der Höhle und einen Blogartikel. Der Blog benutzte ein Standarddesign und war insgesamt inhaltlich kaum gefüllt, aber der eine Artikel zog ihn an; “Das Teufelsloch in der Schillergrotte”.
Der Autor schien aus der Gegend zu kommen und sich für Höhlen zu interessieren. Er war trotz der Sperrung in die Höhle eingedrungen und hatte Bilder gemacht. Eines davon zeigte ein tiefes Loch, fast direkt in der Mitte eines engen Ganges, so nach einer Ecke gelegen, dass man es leicht übersehen konnte. Laut Einschätzung des Autors wäre das das Teufelsloch. So sei es wohl früher schon bezeichnet worden sein und Christian war nicht der Erste, der ihm zum Opfer fiel.
Im Gegenteil: Der Blogartikel verwies auf Verschwundene Personen seit 1900. Dabei wies er auf die Schwierigkeit hin, sich der Richtigkeit der Angaben sicher zu sein, je älter die Quellen waren, aber Jonas war erstaunt, wie viele Personen verschwunden waren.
Bis 1941 sollten es laut des Artikels über 25 gewesen sein. Dann erst wieder 1956, dafür gleich zwei, 1958 und 1959 jeweils eine Person. Meist waren es Kinder und Jugendliche und angeblich wurde hier nie die Höhle als Grund des Verschwindens genannt, weshalb der Autor darauf hinwies, dass vermutlich viele dieser Fälle ganz andere Gründe hätten, aber für einen so kleinen Ort waren das sehr viele Menschen. Und so ging es weiter, bis er schließlich beim Verschwinden von Christian ankam.
Aber das war noch nicht das Ende, sondern es gab seitdem wohl noch drei weitere Vermisste. Sechs, vier und drei Jahre vor Schließung der Höhle. Für den Autor war es klar, dass sich die Personen alle in der Schillerhöhle verlaufen oder dem Teufelsloch zum Opfer gefallen waren.
Jonas war skeptisch. Nicht nur, dass Christian wohl der einzige Fall war, bei dem man überhaupt die Höhle erwähnte, so konnte es auch unmöglich so viele Fälle vermisster Personen in so einem kleinen Dorf geben. Es wäre schon längst nicht mehr da, wenn alle Kinder verschwinden würden.
Damit diese Zahlen irgendwie zustande kommen könnten, müssten es schon Kinder aus Brettheim und Islingen mit einbeziehen. Und die Mutprobe, die Schillerhöhle zu betreten, gab es erst seit Christians Verschwinden. Oder nicht?
Es war jedenfalls so weit weg vom eigentlichen Thema der Suche, dass er sich entschloss, das Verschwinden des Alkoholikers zu ignorieren. Es reichte, dass er sich bei der Recherche zum Dämongame immer weiter in den Kaninchenbau vorarbeitete und darin fast verloren zu gehen schien, da musste er sich nicht noch ein anderes Thema ans Bein binden.
Jonas klappte den Laptop zu und beschloss noch etwas zu Abend zu essen. Früher gab es in Brettheim einen guten Italiener. Vielleicht gab es den noch.
Danach, so überlegte er sich, wollte er in Grauenfels beim Gasthaus anrufen und fragen, ob noch ein Zimmer frei sei. Wenn es am Wochenende zu so vielen Besuchen kommen sollte, wäre es doch interessant das aus nächster Nähe zu beobachten und Walter Meier wäre vielleicht weniger skeptisch, wenn er einen guten Grund hätte, warum er genau in Grauenfels seinen Spaziergang machte und nicht in Islingen.
Die Herberge in Grauenfels war ein ehemals schönes Fachwerkhaus, doch inzwischen blätterte an den Balken die Lasur ab und die weißen Flächen dazwischen waren fleckig geworden. Insgesamt wirkte es eher wie ein großes, normales Einfamilienhaus und weniger wie ein Gebäude, das als Gasthaus geplant war.
Jonas war bereits an dem Haus vorbeigefahren und hatte einen Parkplatz in einer Seitengasse weiter gesucht. Er wusste nicht, ob es an dem italienischen Essen von gestern Abend lag oder an den ganzen Erkenntnissen der letzten Tage, aber er war in der Nacht zweimal schweißgebadet aufgewacht. Den kleinen Spaziergang an der frischen Luft vom Auto zum Gasthaus wollte er nutzen, um den Kopf etwas freizubekommen, aber in Gedanken sah er immer noch das Bild, welches in zweimal aus dem Schlaf riss.
Der Eingang zur Schillerhöhle, dunkel und modrig, wie ein geöffneter Schlund.
Als er das Gasthaus betrat, musste er sich zusammenreißen, nicht direkt wieder herauszugehen. Die Luft war so stickig und dick, dass man sie fast hätte in Scheiben schneiden können. Vermutlich war der Raum schon Wochen nicht mehr richtig gelüftet worden, falls er das überhaupt mal wurde.
Nach einem kurzen Blinzeln schaute sich Jonas genauer im Raum um: Er befand sich in einer Art Schankraum mit kleiner Theke, an der verstaubte Biergläser hingen und schmierige Zapfhähne ragten aus dem ungepflegten Holz heraus. Am Ende des Tresens stand eine kleine Klingel.
Im Rest des Raums war mehrere Tische verteilt aus dem gleichen dunklen Holz, aus dem auch die Theke angefertigt war. Es war ein stimmiges Bild von einem kleinen süßen Gasthaus, wenn nicht alles so ungepflegt und ungenutzt wirkte.
Vermutlich war das auch durch die Pilger soweit gekommen. Wer sollte noch hier Gast sein wollen, wenn alle paar Tage hier so ein Radau ist. Außer den Randalen selbst natürlich …
Jonas schluckte den Kloß im Hals herunter und drückte auf die Klingel. Das Knarzen im Hinterzimmer hörte er sofort und verriet ihm, dass er auf jeden Fall bemerkt wurde, aber es dauerte noch fast eine Minute, bevor sich die Tür schließlich öffnete und ein alter Mann herauskam.
Sein schütteres Haar war zwar etwas lang, aber ordentlich gekämmt und sein Äußeres war gepflegt. Dennoch schien seiner Kleidung der gleiche Staub anzuhaften, wie ihn auch der gesamte Raum ausmachte.
Das eigentlich akkurate Äußere, gepaart mit einer gewissen Portion Verfall und Nachlässigkeit verbanden den Mann und das Innere des Gebäudes perfekt. Ob sich der Herbergsvater der Herberge angepasst hatte, oder umgekehrt?
“Hallo, ich hatte gestern Abend angerufen”, begann Jonas leicht zögerlich.
“Mhh”, kam die Antwort. “Du hasch g’sagt, du bisch von hier, oder?”
“Ja, früher mal. Ich war lange weg und wollte man wieder in die Gegend.”
“Un warum Graue? Von hier kommsch du net.”
Man sollte denken, wenn endlich mal wieder zahlende Kundschaft kommt, wäre die Begrüßung freundlicher, aber vielleicht handelte es sich auch nur um Vorsicht, weil man schon schlechte Erfahrungen mit den Pilgern hatte.
“Ich hab Bekannte in Islingen und Brettheim und dachte, ich entscheide mich für die goldene Mitte”, entgegnete er und versuchte es so natürlich wie möglich zu sagen.
“Mhh.” Wieder folgte eine kurze Pause. “Bezahl’n musch vorher. Kein Frühstück. Abends gibt’s Bier un warme Küch’, aber nich im Preis.”
“Danke, passt für mich alles.”
“Hier.” Er händigte einen kleinen Schlüsselbund aus mit einem Haustürschlüssel und einem zweiten, altmodischen Buntbartschlüssel. Jonas hatte keine NFC-Karte erwartet, aber ein solcher Zimmerschlüssel ließ ihn doch kurz stutzen.
“Erschter Stock, rechte Seit’, Zimmer 1-2.” Der Mann wies mit dem Daumen über seine Schulter zu einer Treppe in den ersten Stock, die durch die offene Tür zu sehen war, hinter der Jonas ein Hinterzimmer vermutet hatte.
Außer der Tasche mit seiner Kleidung und den Hygieneartikeln ließ er alles im Auto. Nicht nur, dass es ihm leichtsinnig vorkam, seinen Laptop einfach in einem Zimmer ohne nennenswertes Schloss liegen zu lassen, er wusste außerdem auch nicht, ob sich nicht doch noch ein paar Pilger in den nächsten Tagen einmieten würden. Auch wenn sich die meisten normal zu verhalten schienen und der Zorn immer zielgerichtet war, für ein paar andere wäre Diebstahl sehr weit unten auf der Liste der Delikte zu finden.
Wieder draußen machte er sich auf den Weg zu dem einzigen Ort, der ihm in Grauenfels noch sympathisch aufgefallen war.
Als er die Bäckerei betrat, drehte sich eine junge Frau mit braunen, leicht lockigen Haaren zu ihm um und lächelte ihn an.
“Guten Morgen. Ich glaube langsam, du stalkst mich”, feixte sie ihn an.
“Ich dich? Jedes Mal, wenn ich mir einen Kaffee holen will, bist du schon da”, entgegnete er und grinste sie an.
“Ich würde ja fragen, ob du das Gleiche kriegst wie immer, aber dafür warst du noch nicht oft genug da.”
“Auf jeden Fall schon mal einen Kaffee und …”, er sah sich die Auslage an. “Beleg’ mir einfach ein Sesambrötchen mit dem, was bereits offen ist oder weg muss. Ich bin nicht wählerisch.”
“Dann schon mal der Kaffee und ein Brötchen Spezial kommt gleich.”
Jonas nahm seinen Kaffee und stellte sich an einen der Stehtische. Kurz darauf stellte sich Josephine neben ihn. Ihre grünen Augen durchbohrten ihn und er merkte, dass ihre Nähe ihm leichtes Herzrasen bescherte. Sein Blick fiel von ihren Augen nach unten und fing sich wieder an ihren Lippen.
“Und? Hast du geseh’n, was du seh’n wolltest?”
“Was? Ich …”, fing er an.
“Na, du warst doch gestern beim Wolfgang, oder?”
“Achso, ja. Ja. Ja, ich war noch da und wollte mir das einfach mal live ansehen. Es waren sogar welche vor Ort und dieser Meier kam dazu.”
“Also das volle Programm.” Sie lachte leicht, dann wurde ihre Miene ernster. “Es wäre einfach schön, wenn es aufhören würde. Aber Wolfgang wird nicht aufhören, weil er Wolfgang ist und warum sollten die Pilger aufhören?”
“Es wäre leichter, eine Person umzustimmen, als Tausende, aber ich weiß was du meinst. Er wirkt schon eher störrisch.”
Josephine seufzte, richtete sich auf und begann sich zu strecken, wobei sich ihre Schürze über ihren Körper zu strecken schien und mehr von ihrer Figur preisgab. Jonas wandte sich schnell dem Kaffee zu und hoffte, die Hitze, die er in seinen Ohren spürte, war schon vorher da.
“Immer betrunken am Pöbeln und die Schmierereien. Manchmal überleg ich mir, ob ich Nils überhaupt noch alleine rauslassen kann.”
Etwas passendes dazu fiel Jonas nicht ein. Aufmunternd? Mitfühlend? Wie sollte er reagieren? Am Ende nickte er nur betroffen.
“Aber, wo wir grad bei Nils sind. Das Tablet funktioniert jetzt hier, aber zu Hause hat’s kein Internet mehr”, warf Josephine ein mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie fast das Wichtigste vergessen.
“Nach den Änderungen von mir, hilft vermutlich ein Router-Reset. Habt ihr da mal was umkonfiguriert?”
“Der Kasten vom Telefonanbieter oder? Der Sohn von der Nachbarin hat den damals eingerichtet”, antwortete Josephine nach kurzer Denkzeit.
“Sollte im Grunde reichen, wenn der auf Werkseinstellungen zurückgesetzt wird. Meistens haben die einen kleinen Knopf…”
“Hey hey hey! Ich musste mir schon für den Führerschein merken, wo der Blinker ist. Das ist der Höhepunkt meines technischen Wissens”, unterbrach sie ihn und zwinkerte Jonas an.
“Soll ich es dir aufschreiben? Es ist ziemlich simpel.”
“Gegenvorschlag: Du kommst heute am Abend vorbei, reparierst das Internet und dafür kriegst du ne Portion frisch gekochte Hausmannskost.”
“Deal”, willigte Jonas ein und hielt Josephine seine ausgestreckte Hand entgegen.
“Deal!” Ihre Hand war so warm und weich, dass er hoffte, er müsste sie nicht wieder loslassen. Als er es doch tat, sah er einen Moment noch seine Hand an, dann wandte er sich seinem Brötchen zu.
Während Jonas den Gehweg in Richtung des gelben Hauses des Streamers entlangging, hielt er den kleinen Zettel fest in der Hand. Josephine hatte ihm ihre Adresse aufgeschrieben und er hatte versprochen, um 17 Uhr da zu sein.
Beim Gedanken daran, sie zu Hause zu besuchen, verknoteten sich dennoch seine Eingeweide. Sie war nett zu ihm und ihm kam es so vor, als würden sie sich gut verstehen, aber auf der anderen Seite hatte sie einen Sohn und er sollte in ihre Nettigkeit nicht zu viel hineininterpretieren. Irgendwo musste es ja einen Mann in ihrem Leben geben. Oder gegeben haben, korrigierte er sich in seinen Gedanken.
Der Knoten in seinem Magen verhärtete sich und schnell steckte er sich den Zettel in den Geldbeutel und beschleunigte seinen Schritt. Die Höhle des Dämons war nur noch wenige Meter entfernt und das musste er sich unbedingt nochmal ansehen.
Alle negativen Gedanken nach hinten geschoben, kam er an der kleinen Straße an, die den Hügel hinauf und an der Behausung des Influencers vorbeiführte. Schon in die Nähe dieses Hauses zu kommen, schien ihm regelrecht den Blick zu trüben und ließ ihn den verfaulten Geruch eines heruntergekommenen Hauses in die Nase steigen, auch wenn er wusste, dass er dafür viel zu weit weg war.
Nur noch hier um die Ecke und …
Obwohl Jonas am Haus eine kurze Pause einlegen wollte, um zu sehen, ob ihm noch etwas auffiel, was er bisher übersehen hatte, schreckte er nur kurz auf und ging dann in möglichst gleichbleibender Geschwindigkeit weiter bergauf.
Direkt an der Einfahrt des Hauses hatte ein Streifenwagen geparkt und Walter Meier stand mit verschränkten Armen an die Seite gelehnt und schaute auf die Straße raus. Sein Aussehen war etwas ordentlicher als das letzte Mal, aber er hatte immer noch etwas an sich, was ihn nicht richtig erscheinen ließ, auch wenn Jonas nicht den Finger drauflegen konnte, was es war.
Er nickte dem Polizisten leicht zu, der ihn ohne eine Miene zu verziehen beobachtete. Gerade als er den Blick wieder Richtung Hügel richten wollte, bemerkte er allerdings, dass er ihn zu sich winkte.
Widerwillig folgte er der Geste, blieb jedoch mit etwas mehr Abstand, als er es in einer anderen Situation getan hätte vor dem Streifenwagen stehen.
“Guten Morgen Herr Meier”, sagte er so freundlich lächelnd, wie er es konnte.
“Morgen Schäfer. Schon wieder beim Wolfgang unterwegs? Wir sind hier nicht unbedingt gut auf Leute zu sprechen, die von außerhalb kommen und unsere Dorfruhe stören.” Seine Hand ruhten beide am Gürtel, an dem sich auch seine Dienstwaffe befand.
“Nur zufällig. Ich wollte zur alten Ruine oben und ein wenig über die Landstraße spazieren.”
“Die alte Ruine? Die hat sich ja schon Jahre keiner mehr angesehen.” Meiers Blick durchbohrte Jonas und er konnte förmlich spüren, wie er versuchte, aus ihm ein anderes Motiv zu entlocken.
“Ein Ex-Kollege von mir ist begeistert von solchen Ruinen und wollte unbedingt Fotos”, antwortete Jonas und blieb dabei bei seiner Geschichte. Er hatte sie sich am Vorabend zurecht gelegt, falls er mal in der Nähe gesehen wurde. Mit der Ausrede sollte er im Normalfall durchkommen. Hoffte er zumindest.
“Dann wartet ihr Kollege auf die Bilder?” Etwas an der Frage erschien Jonas seltsam. Wollte Meier nur seine Geschichte prüfen oder wollte er herausfinden, ob jemand wusste, wo er war?
“Haha, ja. Ich hab ihm vor Jahren davon erzählt und seitdem fragt er mich. Ich musste ihm versprechen, ihm diesmal welche zu schicken.”
“Okay. Schönen Tag noch, Schäfer.”
“Danke, ebenso, Herr Meier.”
Als sich Jonas wieder auf den Weg den Hügel hinauf machte, fühlte es sich an, als seien seine Beine aus Wackelpudding. Er stellte sicher, dass er außer Hörreichweite des Polizisten war und stieß dann erleichtert die Luft aus. Jonas hatte schon immer ein komisches Gefühlt mit Polizisten zu reden, selbst wenn nichts angestellt hatte, aber diesmal fühlte er sich tatsächlich ertappt.
Er konnte nur hoffen, dass Meier nichts aufgefallen war. Das Letzte, was er gebrauchen könnte, war ein unheimlicher Dorfpolizist, der ihn auf dem Kieker hatte.
Vielleicht sollte er das Ganze mit dem Dämon auch hinter sich lassen. Aber zumindest diese Woche wäre er ja noch hier. Seine Eltern wollte er erst nächste Woche besuchen und das konnte er ja nicht vorziehen. Nein, das hatte er bereits abgemacht. Lieber nochmal eine Woche hier bleiben und das Wochenende kam ja auch.
Am Wochenende, so schwor sich Jonas, würde er nochmal das Haus beobachten und sich die Pilger ansehen, aber dann war es das.
Er suchte zu seiner Linken nach dem Trampelpfad in den Wald hinein. Er glaubte zwar nicht, dass Meier so weit gehen würde, aber er wollte unbedingt ein paar Bilder von der Ruine machen, um ein Alibi zu haben.
Außerdem könnte man ihn vielleicht nicht komplett erkennen vom Eingang des Influencerhauses aus, aber man würde zumindest mitbekommen, wenn es Bewegung in der Nähe der Ruine gab. Und wenn Meier darauf achtete und es nicht sah …
Die Bilder waren schnell gemacht und obwohl Jonas sich mehrmals umdrehte, immer in der Gewissheit Meier oder Wolfgang hinter sich zu sehen, blieb er alleine. Nur er und die bedrückte Stimmung eines dichten Waldstücks mit heruntergekommenen Ruinen.
Der Weg zurück war erneut trügerischer, als er es gedacht hatte. Obwohl er gestern schon den Weg falsch zurückgelaufen war, konnte er es sich offensichtlich nicht gut genug merken, wo er herkam und kam wieder in der Nähe der Schillerhöhle aus dem Wald.
Die Höhle des Dämons, wie die Pilger es nannten, konnte er sich nicht ansehen, solange Meier noch hier herumlungerte und wirklich über die Felder spazieren zu gehen, wollte sich Jonas auch nicht antun.
Bis 17 Uhr waren es noch einige Stunden und jetzt bis dahin nichts zu tun zu haben … er sah in Richtung der Höhle und spürte Erinnerungen an Moder und Dunkelheit in sich aufkommen. Etwas, das er nicht nochmal sehen musste.
Er könnte seine Eltern anrufen, über Mia nachdenken oder planen, wie er sich mit Nils’ Vater unterhalten könnte. Seine Schritte führten ihn wie von alleine in Richtung der Schillerhöhle.
In dem Blogartikel war die Rede davon, dass die Höhle geschlossen wurde, aber trotzdem war der Blogautor erneut in der Höhle und hatte sich umgesehen. Jetzt könnte er erst einmal feststellen, wie die Höhle gesichert wurde und wie die Sicherung umgangen wurde. Um alle anderen Themen konnte er sich immer noch später kümmern.
Der Eingang war noch wie in seiner Erinnerung, ein klaffendes, dunkles und modrig riechendes Maul. Nur dass jetzt ein Metallgitter davor gebaut und in die Felswand eingelassen wurde. Ein Maulkorb vor dem Eingang der Schillerhöhle war in seinen Augen zu passend. Ein verächtliches Schnauben entkam seinem Mund.
Jonas ging langsamer auf das Gitter zu, als es nötig gewesen wäre, seine Augen waren auf das Dunkel des Eingangs fixiert und die Sonne in seiner peripheren Sicht schien immer mehr an Strahlkraft zu verlieren. Als gebe es nur noch diese Höhle.
Als er am Gitter ankam, sah er, dass ein Teil davon sich wie eine Tür öffnen ließ, aber eine dicke Kette war durch das Tor und das seitliche Metall gezogen worden und verschloss die Tür. Ein ähnlich robustes Vorhängeschloss, hielt die Kette in Position. Ohne nachzudenken, nahm Jonas es in die Hand, um es sich genauer anzusehen und bemerkte, dass das Schloss nicht geschlossen war.
Mit einem dumpfen Klopfen landete das schwere Metallschloss auf der feuchten Erde und mit einem Rasseln - befreit von dem fehlenden Schloss - folgte die Kette und schlängelte sich durch die Metallgitter nach unten auf den Boden.
Wenn jemand in der Nähe war, hätte er das Rasseln der Kette am Gitter hören müssen, aber das war Jonas im Moment egal. Sein Herz klopfte wie verrückt, seine Hände waren von kaltem Schweiß bedeckt und sein Mund fühlte sich trocken an.
Er hatte nur noch ein Ziel. In die Höhle gehen und sich umsehen. Er konnte es nicht beschreiben, aber etwas schien ihn regelrecht zu rufen. Wollte er nur weiterhin alle Verantwortlichkeiten und schlechten Gedanken von sich schieben?
Nein, es war etwas anderes. Vielleicht ein Abschließen mit einem Mysterium aus der Kindheit, das ihn nie ganz losgelassen hat. Vielleicht einfach nur die Neugierde. Vielleicht der Reiz, weil es sich so verboten anfühlte, in diese Höhle zu gehen, die eigentlich abgesperrt sein sollte.
Er wischte sich den Schweiß an der Jeans ab und nahm sein Smartphone aus der Hosentasche. Mit der Taschenlampenfunktion beleuchtete er den feuchten Stein des Eingangs der Schillerhöhle, während er sich mit der linken Hand an der Wand entlang tastete, immer ein Auge auf den Boden gerichtet, um nicht in einen der gefährlichen Abgründe zu tappen.
Schritt um Schritt wurde es dunkler um ihn, bis das Smartphone die einzige Lichtquelle war, die seine Umgebung erleuchtete. Der Geruch von modrigem Stein wurde stärker und gleichzeitig wurde sein Wille stärker, tiefer hineinzugehen in die Höhle.
Nur seine linke Hand, die sich widerwillig gegen die spitze Steinwand drückte und dabei über scharfkantige Steine schabte, war der Grund, warum er seinen Schritt nicht beschleunigte.
Nach zwei weiteren Schritten, sah er es in ein paar Metern Entfernung. Nicht viel größer als eine Walnuss, glitzerte und schillerte dort etwas in der Wand zu seiner rechten. War es ein wertloses Mineral oder ein teurer Edelstein? Egal, was es war, es sah wunderschön aus.
Seine linke Hand löste sich von der Wand und er tat einen weiteren Schritt in Richtung der gegenüberliegenden Wand, auf den Stein zu.
Piep Piep! Ein plötzliches Geräusch riss ihn wieder zu sich. Sein Atem ging flach und schnell, seine Hände waren schweißnass und seine Nase heulte bei dem modrigen Geruch.
Er sah auf sein Smartphone und bemerkte, die Meldung, dass er kein Netz mehr habe. Es muss hier in der Höhle keinen Empfang geben und er hatte die Mitteilung dafür aktiviert, damit er unterwegs immer wusste, ob er mal nicht erreichbar war.
Ohne einen Moment zu zögern, drehte er sich um und ging an der nun rechten Wand zurück Richtung Eingang, im Versuch seine Schritte so genau wie möglich zurückzuverfolgen.
Draußen angekommen, warf er das Gitter hinter sich zu und atmete tief durch. Was war das gerade?
Er ließ sich ins Gras fallen und schaute zur Höhle hinüber. Er hatte mal davon gelesen, dass manche Menschen in Stresssituationen wie einer längeren Unterkunft in einem Keller oder Bunker unerwartet reagieren und von Angst, Wut über Depression bis hin zu Halluzinationen alles möglich war.
Hatte er gerade etwas ähnliches in der Schillerhöhle erlebt?
Er wusste nur eins. Er würde nicht wieder in die Höhle zurückkehren.
Nachdem Jonas wieder durchgeatmet und die Sonne genossen hatte, indem er der Höhle den Rücken zuwandte, entschloss er sich noch einmal bei der Ruine vorbeizuschauen. Mit etwas Glück war wieder Besuch vor Ort und er konnte das ein oder andere aufschnappen.
Doch als er sich an seine Position in der Nähe des Hangs begab, konnte er auf einen Blick sehen, dass keine Pilger vor Ort waren. Auch Meier war nicht mehr zu sehen.
Wenigstens eine gute Nachricht.
Als er sich wieder umdrehen und den Wald verlassen wollte, fiel ihm aber eine Gestalt am unteren Ende der Straße auf. Er ging ein paar Schritte nach vorne und hielt sich an einem Baum fest, um sich über den Hang zu beugen und erkannte, dass es sich um Renate handelte.
Sie stand am unteren Ende der Straße und schaute in die Straße hinein, die sich mit dieser im rechten Winkel kreuzte. Vollkommen reglos und starr wie eine Schaufensterpuppe.
Das war genug für heute. Jonas entschied den Weg zurück in die Herberge zu gehen und sich nochmal frisch zu machen, bevor er zu Josephine fuhr. Seine Jeans war verschmutzt, seine linke Hand dreckig und zerkratzt.
Den Weg zurück aus dem Wald fand Jonas diesmal sofort und er kam bei der Straße den Hügel hinunter an. Aufmerksam beobachtete er die Ecke, hinter der Renate stehen musste bei jedem Mal als er einen Fuß vor den anderen setzte.
Noch ein oder zwei Schritte, dann müsste er sie sehen. Und dann …
Renate sah zu ihm, nickte ihm grüßend zu und ging langsam die Straße entlang. Als wäre nichts gewesen.
Wahrscheinlich war auch nichts. Er war einfach zu paranoid. Eine ältere Dame, die beim Spazierengehen eine Pause einlegt, sollte nichts sein, was ihn so aus der Fassung bringt.
Es war die logischste Erklärung und doch kam er nicht davon ab, seinen Schritt zu beschleunigen, als er zurück in die Herberge ging. Er musste sich beeilen, um sich noch frisch machen zu können, bevor er sich auf den Weg zu Josephine machen könnte.
Auf dem Weg durch Grauenfels fühlte er sich seltsam beobachtet. Ob es hinter einer Gardine war, in einer Seitengasse, aus einem Auto heraus. Er fühlte überall Blicke auf sich. Aber war das nicht normal in einem so abgeschiedenen Dorf?
Und dann auch noch, wenn Fremde hier so oft randalierten?
Die Haustüre der Herberge war verschlossen und während er nach dem Schlüssel kramte, meinte er drinnen Stimmen zu hören. Endlich hatte er den Schlüssel, schob ihn ins Schloss und noch bevor er die Tür aufdrückte, hörte er, wie drinnen eine Tür geschlossen wurde.
Jonas betrat den Schankraum und sah sich dem Herbergsvater gegenüber.
“Tach.” Er hielt den Blick auf Jonas.
“Hallo”, sagte Jonas beiläufig und ging mit schnellem Schritt in Richtung der Treppe nach oben. Nur noch bis zum Wochenende, dann einmal das Theater mit ansehen und danach nichts wie weg von hier, sagte er sich im Stillen, während er die Treppen nach oben stieg.
In frischen Klamotten - einem schwarzen T-Shirt und einer blauen Jeans - und frisch geduscht, schnappte Jonas sich alles, was er nicht im unsicheren Raum lassen wollte und begab sich die Treppe hinunter. Am Ende der Treppe fand er sich in dem kleinen Gang wieder, den er anfangs für ein Nebenzimmer gehalten hatte.
Die Tür zum Schankraum war offen, aber auch die Tür gegenüber vom Treppenende war offen und er konnte eine weitere Treppe sehen, die in viel zu engen Stufen nach unten führte. Ein schwaches Licht erhellte die Holzdielen und die Wände und ein Geruch wie er verstaubten, schlecht durchlüfteten Kellern anhaftete, wehte ihm entgegen.
War das die Tür, die geschlossen wurde, als er gerade durch die Haustüre gekommen war?
War die Person von zuvor vielleicht sogar noch da?
Neugierig wagte er einen Schritt auf die Tür zur Kellertreppe zu, dann einen weiteren. Er streckte seine Hand nach dem Türrahmen aus und …
Mit einem Mal, wurde die Tür geschlossen. Jonas machte einen Satz nach hinten. Sein Herz pochte wie verrückt. Ein erstickter Schrei entwich ihm. Dann erst drehte er sich zur Seite, wo der Schankraum sich befand. Der Herbergsvater stand vor ihm. Seine Augen leicht zusammengekniffen, als versuchte er etwas in Jonas Gesicht zu erkennen.
“Der Keller isch net offen für Gäschte”, raunte er und musterte Jonas weiter.
“Ich … Kann … ähem. Kann sein, dass ich heute später zurückkomme.” Er unterdrückte das Beben in seiner Stimme, dass mit seinem pochenden Herzen synchron zu sein schien, so gut er nur konnte.
“Un weiter?”
“Ich wollte nur Bescheid geben. Falls ich spät die Tür öffne.” Jonas bezweifelte das selbst stark, aber er suchte verzweifelt einen Grund, warum er den Herbergsvater vielleicht im Keller hätte suchen können.
“Dafür isch der Schlüssel da.”
“Ja, das stimmt.” Jonas zwang sich zu einem Lächeln, es fühlte sich aber mehr wie eine Grimasse an.
“Dann …”, begann er, nickte verabschiedend und drängte sich an dem Mann vorbei. Dabei stieg ihm wieder der muffige Geruch der offensichtlich ungewaschenen Kleidung in die Nase. Er unterdrückte den Drang das Gesicht zu verziehen und beschleunigte seine Schritte in Richtung der Haustür.
Kurz bevor er das Haus verließ, hörte er eine Tür aufgehen und sich wieder schließen. Beim Schließen der Haustür sah er noch einmal so unauffällig, wie es ihm möglich war zurück und sah, dass der Herbergsvater nicht mehr zu sehen war.
In der Sicherheit seines Autos atmete Jonas tief durch, kramte den Zettel mit der Adresse raus und machte sich auf den Weg. Er folgte der Straße, die er vor wenigen Tagen erst hergefahren war in entgegengesetzter Richtung und fuhr nach Brettheim.
Er hatte zuvor angenommen, dass Josephine in Grauenfels wohnte, aber anscheinend, war sie aus Brettheim. Es beruhigte ihn zu wissen, dass sie wenigstens nicht den ganzen Tag in diesem muffigen Kaff war.
Nur wenige Kilometer trennten Brettheim von Grauenfels, aber er war genau in der kurzen Zeitspanne unterwegs, als die Dämmerung einsetzte. Als Jonas aus dem Auto stieg, schalteten sich in der Nähe gerade die Straßenlaternen an und surrten leise vor sich hin.
Brettheim war nicht groß genug, um wirklich verschiedene Viertel zu haben, aber die Straßen rund um Josephines Wohnung waren nicht gerade die besten, sondern waren gezeichnet von den einzigen paar Mehrfamilienhäusern in Plattenbauoptik, die es in einigen Kilometern Umkreis gab.
Wenn er sich noch richtig erinnerte, war das Bauprojekt sehr umstritten, aber es war eine Kapitalanlage eines lokalen Unternehmers, der sehr gut mit dem Bürgermeister Brettheims befreundet ist. Man versprach günstigen Wohnraum. Aber wie eine gute Kapitalanlage sollte die Kuh nur gemelkt werden und nach dem Bau schienen nur noch die unumgänglichen Euros in die Instandhaltung gesteckt worden zu sein.
Jonas sah noch einmal auf die Pralinenschachtel in seiner Hand - die hochwertigste, die er in dem kleinen Supermarkt finden konnte - suchte das Klingelschild und drückte auf den kleinen Knopf.
“Ja?” Eindeutig Josephines Stimme, wenn auch verzerrt durch die Gegensprechanlage.
“Ich bin’s, Jonas.”
“Schon? Hatten wir nicht 17 Uhr gesagt?” Sie schien ernsthaft überrascht. Jonas warf einen Blick auf seine Uhr: 16:56 Uhr.
“In welchen Stock muss ich denn? Ich kann sehr langsam Treppen laufen.”
“Haha, nur in den zweiten. So langsam wirst du wohl nicht sein. Ich mach dir auf.”
Ein Summen und die Tür ließ sich aufdrücken.
Entgegen seiner Worte an der Tür, ging er die Treppenstufen in normalem Tempo nach oben und schaute im zweiten Stock in beide Richtungen, doch was ihn erwartete, war mehr als nur eine offene Tür. Nils kam auf ihn zugerannt, als sie sich sehen konnten.
“Du musst das Internet wieder ganz machen. Jetzt funktioniert es hier nicht”, fing er schon an zu reden, bevor Jonas überhaupt die letzte Treppenstufe hinter sich gelassen hatte.
“Haha. Natürlich, natürlich.” Jonas klopfte dem Jungen neben ihm leicht auf die Schulter und folgte ihm dann in die Wohnung.
“Hallo”, sagte er in den leeren Flur, als er durch die Wohnungstür trat. Nils war bereits wieder im Inneren der Wohnung verschwunden. Jonas zog sich die Schuhe aus und nutzte die kurze Zeit alleine, um ein paar Blicke zu riskieren.
Mäntel für Frauen und Jacken für Kinder, Frauenschuhe und Kinderschuhe, kein Männerschuh außer seinem eigenen. War Josephine single?
Einen Moment lang fühlte er eine Hoffnung in sich aufkeimen, dann kam das schlechte Gewissen. Egal, was er sich erhoffte, Nils verdiente einen Vater und vielleicht war der nur gerade unterwegs.
Er versuchte den Gedanken abzulegen, als er den Flur in Richtung des nächsten Zimmers verließ und sich im Wohnzimmer wiederfand.
Das Zimmer war klein und die Einrichtung zusammengewürfelt, als hätte man sie aus Resten bestückt. Aber es war nicht ohne Liebe oder Sinn für Ästhetik eingerichtet. Außer den ein oder anderen Spielsachen, die im Raum verstreut waren, waren helle Holztöne und anthrazitfarbene Textilien größtenteils vertreten.
Das Sofa, welches vor einer Fensterfront stand, konnte ausgeklappt werden, was aber fast den ganzen Raum füllen würde. Dort hatte sich auch Nils wieder hingesetzt und schaute ihn erwartungsvoll an. Auf dem kleinen Couchtisch lag bereits das Tablet.
“Ich sag noch kurz deiner Mutter Hallo”, meinte er und sah sich um.
Drei Türen führten aus dem Raum hinaus. Zu seiner Rechten eine geschlossene Tür, übersät von bunten Stickern von Superhelden, Autos und Dinos. Das war wahrscheinlich Nils Zimmer.
Gegenüber des Kinderzimmers lagen zwei Türen fast nebeneinander. Eine geschlossene, die vermutlich zum Badezimmer führte und eine geöffnete, aus der gleich alle Sinne angesprochen wurden.
Er hörte eine Geräuschkulisse, wie sie nur aus einer Küche kommen konnte. Eine Symphonie aus Dunstabzugshaube, kochendem Essen und dem hektischen Schubladenöffnen und -schließen auf der Suche nach dem richtigen Küchenwerkzeug.
Der Duft, der ihm währenddessen in die Nase zog, erinnerte ihn an Kindheit und einfachere Tage, auch wenn er es nicht direkt zuordnen konnte. Es war ein Geruch von Nachhausekommen, auch wenn er ironischerweise genau das bisher so sehr vermieden hatte.
Und zuletzt wurde sein Sehsinn angeregt, durch den Anblick der jungen Frau, die dort in der Küche hantierte. Durch den geöffneten Spalt der Tür sah er Josephine, wie sie in enger Jeans und Tank Top mit darübergeworfener Schürze eine Bratpfanne in der Hand kochte. Ihre braunen Haare hatte sie in einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden.
Während Jonas kurz die Luft wegblieb und er sein Herz pochen hören konnte, drehte Josephine sich um und schenkte ihm ein Lächeln, das nicht gerade dabei half, ihn zu beruhigen.
“Hallo Jonas”, sagte sie und wandte sich augenblicklich wieder ab, um ihre Aufmerksamkeit der Küche zu schenken. “Ich brauche noch einen Moment.”
“Hallo Josephine. Kann ich dir bei irgendwas helfen?”
“Nein, nein. Setz dich ruhig zu Nils und mach es dir bequem. Ich bin gleich soweit.”
Mit einem wehmütigen Blick wandte Jonas sich ab und ging in Richtung des Sofas. Kaum hatte er sich hingesetzt, lehnte Nils sich nach vorne und griff nach dem Tablet, um es ihm zu geben.
“Mama sagt, du kannst es reparieren.”
“Ich schau mal”, erwiderte Jonas und verbannte alle Gedanken, die er beim Anblick der Mutter des Jungen neben ihm gerade noch hatte.
Die Einstellungen auf dem Tablet schienen zu stimmen. Er sah sich um und suchte einen Router, den er kurze Zeit später auf einem kleinen Sideboard fand.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Sticker mit dem Standardpasswort noch auf dem Gerät klebte, setzte er die Einstellungen zurück und verband sich neu mit dem Tablet.
“So, das sollte wieder funktionieren.”
“Schon? Ist das wieder das Problem mit diesen grünen Seiten?”, fragte Nils und streckte die Hände nach dem Tablet aus.
“Gelbe Seiten und ja, aber das ist nicht wichtig. Probier erstmal, ob wieder alles funktioniert.”
Der Junge nickte eifrig und hatte schon die erste Videoapp gestartet.
“Geht wieder”, bestätigte er und wandte sich dem Tablet zu.
Jonas wuschelte ihm durchs Haar und lehnte sich dann etwas auf dem Sofa zurück.
“Ah ja. Danke.” Nils grinste ihn breit an und wandte sich dann wieder dem Tablet zu.
Einige Minuten später kam auch Josephine wieder aus der Küche. Sie stellte drei Teller und Besteck auf den Tisch.
“Nils! Weg vom Tablet und Tisch decken.”
Jonas sah zu dem Jungen hinüber. Durch seinen genervten Blick war klar, dass er sie gehört hatte, aber er machte keine Anstalten aufzustehen.
“Ich kann das ja …”, fing er an, wurde aber von Josephine unterbrochen.
“Das ist nett, aber du bist unser Gast und Nils kann das übernehmen.”
Mit diesen Worten verschwand sie wieder in die Küche.
Nils stand widerwillig auf und fing an die Teller und das Besteck zu verteilen.
Jonas hatte sich in der Zwischenzeit vom Sofa bewegt und half dem Jungen, indem er Zeitschriften und Bücher stapelte und auf den vierten Stuhl legte, um Platz für das Geschirr zu schaffen.
“Danke”, kam eine Stimme von der Seite, als er gerade eine Vase weiter an den Rand des kleinen runden Tisches stellte, um Platz für das Essen zu machen.
Josephine brachte nach und nach die Schalen und Teller heraus. Ein gemischter Salat, Kartoffelbrei, zwei Forellen und ein Teller mit Fischstäbchen.
“Es ist kein Luxusessen, aber ich hoffe, es schmeckt.”
“Das wird es auf jeden Fall”, stimmte Jonas lächelnd zu.
“Auf geht’s! Hände waschen.” Josephine hatte spielerisch eine böse Miene aufgesetzt und kitzelte Nils unter den Armen.
“Okay … Okay”, brachte er unter Lachen heraus und floh vor ihr in Richtung Badezimmer. Jonas dachte kurz darüber nach und marschierte hinterher.
Nachdem Mutter und Sohn ihre Hände gewaschen hat, tat er es ihnen nach. Josephine sah ihn leicht fragend an, aber er zwinkerte nur und sah in Richtung Nils, der schon wieder Richtung Esstisch unterwegs war.
“Wäre doch unfair, wenn wir nicht alle Händewaschen müssten.”
Das Essen war kein kulinarisches Erlebnis, aber lecker und für Jonas war es das erste selbstgekochte und normale Essen seit Tagen. Das machte es für ihn besser als das teuerste Menü eines jeden Restaurants. Hin und wieder erwischte er sich, wie er neidisch auf die Fischstäbchen auf Nils Teller schaute. Fischstäbchen und Kartoffelbrei waren eines der Standardessen seiner Kindheit.
Während des Essens plauderten die drei über belanglose Themen und Nils erzählte stolz von den Dingen, die er mit seinen Freunden gemacht hatte und weniger stolz über seine schulischen Ergebnisse.
Nils war inzwischen in seinem Zimmer und machte Hausaufgaben, während Josephine und Jonas es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatten. Jeweils eine Tasse Tee und eine geöffnete Pralinenpackung stand vor ihnen auf dem Sofa.
“Wie kommt es eigentlich, dass du freiwillig in Grauenfels beim Bäcker arbeitet und nicht in Brettheim oder weiter in die andere Richtung?”
“Freiwillig ist gut. Es ist die beste Lösung. Seit das mit dem Wolfgang so ist, will da keiner mehr arbeiten und mein Chef ist so froh, dass ich die Frühschichten an sechs Tagen übernehm, dass er keinen Stress macht, wenn Nils mal dabei ist oder ich spontan wegen Krankheit absagen muss.” Sie machte eine Pause und nahm einen Schluck vom Tee. “Die Freiheit ist perfekt als alleinerziehende Mutter.”
Jonas sah sie an und überlegte, wie er reagieren konnte. Josephine wirkte nicht so, als ob sie sein Mitleid haben wollte, aber es komplett übergehen, wollte er auch nicht.
“Du bist also alleinerziehend”, fing er vorsichtig an.
“Ja, keine Sorge. Das ist keine frische Wunde oder so. Er hat Nils nur zwei Mal gesehen und zahlt seitdem den Mindestunterhalt. Ich könnte dir nicht mal sagen von wo.”
“Oh, das …” Jonas rang mit Worten. Das tut mir leid, schien nicht die richtige Antwort zu sein.
“Alles gut. Ich habe den Kleinen und er hält mich genug auf Trab.” Ihr Lachen war ansteckend und Jonas konnte nicht umhin, auch zu lächeln.
“Und du hast nie überlegt, was anderes zu machen oder wo anders hinzugehen? Bei all dem was in Grauenfels so vor sich geht, muss das doch Horror sein.”
“Es ist okay. Ich kenne den Horror hier schon gut. Andere Orte haben anderen Horror und wer weiß, wie der ist”, sagte sie schulterzuckend. Dann sah sie ihn neugierig an.
“Und du? Wie lange bleibst du noch, bevor du wieder zurückgehst oder wo anders hin?”
“Ich … ich weiß noch nicht. Ich wollte noch meine Eltern besuchen und dann …” Jonas dachte nach und senkte seinen Blick. Wo wollte er hin? Zurück in die Wohnung, wo all die Erinnerungen mit Mia waren?
“Vielleicht ganz wo anders hin.” Er sah auf und blickte in ihre Augen. “Wenn du irgendwo hin könntest, egal wohin, und dort wohnen, wo wäre das?”
“Haha. Früher hätte ich dir was von der Südsee erzählt; Von Strand, Sonne und Meer. Aber seit Nils da ist … Weit genug weg, wo mich keiner kennt. Irgendeine Kleinstadt in Deutschland in einer größeren Wohnung mit Garten. Muss ich in deiner Fantasie auch noch arbeiten?” Sie grinste ihn an.
“Wenn du es dir aussuchen könntest?”, fragte er ernst nach.
“Es wäre doch langweilig so ganz ohne, aber Teilzeit wäre schön. Und bei dir?”
“Teilzeit klingt gut. Mehr Zeit für die Liebsten nehmen können.” Er dachte an Mia und spürte einen Kloß im Hals. Hätte das etwas geändert oder gerettet?
“Gibt es denn da jemanden?”, fragte Josephine nach.
“Nicht mehr.” Er schüttelte den Kopf. Dann lächelte er sie an und schob die Gedanken zur Seite: “Der Rest klang gut, aber statt der Wohnung lieber gleich ein Haus. Sonst schauen dir die Nachbarn bei der Gartenarbeit vom Fenster zu.”
“Das klingt als hättest du Erfahrung gemacht damit. Als Bespannter oder Spanner?”
Jonas musste lachen. Sein Gefühl, dass es mit ihr so natürlich war, sich zu unterhalten, bestärkte sich erneut.
“Ich hole nochmal Nachschub”, sagte Josephine, trank den letzten Schluck Tee aus und machte sich auf den Weg in die Küche.
Jonas dachte über alles Gesagte nach. Wie gerne würde er sie einfach schnappen und eine Wohnung irgendwo in Deutschland mieten.
Als Josephine wieder kam, bemerkte er, wie nah sie sich zu ihm setzte. Er konnte ihren Oberschenkel an seinem spüren und wie ihre Hose sich an seine rieb, wenn sie sich bewegte.
“Der Kleine muss bald ins Bett”, sagte sie und er meinte etwas wie Enttäuschung aus ihrer Stimme herauszuhören. Sie beugte sich nach vorne, mit einem Blick zum Kinderzimmer aus dem Augenwinkel und gab ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. “Solange du noch hier bist, sollten wir das wiederholen.”
“Ich … ich” weiß selbst zur Zeit nicht, wohin mit mir. Wie soll ich mich um ein Kind kümmern?, brachte er den Satz in seinen Gedanken zu Ende.
“Nicht die Reaktion, die ich mir erhofft hatte”, sagte Josephine gespielt trotzig.
“Nein, ich würde das wahnsinnig gerne”, antwortete Jonas fast etwas zu eifrig. “Ich weiß nur nicht, wie lange ich noch hier sein werde.”
“Freitag auf Samstag ist in der Grundschule eine Lesenacht mit Übernachtung in der Turnhalle. Wie wär’s, wenn du wieder zum Essen kommst und eine Flasche Wein mitbringst?” Ihr charmantes Lächeln raubte Jonas komplett den Atem. Er schluckte heftig.
“Rot oder Weiß?”, war das einzige, was er über seine trockenen Lippen bekam.
“Was dir besser schmeckt.”
Jonas spürte sein Herz noch immer Pochen und konnte sich das Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen, als er über die Landstraße Richtung Grauenfels unterwegs war. Er fühlte sich, wie er sich in der Anfangsphase mit Mia gefühlt hatte. Nur war alles so viel einfacher.
Mit Mia kam es ihm oft vor, als hätte er sie von sich überzeugen müssen. Jedes Date war ein durchgängiges Zurschaustellen der Dinge, die er ihr bieten konnte. Wenn er mal nicht um sie buhlte, verlor sie nicht nur das Interesse, sondern sagte es ihm auch.
Mit Josephine schien das anders. Sie waren sich auf einer Augenhöhe begegnet. Sie würde sich bestimmt auch über die Urlaube und Geschenke freuen, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie genauso wie Mia auf solche bestand.
Beim Gedanken an Geschenke für Mia fielen ihm die Ohrstecker wieder ein. Wo waren sie noch gleich?
Er sah noch einmal auf die Landstraße und sah, dass sie sich leer und kerzengerade vor ihm erstreckte. Er griff zum Handschuhfach und öffnete es. Ein erster kurzer Blick hinein, half ihm aber nicht, sie zu finden.
Er schaute wieder zur Straße. Weiterhin unverändert. Nochmal die Augen ins Handschuhfach, diesmal drückte er zeitgleich die Taschentücher, Papiere und das Schweizer Taschenmesser zur Seite. Aber wieder nichts.
Augen wieder auf die Straße. Dunkel und unbefahren. Er schaute nochmal nach rechts. Was war noch da? Die Beifahrertür. Er lehnte sich weiter nach rechts und versuchte, das Fach an der Tür zu erreichen, kam aber nicht ran.
Er schaute wieder auf die Straße. Aber vor ihm war eine Kurve. Im Schock blieb ihm kurz der Mund offen stehen. Er bremste; drückte Kupplung und Bremse voll durch. Das Auto quietschte und er riss das Lenkrad nach links.
Die Reifen rutschten quietschend über die Straße. Zwischen zwei Leitpfosten schlitterte sein Wagen aus der Spur und der rechte Hinterreifen rutschte über nasses Laub, fing sich aber schnell wieder.
Jonas schaltete die Warnblinkanlage an und atmete tief durch. Sein Herz versuchte aus seiner Brust zu hüpfen, so stark pochte es gegen seinen Brustkorb und sein Magen drehte sich um.
“Das hätte ganz anders ausgehen können”, sagte er sich selbst, merkte aber wie negativ das klang und sein Herzklopfen verstärkte sich mehr, als sich zu beruhigen.
“Okay, alles gut gelaufen. Alles gut. Nichts passiert”, redete er sich selbst ein, um sich zu beruhigen. Als er wieder durchatmen konnte, öffnete er die Tür und stieg aus.
Jonas wollte sich kurz den Wagen ansehen, ob es zu Schäden gekommen war. Aber bei einem ersten Rundgang fiel ihm nichts auf. Er blieb am rechten Hinterreifen stehen.
Der Reifen steckte nicht fest, hatte aber einiges an feuchtem Laub und Unterholz aufgewirbelt. Es sollte dennoch kein Problem sein, wieder auf die Straße zurückzukehren. Die Leitpfosten waren auch unberührt.
Ein erleichtertes Seufzen entwich ihm, bevor er sich wieder aufrichtete und gerade in Richtung Fahrertür gehen wollte, als ihm etwas am Reifenprofil auffiel.
Dort hing eine Art weißer Faden. Der Faden war mit anderen Fäden verbunden, die am Reifen hingen, im aufgewirbelten Laub und in der Erde. Von der Dicke her glichen sie Spinnenfäden und auch die Farbe sah ähnlich aus.
Aber was für eine Spinne musste das sein, die hier im Wald so viele Fäden auslegt. Jonas hatte zwar von Trichterspinnen gehört, die in den Erdboden ihre trichterförmigen Höhlen bauen, die aus Spinnenfäden bestehen, aber diese weißen Linien sahen viel zu verteilt aus und auch zu dick dafür.
Kurz überlegte er sich, die Fäden anzufassen, ob sie so klebrig wie Spinnenfäden waren, aber entschied sich dann dagegen. Was sollte ihm das nützen, zu erfahren, was das für ein Faden war.
Er setzte sich wieder ins Auto und fischte, bevor er wieder losfuhr die Schachtel mit den Ohrsteckern aus dem Fach der Beifahrertür. Nach einem kurzen Moment legte er die Schachtel auf den Beifahrersitz und fuhr in Richtung Grauenfels.
Die Landstraße vor ihm war wieder so dunkel und unbefahren wie zuvor. Doch das hielt nicht lange an, denn schon nach wenigen Metern kam ihm ein Auto entgegen. Die Scheinwerfer waren offenbar falsch eingestellt, denn das Licht blendete ihn und er konnte das Fahrzeug nicht erkennen, bis plötzlich über den weißen Leuchten zwei weitere blaue erschienen.
“Scheiße”, murmelte er.
Der Streifenwagen fuhr an ihm vorbei und, wie er es erwartet hatte, drehte er kurz hinter ihm um, nur um hinter ihm das Blaulicht wieder anzumachen.
Jonas fuhr rechts ran und kramte seinen Geldbeutel raus, wo der Führerschein und Personalausweis waren. Er hielt beide Dokumente bereit, als der Lichtstrahl einer Taschenlampe durch das seitliche Fahrerfenster in sein Wageninneres fiel.
Er kniff die Augen zusammen und suchte nach dem Knopf, um das Fenster elektrisch zu öffnen.
“Könnten Sie das Licht etwas zur Seite …?”, fragte Jonas unvollständig und blinzelte zu der Person neben ihm.
“Oh, Verzeihung”, sagte eine ihm bekannte Stimme höhnisch. “Schäfer, nicht wahr? Die brauch ich nich.” Er nickte in Richtung Führerschein und Personalausweis.
“Okay, Herr Meier”, erwiderte Jonas und wartete. Er würde nicht von sich aus irgendetwas sagen, wovon Meier vielleicht nichts wusste.
“Woher?”, fragte der knapp.
“Brettheim, von Bekannten.”
“Irgendwas aufgefallen auf dem Weg?”
Jonas hatte gedacht, Meier wäre wegen seiner Unachtsamkeit auf der Straße gekommen, aber wenn er mit klarem Verstand darüber nachdachte, könnte er das weder wissen, noch so schnell reagieren. Vermutlich fuhr er einer Gruppe Pilger hinterher?
“Bis eben war ich komplett alleine auf der Straße.”
“Kein Auto? Keine Menschen? Kein Wild?”
Wild? Wieso sollte er nach Wild fragen, wenn es um Pilger ging.
“Ich habe nichts davon gesehen, nein.”
Meier schaute einmal an der Fahrerseite des Autos entlang, ging dann vor den Wagen und sah sich die vordere Stoßstange an. Suchte er den dreckigen Reifen? Konnte er davon wissen? Aber Jonas war nur kurz vom Weg abgekommen. War das eine Straftat? Wieso kam es ihm so vor, als würde man ihn gleich überführen?
Ein weiterer Schritt in Richtung der Beifahrerseite. Noch ein Schritt, dann könnte er die gesamte Seite sehen. Er lehnte sich leicht nach vorne, um einen besseren Blick zu haben.
“Ach ja”, sagte Jonas laut und war selbst von seiner Stimme überrascht.
Meier kam zurück zu seinem offenen Fenster. “Mh?”
“Ich hatte vorhin die Fenster offen, um frische Luft zu schnappen und hatte etwas gehört wie quietschende Reifen und Hupen. Muss aber vor mir gewesen sein Richtung Grauenfels, weil gesehen hab ich nichts.”
Meier durchbohrte ihn kurz, dann schaute er die Straße Richtung Grauenfels entlang. Er schnalzte mit der Zunge und schaute zurück zu Jonas.
“Sie können weiter. Aber passen Se auf. Vielleicht sin irgendwo wieder diese Spinner unterwegs.”
“Ja, danke für die Warnung.”
Jonas kurbelte das Fenster nach oben und atmete erleichtert aus. Konnte es wirklich sein, dass Meier ihn gesucht hatte, weil er von der Straße abgekommen war?
Aber warum kam es ihm wie so eine ernste Sache vor?
Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, kam aber zu keinem Ergebnis.
“Erstmal sicher ankommen”, murmelte er zu sich selbst und startete den Motor.
Am nächsten Morgen wäre Jonas am liebsten im Bett liegen geblieben. Es war so viel passiert und alles erschien ihm wie eine im Fiebertraum durchlebte Achterbahn der Gefühle. Der Abend mit Josephine und Nils, dann fast ein Unfall, seltsame Fäden im Wald und ein Wiedersehen mit Meier.
Er atmete tief durch und machte sich auf den Weg in das angrenzende Gemeinschaftsbad. Während er sich frisch machte, überlegte er sich, wie er den Tag verbringen könnte.
Dieses Kaff hatte nicht gerade viel zu bieten, wenn man nicht unbedingt den Dämon besuchen wollte. Aber er konnte auch heute nicht schon weiter. Morgen Abend würde er den Abend bei Josephine verbringen und übermorgen kam der Pilger aus Hamburg.
Er schnappte sich sein Smartphone und schaute in die Pilgergruppe rund um Dämon. Fotos beim Einkaufen, Diskussionen über den letzten Stream, nichts all zu interessantes dabei. Während er sein Handy beiseite legte und seine Pläne nochmal im Kopf durchging, entschied er sich einkaufen zu gehen. Man konnte nie früh genug vorbereitet sein.
Sein Weg führte ihn erneut nach Brettheim. Diesmal allerdings zum dortigen Getränkemarkt. Er sollte einen Wein aussuchen, aber wusste nicht mal, ob rot oder weiß, lieblich oder trocken. Manchmal war es auch positiv, wenn man genau gesagt bekam, was man zu tun hatte, dachte er verbittert.
Am Ende hatte er gleich vier verschiedene Flaschen besorgt, falls gleich mehrere nicht Josephines Geschmack waren.
In der Nähe des Ladens war ein kleiner Kebabimbiss und auch, wenn er nicht der größte Verfechter war, kam es ihm gerade recht, um seinen größer werdenden Hunger zu stillen und sich wo auszuruhen.
Seine Gedanken waren die letzten paar Tage von einem Punkt zum nächsten gerast und als er sich auf einen der Plastikstühle setzte und auf sein Essen wartete, ging ihm erst nochmal durch den Kopf, wie absurd manches davon schien.
Wolfgang und seine Pilger hatten diesen Ort komplett verändert und auf eine seltsame Art und Weise unheimlich gemacht. Die Paranoia, die ganz offensichtlich bei jedem der Bewohner, vor allem aber bei Walter Meier vorhanden war, reichte bis hin zu der gefühlten Resignation, die sich in der Herberge durch den Verfall des Gebäudes und des Besitzers zeigte.
Mit dem Abstand, den er gerade hatte, konnte er zwar die Handlungen nachvollziehen, aber musste selbst staunen, was die Entscheidungen einer einzelnen Person für einen Rattenschwanz an Nachwirkungen hatten.
“Cheffe, was kommt drauf?”, fragte der Verkäufer hinter der Theke, ein mit Fleisch beladenes Fladenbrot in der Hand.
“Alles an Salat, die weiße Soße und ein bisschen vom scharfen Gewürz”, betete Jonas runter und stand auf, um seinen Döner entgegenzunehmen.
Als er sich setzte und gerade den ersten Bissen tat, öffnete sich die Tür wieder und zwei Jugendliche kamen herein. Eigentlich hatten beide nichts Auffälliges an sich. Weder Kleidung noch Aussehen wichen von der Norm ab, aber auf dem Rucksack von einem der beiden war ein kleiner Aufnäher angebracht, den man als Aufnäher einer Metalband hätte missverstehen können, aber dort stand in gut sichtbaren Lettern “Dämonenzeit!”.
Die beiden setzten sich nach dem Bestellen zwar nicht direkt neben Jonas, aber die Sitzfläche war so klein, dass er jedes Wort mitbekam.
“Schade, dass du es nich aufgenommen hast.”
“Freddy meinte ja, er machts. Aber ich hab kein Wort mehr von ihm gehört.”
“Son Spinner. Nimm diesmal aber auf. Ich will sehen wie Fetti sich blamiert.”
“Das is jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht. Hahaha!”
Jonas wandte sich seinem Döner zu. Auch wenn das Thema und dessen Auswirkungen einen gewissen Reiz hatte und er eine Art von Neugier aufkommen spürte, so langweilig empfand er das Drumherum. Einer der Pilger hatte es in der Chatgruppe gut auf den Punkt gebracht: “Wen interessiert der Dompteur, wenn der Bär erstmal tanzt?”
Die Pilger waren austauschbar und waren nur Mittel zum Zweck, um Wolfgang auf die Palme zu bringen und neuen Content für die eigene Gruppe zu liefern. Wen interessierte es da schon, wenn dieser Freddy nicht mehr Teil davon sein wollte.
Augenblicklich sog er scharf die Luft ein. Er verschluckte sich an dem Bissen, den er im Mund hatte und musste husten. Gab es so etwas wie verschwundene Pilger?
Er lauschte wieder den beiden Jugendlichen, aber die Themen waren inzwischen bei Musik und anderen Influencern angekommen, sodass Jonas sich nicht mehr die Mühe machte.
Im Auto nahm er erneut sein Smartphone in die Hand und wollte gerade eine Notiz aufnehmen, als er es wieder sinken ließ. Das war kein Todo auf der Arbeit und es war auch nicht so komplex, dass er es sofort vergessen würde.
Er könnte ohne Probleme in die Herberge fahren und sich darüber informieren. Ein weiterer Kaninchenbau zum Ergründen.
Sein Laptoplüfter arbeitete im Dauerbetrieb. Trotz des offenen Fensters war es so stickig und staubig, dass durchgehend kleine Flocken durch die Luft trieben, von der Abluft aufgewirbelt. Jonas hatte bereits die erste Suche hinter sich und schaute enttäuscht auf den Bildschirm.
Enttäuschung war bei dem Ergebnis vielleicht das falsche Gefühl, denn es war im Grunde ja eine gute Nachricht, aber es gab keinerlei Berichte oder Feststellungen von verschwundenen Pilgern.
Stutzig machte es ihn trotzdem. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Seine Gedanken kreisten um Freddy, der anscheinend nicht mehr auf einen der Pilger reagierte. Könnte einer der Pilger die Schillerhöhle entdeckt haben? Haben die Pilger vielleicht sogar das Schloss an der Höhle aufgeknackt?
Wenn er nach der Höhle direkt fragte, würde er damit Aufmerksamkeit darauf legen und laut des Bloggers, dessen Artikel die Schillerhöhle und die verschwundenen Personen behandelte, sollte man lieber niemanden in die Richtung schicken.
Kurze Zeit später nahm er wieder Platz und startete die Chatgruppe. Er startete bei den neusten Nachrichten und scrollte nach oben. Hier irgendwo musste es doch jemanden geben, der jemanden sucht oder wo jemand sich beschwert, dass ein anderer nicht mehr antwortet.
Jonas hatte fast schon aufgegeben, als er über eine Verlinkung stolperte, die nicht mehr funktionierte. Nichts Besonderes; Inhalte im Internet ändern sich, aber in diesem Fall zeigte der Link auf ein Social Media-Profil eines Users, der nicht mehr vorhanden war. Aus dem Link und dem Text, der dem Post beigelegt wurde, konnte er zumindest den Benutzernamen und die Tatsache, dass die Person ein Pilger war schlussfolgern.
Er vergewisserte sich kurz, dass er einen nichtssagenden, anonymen Benutzernamen verwendete und schrieb in die Gruppe: “Weiß jemand, wo GroßerZeh7 ist? Sein Profil wurde gelöscht.”
Es dauerte nur Sekunden, bis die ersten Antworten kamen.
“Lel, wahrscheinlich geblockt für dumme Fragen.”
“Herr Meier hat ihn geschnappt.”
“Ich bin net der Dämon, verdammte Axt!”
Zwischen Memes und Sarkasmus war nur wenig dabei, was tatsächlich aufschlussreich war, aber von ein paar Benutzern kamen tatsächlich gute Einfälle.
Einer meinte, dass vielleicht sein Arbeitgeber davon Wind bekommen hätte und er dem Stress mit der Personalabteilung präventiv aus dem Weg ging. Das war definitiv eine gute Begründung.
Ein anderer vermutete, dass es im persönlichen Umfeld vielleicht jemand mitbekommen haben könnte und er nicht als Asozialer dastehen wollte.
Die Erklärungen klangen schlüssig, aber wenn wirklich eine so große Angst davor herrschte, dass Umfeld oder Arbeit mitbekamen, wenn man den Dämon besuchen fuhr, könnte man ein Verschwinden dann überhaupt mitbekommen und auf die Region einschränken?
Seit der Streamer seine Arbeit angefangen hat und den Hass des halben Internets auf sich lenkte, gab es nur einen Verschwundenen und das war ein einheimischer Alkoholiker.
Was, wenn man von den anderen einfach nichts wusste und es immer noch genau so viele gab, wie früher?
Aber das war so lange her und die Zeiten haben sich geändert. Das wäre heute nicht mehr möglich, oder?
Jonas durchsuchte augenblicklich seinen Verlauf und öffnete den Blogartikel über die Schillerhöhle wieder. Der Autor hatte dankenswerterweise für einige der Fälle von Verschwundenen eine Verlinkung ans Ende des Textes gesetzt. Immer mehr in den Kaninchenbau, den er sich selbst zurechtlegte abtauchend, öffnete Jonas eine Verlinkung nach der anderen.
“Keiner aus Grauenfels…”, fasste er seine Erkenntnisse zusammen. Alle Opfer schienen aus anderen nahen oder sogar weit entfernten Orten zu kommen. Fast so als würden die Menschen nicht zufällig verschwinden, sondern entführt werden oder schlimmeres.
Es war gleichzeitig das perfekte Verbrechen.
Sorg dafür, dass dich die halbe Welt hasst und prahl mit deiner eigenen Adresse, während es öffentlich verpönt ist, an einem solchen Mobbing teilzunehmen. Die Leute werden trotzdem kommen, aber aus Angst vor sozialer Ausgrenzung nur ohne jemandem zu sagen, wo sie hingehen. Sie werden es automatisch selbst geheim halten und wenn man sich ihrer entledigt … Wer sollte es mitbekommen? Man weiß ja nicht mal, wo sie zuletzt waren.
In Jonas Kopf spann sich etwas zusammen, dass Grundlage für einen Thriller sein könnte, aber als er gerade selbst anfing, das Ganze für solide und realistisch zu halten, stoppte er sich und schüttelte den Kopf.
Was sollte das Motiv sein?
Kannibalismus? Serienmord? Satanische Rituale?
Er konnte sich unmöglich vorstellen, dass ein ganzes Dorf an einem dieser Dinge teilhaben würde und nicht mal eine einzige Person über ihren Schatten gesprungen ist und ihre Moral wiedergefunden hat.
Das hatte etwas von Verschwörungstheorien, bei denen so viele Menschen bei der Durchführung und Vertuschung beteiligt gewesen wären, dass sicher mindestens einer geplaudert hätte.
Er verglich noch einmal die Daten.
Die Personen verschwanden bis die Höhle verschlossen wurde. Diese Personen sind alle mit der Höhle erklärbar.
Kurz darauf fing der Dämon an, im Internet aktiv zu werden und seitdem ist nur eine Person verschwunden. Das war der Dorfalki, der sich wohl mit Pilgern gestritten hatte.
Es passte alles auch ohne große Verschwörung oder Thriller-Elemente.
Obwohl er sich längst selbst sicher war, dass er hier einem Phantom nachjagte, dass so nicht existierte, stöberte er immer tiefer in den verschiedenen Quellen, die ihm das Internet gab.
Als er merkte, dass seine Kehle trocken war und er sich etwas zu Trinken holen wollte, war es bereits am Dämmern, aber es gab immer noch den einen Punkt, den er nachschauen konnte und die eine Quelle, die er anklicken und durchlesen wollte.
Ein Schrei draußen brachte ihn schließlich soweit aus dem Konzept, dass er aufstand und aus dem Fenster sah. Von der Herberge aus konnte er zwar die Straße überblicken, aber das Haus des Influencers befand sich hinter ein paar weiteren Kurven und das einzige, was er mitbekam war das, was die kühler werdende Nachtluft ihm an Schallwellen zutrug.
“Dämonenzeit, du Vierteltonner!”, rief eine junge Männerstimme durch die Nacht. Die einzige Antwort war das Bellen eines Hundes aus einer anderen Richtung. Dann ein Scheppern und Quietschen. Vermutlich hatte der Pilger angefangen, an dem instabilen Zaun des Dämons zu rütteln.
“Komm raus! Du sagst doch immer, du bist so stark und unbesiegbar!”
“AARGH!” Eine andere Stimme. Vermutlich der Dämon selbst. “Des war mei Scheib, du verdammtes Arschloch!”
Ein Knallen. Flog etwas gegen die Wand? Nein, es klang mehr, als sei eine Tür zugeknallt worden. Dann kurz Stille.
“Komm raus! Der Zaun schützt dich nicht mal vor ’nem Windstoß!” Wieder der Pilger, der die Stille durchbrach.
Der Dämon antwortete, aber es war nur ein leises Brummen in der Nacht.
“Als ob! Brauch ich gar nicht, gegen sowas wie dich!”
Wieder das leise Brummen. Dann Gelächter.
“Dann komm raus, Wolli. Du darfst auch anfangen. Drei Schläge geb ich dir!”
“… immer noch DÄMON!” Der Influencer begann die Lautstärke ebenfalls zu steigern, dann Stille, Scheppern und Quietschen.
Jonas wandte sich vom Fenster ab. Das war keine Situation, zu der er wie zufällig hinzukommen konnte, aber es schien auch nicht komplett zu eskalieren. Die normale Gewalt- und Schreispirale im Dämongame drehte sich und führte tiefer und tiefer ins Verderben, bis es irgendwann eine von beiden Seiten übertrieb und es für alle endete.
Es war inzwischen Jonas feste Überzeugung, dass das Spiel zwischen Pilger und Dämon so lange andauern würde, bis eine Seite unfähig dazu war, weiter zu machen. Und da es schier unendlich viele nachkommende Pilger gab, war die einzige Möglichkeit, dass Wolfgang aufhörte, in den Knast ging oder starb.
Wieder Scheppern und Rufe. Jonas hörte nicht mehr zu. Jetzt, wo er nicht mehr am Laptop saß, bemerkte er langsam, wie die Müdigkeit ihn überkam.
Trotz der stickigen Luft im Zimmer und den im Licht des Laptops umherschweifenden Staubflocken, schloss er das Fenster, um den größten Teil des Lärms draußen auszublenden. Erstaunlich schnell fand er schließlich seinen Schlaf.
Er fand sich auf dem Radweg von Islingen nach Grauenfels wieder. Seine Füße traten in die Pedale, um mit dem Fahrrad vor ihm mitzuhalten. Es war ein Jugendlicher, der dort vor ihm fuhr, aber er schien nicht kleiner zu sein als Jonas. Im Gegenteil war die Person vor ihm größer.
Er kannte ihn. Damals vor so vielen Jahren. Aber jetzt wusste er den Namen nicht mehr. Was er aber ganz genau wusste, war was an diesem Tag passieren würde. Es war der Tag, als Jonas und seine Freunde als Mutprobe sich der Schillerhöhle stellten.
Rechts von ihm fuhr grade ein Mähdrescher über die Felder und brachte nicht nur den Geruch von frisch gemähtem Getreide, sondern auch ein Hintergrundrauschen, das er mit dem Beginn der Sommerferien verband.
Jonas sah in Richtung des Ziels, hinter den Feldern, wo der Radweg sich spaltet und während es geradeaus weiter nach Grauenfels ging, führte der Weg rechts die beiden Jungen zwischen Feld und Waldstück zum Fuß des Hanges, auf dem der Wald wuchs. Dort waren die Felsen des kleinen Hügels zu sehen und inmitten des Gesteins war eine Öffnung.
Jedes Kind wusste, dass das die Schillerhöhle war.
Es war alles wie in seiner Erinnerung. Der Weg, das Rad, die Freunde, der Mähdrescher, der Geruch und das ewige Dröhnen des Motors und Surren. Aber eine Kleinigkeit war anders.
Als die Höhle in Jonas Sichtweite kam, sah er dass das Gitter am Eingang angebracht war. Ein Windstoß kam auf und ließ das Gitter leicht hin und herwackeln, als wäre der Windstoß aus der Höhle gekommen.
Noch ein Windstoß und das Gitter wackelte. Gleichmäßig, immer wieder. Wie der faulige Atem eines Ungeheuers, das in der Höhle sein Nest gebaut hatte.
Der Jugendliche vor ihm stieg vom Rad und sagte etwas zu ihm, aber es kam nicht an seine Ohren. Er bewegte nur seinen Mund.
Jonas spürte, wie sich sein Mund zur Antwort ebenfalls bewegte, aber auch das hörte er nicht. Er hörte weiterhin das Dröhnen des Mähdreschers, als würde er direkt neben ihm stehen. Als sei er selbst nur ein Beobachter an einer ungünstigen Position und bekam den Ton nicht mit und musste sich mit dem Bild begnügen.
Nachdem die Jungs miteinander gesprochen hatten und noch andere dazugestoßen waren, machten sie sich auf in Richtung Höhle. Jonas war der Letzte in der Reihe.
Er sah, wie die Jungs vor ihm, wie in seiner Erinnerung sich verstohlen umsahen und dann in die Höhle schlüpften. Sie ignorierten das Gitter und liefen hindurch, als sei es nicht hier.
Als Jonas selbst vor dem Gitter stand, streckte er seine Hand danach aus und sah seine erwachsene Hand den Stab umgreifen, während eine Gestalt durch ihn und das Gitter hindurch in die Höhle schlüpfte; sein junges Selbst.
Die Jungs unterhielten sich, aber kein Ton kam bei ihm an. Aber ein anderes Flüstern schlich sich langsam an sein Ohr. Es kam aus der Höhle. Es war eine liebliche Stimme. War es überhaupt eine Stimme?
Er zog am Gitter, um es zu öffnen und es den Jugendlichen gleichzutun, aber das Vorhängeschloss hinderte ihn daran. Er zog und rüttelte, aber nichts tat sich.
Das Flüstern wurde lauter. Keine Worte, keine echten Laute, aber so klar in seinem Kopf, als wären es seine eigenen Gedanken. Er wollte in diese Höhle.
Er ging einen Schritt vom Gitter weg und trat fest dagegen. Seine Schuhsohle traf die Metallstäbe und er spürte einen pochenden Schmerz im Fußgelenk. Aber er trat erneut zu. Und noch einmal.
Das Gitter wackelte, bebte und klapperte, aber das Schloss hielt.
Jonas sank auf die Knie und begann beide Hände zu ballen und gegen das Gitter zu schlagen, aber es rührte sich nicht und nach den zweiten Schlag begann der Schmerz in seinen Händen. Er schlug wieder. Und wieder.
Vor Unfähigkeit etwas an seiner Situation zu ändern, holte er tief Luft und schrie sich die Frustration von der Seele.
Er saß aufrecht im Bett. Sein Körper war schweißnass. Seine Atmung war flach und viel zu schnell. Er versuchte sich zu beruhigen und merkte, wie schwer er Luft bekam.
Jonas stand schnell auf, hustete und lief vorgebeugt zu dem geschlossenen Fenster. Er öffnete es und nahm drei tiefe Züge der frischen Nachtluft, was ihm sein Körper sofort dankte. Der Hustenreiz wurde weniger und seine Anspannung ließ nach.
“Mein Gott, ist das stickig hier”, murmelte er.
Er versuchte sich an seinen Traum zu erinnern. Er hatte geträumt, wie er als Kind zur Schillerhöhle gegangen war, aber etwas war anders. Was es war, wusste er nicht mehr.
Bestimmt hatte er sich viel zu viel mit diesen komischen Vorkommnissen in der Höhle und in Grauenfels allgemein beschäftigt und jetzt dankte es ihm sein Kopf mit einem Traum darüber. Und bei der Luft im Zimmer, oder eher Abwesenheit von Luft, war es klar, dass es zu einem Albtraum wurde.
Das musste passiert sein.
Er ließ das Fenster offen und legte sich aufs Bett zurück. Er war zwar aus seinem Schlaf gerissen worden und sein Kopf war kurz überall und nirgendwo, aber er merkte, dass es noch immer recht früh in der Nacht sein musste.
Seine Gedanken kreisten aber noch immer um das Ungeheuer in der Schillerhöhle und die vielen Verschwundenen, sodass er kurzerhand das Smartphone entsperrte und irgendein langes Video über belanglose, lustige Themen abspielte. Es schien ein Podcast zu sein, aber das war Jonas vollkommen egal.
Er schloss die Augen, hörte auf die Stimmen und versuchte sich einfach auf das zu konzentrieren, was sie sagte und nicht das, was in seinem Kopf vor sich ging.
Am nächsten Morgen wachte Jonas mit Nacken- und Rückenschmerzen auf. Nicht, dass das etwas vollkommen unbekanntes für ihn war, aber das unbequeme Bett, der schlechte Schlaf und der Albtraum hatten dafür gesorgt, dass er sich komplett falsch hingelegt hatte und sich über die Restnacht verspannte.
Mit einem Stöhnen setzte er sich auf und streckte sich. Sein Smartphone lag neben seinem Kopfkissen und hatte sich inzwischen abgeschaltet. Als er es entsperrte, fiel ihm auf, dass er den Wecker wohl unterbewusst weggeklickt haben musste. Es war bereits nach zehn Uhr und er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so lange geschlafen hatte.
Während er seine Sachen aufsammelte, die er im Badezimmer brauchen würde, fiel sein Blick auf das Fenster. Es war auf Kipp.
Hatte er das Fenster nicht in der Nacht komplett geöffnet?
Vielleicht hatte er es wieder halb geschlossen, als er auch den Wecker ausgemacht hatte?
Jonas begutachtete alles, was er gestern verwendet hatte. Sein Laptop, der Schreibtisch und Schreibtischstuhl, seine Kleidung, … der Stuhl?
Jonas sah ihn sich an. Normalerweise stellte er den Stuhl immer bis zum Anschlag an den Schreibtisch. Das hatte er sich zu Hause angewöhnt, weil es sonst Ärger von Mia gab und diese Marotte war sogar eine Quelle des Hohnes unter seinen ehemaligen Kollegen, wenn er doch mal ins Büro fuhr.
Jetzt aber war der Stuhl mit leichtem Abstand vom Tisch und minimal schräg gestellt worden., als wäre jemand aufgestanden und hätte ihn so stehen lassen.
Sein Blick huschte nochmal durch alle Ecken des Zimmers und er vergewisserte sich, dass er nicht beobachtet wurde. Ein kalter Schauer zog ihm über den Rücken und er widerstand dem Drang, seine Schultern zusammenzuziehen.
Zwei Sätze frische Kleidung und die Hygieneartikel ließ er im Zimmer, den Rest verstaute er in seinem Laptoprucksack und der Sporttasche. Die paar Dinge, die er hierließ, sollten als Alibi reichen, damit man wusste, dass das Zimmer in Benutzung war, aber der innere Drang, so schnell wie möglich alles im Auto zu haben und bereit zu sein, jederzeit von Grauenfels zu verschwinden, wuchs rasant an.
Du hast bestimmt nur vergessen, den Stuhl wieder hinzustellen, weil du vom Pilger und dem Dämon abgelenkt wurdest und hast im Halbschlaf das Fenster geöffnet, sagte er sich selbst, um sich zu beruhigen. Doch nicht mal er selbst glaubte sich.
Er nahm beide Taschen an sich und schloss sie mit im Badezimmer ein, während er sich frisch machte.
Als er an seinem Auto ankam und die Taschen in den Kofferraum lud, kam es ihm vor, als sei eine große Last von ihm gefallen. Grauenfels um ihn herum war nicht so schön, wie er es in Erinnerung hatte, aber es war ruhig. Die Luft war frisch. Und keine Menschenseele war zu sehen.
Jonas Weg führte ihn zuerst direkt zur Bäckerei. Nicht nur, dass er sich darauf freute, Josephine wiederzusehen, aber es war auch der einzige Ort, an dem er einen Kaffee bekam, dem er auch über den Weg traute. Wie immer war nicht viel los in der Backstube und Josephine sah ihn bereits beim Reingehen.
“Guten Morgen Jonas. Was darf’s zu deinem Kaffee sein?” Sie lächelte ihn an.
“Guten Morgen. Eine einfache Brezel würde mir schon reichen.”
“Bist du vorgestern noch gut heimgekommen?” Der Kaffee lief durch und Josephine fragte ihn, ohne sich umzudrehen. Er war froh darüber, denn er war sich nicht sicher, ob er eine solche Lüge vor Josephine verbergen könnte.
“Ja, es war ein schöner Abend. Danke nochmal.”
“Fand ich auch. Und ich freue mich, wenn wir das heute Abend wiederholen.” Sie drehte sich um und reichte ihm Kaffee und Brezel mit einem Zwinkern.
Während Jonas seine Brezel aß, plauderten die beiden über dies und das bis die Bäckereitür sich öffnete. Jonas sah auf und bemerkte, wie Renate den Raum betrat. Sie nickte ihm grüßend zu und ging an die Theke.
Diesmal wandte er sich vollkommen seinen letzten Schlücken Kaffee zu und ignorierte Renate und den modrigen Duft alter Leute. Bevor er seine Tasse geleert hatte, war sie schon wieder gegangen.
Aber eine Sache war ihm wieder in den Kopf gekommen. Er sah zu Josephine hinüber, die gerade ein paar Backwaren in der Auslage sortierte.
“Nils hatte sich über ihren Geruch beschwert, oder?”
“Es ist vermutlich wie du sagst und er hat einfach eine empfindliche Nase”, erwiderte Josephine nach einem kurzen Seufzen.
“Das meinte ich nicht, aber weißt du, ob er das gleiche über andere sagt?”
“Walter Meier, Rudi vom Gasthaus, ein paar Leute in der Nähe vom Brettheimer Bahnhof. Ich habe keine Liste geführt, aber er hat sich schon oft darüber beschwert.”
“Oh, auch Leute, die nicht aus Grauenfels kommen … mh.” Jonas dachte erst, er wäre etwas auf die Spur gekommen, aber wenn es auch Leute aus Brettheim oder von anderen Orten betraf, dann war da wohl wirklich nichts hinter. Es ist eben nur ein Kind mit einer empfindlichen Nase.
Nach weiteren mehreren Minuten des Smalltalks war Jonas gerade auf dem Weg die Bäckerei zu verlassen, als er sich nochmal umdrehte.
“Gibt es noch etwas, was ich mitbringen kann heute Abend?”
“Außer dem Wein? Eigentlich nicht. Ich sorge für alles.”
“Okay, ich freue mich schon.”
Jonas verließ die Bäckerei und setzte sich in sein Auto.
Seit er Renate wieder gesehen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, was Nils gesagt hatte. Er war sich bewusst, dass da nichts dran war, wenn er sich auch über Brettheimer beschwert hatte, aber was wenn es wirklich etwas mit dem Geruch der bösen Menschen auf sich hatte, wie Nils es beschrieben hatte.
Gab es irgendeine Verbindung?
Jonas rief sich alle Personen vor sein inneres Auge, die er von der Aufzählung Josephines kannte:
Renate. Typischer muffiger Geruch von alten Leuten, ist alt und kann sich vermutlich nicht mehr so pflegen wie früher.
Walter Meier. Scheint neben dem Dienst noch weiter in der gleichen Dienstkleidung private Streife zu fahren und riecht deshalb vielleicht.
Herbergsvater. Hat mit dem Aufkommen der Pilger die Instandhaltung seines Hauses und in Folge dessen seine eigene vernachlässigt.
Wolfgang. Einfach ungepflegtes Haus und Äußeres. Jonas wusste nicht einmal, ob das je anders war.
Jede von diesen Personen hatte eine einleuchtende Begründung, warum sich ihr Geruch geändert haben könnte oder sie sich nicht ausreichend pflegten. Es gab keine mystische Bedeutung, die über allem stand.
Außerdem würde er ohnehin in wenigen Tagen diesen Ort hinter sich lassen, noch einmal das Gespräch mit seinen Eltern suchen und dann wieder so weit wie möglich weg. Raus aus der Gegend, sogar raus aus dem Bundesland.
Sein Blick fiel auf seinen Beifahrersitz, wo noch immer das Kästchen mit den Ohrsteckern lag, die er für Mia gekauft hatte. Aber seine Gedanken waren nicht mehr bei Mia, als er den Deckel öffnete und sich die kleinen goldenen Ohrstecker genauer ansah.
Jonas fragte sich viel eher, ob die Stecker auch Josephine gefallen könnten. Wenn er darüber nachdachte, wie sehr er sie bereits ins Herz geschlossen hatte, musste er grinsen. Er schaute noch einmal auf und sah, dass sie gerade in der Bäckerei telefonierte.
Er startete den Motor und fuhr los in Richtung Brettheim. Doch sein Ziel war vorerst die Strecke zwischen Brettheim und Grauenfels. Eine Sache hatte ihn noch nicht losgelassen und das waren diese seltsamen Fäden im Wald.
Den Rest des Tages bis zum Abendessen bei Josephine würde er dafür nutzen, sich nochmal im Waldstück zwischen Brettheim und Grauenfels umzuschauen.
In der Nähe der Stelle, wo er das letzte Mal die Kontrolle über das Auto verloren hatte, gab es eine kleine Einbuchtung an der Straßenseite. Er stellte seinen Wagen dort ab und stieg aus. Obwohl es gestern und heute nicht geregnet hatte, lag immer noch der Geruch von nassem Laub in der Luft, der in Wäldern oft umgeht.
Ein kleiner Trampelpfad führte in der Nähe seines Autos in das Dickicht aus Bäumen und Jonas verlor keine Zeit, dem Weg zu folgen, den Blick immer wieder auf den Boden gerichtet, um mögliche Spuren der weißen Fäden zu sehen.
Als er einige Meter in den Wald gegangen war, blieb er stehen und ging in die Hocke. Der Boden bestand aus feuchten Laub, Erde, Ästen und unregelmäßig aus der Erde hervorsprießenden Grashalmen.
Jonas griff eines der dickeren Büschel des Grases und zog sie mit Leichtigkeit komplett samt Wurzel heraus. Die Erde war so aufgelockert und weich, dass er keinen Widerstand spürte. Danach entfernte er um das entstandene kleine Loch dass Laub mit den Händen und sah sich die Erde an.
Bisher alles normal, aber als er auch die Erde zur Seite schob, fielen ihm wieder die kleinen weißen Fäden auf. Es sah fast mehr aus wie eine dünne Wurzel, als ein echter Faden. Auf jeden Fall nichts künstliches, sondern ein Naturprodukt.
Er nahm einen der Fäden zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte zusammen, rieb daran und prüfte, wie stabil sein Fund war.
Seine erste Vermutung schien sich zu bestätigen. Es waren wirklich Wurzeln oder zumindest war das das, was seiner Meinung nach am nächsten drankam.
Ein Blick in Richtung der Straße und Jonas schätzte, dass er mindestens 200 Meter von der Stelle entfernt war, an der er in der Nacht die gleichen Wurzeln gefunden hatte. Er sah sich um und sah einen weiteren kleinen Weg auf der anderen Straßenseite zwischen die dort wachsenden Bäume zu führen.
Wenn es einfach nur irgendwelche Wurzeln waren, war das wieder etwas, bei dem er sich unnötige Gedanken zu machen schien, aber was ihn irritierte, war die Tatsache, dass er kein Gewächs gesehen hatte, dass an dem Wurzelwerk zu hängen schien. Und das weder beim ersten Mal noch dieses Mal.
Warum wuchsen die gleichen Wurzeln ohne offensichtlich dazugehörige Pflanze an mehreren Stellen im Wald?
Auf der anderen Straßenseite machte er die gleiche Entdeckung. Wieder fand er die weißen Wurzeln direkt unter den ersten dünnen Schichten von Erde und Laub.
Handelte es sich vielleicht um eine Art parasitärer Pflanze?
Wie sonst konnte sie sich so stark verbreiten, ohne sichtbare Pflanzenbestandteile über der Erde und Möglichkeiten der Pollenweitergabe?
Jonas drehte sich wieder um in Richtung Straße und machte sich auf den Weg zu seinem Auto, aber bevor er den Wald verlassen hatte, fiel ihm ein weiterer geparkter Wagen neben seinem auf und ein Mann lehnte mit verschränkten Armen an der Karossiere.
Er unterdrückte sich ein genervtes Schnaufen, während er in Richtung des Polizisten ging. Er zwang sich zu seinem nettesten, aber gleichzeitig unschuldigsten Lächeln. Auch wenn ihm nicht bewusst war, warum er sich schuldig fühlen sollte.
“Hallo Herr Meier. Auch unterwegs im Grünen?”
“Schäfer”, begrüßte ihn der Polizist knapp und ging einen Schritt vom Wagen weg auf ihn zu. “Viel unterwegs sind Se, mh?”
“Wenn ich schon in der Gegend bin, möchte ich einfach viel mitnehmen und sehen. Ich bin ja so schnell wieder weg”, fügte er in einem Versuch der Besänftigung hinzu.
“Da ham Se recht. Das kann schneller gehn, als man denkt.”
“Deshalb würde ich dann auch weiter…”, fing Jonas an und griff nach dem Türgriff, aber die Hand des Polizisten war schneller und blockierte ihn.
“Was machen Se hier im Nirgendwo?”
“Ich … wie gesagt, bin ich hier aufgewachsen und besuche meine Eltern.”
“Nich hier in der Gegend. Was machen Se hier in diesem Wald?” In der Frage schwang etwas Ungeduldiges und Genervtes mit.
“Ich wollte nach Brettheim, hatte aber zwischendrin das Bedürfnis, ein paar Schritte zu laufen.”
“Un dabei ham Se unsern halben Grund umgegraben?” Meier nickte in Richtung der dreckigen Hände, die Jonas vom Entfernen von Laub und Erde hatte.
Jonas sagte nichts. Es gab nicht viel, was er entgegnen könnte, was sinnvoll war und ihn entlastete. Offenbar hatte Meier etwas dagegen, dass er den Waldboden umgrub und das hatte er getan.
Bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, wie er ihm antworten könnte, schob sich Meier komplett zwischen Jonas und die Fahrertür. Er konnte den ungewaschenen, fauligen Geruch des Mannes und seiner Dienstkleidung riechen.
“Sie kommen doch vom Dorf. Sie sollten wissen, wie wir die Dinge gern klärn und was passiert, wenn sich jemand von außen einmischt.”
“Ich mische mich ja nicht …”
“Denken Se dran, dass diese Arschlöcher zu uns ins Dorf kommen und unsere Ruhe stören. Wir regeln das auf uns’re Weise und brauchen dafür weder Presse, noch Schnüffler.”
Beim letzten Satz war Meier einen halben Schritt auf Jonas zugegangen. Wenn er den Arm ausstrecken wollte, würde er jetzt direkt den Polizisten treffen.
“Ich denke, es gab hier ein Missverständnis. Ich habe ja nicht …” Wieder unterbrach Meier ihn, diesmal energischer.
“Lügen Se mich nich an!” Seine Hände wanderten schnell, aber nicht unbedacht an seine Hüfte. “Ich weiß nich, was ihr Ziel is, aber das muss ja auch nich …” Diesmal wurde Meier unterbrochen. Eine Hand am Gürtel, die andere an der Dienstwaffe war er wie erstarrt, als der Klingelton von Jonas Handy ihn übertönte.
“Arbeit”, sagte Jonas knapp und zog das Handy hervor, das tatsächlich Marcos Namen anzeigte. Wer hätte es aber auch sonst sein sollen.
“Wenn die anrufen, wird es ein Notfall sein. Darf ich kurz?”, frage er und zeigte auf das Smartphone.
Meier nickte.
Jonas ging an den Apparat mit deutlich zu starkem Herzpochen.
“Hi Jonas, zum Glück gehst du noch ran. Erinnerst du dich an…”, hörter er durchs Telefon, unterbrach Marco aber schnell.
“Hi Marco, ja genau noch in Grauenfels, aber ich komm bald wieder”, warf er ein und machte eine Pause. Ein kurzes Schweigen folgte. Damit hatte Marco offenbar nicht gerechnet.
“Du kommst wieder? Wirklich? Das muss ich direkt Kalle sagen, der wird Freudensprünge machen. Aber warum ich anrufe: Erinnerst du dich an die Doku zu …”
Jonas hörte kaum noch zu. Nachdem er den Namen des Orts genannt hatte, hatte Meier mit der Zunge geschnalzt und ihn gemustert, nur um sich wegzudrehen und in Richtung des Streifenwagens zu gehen. Er blickte sich noch einmal zu Jonas um, wie um sicherzugehen, dass er wirklich telefonierte, dann setzte er sich in sein Auto und fuhr davon.
Den Rest des Gesprächs bekam Jonas kaum mit. Er atmete erleichtert aus, lehnte sich an sein Auto und stieg dann schnell ein, alles während Marco noch weiter versuchte mit ihm zu reden.
“Hör zu Marco. Schick es mir per Mail. Ich versuche, dir alles zukommen zu lassen, was du brauchst und ich fange gerne wieder bei euch an, sobald sich hier alles gelegt hat. Du hast was gut bei mir.”
“Ich bei dir?”, frage Marco sichtlich belustigt nach. Jonas hätte am liebsten gesagt, dass er ihm sein Leben verdanke, aber das fühlte sich seltsam an. Stattdessen entschloss er, das Gespräch zu beenden.
“Wir hören uns. Danke!”
“Warte. Ich brauch…”, hörte er Marco noch sagen, bevor er das Telefonat beendet hatte.
Jonas saß noch eine Weile am Seitenstreifen und überlegte sich, wie er weiter vorgehen wollte. Zwei Dinge waren sicher für ihn: Er musste sich in Brettheim eine Unterkunft suchen und sich die notwendigen Gegenstände wie Zahnbürste, Zahnpasta und Duschgel nochmal neu kaufen. Er wollte sicherlich nicht nochmal in die Herberge. Und das zweite war, dass er irgendwie Josephine überzeugen musste, Brettheim und vor allem Grauenfels hinter sich zu lassen.
Er wusste auch, dass er sich nicht unnötigerweise mit Meier anlegen musste, aber gleichzeitig wollte er sich nicht einschüchtern lassen.
Könnte er morgen immer noch den Besuch der Pilger miterleben oder sollte er lieber nicht mehr nach Grauenfels fahren?
Während seine Gedanken von einem Thema zum nächsten sprangen, startete er wieder den Motor seines Autos und fuhr weiter in Richtung Brettheim.
Keiner verstand ihn. Nicht die Erwachsenen, nicht die großen Kinder, nicht die Lehrer.
Wenn er sagte, dass die bösen Leute stinken, lachten sie oder guckten ihn komisch an.
„Du kannst doch nicht Leute nicht mögen, nur weil sie riechen!“, sagten sie. Aber das war nicht wahr.
Es war nur so: Immer, wenn er diesen Geruch in der Nase hatte, dann konnte er es sehen. Das Monster.
Es sprach nicht mit Worten, aber es rief ihn. Es wollte, dass er kommt. Aber er wusste auch: Das Monster hatte Hunger.
Wenn er den Geruch nicht roch, war alles gut. Dann kam das Monster nicht. Aber diese Leute, die so rochen – die gingen freiwillig zu ihm. Er wusste es einfach.
Warum verstand das denn keiner?
Er hatte es Mama so oft gesagt. Aber sie meinte immer nur: „Es gibt keine Monster.“
Sie hatte mit ihm im Schrank nachgeguckt, unter dem Bett, sie hatte ihm sogar ein Nachtlicht gekauft. Aber das brachte doch nichts!
Das Monster war nicht in der Wohnung. Es kam nur, wenn die bösen Leute da waren.
Er hatte keine Angst im Dunkeln. Keine Angst vor einem Monster unterm Bett.
Er wollte einfach nur nicht, dass sie ihn holen und zu dem Monster bringen.
Nie wieder wollte er diesen Geruch riechen.
Den Geruch, der die Leute so anders machte.
Den Geruch, der nach Monster roch.
Den Geruch von Grauenfels.
Jonas fluchte innerlich, während er die Herberge in Grauenfels betrat. In Brettheim hatte er leider keine Unterkunft mehr finden können und so war er zurück nach Grauenfels gefahren, um sich nochmal frisch zu machen, bevor er sich auf den Weg zu Josephine machte.
Der Schankraum war leer und auch im Durchgang zu der Treppe war er alleine, was ihn erleichterte. Er hatte sich zwar eingeredet, dass niemand in seinem Zimmer war während er schlief, aber seine Überzeugungskraft sich selbst gegenüber nahm in den letzten Tagen rapide ab. Inzwischen glaubte er sich vieles nicht mehr.
Er schloss das Zimmer auf, das er angemietet hatte und sah sich kurz um. Fast hatte er gedacht, er würde jemanden auf frischer Tat ertappen, aber der Raum sah so aus, wie er ihn verlassen hatte.
Schnell schnappte er sich seine Sachen und sprang unter die Dusche.
Er dachte, er hätte das Badezimmerfenster nach seiner morgendlichen Dusche geöffnet, aber jetzt war es geschlossen und die feuchte, warme Luft eines vorausgegangenen Duschvorgangs hing noch immer im Zimmer. Vielleicht hatte sich noch eine weitere Person eingemietet und deshalb war es so stickig.
Als das heiße Wasser die Duschwann traf und den Abfluss neu befeuchtete, stieg ein Geruch von Schimmel in seine Nase. Das letzte Mal, sagte er sich. Wenn er noch eine Nacht irgendwo verbringen würde, dann wäre das bei Josephine - sie würde ihn ja kaum angetrunken mit dem Auto wegschicken - oder notfalls wieder im Gasthaus in Islingen.
Ein wenig benebelt verließ er die Dusche. Ihm wurde kurz schwindlig und alles drehte sich um ihn herum. Er griff nach der Wand der Duschkabine und konnte sich gerade so noch auf den Beinen halten.
An der Wand entlang tastend, ging er langsam in Richtung des gekippten Fensters, öffnete es ganz und nahm einen tiefen Zug der frischen Luft. Sein Schwindel löste sich langsam und er konnte wieder klar sehen.
Könnte das am Schimmel liegen? An der stickigen feuchten Luft? Eine Kombination von beidem?
Wieder im Auto angekommen, kramte er schnell seinen Laptop aus dem Kofferraum und kümmerte sich um Marcos Anfrage. Die angefragten Dokus hatte er eigentlich alle im Firmennetzwerk hinterlegt, aber vermutlich fand man die Ablageorte nicht mehr.
Sein VPN-Zugang war natürlich wieder nicht gesperrt und so konnte er ohne Probleme alle Dateien finden und Marco zukommen lassen.
Mit allen Aufgaben fertig, wollte er gerade den Motor starten und losfahren, als er ohne triftigen Grund nochmal einen Blick in Richtung der Herberge warf. An einem der Fenster wurde der Vorhang zur Seite gehalten und schnell fallen gelassen, als er nach oben schaute.
Es ging so schnell, dass er sich erst nicht sicher war, ob wirklich jemand am Fenster stand, aber die Gardine, die sich leicht bewegte, war Beweis genug.
Er sah sich von außen die Fenster an und war kurz verwirrt, starrte erneut und zählte mit den Fingern ab. Wenn er sich auch beim dritten Mal Zählen nicht vertan hatte, war das in dem Zimmer, welches er selbst angemietet hatte.
Jonas startete den Motor und fuhr die Straße Richtung Brettheim entlang. An der nächsten Kreuzung hielt er an und ließ einen Mann mittleren Alters die Straße überqueren. Der Mann war erst losgegangen, als Jonas in seine Richtung unterwegs war. Als wäre er in Gedanken gewesen und erst das Motorengeräusch von Jonas Wagen brachte ihn wieder in die Realität zurück.
Der Blick des Mannes fiel auf Jonas und es fühlte sich ein paar Sekunden zu lange an. Gerade so lange, dass man in Frage stellte, ob man etwas im Gesicht hatte oder die Person kannte. Jonas fröstelte leicht, wandte den Blick aber von der anderen Person ab und fuhr weiter die Straße entlang.
Ein bisschen Paranoia und Ablehnung gegenüber Fremden sollte normal sein in Grauenfels, sagte er sich.
Lange sah er die kleine Schatulle an, bevor er sich entschied, sie im Auto zu lassen. Falls Josephine ihn wirklich mochte und sie mit ihm von hier fortging, könnte er ihr die Ohrstecker immer noch geben. Aber es erschien ihm etwas seltsam, sie zu ihrem ersten Abend in Zweisamkeit mitzubringen. Dafür kannten sie sich noch nicht lange genug oder gut genug.
Er nahm nur die vier Flaschen Wein aus dem Kofferraum, zusammen mit einer Schachtel Pralinen und klingelte. Zu seiner Verwunderung hörte er Nils Stimme antworten.
Oben angekommen, empfing ihn Josephine in einer schlichten Bluse und einer Skinny Jeans. “Hey Jonas, die Pläne der Schule haben sich leicht verändert, angeblich Probleme mit der Schulkantine, und deshalb sollen alle erst zu Hause zu Abend essen und ich bringe ihn später weg”, begrüßte sie ihn entschuldigend. “Ich hoffe, das ist kein Problem für dich.”
“Hallo Josephine. Natürlich nicht. Ist doch viel schöner zu dritt.” Jonas bemerkte verwundert selbst, dass es sich dabei um seine wirkliche Meinung handelte. Er mochte Nils und so würde es beim Essen weniger peinliche Stillen geben. Hoffte er zumindest.
“Du bist der Beste. Setz dich doch schon mal ins Wohnzimmer. Ich bin noch in der Küche.” Nach diesen Worten gab sie ihm einen kleinen Kuss auf die Wange und verschwand wieder in der Wohnung. Jonas war froh, dass er in Ruhe alleine seine Schuhe ausziehen konnte und hoffte, dass bis er in der Wohnung war, seine roten Ohren sich wieder kühler anfühlten.
Nils saß bereits auf dem Sofa. Anstelle des Tablets, welches Jonas erwartet hatte, hatte er aber ein Schulbuch in der Hand.
Grundschulmathematik. Jonas atmete leise erleichtert auf. Falls Nils fragen hatte, traute er sich eher zu bei Mathe zu helfen, als bei Deutsch oder Heimat- und Sachkunde. Er konnte sicher korrektes Deutsch verwenden, aber wenn es um Silbenklatschen oder korrektes Vorgehen für die Bestimmung einer Wortendung ging, dann traute er sich nicht zu, wirklich zu unterstützen.
Er setzte sich neben Nils und schielte leicht ins Buch.
“Na? Hausaufgaben noch nicht fertig?”
“Hausaufgaben schon, aber jetzt muss ich Textaufgaben machen mit Mal.” Er zeigte auf eine Aufgabe im Buch. Dort war der Preis für ein Brötchen angegeben und es sollten mehrere Brötchen gekauft werden.
Nachdem Jonas mit Nils drei der Aufgaben besprochen hatte, klappte der Junge das Buch zu. Er strahlte Jonas an. “Danke. Mama hat gesagt, ich muss die Aufgaben verstehen bis morgen, sonst darf ich nicht zu Tim zum Spielen.”
“Sehr schön, dann kannst du ja jetzt am Wochenende auf jeden Fall zu Tim.”
Nils nickte, legte das Buch auf den Tisch und sah Jonas an. Jonas erwiderte den Blick, aber der Junge sagte nichts. Da es für Jonas eine zu lange Stille war, beschloss er etwas anderes zu fragen, was ihn interessierte.
“Weißt du noch, was du gesagt hattest, als Renate in der Bäckerei war?”
“Über die bösen Leute?”, fragte er.
“Genau. Du meintest, die riechen alle schlecht.” Nils nickte, also fuhr Jonas fort: “Weißt du, ob die alle etwas gemeinsam haben?”
“Ja, den Geruch”, antwortete Nils verwirrt. Jonas grinste und schüttelte leicht den Kopf.
“Ich meinte, etwas anderes. Sind sie zum Beispiel alle alt oder wohnen alle in der gleichen Straße?”
Nils überlegte einen Moment. Er schien im Kopf eine Liste durchzugehen oder etwas zu vergleichen. Seine Augen wanderten von links nach rechts und wieder nach links, dann schüttelte er den Kopf.
“Also kennst du auch solche Leute aus Brettheim oder Islingen?” Wieder nur ein Nicken.
“Auch junge Leute?” Wieder ein Nicken.
“Mhh .. danke dir.”
“Du solltest wegbleiben. Die sind böse.”
Jonas stockte kurz, dann fragte er die einzige Folgefrage, die ihm sinnvoll erschien.
“Warum? Haben sie dir etwas getan?”
“Nein.”
“Kennst du jemanden, dem sie etwas getan haben?”
“Nein.”
Jonas war verwirrt. Er schaute einen Augenblick lang prüfend in Nils Gesicht, wollte kurz fragen, warum sie dann böse waren, aber Josephine kam gerade aus der Küche.
“Ihr zwei, ab zum Händewaschen. Essen ist gleich fertig.”
“Jawohl”, antwortete Jonas in scherzhaftem militärischen Ton.
Während die beiden aufstanden und Richtung Badezimmer unterwegs waren, sagte Jonas noch leise: “Falls die bösen Leute dir mal was antun oder antun wollen, sag mir sofort Bescheid.”
Das Essen war zwar simpel, aber Jonas merkte sofort, dass Nils bei der Planung nicht mit eingeschlossen war. Der Salat war noch nicht das Problem, aber die zwei gefüllten Hühnerbrüste waren ziemlich sicher nur für zwei Personen geplant gewesen und die Gnocchi, die es dazu gab, waren auf dem Teller des Jungen ohne Soße angerichtet. Nach einer kleinen Kostprobe wusste Jonas auch warum. In der Soße war eindeutig Alkohol.
Jonas teilte etwas mehr von seinem Fleisch und bekam dafür großzügig mehr Salat von Nils ab, was ihnen einen missbilligenden Blick von Josephine einbrachte. Auch wenn Jonas ein kleines Lächeln auf ihren Lippen sah.
Am Ende wurden alle satt und Josephine brachte Nils zur Schule. Sie bestand darauf, dass Jonas es sich solange in der Wohnung bequem machen sollte. Fühl dich wie zu Hause, hatte sie ihm gesagt, aber Jonas wollte nicht herumstöbern.
Er räumte das Geschirr in die Küche und war froh, eine Spülmaschine vorzufinden. Seit Studientagen hatte er nicht mehr Geschirr von Hand gewaschen und er hatte es bisher nicht vermisst.
Als er sich wieder auf das Sofa setzte, nahm er sein Handy zur Hand. Er dachte über das nach, worüber er mit Nils gesprochen hatte und öffnete die Navigationsapp auf seinem Smartphone. Im Hintergrund öffnete er den Gruppenchat über den Dämonen. Ihm war zuvor schon aufgefallen, dass es kaum eine Info gab, die man dort nicht bekam, wenn es auch nur am Rande mit dem Dämon zu tun hatte. Und deshalb wurden dort auch alle Wohnorte der sogenannten Nebencharaktere im Dämongame aufgeführt.
Er schnappte sich den Stift und einen der Zettel, auf denen er zuvor mit Nils die Matheaufgaben durchgegangen war und zeichnete von der Kartenapp das ungefähre Straßennetz von Grauenfels nach, dann markierte er den Wohnort des Dämon und der Nebencharaktere mit kleinen Kreuzen und umkreiste die Kreuze, von denen er wusste, dass Nils sie zu den bösen Leute zählte.
Die umkreiste Kreuze ergaben ein umgedrehtes V und wenn man die Linien in gleicher Richtung weiterziehen würde, …
Jonas verglich seine Erkenntnis mit der digitalen Karte und zeichnete schließlich noch ein weiteres Kreuz auf den Zettel. Es war an der Position der Schillerhöhle. Sie lag genau auf der anderen Seite eines der Arme des V, sodass es nun eher einem schrägen T ähnelte mit Wolfgangs Haus in der Mitte der Kreuzung.
“Menschen sehen Muster, wo keine sind, weil sie nur in Mustern denken - Apophänie war das?”, murmelte Jonas in den leeren Raum.
Er brachte den Zettel in die Küche und wollte ihn gerade zerreißen und in den Papiermüll werfen, als er es sich doch anders überlegte, ihn vorsichtig faltete und in die Hosentasche schob.
Als er aus der Küche kam, hörte er wie das Schloss der Wohnungstür geöffnet wurde. Er konnte Josephine erst nur im Flur hören und bemerkte, dass sie etwas außer Atem war. Er hoffte, sie hatte sich nicht zu sehr gestresst.
“Sorry, ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten”, begrüßte sie ihn beim Reinkommen.
“Ach quatsch. Ich habe die Spülmaschine eingeräumt und deinen Kleiderschrank durchsucht”, antwortete er augenzwinkernd.
“Na, solange du nicht am Nachttisch warst, ist ja alles gut.”
“Vielleicht zeigst du mir ja den Inhalt, wenn ich dich überzeuge”, sagte Jonas und nahm eine der Weinflaschen in die Hand.
“Du kannst es versuchen. Deine Argumente gefallen mir. Aber leider habe ich nicht mal einen Nachttisch.”
“Und warum hast du sowohl Rot, als auch Weiß gekauft?”
Die beiden hatten bereits die zweite Flasche zur Hälfte leer und saßen bequem auf dem Sofa. Josephine hatte nach der ersten Flasche nicht schlecht gestaunt, als Jonas nicht nur eine zweite weiße, sondern noch zwei Rote herausgeholt hatte.
“Ich wusste ja nicht, was du bevorzugen würdest”, murmelte Jonas kleinlaut. Er spürte, wie seine Ohren rot wurden.
“Haha, das ist lieb von dir.”
Sie stieß nochmal mit seinem Glas an, trank ihr eigenes aus und stellte es auf den Tisch.
“Jetzt hattest du eindeutig zu viel, um noch nach Hause zu fahren”, stellte Josephine fest und grinste ihn an. Wenn er genau drauf achtete, war ihre Aussprache langsam verwaschener und ihre Wangen gerötet. Aber sie hielt sich um einiges besser als er es erwartet hatte nach so viel Wein. Er wollte nicht wissen, wie er wirken musste.
“Ja, ich denke, wir müssen noch ein Gästebett beziehen.”
“Du sitzt bereits drauf. Und weil ich in dieser Wohnung keine anderen Zimmer versteckt habe, ist das auch gleichzeitig das Bett der Gastgeberin.”
“Hoffentlich wird es nicht zu eng.”
“Dann müssen wir eben etwas näher zusammenrücken.” Sie setzte ihr charmantes Lächeln auf und sah zu ihm auf.
Erst jetzt fiel Jonas auf, dass sein linker Arm um Josephine gelegt war. Hatte er das gemacht oder Josephine sich so hingesetzt, dass er nicht anders konnte?
Während er sich das noch fragte, lehnte sich die junge Frau neben ihm an ihn an und drückte ihren Kopf an seine Brust. Er konnte ihre Haare riechen. Shampoo, Essensgerüche und Alkohol vermischten sich und er senkte seinen Kopf, um mit seiner Nase näher an ihrer Kopfhaut sein zu können.
Sie richtete den Kopf langsam wieder auf und beide sahen sich in die Augen. Ihre Hand wanderte über seinen Rücken und blieb in seinem Nacken. Er schaute von ihren grünen Augen auf ihre Lippen hinunter und musste unwillkürlich schlucken.
Dann zog sie ihn sanft zu sich, während sie selbst einen kleinen Teil des Wegs ging und ihre Lippen trafen sich. Jonas spürte wie ihm ein elektrischer Schock durch den Körper und war überrascht, als ihre Zunge den Weg zwischen seinen Lippen hindurch suchte und anfing mit seiner zu spielen.
“Wa.. warte”, stieß er hervor, als sie von ihm abließ.
“Ja?”, sie schaute ihn von unten an und er konnte seinen Herzschlag bis in die Ohren spüren. Er war viel zu schnell und pochte ihm so laut im Ohr, dass er kaum denken konnte. Trotzdem war es ihm wichtig, auch wenn es die Stimmung tötete.
“Ich … ich will nicht unfair sein. Ich bin nicht bereit”, brachte er schließlich hervor?
“Was?”, fragte sie etwas harsch.
“Nils braucht einen Vater und ich …”, fing er an, aber Josephine lachte nur. Lachte sie ihn aus? Hatte er etwas Falsches gesagt.
“Ich such keinen Mann, der für Nils die Vaterfigur spielt. Ich bin meistens Mutter, lass mich heute Nacht Frau sein”, hauchte sie. Dann schwang sie ein Bein über seine, setzte sich auf seinen Schoß und senkte den Kopf, um seinen Hals zu küssen, bevor sie den Weg zu seinem Ohr suchte und flüsterte: “Entspann dich einfach.”
Er versuchte ihren Worten Folge zu leisten und entspannte sich. Und ehe er es sich versah, hatte er alle seine Zweifel komplett vergessen.
Seine Augen folgten dem Dampf, der aus der Tasse aufstieg und sich verflüchtigte. Dabei hatte er den säuerlichen Geruch eines billigen Kaffees in der Nase. Josephine war bereits zur Arbeit gefahren und Jonas saß allein am Tisch mit einer Tasse Kaffee und seinen Gedanken.
Sie hatte ihm nicht gesagt, was zwischen den beiden jetzt war, nachdem sie die Nacht zusammen verbracht haben und er hatte sich nicht zu fragen getraut. Das bereute er jetzt, aber er würde sicher nicht in die Bäckerei fahren, um sie das jetzt zu fragen. Im besten Fall ergab sich die Situation von alleine, solange er noch in der Gegend war.
Er schaute sich in der Wohnung um. Das Sofa war noch immer ausgezogen und nahm dadurch so viel Platz ein, dass er sich mit seinem Stuhl ganz an die Wand drücken musste, um noch am Tisch sitzen zu können.
Seine Kleidung war von Josephine fein säuberlich zusammengesucht und auf einem der anderen Stühle gestapelt worden - außer dem T-Shirt und den Boxershorts, die er trug.
Nachdem er die Tasse leer getrunken hatte, klappte er das Sofa wieder ein und schob den Tisch an seine ursprüngliche Position zurück, bevor er sich anzog. Dabei fiel ein Zettel aus seiner Hosentasche.
Noch bevor er den Zettel aufgehoben hatte, wusste er worum es sich handelte. Die Straßen, Kreuze und vor allem die eingezeichneten Linien, die an ein T erinnerten, hatte er nur noch all zu gut im Kopf.
Er war sich noch nicht sicher, was er da überhaupt aufgeschrieben hatte, aber das Verlangen dieser Spur nachzugehen, wohin auch immer sie ihn führen würde, war stark. Jonas war sich klar, dass es eine Art obsessives Verhalten war, aber wenn ihn ein Thema reizte, dann versuchte er es immer im Ganzen zu verstehen und zu erkunden.
Er holte sein Smartphone raus und öffnete den Gruppenchat über den Dämon. Schnell fand er die Info, die ihn am meisten interessierte. Es sollte noch bis zum Mittag dauern, bis der Hamburger und sein Mitfahrer beim Dämon ankamen. In der Zeit könnte Jonas noch ohne Probleme versuchen in Erfahrung zu bringen, ob die auf seinem Zettel mit umkreistem Kreuz markierten Häuser etwas gemeinsam hatten.
Sein Blick wanderte noch einmal durch die Wohnung, um einerseits sicherzugehen, dass er nichts vergessen hatte, aber auch, um nichts liegen zu lassen, was zu unangenehmen Fragen von Nils führen könnte.
Die Fahrt in Richtung Grauenfels war ereignislos und auch das Dorf selbst schien fast komplett verschlafen und ruhig. Das erste Haus, an dem er vorbeikommen würde, welches zu seinen Zielen gehörte, war direkt nach dem Ortseingang auf der linken Seite. Es war das erste auf der Linie, die beim T der Stamm wäre und nach Süden in Richtung Brettheim abzweigte.
Das Haus schien auf den ersten Blick unscheinbar. Es war ein kleines Einfamilienhaus, freistehend mit einem Streifen Garten an allen vier Seiten, der von Jägerzaun eingerahmt wurde. Der perfekte Traum von vorstädtlichem Glück - wäre es zumindest in besserem Zustand vielleicht mal gewesen.
Jonas parkte in der Nähe und beobachtete das Haus einige Zeit. Weder im Garten, noch in den Fenstern sah er Bewegung. An einem Samstagmorgen könnten die Bewohner ausschlafen oder einkaufen. Vielleicht waren sie auch einfach im Moment nich in Grauenfels.
Er entschied sich aus dem Auto auszusteigen und eine Runde um den Block zu gehen. Dabei könnte er sich einerseits umsehen, andererseits fand er vielleicht eine geeignete, schlecht einsehbare Stelle, um in den Garten und näher ans Haus zu schlüpfen.
Er konnte es selbst nicht erklären, aber etwas in ihm wollte unbedingt, dass er das Rätsel um Grauenfels löste, auch wenn ihm klar war, dass er im Falle Walter Meiers mit dem Feuer spielte.
Als er um den Block herumgelaufen war und das Haus von der anderen Seite sehen konnte, fiel ihm aus dem Augenwinkel eine Bewegung in einem der Nachbarhäuser auf. Ein Mann stand dort am Fenster und sah ihn an. Nachdem sie sich kurz in die Augen geblickt hatten, drehte der Mann sich vom Fenster weg.
Jonas entschied sich, das Haus nur aus der Ferne zu betrachten. Es war eine Sache mit dem Feuer zu spielen, eine vollkommen andere, sich selbst mit Benzin zu übergießen und in die Flammen zu springen.
Die Wände des Hauses waren vergilbt und vom Wetter gezeichnet. An der Rückwand waren sogar nasse Stellen, die sich über die Zeit dunkel verfärbt hatten und durch den Putz schauten. Eindeutig Spuren von Schimmel.
Im Garten wurde für die Kinder der Familie, die hoffentlich nicht mehr dort wohnten, einst eine Schaukel aufgebaut, die an zwei Seilen hing. Eins davon war aber inzwischen gerissen und ragte trostlos bis zum Boden, während das Brett der Schaukel schief im leichten Wind hin und her schwang.
Verfall, Schimmel, Trostlosigkeit. Das schien alles zu sein, was er in diesem Haus vorfand. Genauer ansehen konnte er es sich nicht und es gab noch zu viele Ziele, um hier weiter die Zeit zu vertrödeln.
Das nächste Kreuz auf dem senkrechten Strich des T’s war seine Herberge. Die würde er allerdings überspringen. Nicht, dass er glaubte, es gebe dort nichts mehr zu sehen, aber er glaubte nicht, dass er dort viel entdecken könnte, ohne gesehen zu werden. Der Herbergsvater war eigentlich immer da und seit er dort vom Fenster aus beobachtet wurde, hatte er ein sehr schlechtes Gefühl wieder dort hineinzugehen.
Den Gedanken verdrängend fuhr er zum nächsten Punkt auf dem Strich und sah sich das Haus genauer an. Hier war allerdings reges Treiben im Haus selbst und so konnte er auch diesmal nur vom Gartenzaun aus seine Beobachtungen durchführen.
Das Bild, das sich abzeichnete, war mit dem ersten Haus vergleichbar, auch wenn in einem kleineren Ausmaße. Entweder hatten sich die Bewohner hier noch länger um ihr Hab und Gut gekümmert oder es war einfach stabilere Bausubstanz und eine neuere Fassade. Doch trotzdem konnte man einen gewissen Verfall deutlich sehen.
Danach kam schon Wolfgangs Haus auf dem Schnittpunkt zwischen senkrechtem und waagerechtem Strich des T’s. Jonas beschloss die Höhle des Dämons zu überspringen und ebenso die Schillerhöhle, die sich auf der westlichen Seite des waagerechten Arms befand. Blieben also nur noch zwei Häuser auf der östlichen Seite.
Die östliche Seite von Grauenfels war niedriger als die westliche, wo der Hügel zur Burgruine führte. Dadurch bedingt, war man automatisch besser vor Blicken geschützt, solange niemand von Wolfgangs Haus aus herunter schaute.
Das erste Haus war von Renate und Jonas sah es als seine letzte Chance an, noch etwas Interessantes zu finden, denn das zweite Haus gehörte Walter Meier und den wollte er nicht unnötig provozieren.
Den Wagen parkte er zwei Häuser weiter weg, weil es dort einen kleinen Durchgang zwischen den Gärten zu einem Fußweg zwischen Hang und Gärten der Häuser gab. Von dort aus konnten eigentlich nur direkte Nachbarn und Renate selbst eine Gefahr darstellen, ihn beim Eindringen in den Garten der letzteren zu sehen.
Der Weg war nicht asphaltiert, sondern nur ein einfacher Kiesweg und an einigen Stellen hatte die Natur mit nasser Erde und kleinen Grasbüscheln den Platz wieder für sich eingenommen. Durch die Häuser zu seiner Rechten wurde die Morgensonne und durch den Hang zu seiner Linken die Abendsonne erfolgreich von dem kleinen Pfad abgehalten, wodurch sich die Kälte und Nässe von vor ein paar Tagen hier noch gut gehalten zu haben schien.
Jonas passte auf, nicht auf der nassen Erde auszurutschen und kam endlich an Renates Haus an. Wie man es über jedes der Häuser in Grauenfels sagen konnte, war auch dieses heruntergekommen. Keines davon erreichte einen Zustand wie das von Wolfgang, aber vom einstigen Glanz konnte man nur noch Spuren erahnen.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Weg, Gärten und Fenster keine Bewegung oder neugierigen Augen aufwiesen, sprang Jonas über den hüfthohen Zaun zwischen zwei Sträucher. Die beiden hatten schon so lange keine Gartenschere mehr gesehen, dass sie wie Wildwuchs eine beachtliche Deckung abgaben.
Nochmal ein Blick in alle Richtungen, um sich abzusichern, dann ging er geduckt und zügig bis zur Hauswand. Durch Flieder, Lebensbaum und Hortensie, die allesamt ihrem eigenen Wachstum überlassen wurden, geschützt, war er sich sicher, dass man ihn an der Hauswand von außen nicht mehr sehen konnte.
Er konnte zu seiner Linken oder seiner Rechten an der Hauswand entlang, aber da er zur Linken über die Terrasse mit entsprechend großer Fensterfront vorbei musste, entschied er sich erstmal für die rechte Seite.
Jonas schlich geduckt um die Ecke und sah sich vorsichtig um. Sein Herz pochte so laut in seinen Ohren, dass er Angst hatte, er könnte alles andere überhören. Als er sicher war, dass er auch an dieser Hausseite gut vor Blicken geschützt war, schlich er vorsichtig an der Wand entlang zu dem Fenster in der Mitte des Hauses.
Er spähte ins Innere und konnte ein altmodisch eingerichtetes Esszimmer sehen. Ein Kreuz hing in einer der gegenüberliegenden Ecken und das Zimmer war so akkurat ordentlich gehalten, als sei es jahrelang nicht mehr benutzt worden. Einzig der Staub zeigte, dass auch hier die Zeit nicht spurlos vorbeizog.
Er wandte sich vom Fenster ab und schaute weiter in Richtung Vorderseite. An der Hauswand war hinter ihm und vor ihm jeweils noch ein Schacht mit einem Kellerfenster in den Boden eingelassen worden. Aus dem Schacht vor ihm dampfte es.
Bereits bevor er über dem Gitter war, konnte er erkennen, dass es sich um die Abluft eines Trockners handelte. Er roch den typischen Geruch verbrannter Luft und frischer Wäsche. Er wunderte sich noch, dass Renate dann ein solcher Alte-Leute-Geruch anhaftete, wenn sie sich noch selbst um ihre Wäsche kümmern konnte, während er zu dem Gitter huschte.
Bedacht darauf, nicht das Gitter zu betreten und unnötigen Lärm zu verursachen, sah er durch die Metallstäbe in das Kellerfenster. Es war sperrangelweit geöffnet und ein dicker Schlauch verdeckte etwas mehr als die Hälfte der Sicht. Aus ihm kam auch die Abluft des Trockners.
Jonas versuchte an dem Schlauch vorbei in den Kellerraum zu sehen, aber nicht nur, dass er die Sicht verdeckte, er versperrte auch die natürliche Lichtzufuhr und so war der Raum fast stockfinster. Wenn Jonas sich komplett auf die rechte Seite des Gitters stellte, konnte er gerade so am Rohr vorbei an die linke Wand des Raumes schauen.
Irgendein anderer Geruch mischte sich in die warme Trocknerluft. Sie erinnerte den jungen Mann sofort an seine alten Schultage. Es müsste in der neunten Klasse gewesen sein, als sämtliche Stunden ausfielen, die im Westflügel des Gymnasiums stattfinden sollten, weil ein Scherzkeks am Freitagabend einen toten Hasen in die Belüftungssysteme eingeschleust hatte. Bis zum Wochenanfang war er durch die Sommerhitze gut faulig geworden und als montags die Belüftungsanlage angeschaltet wurde, verbreitete sich der faulige Gestank von verwesendem Tier in allen Räumen.
Jonas stellte nicht in Frage, warum ihm diese Erinnerung einfiel, als der Geruch in seine Nase zog. Er ignorierte den Würgereflex und versuchte sich abzulenken, indem er die linke Kellerwand genauer unter die Lupe nahm. Irgendetwas dunkles war dort an die Wand angebracht. Es sah fast aus, als hätte jemand schwarze Kleidung an die Wand genagelt.
Ein weiterer Blick in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass er weiterhin alleine war, dann holte er sein Handy heraus und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Ein helles Licht fiel in den Kellerraum, erreichte aber nicht die linke Wand. Noch immer war da nur diese schwarze Fläche.
Aber im Licht der Lampe sah er Staubflocken oder Pollen durch die Luft tanzen. Es waren so viele, die vor der schwarzen Wand tanzten, dass sie ihm fast die ganze Sicht raubten. Sie fielen Richtung Boden, wurden durch einen Luftzug wieder gehoben, flogen in wilden Kreisen durch den Raum und begannen wieder ihren Sinkflug.
Jonas beobachtete das Treiben wie in Trance. Je länger er den hell erleuchteten Punkten zusah, um so weniger interessierte ihn alles andere. Die Punkte und ihr Tanz; Sie erinnerten ihn fast an ein Funkeln und Glitzern.
Sie schienen ihn geradezu anzulocken mit ihrem lustigen Spiel, durch den Luftzug im Keller getrieben und von niemandem beobachtet außer ihm. Die Punkte überlappten sich und das Glitzern wurde fast zu einem schillernden Licht.
Die schwarze Fläche und den Trockner, Renates Haus und Wolfgang. All das hatte er fast schon vergessen. Er wusste noch, was es damit auf sich hatte, aber es war alles so weit weg und erschien so bedeutungslos.
Eine Hupen. Jonas riss den Kopf hoch. Noch ein Hupen. Dann Gebrüll. Er schaltete des Taschenlampenlicht seines Smartphones ab und wagte es nicht, noch einmal in den Keller zu schauen. Stattdessen ging er zügig durch den Vorgarten zu seinem Auto.
Er sah sich noch nicht einmal um, ob ihn jemand gehen sah. Er wollte einfach schnell weg. Die Pilger beobachten, war das Ziel, von dem er sich selbst erzählte.
Vom Kellerfenster und den leuchteten Punkten wegzukommen, war sein eigentlicher Antrieb.
Der Motor des Wagens startete und erst als sich das Auto in Bewegung setzte, konnte Jonas erleichtert aufatmen. Was auch immer das gerade war, er wusste sicher, dass er sich von Renates Haus fernhalten würde.
Jonas fuhr auf direktem Weg an Wolfgangs Haus vorbei und in Richtung des kleinen Weges, der ihn schon mehrmals zu den Burgruinen führte. Auf den letzten paar Metern zwischen dem Haus des Influencers und dem Parkplatz kam ihm ein junger Mann entgegen.
Dabei musste es sich um einen Pilger handeln, aber warum war es nur einer? Das Kennzeichen am Auto, neben das er seinen eigenen Wagen abstellte, war ein ortsfremdes, aber kein Hamburger Kennzeichen.
Nachdem er geparkt hatte, sah er in die Chatgruppe auf seinem Smartphone.
Anscheinend war der Pilger aus Hamburg noch auf dem Weg und würde noch einige Minuten brauchen, aber ein anderer hatte in der Gruppe verkündet, ebenfalls vor Ort zu sein. Das musste der einzelne Besucher sein, der ihm gerade entgegen gekommen war.
Jonas schnappte sich seinen Rucksack mit etwas Wasser und Beef Jerky und machte sich auf den Weg zur Ruine.
Schon nach der Hälfte des Weges konnte er die ersten Rufe hören, aber offensichtlich gingen sie komplett nur von der Seite des Besuchers aus. Er schrie immer wieder eine Beleidigung und erhoffte sich offenbar eine Reaktion.
Bisher hatte Jonas Wolfgang nicht gehört, aber im Moment sah er auch nur Bäume und hin und wieder ein bisschen durchblitzende Sonne. Während er dem ausgetretenen Pfad folgte, fiel ihm auf, dass er keinen einzigen Vogel sehen oder hören konnte.
Da es vermutlich öfter zu solchem Geschrei kam, war das wahrscheinlich auch nicht verwunderlich.
Die Ruinen sahen noch genauso aus wie beim letzten Mal, als er hier war. Sein Platz in der Nähe des Hangs war auch noch frei und bot ihm eine perfekte Sich auf die Geschehnisse beim Dämon und seinen Pilgern.
Der einzelne Besucher am Haus brüllte noch immer und ließ sich von der Stille des Hauses vor ihm nicht beeindrucken. Er schien ein junger Erwachsener zu sein und trug einen wuscheligen Schopf auf dem Kopf in Kombination mit kahl rasierten Seiten.
“Seiten auf Null und Brokkolikopf”, murmelte Jonas. Es war halb Meme und halb Realität in der jungen Generation.
Er war fast schon ein bisschen enttäuscht davon, dass Wolfgang sich nicht blicken ließ, öffnete aber schließlich einfach sein Beef Jerky und las in der Chatgruppe weiter, wie der aktuelle Stand war.
Der Mitfahrer des Hamburgers hatte in den letzten Stunden mehrfach Updates gegeben zum Stand der Reise. Ein paar lasen sich fast aggressiv dem Fahrer gegenüber, der sich wohl weigerte, die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu ignorieren, um früher bei ihrem Mobbingopfer zu sein.
Dann einige Videos, wo er auf dem Beifahrersitz mit zensiertem Gesicht saß und zu Musik den Kopf nickte, die ganz offenbar auf Kosten des Dämons ging. Zum Teil wurden Aussagen von ihm wiederholt, aus dem Kontext gerissen oder ihm weiteres unterstellt.
Jonas wollte gar nicht erst analysieren, welche der Aussagen stimmten. Beide Seiten hatten seiner Meinung nach komplett ein Rad ab. Was er aber zugeben musste, war die schier grenzenlose Kreativität der Pilger.
Ob es Songs, Zusammenschnitte, fiktive Geschichten, Zeichnungen oder Berichterstattungen waren, es stand außer Frage, dass durch das Dämongame Inhalte höchster Qualität entstanden, wenn auch aus zweifelhafter Intention.
Während Jonas noch darüber sinnierte, ob man den immensen kreativen Output der Kritiker Wolfgang positiv zusprechen musste, kam eine neue Nachricht in die Gruppe:
“Wir sind da. Fetti kriegt erstmal seine Portion Eiweiß.”
Das Smartphone legte Jonas schnell weg und aß sein Beef Jerky auf, während er gebannt nach unten auf die Straße vor ihm sah. Noch war nur ein Pilger da, aber bald schon hörte man einen freudigen Schrei die Straße entlang hallen: “Dämonenzeit!”
Die beiden Neuankömmlinge kamen die Straße entlang. Einer fast schon zu dünn und hibbelig in der Art, wie er auf den bereits am Tor stehenden Besucher zu eilte, der andere eher ruhig und eindeutig besser gekleidet. Beide hatten einen Rucksack dabei und sprachen kurz mit der anderen Person.
Dann ging alles sehr schnell. Ehe er mitbekommen konnte, was passierte, flog ein rohes Ei in Richtung des Hauses. Die Fassade wurde getroffen und das Ei zerschellte in Schale und rohen Inhalt an der Wand, nur um dort einen kleinen Fleck zu hinterlassen.
Dann flogen weitere. Alles immer gepaart mit den Schreien des Eierwerfers. Der andere Neuankömmling hatte inzwischen sein Smartphone in der Hand und schien das ganze Geschehen zu filmen. Als der erste Besucher das sah, nahm er auch sein Handy in die Hand und filmte mit.
Irgendwie wirkte das alles surreal. Da kommen drei Leute, um jemanden zu ärgern, den sie nur aus dem Internet kannten und zwei davon halten es für die Nachwelt fest.
Kurze Zeit später sah Jonas aber tatsächlich auch den Streamer aus dem Haus kommen. Er watschelte in Richtung des Zauns und erst da konnte Jonas die Stange in seiner Hand erkennen. Es schien ein Metallstab zu sein.
Ein Wortgefecht entbrannte, unterbrochen von Eierwürfen in Wolfgangs Richtung, dann schnellte die Stange nach vorne und krachte gegen den Zaun. Das Klappern und Klirren von Metall auf Metall war das erste, was Jonas klar hören konnte.
Vor wenigen Tagen hatte Jonas schon eine Auseinandersetzung zwischen Wolfgang und einem Pilger beobachtet, die handfest zu werden drohte, aber da war der Influencer eher der passive Part. Jetzt aber war er selbst derjenige, der aktiv die Aggressionsspirale vorantrieb.
Was war der Unterschied?
Lag es daran, dass die Eier auf die Fassade und in seine Richtung geworfen wurden?
Oder lag es vielmehr daran, dass die jetzigen Besucher jünger waren, weniger aggressiv und weniger muskulös?
Es würde zu dem Bild passen, das von Wolfgang im Internet propagiert wurde.
Während Jonas noch die Situation analysierte, fiel ihm auf, dass sich der einzelne Pilger immer mehr zurückfallen ließ. Er hatte sein Smartphone inzwischen gesenkt und schien etwas darauf zu lesen oder zu schreiben.
Kurze Zeit später schaute er sich um und ging zügig, aber ruhig den Hügel hinauf. Er stand minimal höher als die anderen beiden und hatte sich viel mehr umgeschaut, während der Filmer und der Eierwerfer auf Wolfgang fokussiert waren.
Vielleicht hatte er etwas mitbekommen, was die anderen nicht sehen konnten. Aber warum warnte er sie nicht wenigstens?
Jonas Verdacht bestätigte sich, als eine Polizeisirene durch das Dorf drang. Die beiden noch stehenden Pilger wechselten kurz Blicke, dann hasteten sie in Richtung des Autos den Hang hinunter, aber nicht bevor der Eierwerfer Wolfgang noch einen letzten Satz zurief, laut genug, dass Jonas ihn auch hören konnte: “Wir sehen uns heute Nacht, Wolli!”
Dann waren die beiden verschwunden.
Kurz darauf kam der Streifenwagen in Sicht und zu Jonas Linken fuhr der Kleinwagen den Radweg in Richtung Islingen davon. Er war sich relativ sicher, dass das nicht das Ziel des Pilgers war. Vermutlich wollte er nur der Polizei entkommen.
Meier stieg aus dem Streifenwagen aus und auch wenn Jonas aus seiner Position seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, wirkte sein Gang äußerst entspannt dafür dass er gerade noch mit Sirene zu diesem Ort gefahren war.
Als Wolfgang den Polizisten kommen sah, öffnete er das Tor und kam heraus. Die beiden unterhielten sich. Offenbar schienen sie unterschiedlicher Meinung zu sein, aber Jonas konnte sie nicht verstehen.
Die Diskussion wurde hitziger und Wolfgang baute sich vor Walter Meier auf. Er überragte ihn fast um einen Kopf und locker um 150 Kilogramm. Selbst für Jonas, der weder an der Stelle des Polizisten, noch auch nur in der Nähe der beiden war, empfand die Situation als äußerst bedrohlich.
Dann schnellte der Metallstab nach vorne und trag Meier am Schienbein. Meier sackte ein. Er rieb sich das Bein und fluchte laut, versuchte aber weder sich vor eventuell folgenden Schlägen zu schützen, noch holte er zum Gegenschlag aus. Er hatte es einfach über sich ergehen lassen.
Irgendwas war faul an der Situation. Selbst wenn Meier mit Dämon unter einer Decke steckte und ihn beschützen wollte, warum sollte er sich grundlos schlagen lassen?
Jonas ging ein paar Schritte nach vorne, bis der Hang begann, griff nach dem Stamm eines nahen Baumes und lehnte sich so weit wie möglich nach vorne. Er konnte unverständliches Gemurmel hören, aber immer noch keine einzelnen Wörter oder gar das Gesprächsthema erahnen.
Und bevor er sich eine neue Position suchen konnte oder überlegen konnte, ob er anderweitig herausfinden könnte, was die beiden besprachen, da drehte sich Meier bereits zu seinem Streifenwagen um.
Ohne in irgendeiner körperlichen Weise Rache an Wolfgang zu nehmen, öffnete er die Tür. Mit der Hand auf dem Dach des Fahrzeugs, wandte er nochmal den Kopf zu Wolfgang.
Er sagte etwas von “reichen”.
Reichen im Sinne von Personen, die viel Geld haben?
Oder reichte etwas aus? Oder reichte es nicht aus?
Oder sollte Wolfgang ihm etwas reichen?
Jonas fluchte innerlich, dass er nicht mehr verstanden hatte, aber dann sah er, dass Wolfgang erneut zum Sprechen ansetzte und versuchte sich so gut wie möglich darauf zu konzentrieren, jedes Wort zu hören. Zum Glück machte es ihm das laute Organ des Influencers leichter.
“Sieh zu, dass de da bist. Da is unsre beste Chance, heut Nacht!”
Er schlug das Zauntor zu, legte die Verriegelungen an und wandte sich in Richtung seines Hauses.
Meier sah ihm nach, schlug viel zu kraftvoll die Tür seines Wagens zu und fuhr aggressiv und zu schnell die Straße Richtung Brettheim runter.
Vielleicht meinte er ja, dass es reichen würde, wenn er zur Abschreckung da sei heute Nacht? Das wäre eine valide Erklärung für die Antwort von Wolfgang, dachte sich Jonas und verwarf den Gedanken direkt wieder.
Oder er sollte vor Ort sein, um zuzugreifen, sobald die Pilger das Gesetz brachen, um sie einsperren zu können. Auch das schien valide.
Aber der Schlag aufs Schienbein mit einer Metallstange. Das war kein Hilfe suchender Bürger, der einen Polizisten in seiner Rolle als Ordnungshüter in Anspruch nehmen möchte. Das war das Zurschaustellen einer klaren Hackordnung.
Doch in welcher Welt und mit welchem Recht konnte der Influence so mit dem Polizisten umgehen?
Welcher Rangordnung folgten die beiden?
Jonas geriet immer mehr ins Grübeln, kam aber selbst zu keinem Schluss. Er wusste nur eine Möglichkeit, wie er zumindest die Auswirkungen dieser Anwesenheit mitbekommen würde und das war, heute Nacht wieder vor Ort zu sein.
Er könnte live mitbekommen, warum Meier unbedingt da sein musste und welche beste Chance es heute Nacht sein könnte.
Mit diesen Gedanken packte Jonas seine Sachen zusammen und fing an aus dem Wald herauszugehen. Bis zum Abend und vor allem bis zur Nacht waren es noch einige Stunden. Am besten Falle macht er erneut ein paar Stunden die Augen zu und ruhte sich aus. Schließlich wusste er weder, wann der Pilger wieder vor Wolfgangs Haus aufkreuzte, noch wie lange es dauern würde.
Jonas konnte aber unmöglich wieder in die Herberge in Grauenfels zurückgehen und dort beruhigt die Augen schließen.
Er kam langsam aus dem Wald heraus und sah sein Auto und den dahinter liegenden Radweg, den schon der einzelne Pilger in seiner Flucht vor der Polizei befahren hatte. Die beste Möglichkeit wäre vermutlich wirklich ebenfalls nach Islingen zu fahren, dort eine Pension zu finden, um ein bisschen vorzuschlafen und in Islingen ein paar Kleinigkeiten zu kaufen, die er kalt essen konnte, falls die Nacht zu lang werden würde.
Als er wieder im Auto saß, fiel sein Blick auf die Schmuckdose mit den Ohrsteckern. Er hätte nicht gedacht, dass er Mia so schnell hinter sich lassen konnte, aber Josephine hatte ihm geholfen über sie hinweg zu kommen. Sie hätte diese Ohrstecker tatsächlich viel mehr verdient.
Und nächste Woche wollte er zu seinen Eltern. Könnte er bis dahin abklären, was das zwischen ihm und Josephine war?
Und wenn ja, sollte er sie vorstellen?
Was, wenn sie sie genauso verstoßen würden, wie Mia vor ihr?
Würde er die gleiche Entscheidung wie damals treffen?
Er nahm das Schmuckkästchen in die Hand, wog es kurz, während er es traurig betrachtete und legte es ins Handschuhfach. Bis zum Abend hatte er noch einiges zu tun und er konnte nicht über Dinge nachdenken, die nicht in seiner Hand lagen.
Es gab genug zu tun, bei dem er die Zügel wieder in die Hand nehmen konnte.
Der Abend kam schneller als Jonas es erwartet hatte und als er den Wagen in der Nähe der Ruine abstellte, war die Dämmerung bereits angebrochen. Er kam schwerfälliger voran und musste zwei Mal aufpassen, nicht auszurutschen auf dem Waldboden.
Auch die Burgruine sah im Dunkeln ganz anders aus als tagsüber. Wenn sie sich als Kinder Geistergeschichten über die alte Burg erzählten und wahlweise von der Prinzessin, die in den Tod stürzte und Rache an allen Männern wollte, nachdem sie betrogen wurde oder von dem Ritter, der immer noch in der Burg wachte und alle Eindringlinge tötete, dann konnte ihm das schon früh nur ein müdes Lächeln abgewinnen. Jetzt aber, in dem dunklen Wald, umringt von Bäumen, hinter denen sich alles verstecken konnte, was die menschliche Vorstellungskraft sich ausdenken konnte, konnte er nicht umhin, die dunklen Stellen der Ruine kurz mit seinem Smartphone auszuleuchten. Nur um sicherzugehen, dass sie so verlassen waren, wie sie es am Tag noch waren.
Bevor er allerdings am Hang angekommen war, schaltete er die Taschenlampenfunktion wieder aus. Er hatte seine Bildschirmeinstellungen bereits auf die niedrigste Helligkeitsstufe gestellt und steckte das Smartphone in den Rucksack. Bei tiefster Nacht würde man zwar selbst dann noch das Licht sehen können, aber bei den im Dorf eingeschalteten Straßenlaternen und seiner unerwarteten Position sollte es keine Probleme geben.
Das Licht der nächsten Straßenlaterne war auch gleichzeitig das letzte, bevor der Feldweg Richtung Islingen begann, wo es keinerlei Beleuchtung gab. Die Laterne stand der Einfahrt von Wolfgang gegenüber und so war der Eingang und das Zauntor zwar nicht gut beleuchtet, aber hell genug, um Personen zu erkennen, die dort standen … oder Eier warfen.
Aber noch wartete die leere Einfahrt auf den Pilger, der sein Versprechen noch einhalten musste.
Jonas warf einen Blick auf das Smartphone in seinem Rucksack und öffnete den Gruppenchat, aber dort fanden sich zwar allerlei Neuigkeiten über das Dämongame und die neuesten Online-Eskapaden, aber nichts über die Vor-Ort-Pilger.
Das überraschte ihn allerdings nicht wirklich. In vielen Besuchsvideos wurden mehrtägige Besuche mitsamt An- und Abreise in einem Video zusammengefasst, sodass diese immer erst nach der abgeschlossenen Pilgerfahrt hätten geteilt werden können.
Außer denen, die sich noch an den Aufruf nach Mitfahrern erinnerten, würden die meisten nicht mal wissen, ob gerade Pilger an der Höhle des Dämons sind und versuchen ihn auf die Palme zu bringen.
Während Jonas die Jacke enger um sich zog, fluchte er im Stillen und fragte sich, ob das wirklich die beste Art war, seinen Samstagabend zu verbringen. Er wartete gerade auf ein paar Halbstarke, die einen dicken, einsamen Mann reizen wollten, weil er im Internet Dinge sagte, die ihnen nicht gefielen.
Eine dunkle Gestalt, in dunkelblau und grau gekleidet, kam in sein Sichtfeld und ging langsam die Steigung hinauf. Ein paar Meter weiter hinten, eine zweite Gestalt, komplett in Schwarz. Während die erste Figur fast schon den Weg nach oben tänzelte und mit einer Hand immer den Riemen eines dunklen Rucksacks festhielt, war die zweite Person viel bedächtiger unterwegs und hatte nichts dabei außer einem kleinen schwarzen Klotz in der Hand, vermutlich ein Smartphone.
Das mussten der Eierwerfer und der Filmer vom Mittag. Endlich ging es los.
Der Filmer blieb dieses Mal um einiges weiter zurück als zuvor und hielt sich sogar noch außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaterne auf. Er hatte inzwischen mit dem Filmen begonnen und stand etwas versetzt von Jonas unten am Hang.
Würde Jonas sich etwas nach rechts bewegen und nach unten sehen, könnte er das Display des Handys sehen. So gab er sich aber damit zufrieden, den jungen Mann aus dem Augenwinkel sehen zu können.
Denn sowohl der Filmer, als auch Jonas selbst, hatten jetzt ohnehin nur Augen für den Eierwerfer, der inzwischen vor dem Tor angekommen war und Gegenstände aus seinem Rucksack kramte.
Was Jonas auf jeden Fall erkennen konnte, waren ein Eierkarton und zwei Bierflaschen. Die anderen Gegenstände, die er noch hervorholte, waren aus Jonas Perspektive und bei der Dunkelheit nicht zu erkennen.
Der Eierwerfer schien noch keine Anstalten zu machen, mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sondern öffnete in aller Ruhe ein Bier und nahm sich mehrere Schlücke.
Mit einem Blick zum Haus erkannte Jonas, dass der Influencer zumindest auf jeden Fall noch wach war. Es sah fast so aus, als brannten gleich in mehreren Zimmern gleichzeitig noch die Lichter.
Dann, während Jonas den Blick noch immer auf dem Haus fixiert hatte, eine schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel und ein lautes Klirren. Die leere Bierflasche war auf dem Boden des Innenhofs in unzählige Scherben zersplittert.
Ein paar Häuser weiter setzte ein Hund mit ein und beschwerte sich laut bellend über das laute Geräusch. Aber weder in Wolfgangs Haus, noch bei den beiden Pilgern tat sich etwas. Alle schienen gebannt zu warten, was als Nächstes passierte.
Die Sekunden schienen ewig zu brauchen, um zu verstreichen und das schien nicht nur Jonas so zu gehen, denn der Eierwerfer nahm sich den Eierkarton, öffnete ihn und begann ein Ei nach dem anderen gegen die Hausfassade zu werfen.
Erst in der Nähe der Dachrinne, dann im Bereich des Erdgeschosses und schließlich neben eines der Fenster, in dem Licht brannte. Ein weiterer Wurf und wieder knapp neben das Fenster. Nochmal und … diesmal traf das Ei das Fenster.
Jonas konnte noch keine Bewegung erkennen, aber der Eierwerfer sah entweder mehr als er selbst oder erwartete zumindest eine Reaktion, denn er verstaute die restlichen Eier, schwang sich den Rucksack über die Schultern und öffnete das zweite Bier.
“Fetti, da bist du ja endlich. Na? Gar nicht mehr so mutig ohne deine Bullen?” Der Pilger rief zwar nicht, aber sprach laut genug, sodass es für Jonas kein Problem war, die Worte zu verstehen. In der Nacht ohne Störgeräusche fiel ihm das auch erheblich leichter.
“Was willst du, du HURENSOHN?” Im Gegensatz zu dem Pilger brüllte Wolfgang tatsächlich.
“Wolli, denk an deine Nachbarn. Die haben Jobs im Gegensatz zu dir und wollen schlafen!”
“Dann hau ab von hier! Ich müsst net brüllen, WENN IHR NET DA WÄRT!”
“Na, Wolli? Bock auf ein Bier? Ich hab noch eins für dich dabei”, sagte der Eierwerfer und holte eine dritte Bierflasche aus seinem Rucksack. “Vielleicht wirste ja mal entspannter!”
Erst jetzt konnte Jonas den Influencer komplett sehen. Sein Outfit schien sich nicht geändert zu haben, auch wenn es noch dreckiger wirkte als zuvor. Er hatte wieder seine Metallstange dabei und wedelte damit möchtegern cool herum.
“Und du? Was filmste fremde Personen auf ihrem Privatgelände?” Offenbar hatte Wolfgang den zweiten Pilger entdeckt.
“Du bist Person des öffentlichen Lebens, Wolfgang”, antwortet dieser, ohne sein Smartphone groß zu bewegen.
“Außer dem ist das kein Privatgelände, sondern ein Zoogehege. Und du bist der ausgestellte Dämon. Du solltest uns unterhalten und für uns tanzen, Wolli!”, warf der Werfer ein.
“Der Zaun ist für euren Schutz, net für meinen!”
“Ja, Wolli, spiel deine Schallplatte ab, du Kampfsportdämon!”
Mit diesen Worten trat der Pilger gegen das Tor und ließ es damit ordentlich scheppern und klappern.
“Du wärst net der Erste, der das net glaubt und dann im Krankenhaus aufwacht.” Wolfgang zischte den Satz förmlich.
Wenn es wirklich das Ziel dieses Mannes war, mehr Pilger anzuziehen, um von dem Mitleid der Menschen zu profitieren, dann musste er seinen Hut vor ihm ziehen. Seine Art, vollkommen unrealistische Behauptungen auf eine so überhebliche Art aufzustellen und dabei noch zu versuchen einschüchternd zu wirken, hatte er perfektioniert.
Von der Gegnerseite kam dazu allerdings nur schallendes Gelächter.
“Du kannst nicht mal zwanzig Schritte gehen, ohne Verschnaufspause. Das einzige, wie du mich besiegst, ist wenn du auf mich fällst.”
Wieder trat der Pilger gegen das Tor, diesmal aber versuchte Wolfgang im richtigen Moment mit seinem Metallstab zuzuschlagen und den Fuß des Eierwerfers zu treffen, aber war zu spät. Der Fuß war längst nicht mehr da.
Plötzlich drehte sich der Eierwerfer zu dem Filmer um: “Noch nicht. Er ist ja eh noch im Gehege.”
Der passive Pilger schien etwas gesagt zu haben. Aus dem Kontext würde Jonas schätzen, dass er wohl langsam wieder gehen wollte. Vielleicht hatte er Angst von der Polizei erwischt zu werden.
“Tritt nochmal, du Hurensohn!” Wolfgang hatte währenddessen bereits die Stange zum Schlagen ausgeholt und wollte erneut versuchen den Tritt des Pilgers abzupassen.
“Ich kann nich in Zeitlupe treten, Wolli”, erwiderte der und trat erneut zu. Dann folgte der Schlag. Dann hämisches Gelächter vom Pilger.
In einem anderen Szenario hätte man das Hin und Her der beiden fast als Tanz bezeichnen können. Immer wieder passte der Pilger seinen Tritt so ab, dass Wolfgang ihn nicht erwischen konnte und Wolfgang wurde genauso nicht müde, nach jedem Tritt sein eigenes Zauntor einmal zu schlagen.
Es erinnerte Jonas an ein Video, welches er vor ein paar Jahren über die traditionelle Mochi-Herstellung gesehen hatte, wo ein Japaner mit einem großen Holzhammer auf gekochten Reis einschlug und ein anderer in den kurzen Pausen zwischen den Schlägen, die Masse drehte.
Doch anders als bei dem über die Jahre angeeigneten Ritual, bei dem beide zusammenarbeiteten, spielten in dem Tanz vor Jonas Augen die beiden Protagonisten eindeutig gegeneinander und es war nur eine Frage der Zeit, bis einer seinen Takt änderte oder rauskam.
Was Jonas allerdings nicht erwartet hatte, war dass der Pilger an der Stelle, an der er eigentlich hätte zutreten müssen, ausholte und etwas auf den Boden vor Wolfgang warf. Kleine Schläge waren zu hören, fast wie kleine Explosionen und mehrere Funken blitzten in der Nacht kurz auf.
Wolfgang war so nach hinten gewichen, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Boden plumpste. Die Knallerbsen hatten ihre Aufgabe erfüllt.
“Achtung! Erdbeben. Richterskala 8 mindestens!”, rief der Pilger mit gespielter Panik in der Stimme. “Warum denn so ängstlich, Fetti? Als Dämon sollten dir doch ein paar Knallerbsen nichts ausmachen, oder?”
“Ich bring dich um, du dreckiges ARSCHLOCH!”, schrie Wolfgang und versuchte aufzustehen. Die Tatsache, dass ihm das nicht sofort gelang, war in Kombination mit seinem von Wut verzerrten Gesicht ein so absurder Anblick, wie ihn Jonas zuvor nur in Comics oder Cartoons gesehen hatte. Beim zweiten Mal stütze er sich viel mehr auf die Hände und hielt nach dem halben Aufrichten kurz inne und schaffte es dadurch wieder auf die Beine.
“Beim zweiten Anlauf schon. Ich bin stolz auf dich, Wolli!”
Der Eierwerfer hatte inzwischen einen Schritt Abstand vom Zauntor und sah Wolfgang dabei zu, wie er sich aufrappelte. Als er wieder stand, schlug er vor Wut mehrmals heftig gegen das Zauntor und schnaufte danach stark.
Aus den Augenwinkeln konnte Jonas sehen, dass sich der filmende Pilger langsam aber sicher mehr vom Geschehen entfernt hatte. Er hielt noch immer die Kamera des Smartphones in die Richtung gehalten, aber, ob es Angst vor den Polizisten war oder Mitleid mit Wolfgang, er schien mehr und mehr den Weg zurück anzutreten.
“Ich bring dich um, ich bring dich um, ICH BRING DICH UM!”, rief Wolfgang völlig außer sich und schlug noch ein letztes Mal auf das Tor ein.
“Probier’s doch. Ein kleiner Abendspaziergang würde dir gut tun.”
“Du rennst eh, sobald ich rauskomm!”
“Probier’s doch!”, stachelte ihn der Pilger weiter an.
“Brauch ich net, ich kenn euch, Idioten!”
“Probier’s doch!”
Der filmende Pilger in Jonas Augenwinkel hatte nun seine Kamera gesenkt und schien mit sich am Hadern, ob er noch da blieb oder nicht. Er schien kein Interesse an einer echten Auseinandersetzung zu haben und nach kurzer Pause und einem Kopfschütteln, drehte er sich um und ging die Straße entlang den Hügel hinunter.
“Schwing keine Reden und probier’s halt!”, provozierte der Pilger währenddessen weiter.
“Selbst dein Idiotenkumpel is net so dumm wie du und is gegangen!”
“Schwing keine Reden, sondern deine Duschstange, Wolli!”
Wieder ein Scheppern. Jonas dachte erst, dass die Metallstange wieder auf das Tor niedergesaust war, aber offenbar machte sich Wolfgang gerade am Schloss zu schaffen und hatte tatsächlich vor, seinen geschützten Grund zu verlassen.
“Na? Trauste dich doch, Dickerle?”
Wieder und wieder versuchte der Eierwerfer Wolfgang aus der Reserve zu locken, aber der sah ihn nur ruhig an. War das eine weitere Art seine scheinbare Dominanz zu präsentieren?
“Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen?”
Mit einem Ruck klapperte ein letztes Mal das Zauntor und öffnete sich dann weit genug, um Wolfgang hinauszulassen. Er ließ ihn nicht aus den Augen, schien ihn dabei aber nach oben umrunden zu wollen, als würde er ihm den Fluchtweg in den Wald und auf die Felder abschneiden.
“Du warst schon lange nicht mehr so richtig am Boden, Wolli!” Der Pilger lachte laut und warf eine weitere Handvoll Knallerbsen auf den Boden vor den Influencer.
Wolfgang wich einen Schritt weiter zurück, als es vielleicht notwendig gewesen wäre, schnellte dann aber nach vorne und schwang den Stab in seiner Hand horizontal in Richtung des Pilgers.
Der Pilger machte einen Schritt nach rechts und war so der Stange ausgewichen, manövrierte sich aber mehr in Richtung einer Sackgasse mit dem Zaun im Rücken.
“Zu langsam und meilenweit daneben, Wolli!”, verhöhnte er Wolfgang und schlüpfte schnell wieder auf die offene Straße zurück. Er hatte offenbar selbst gemerkt, dass er fast nicht mehr ausweichen konnte.
“Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen oder reichen die Gehirnzellen nicht mehr zum Sprechen?”
Wieder keine Reaktion, sondern ein Schlag mit dem Stab. Diesmal war der Pilger allerdings darauf vorbereitet und wich mit Leichtigkeit aus.
Ein vergleichbarer Tanz brach wieder los. Wo zuvor der Pilger in der Offensive war, führte jetzt der Dämon den Tanz an. Schlag, ausweichen, provozieren. Die drei Schritte wiederholten sich mehrmals und Jonas überlegte, ob das Spiel mit dem Feuer ein gutes Ende nehmen konnte.
Der Eierwerfer musste sich nur einmal verschätzen oder Wolfgang nur minimal seine Strategie ändern und schon könnte es mit einer bösen Verletzung für den Pilger enden.
Doch der schien den gleichen Plan wie zuvor zu haben. Während er immer wieder auswich und provozierende Sprüche teilte, steckte er eine Hand in die Hosentasche und holte sie zur Faust geballt wieder heraus.
Jonas konnte erahnen, was folgen würde und war gespannt, ob der Dämon es diesmal bereits erwartete.
“Zu lahm, zu dumm und zu unbeweglich! Wem willst du erzählen, du wärst sportlich?”, spottete der Pilger, wartete, den nächsten Schlag ab und warf dann die in seiner geballten Faust befindlichen Knallerbsen direkt vor Wolfgangs Füße.
Er musste angenommen haben, dass dieser wieder einen Schritt zurückweichen würde und ging bereits selbst einen Schritt nach vorne, als Wolfgang plötzlich durch die Knallerbsen hindurch selbst nach vorne trat und die Metallstange in seiner Hand horizontal schwang.
Das Geräusch des Auftreffens des Metalls auf der Haut und den darunterliegenden Knochen, sorgte dafür, dass Jonas zusammen mit dem Pilger erschrocken die Luft ausstieß. Mehr aus Schock, als aus Schmerz, aber als er sah, wie der junge Mann sich die Seite hielt und auf dem Boden rollte, konnte er den Schmerz fast nachvollziehen.
Wolfgang ging in der Zeit seelenruhig auf den Mann zu und holte von oben herab aus.
“Nein!”, schrie der Pilger in Panik, warf die Hände schützend vors Gesicht und rollte dann im letzten Moment zur Seite.
Die Metallstange schlug auf den Boden und kratzte über den Asphalt.
“Du Psycho! Was machst du da?” In der Stimme des Pilgers war echte Angst. Er hatte sich aufgerichtet und saß wenige Meter von Wolfgang entfernt, das Gesicht vor Schmerz verzerrt und die Hand an den Rippen der getroffenen Seite.
Er rutschte erneut ein paar Meter weiter und begann dann aufzustehen, was ihm sichtlich schwer fiel. Während eine Hand weiter an den Rippen blieb, stützte er sich mit der zweiten auf seinem Knie ab und blieb vorüber gebeugt stehen.
Er schnappte nach Luft und keuchte. Mit Wolfgang zu reden schien er aufgegeben zu haben. Sein Blick wanderte nur kurz in die Richtung, in die der filmende Pilger verschwunden war und dann sofort zurück zu Wolfgang.
Der Kopf des Eierwerfers zuckte immer wieder links und rechts. Er schien eine Möglichkeit zur Flucht zu suchen. Mit einem Mal fixierte er aber den Blick wieder auf Dämon und ging in kleinen Schritten rückwärts den Hang hinunter.
Schon nach dem zweiten Schritt schnellte Wolfgang so unerwartet nach vorne, dass der Pilger beim Ausweichen fast wieder auf den Boden gefallen wäre.
Doch damit nicht genug, fast in einer fließenden Bewegung nutzte Wolfgang die ausgestreckte Position der Metallstange schlug horizontal aus der entgegengesetzten Richtung zu.
Darauf schien aber der Pilger nur gewartet zu haben. Er riss sich den Rucksack von der Schulter, hielt ihn vor sich und stieß ihn nach vorne, in dem Moment, als die Stange damit Kontakt hatte.
Die Stange hatte sich wohl in den Schulterriemen verheddert. Der zusätzliche Stoß nach vorne, riss die Stange aus der Hand des Dämon. Mit einem Klirren landete sie auf der Straße.
Der Eierwerfer nutzte die Chance sofort und humpelte erst los, nahm dann aber an Geschwindigkeit auf und ging mit schnellen Schritten die Straße herunter. Er verschwand hinter der nächsten Ecke und Jonas sah nur noch, wie der dicke Influencer versuchte hinterherzukommen.
Ein fester Schlag, ähnlich wie der gegen die Rippen. Ein Aufstöhnen. Dann etwas Schweres, was umgefallen war.
Während all dieser Geräusche konnte Jonas Wolfgang noch sehen und erst dann verschwand auch er hinter der Ecke.
Was zur Hölle war da gerade passiert?
Er fing erst langsam an, dass alles zu realisieren. Es war wirklich zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen und Wolfgang hatte den Angreifer niedergeschlagen. Und jetzt klang es, als sei hinter der Ecke … Jonas konnte den Satz nicht mal zu Ende denken.
Sein Herz schlug so schnell, als wollte es aus seinem Brustkorb entkommen und seine Hände waren nass von kaltem Schweiß.
Längst hatte er sich mehr und mehr geduckt, sodass er inzwischen fast zwischen den Bäumen lag und über den Hang hinunter auf die Ecke sah, wo die beiden gleich dunklen, aber sich so unterscheidenden Personen verschwunden waren.
Die Stille, die folgte, machte ihn wahnsinnig. Wenn er wenigstens hören würde, wie der Pilger etwas rief oder Wolfgang ihm Beleidigungen hinterher rief. Aber kein Ton kam bei ihm an. Nicht mal ein Hund meldete sich jetzt nochmal zu Wort.
Nach schier endlosen Sekunden dann endlich ein Geräusch. Ein Flüstern?
Es klang, als würden mehrere Personen miteinander reden; zu leise, als dass er es verstehen könnte, aber laut genug, um zu realisieren, dass es zwei verschiedene Stimmen waren.
Dann kam ein dicker Schatten wieder zum Vorschein an der Ecke. Wolfgang ging langsam wieder den Berg hinauf. In seinem Arm trug er etwas Großes, aber leider von der Hangseite abgewandt, sodass Jonas nur vorne etwas Rundes und hinten etwas erkennen konnte, was wie herunterhängende Beine aussah.
Konnte das wirklich …? Hatte er …?
Jonas konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, als er von einem Motorengeräusch abgelenkt wurde. Von unten, hinter der Ecke kam es ganz eindeutig, aber wer könnte es sein?
Eigentlich musste er nicht lange darüber nachdenken. Es gab nur eine Person und Jonas hoffte, dass er sich irrte.
Aber entgegen seiner Hoffnung, sah er einen Streifenwagen leise davonrollen.
Währenddessen hatte Wolfgang bereits das Zauntor hinter sich gelassen. Inzwischen zog er den Gegenstand mehr als ihn zu tragen. Sein Kopf und seine Beine bewegten sich bei jedem Schritt des dicken Mannes.
Aber die Bewegung des Kopfes … Jonas sah sie sich nochmal genauer an. Es wirkte, als hätte das Zucken des Kopfes einen ganz eigenen Rhythmus; losgelöst vom Schleifen des Körpers.
Hieß das, er war noch am Leben? Vielleicht sogar noch bei Bewusstsein?
Jonas fluchte leise und sah sich auf der Straße vor ihm um. Keine Menschenseele war unterwegs und er war der Einzige, der mitbekommen hatte, was hier vor sich ging.
Er wollte einfach nur nach Hause, weit weit weg von hier, von Wolfgang, von Walter Meier und von Grauenfels.
Aber, wenn er noch lebte und Jonas jetzt ging …
Er fluchte erneut leise und machte sich daran, vorsichtig den Hang herunterzuklettern, während er sich an den Wurzeln und Stämmen festhielt, die ihm Halt geben konnten.
Auf den letzten Metern den Hang hinunter blieb Jonas mit dem Fuß an einer Wurzel hängen und stolperte mehr zu Boden, als geschmeidig zu landen. Beim Aufprall stieß er hart die Luft aus seinen Lungen und blieb einen kurzen Moment liegen.
Panisch sah er sich um, bedacht darauf den Rest des Körpers möglichst wenig zu bewegen. Falls jemand ihn gehört hatte, musste er ihn nicht gesehen haben. Aber auch nach einigen Sekunden fielen ihm weder Bewegungen noch Geräusche in der Nähe auf.
Er rappelte sich auf, strich sich etwas den Dreck aus der Kleidung und machte sich geduckt auf den Weg in Richtung des Zauntors, das noch immer sperrangel offen stand.
Schon beim Betreten des Geländes kam ihm ein schimmeliger Geruch in die Nase. Das mochte an den Lebensmitteln und dem Müll liegen, den nicht nur die Besucher über den Zaun warfen, sondern auch Wolfgang aus dem Haus in den Hof, aber Jonas hatte das Gefühl, dass der größte Anteil des Gestanks aus der Richtung des Hauses kam.
Er verließ die Pflastersteine des zugemüllten Hofes und lief über die überwucherte Wiese, um weniger gut zu sehen zu sein. Er hatte den Dämon aus den Augen verloren als dieser auf den Hof gegangen war, aber wahrscheinlich war er durch die Haustür gegangen. Jonas hielt es für besser erstmal durch die Fenster zu schauen und herauszufinden, wo Wolfgang sich aufhielt, statt einfach hereinzustürmen.
Aus diesem Grund steuerte er nicht die linke Seite des Hauses an, wo sich die Haustür befande, sondern ging an der Hauswand nach rechts und spähte in jedes der Fenster, an denen er vorbeikam. Ihm fielen direkt mehrere Fenster im Erd- und Kellergeschoss auf, aber die unteren Fenster waren, soweit er das sehen konnte, allesamt mit Holz von innen vernagelt.
Sein Herz pochte unglaublich laut und dröhnte ihm geradezu bassartig in den Ohren, als er über das Fensterbrett des ersten Fensters schaute.
Vor ihm befand sich ein Raum, der früher vermutlich ein Wohnzimmer war. Eine Couch und ein Fliesentisch standen in der Mitte des Raums, umringt von zerstörten Kartons von Online-Händlern und alles eingerahmt von einer schwarzen, fleckig gemalten Wandfarbe, aber keine Spur von Wolfgang oder dem Pilger.
Jonas ließ keine Zeit verstreichen, duckte sich wieder und schlich weiter um das Haus herum. Er wusste aus den Infos über den Dämon, dass das Streaming- und Gamingzimmer sich im ersten Stock befand, aber sonst war ihm wenig über den Grundriss bekannt.
Das nächste Zimmer, in das er sah, schien ein Esszimmer gewesen zu sein, welches aber seit Jahren unberührt war. Vor Jahren schien es zum Abstellen alter Kleidung, vor allem von jungen Frauen, gedient zu haben, aber selbst über den Klamotten war eine dicke Staubschicht. Angrenzend konnte er bereits einen weiteren Raum sehen.
Als er um die nächste Ecke schlich, sah er dort im Fenster eine heruntergekommene Küche, wie er es erwartet hatte. Eine der Kochplatten des Herds war unbrauchbar, weil dort eine Abdeckung eingebrannt war, das Glas des Ofens hatte einen Sprung und an der Wand darüber war eine Stelle von weniger Fett und Staub bedeckt. Das war vermutlich wo die Dunstabzugshaube einst hing. Der Anblick reichte, um ihm jeglichen Appetit zu verderben, wenn er denn welchen gehabt hätte.
Er befand sich inzwischen auf der der Straße abgewandten Seite und damit blieb nur noch die Seite mit der Haustür übrig.
Jonas atmete tief durch und versuchte sein pochendes Herz zu beruhigen. Dass er Wolfgang nicht gesehen hatte, hieß vermutlich, dass er im Keller oder Obergeschoss war. Aber was würde passieren, wenn er ihn erwischte?
Wenn er wusste, dass er ein Zeuge war?
Wieder geduckt und so leise wie nur irgendwie möglich, schlich sich Jonas an die Haustür heran. Auch sie war weiterhin geöffnet. Wolfgang hatte ja auch die Hände voll, als er durch die Tür ging, schoss es Jonas durch den Kopf und er schluckte schwer.
Mit jedem Schritt zum Hauseingang nahm der Gestank zu und seine Augen begannen zu tränen. Schimmel und Staub, Urin und Moder erschufen eine weitere Kakophonie an Düften. Ein Erlebnis, das er nicht wiederholen müsste.
Er zog sich das T-Shirt hoch und über den Mund und die Nase, um dem bestialischen Gestank nicht komplett ausgeliefert zu sein und betrat die Höhle des Dämons.
Der Flur, der vor ihm lag, war übersät von Spielzeug, Essensresten und Müll und Jonas konnte keinen Gegenstand sehen, der nicht eingestaubt oder verschimmelt war. Nur ein schmaler Gang ins Innere des Hauses, durch den Wolfgang sich vermutlich öfter kämpfte, war von Staub befreit.
Weiter im Haus führte der Gang nach links und rechts zu mehreren Türen, hinter denen sich vermutlich die Zimmer befanden, welche Jonas von außen sehen konnte. Aber diese Zimmer waren im Moment für ihn uninteressant und er hatte sie bereits zur Genüge angesehen.
Zu seiner Rechten führte ein hölzerner Treppenaufgang in den ersten Stock, aus dessen Richtung Licht nach unten strahlte. Am hinteren Ende der Treppe stand allerdings eine Tür offen, aus der ebenfalls Licht kam.
Jonas nahm an, dass dort die Treppe in den Keller unter der Treppe zum Obergeschoss lag. Er würde so gerne lieber ins Obergeschoss als in den Keller zu müssen. Er schluckte heftig und betrat vorsichtig die erste Stufe der Treppe nach oben.
Ein lautes Knarzen ließ ihn selbst fast aufschrecken. Das alte Holz arbeitete unter seinem Gewicht und gab verräterisch jedem über seinen kleinen Versuch eines Schrittes Bescheid.
Durchziehen oder in den Keller?
Jonas ließ sich kurz beide Möglichkeiten durch den Kopf gehen, aber er ging davon aus, dass Wolfgang den Pilger in den Keller gebracht hatte. Er war vermutlich oben am Streamen oder Zocken gewesen, als der Besucher kam und darum brannte oben noch Licht, aber dass im Keller Licht brannte, dafür hatte Jonas keine Erklärung außer seiner Annahme.
Die Schritte zum Treppenabgang versuchte er so leise wie nur möglich zu setzen und schaffte es fast ohne Geräusche bis zur Tür. Die Treppe in den Keller war nicht hölzern, sondern aus Steinen, die in der Mitte fast schon aalglatt abgeschleift waren, vermutlich durch die Jahre der Benutzung.
Als er nach unten sah, meinte er fast einen Nebel vor sich zu sehen. So viele Spinnweben, Staubflocken und Schimmelsporen tanzten in der Luft, dass es ihm schon auf der obersten Stufe die Luft raubte.
Er trat noch einmal zurück in den Flur und sah sich um. Ohne Plan B könnte er niemals in den Keller gehen. Gab es irgendetwas, was ihm helfen konnte, sich zu verteidigen oder Wolfgang abzulenken.
Sein Blick wanderte nach links und rechts, aber es war nur Müll zu sehen und die vergammelten Essensreste, die dafür sorgten, dass sich ihm der Magen zusammenzog.
Er stöhnte so leise wie möglich auf und richtete den Blick die Treppe nach oben entlang. Vielleicht könnte er dort oben etwas finden …
Während er noch darüber nachdachte, ob es im Obergeschoss etwas geben könnte, das ihm half, fiel ihm das grüne Licht an der Treppe auf. Jemand hatte am Geländer des Treppenaufgangs eine kleine schwarze Box angebracht. Obwohl das zu hochgestochen war, denn ein einfacher Kabelbinder hielt das Kabel der Box an der Holzlatte der Treppe.
Vielleicht war das eine Chance?
Jonas schnappte sich einen abgebrochenen Zollstab, der im Müll lag und versuchte nicht darüber nachzudenken, warum er leicht feucht war, oder in was er alles seit Jahren marinierte. Er klappte ihn aus und drückte mit dem Ende so vorsichtig wie möglich gegen die Box.
Auf der hinteren Seite müsste … Da war er! Ein kleiner Knopf, hoffentlich für die Bluetoothverbindung. Er holte hastig sein Handy heraus und versuchte das Ende des Zollstocks mit dem Knopf an der Box auf eine Linie zu bringen, dann begann er vorsichtig nach oben zu drücken und …
Die Box rutschte vom Zollstock ab und schlug gegen die Treppe. Kein großer Lärm, aber hörbar. Jonas hielt den Atem an. Er traute sich nicht, sich zu bewegen. Den ausgefahrenen Zollstock nach oben gereckt, stand er wie eine Statue für mehrere Sekunden da. Aber nichts rührte sich.
Er atmete so leise wie möglich durch und wischte sich mit dem Handrücken der freien Hand den Schweiß von der Stirn, dann versuchte er es mit dem nächsten Versuch. Wieder schaffte er es die Zollstock an den Knopf zu führen. Er drückte langsam nach oben.
Die Box rutschte diesmal nicht zur Seite, aber schwang leicht nach hinten bis sie gegen eine Kante der Treppe kam und sich verankerte.
Jonas ließ im Inneren einen Freudenschrei und aktivierte die Bluetoothkoppelung.
Er dankte dem Dämon, dass er sich von seinen Fans, Pilgern und den Mitleid habenden Zuschauern immer wieder neues Spielzeug kaufen ließ. Mit der neuen Möglichkeit zur Ablenkung gewappnet, machte er sich wieder auf in Richtung Kellertreppe.
Er hatte zwar einen Plan B, aber beim Anblick der tanzenden Teilchen in der Luft, die am unteren Ende der Treppe auf ihn warteten, wurde ihm trotzdem ganz anders.
Seinen ganzen Mut zusammennehmend schob er seinen Fuß auf die erste Stufe und begann den Abstieg in das Untergeschoss.
Inzwischen war auch trotz des T-Shirts vor seiner Nase der Gestank von Moder und Schimmel an seine Nase gekommen. Hier unten war er so konzentriert, dass selbst eine professionelle Atemschutzmaske nicht geholfen hätte. Das war zumindest sein Eindruck.
Die Treppe führte ihn direkt in einen schlauchförmigen Gang, an dessen Ende und Seiten Türen in die Kellerräume führten. Die Wände waren aus einfachem Beton und der Boden aus Erde.
Jonas hatte sich zuerst gewundert, dass es keine feuchten Stellen ander Wand zu geben schien, bis ihm auffiel, dass es keine trockenen gab. Der Keller war eine einzige Schimmelgrotte und er war mitten drin.
Die letzte Tür links am Ende des Ganges stand offen und Licht strahlte daraus hervor. Es waren Geräusche zu hören, als würde jemand Kisten hin und her tragen. Dann eine Pause und viel Geschnaufe.
Langsam schlich sich Jonas an. Die Dichte des Staubs und des Schimmels trieb ihm inzwischen nicht nur in die Augen und Nase, sondern sein Kopf fing immer mehr an zu dröhnen. Am liebsten hätte er sich einfach umgedreht und wäre weggerannt.
In seiner Erinnerung sah er wieder den Pilger vor sich und presste die Zähne zusammen. Schleichend langsam kroch er auf das beleuchtete Zimmer zu und ging dann daran vorbei, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen.
Stattdessen war er am Ende des Gangs in das direkt voraus liegende Zimmer gehuscht. Auch hier stand die Tür offen, aber das Licht war aus, sodass er sich kurz sicher fühlte.
Sein Herz schlug noch immer wie wild und seine Atmung war flach. Er atmete mehr und mehr von der stickigen, heißen und feuchten Luft ein und meinte, sein Schädel würde explodieren. Er musste sich beeilen, bevor er nicht mehr klar denken konnte oder entdeckt wurde.
Mit seinem Smartphone suchte er ein Besuchsvideo beim Dämonen und spielte es ab. Aus den Boxen oben drangen die Stimmen der Pilger.
“Dämonenzeit!”
“Hey Fetti, komm raus und spiel mit mir!”
“Los, du hast doch im Chat gesagt, du haust mir aufs Maul, wenn ich zu dir komm!”
Jonas wurde ungeduldig. Die Nässe und Wärme, der Gestank von Moder erinnerte ihn an die Schillerhöhle und er unterdrückte sich ein Würgen.
Vor seinem geistigen Auge sah er förmlich den Schlund der Höhle, wie sie ihn als Kind angelockt hatte und auch als Erwachsenen fast bekommen hatte. Wieder musste er würgen, als würde sich sein Körper gegen etwas wehren.
Dann Schritte vom Gang.
Er hielt den Atem an und drückte sein Handy an seinen Körper.
Die Schritte wurden lauter. Hatte Wolfgang ihn gehört?
Er lauschte gebannt auf das Schnaufen und Stampfen des Dämon. Dann wurden die Schritte wieder leiser und schließlich meinte er die Schritte auf der Treppe zu hören.
Schnell beendete Jonas das Video, damit er nicht gleich merkte, dass die Stimmen nur aus der Box kamen. Als er schließlich die Haustür knallen hörte, atmete er erleichtert auf und schlich sich aus dem Raum.
Er konnte jetzt keine Zeit verlieren. Wolfgang würde schnell merken, das keine Besucher da waren und dann würde er schnell wiederkommen. Einmal in den anderen Raum, schauen, ob er helfen konnte und wieder weg.
Seine Schritte näherten sich dem Lichtkegel, der aus dem Zimmer ragte und schon waren seine Schuhe im Licht, dann folgte sein Körper und schließlich wagte er einen Blick hinein.
Von der Tür aus konnte er nur eine Rückwand erkennen und links eine Art großes Kellerfenster, welches durch eine Holztür verriegelt war. Dabei musste es sich um eine Kellerklappe handeln, wie sie früher für die Kohle benutzt wurden.
Er ging einen Schritt in den Raum, die Luft hätte fast mit einem Messer in Scheiben geschnitten werden können. Jonas Blick schwankte nach rechts, in den Teil des Raums, den er bisher nicht sehen konnte.
Sein Handy entglitt seinem schweißnassen Griff. Es fiel auf den Boden, schlitterte etwas zur Seite. Sein Mund stand offen, auch wenn das unter dem T-Shirt nicht zu sehen war und seine Augen waren weit aufgerissen.
“Was zur …”, begann er, dann wich er einen Schritt zurück.
Die Wand vor ihm war nicht nur verschimmelt, sondern eingestürzt. Ein Loch war in der Mitte der Wand entstanden. Daraus hatten sich weiße Fäden wie Finger - die durch ein Loch gesteckt wurden, um es auszuweiten - in alle Richtungen über den Rest der Wand ausgebreitet.
Am Rand des Lochs wuchsen Pilze, wie Jonas sie noch nie gesehen hatte. Ein stetiger Strom an Sporen entwich ihnen und sah fast aus wie ein fallender Dampf, der aus den Pilzen kam. Eine groteske Verzerrung davon, wie es aussehen würde, wenn sich die Natur die Erde von den Menschen zurückholte.
Aber das war nichts im Vergleich zur Mitte des Lochs. Jonas starrte auf die weißen Fäden, die so etwas wie einen hohlen Tunnel bis zur Wand gegraben zu haben schienen. Und in diesem Tunnel steckte etwas.
Jonas wandte sich ab und spie seinen Mageninhalt über den Erdboden. Er stützte sich auf Knie und eine Hand und konnte nicht anders als wieder hinzusehen.
Das, was da aus dem Loch ragte, war der Unterkörper und ein Arm des Pilgers, den er retten wollte. Blut lief ihm, gemischt mit einer schäumenden, weißlichen Substanz, den Arm herunter und tropfte auf den Boden.
Das Geräusch eines zahnlosen und kaulosen Verschlingens hing im Raum. Nass, schmatzend, abstoßend.
Jonas würgte erneut und rappelte sich auf.
Er tastete nach dem Handy und fand es in Richtung der Tür.
Die Tür! Er wollte nur noch weg. Weg von hier, weg von Grauenfels, weg von allem! Er trat gerade in den Flur, als er hörte, wie ein Schlüssel in die Haustür geschoben wurde.
Erstarrt lauschte er den Schritten und dem Schnaufen von oben. Er versuchte sich nur darauf zu konzentrieren, aber das schmatzende Geräusch von hinten ließ ihn nicht alleine.
Sein Kopf dröhnte und hämmerte. Das Bild von der Schillerhöhle ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wollte laut schreien, doch unterdrückte es.
Die Schritte waren an der Kellertreppe angelangt.
Er griff zum Handy und stellte den erstbesten Ton an, den er finden konnte, so laut er konnte. Irgendein Rocksong plärrte aus den Boxen.
Die Schritte verstummten, drehten um. Dann hörte er das Knarzen der Dielen. Er war auf dem Weg nach oben. Doch dann hielten sie wieder an. Jonas konnte sich nicht vorstellen, dass er bereits im Obergeschoss war. Er musste weg und zwar schnell.
Er drehte sich im Zimmer um und sah die Kellerklappe vor sich. Er rannte hin und entriegelte sie.
Ein Stoß und er wäre in der Freiheit der Nacht. Er drückte sie auf und … sie bewegte sich kaum.
“Verdammt”, zischte er. Tränen standen ihm in den Augen und das Schmatzen an seiner Seite trieb ihn immer mehr in den Wahnsinn.
Von oben hörte er ein Klicken und die Musik verstummte.
Das Knarzen war wieder zu hören, aber diesmal ging jemand die Treppenstufen herunter. Er hatte keine Zeit mehr. Ab jetzt ging es nicht mehr darum, leise zu sein, sondern wegzukommen.
Jonas stemmte seine Schulter gegen die Kellerklappe. Ein wenig bewegten sie sich, aber nicht genug.
Das Knarzen der Schritte oben hatte aufgehört und die Schritte waren im Gang zu hören. Er nahm Anlauf und rammte seine Schulter gegen das Holz. Die hölzernen Tore bewegten sich, aber fielen wieder zurück, als würde etwas Schweres auf ihnen liegen.
Die Schritte oben verstummten. Vermutlich hatte er gehört, wie Jonas gegen die Kellerklappe gerannt war.
Noch ein Versuch. Er rannte gegen die Kellerklappe und bei der kleinsten Öffnung steckte er sofort seine Finger hindurch.
Die Schritte oben hatten die Kellertreppe erreicht. Hörte es sich nur so an oder waren die Abstände zwischen den Schritten schneller geworden?
Mit seinen Fingerspitzen konnte Jonas etwas aus kaltem Metall fühlen. Wenn er es nur zur Seite schieben könnte.
Er stemmte sich erneut mit einem Gewicht gegen die Holztüren, während er noch immer die Hand zwischen ihnen hatte. Dann hatte er die ganze Hand durch.
Die Schritte waren inzwischen im Durchgang zu den Kellerräumen. Er konnte das Schnaufen hören, als wäre es in seinem Nacken.
Er griff mit der Hand nach dem metallischen Gegenstand und drückte dagegen. Es bewegte sich.
Die Schritte waren fast vor der Tür.
Ein weiterer Ruck. Er spürte den Gegenstand kippen, dann stieß er die Holztüren ganz auf. Mit einem Satz war er draußen an der frischen Nachtluft.
Er widerstand dem Drang durchzuatmen und die Luft zu genießen, sondern drehte sich um. Im gegenüberliegenden Türrahmen stand Wolfgang. Aus seinen Augen funkelte purer Hass. Er lief in Jonas Richtung.
Sofort schloss Jonas die Kellerklappe wieder und schaute sich daneben um. Dort lag eine Dunstabzugshaub direkt neben der Öffnung. Er packte sie und schob sie wieder auf die Klappe.
Während die Holztüren klapperten und die Abzugshaube hin und her wackelte, drehte Jonas sich um und rannte zu seinem Auto.
Seine Seite fing an zu stechen und er war komplett außer Atem, aber Jonas hörte nicht auf zu rennen. Er wusste nicht, wann er zuletzt so gerannt war. Nein, er war sich sicher, dass er es noch nie getan hatte.
Die Straßen waren immer noch dunkel und leer und das Einzige, was er hörte, waren seine Schritte auf dem Asphalt. Das Einzige, was er hörte, waren seine Schritte. Das bedeutete, dass das Rattern der Kellerklappe aufgehört hatte. Wolfgang hatte entweder das Hindernis überwunden oder war auf dem Weg durch die Haustür.
Jonas keuchte, während er den Hügel hinauf rannte und endlich sein Auto sehen konnte. Es stand noch immer am oberen Ende des Hügels, neben dem Waldrand.
Er schloss es auf, sprang rein und das erste Mal in seinem Leben startete er den Motor und fuhr los, ohne sich anzuschnallen. Er fuhr nicht durch Grauenfels, sondern fuhr über den Feldweg direkt in Richtung Islingen.
Erst als er die Häuser nicht mehr im Rückspiegel sehen konnte, atmete er durch. Sein Herz raste noch immer wie wild, seine Hände umklammerten das Lenkrad so stark, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Als das Adrenalin langsam nachließ, spürte er, wie sein Körper reagierte. Seine Hände begannen zu zittern und er musste sich mehrmals die schweißnassen Hände an der Jacke abwischen. Sein Magen rebellierte noch immer.
Aber am schlimmsten war sein Kopf. Sein Kopf dröhnte und hämmerte. Phasenweise überkam ihn ein Schmerz, der ihm fast die Sicht raubte und die Straße vor ihm mit tanzenden Lichtern übermalte.
Er öffnete das Fenster und atmete tief durch. Die kalte Nachtluft schlug ihm entgegen und beruhigte ihn. Sein Herzschlag normalisierte sich.
Jonas bremste den Wagen erst ab, als er sich in Islingen befand. Er fuhr zu dem Gasthaus, in dem er untergekommen war, nahm seinen Laptop aus dem Auto und sah sich mehrmals paranoid um, bevor er hineinging.
Ihm ging so viel durch den Kopf. Aber er musste seine Gedanken erst sortieren. Als er ins Zimmer trat, das er angemietet hatte, die Tür fest verschlossen und den Laptop aufs Bett geworfen, fühlte er sich zum ersten Mal seit der Abenddämmerung wirklich in Sicherheit.
So viel Anspannung fiel von ihm ab, dass er auf den Boden sackte. Sein Kopf donnerte noch immer und als er seine Hände gegen seine Augen drückte, hinter denen der Schmerz pochte, merkte, er, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Er ging zu dem kleinen Waschbecken in der Ecke und schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es fühlte sich an, als könnte er wieder klarer denken.
“Es gab also wirklich einen Dämon in der Schillerhöhle und er hat Besitz ergriffen von Wolfgang?”, murmelte er in den leeren Raum.
Das Ding im Keller, nur beim Gedanken daran lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, sah aus wie ein Pilz. Aber ein so großer und Fleisch fressender Pilz?
“Kenne deinen Feind.”
Er wollte zwar nichts wie weg von hier, aber was war mit Josephine? Was war mit seinen Eltern?
Während er den Laptop startete und darauf wartete, dass er hochfuhr, suchte er am Smartphone danach, wie groß Pilze werden konnten.
Das Ergebnis verwunderte ihn. Er hatte sich nie sehr für Biologie interessiert, aber anscheinend war der eigentliche Pilz ein Geflecht unterhalb des Erdbodens und konnte mehrere Quadratkilometer groß werden. Was er als Pilz kannte, war quasi nur eine Frucht einer sehr großen Pflanze.
Er legte das Handy bei Seite und suchte am Laptop weiter, der inzwischen hochgefahren war. Auch die Suche nach fleischfressenden Pilzen führte ihn schnell zu einer erschreckenden Erkenntnis. Auch Pilze fraßen Fleisch, wenn auch meist nur von kleinen Insekten.
Vor seinem inneren Auge sah er die weißen Fäden an seinem Reifen und die weißen Fäden im Keller, die aus dem Loch in der Wand ragten. Beide sahen identisch aus und glichen seiner Bildersuche nach Pilzgeflechten.
Konnte es wirklich sein? War da ein fleischfressender Riesenpilz in Wolfgangs Haus?
Jonas stand auf und durchsuchte seinen Rucksack. Schnell wurde er fündig und brachte den zusammengefalteten Zettel zum Laptop. Er suchte eine Karte von Grauenfels und zoomte hinaus, sodass er auch Brettheim und Islingen sehen konnte und legte das Papier darüber.
Wenn er die Striche der T-Form weiterführte, dann trafen sie direkt auf die beiden Nachbarorte. Hatte nicht Nils gesagt, dass auch dort Leuten dieser Geruch anhing?
Was wenn es der Pilz ist?
Jonas Hände begannen unwillkürlich zu zittern. Er versuchte es zu ignorieren und suchte weiter.
Was er über Pilze mal gehört hatte, war dass es Arten gibt, die Insekten befallen und ihr Verhalten steuern konnten. Sie ließen sich dann auf einer Erhöhung sterben und dadurch konnten sich die Sporen besser verteilen.
Könnte das Wolfgangs Verhalten erklären? Und das von Meier?
Aber warum?
Was bekam der Pilz dadurch, wenn Menschen in den Ort pilgerten?
Vor seinem Auge sah Jonas das Bild des Besuchers, der halb in das Loch gezogen wurde.
“Nahrung”, flüsterte er.
Er versuchte die Fäden in seinem Kopf zusammen zu führen.
Wolfgang zieht Hass auf sich und Leute in den Ort. Wie einer der Pilger bestätigt hatte, kennt man viele der echten Identitäten nicht und keiner wundert sich, wenn einer der Mit-Pilger plötzlich nicht mehr auftaucht.
Aus Angst vor sozialer Ächtung wussten das soziale Umfeld in der echten Welt wiederum nichts von den Besuchen oder dem Aufenthaltsort.
Es ergab alles so viel Sinn und gleichzeitig war Jonas sich sicher, dass er sich irren musste. Wie lange ging das schon? Der Pilz musste ja erst wachsen und den Influencer gibt es erst …
Jonas stand auf und riss die Augen auf.
“Seit die Schillerhöhle geschlossen wurde…”, flüsterte er. Sein Herz pochte wie wild.
All die Verschwundenen über Jahrzehnte hinweg. Sie alle wurden Opfer dieses Pilzes?
Aber warum verscheuchte Meier dann die Pilger. Jedes Mal, wenn eine Gruppe vor Ort …
Wieder schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Meier verscheuchte immer die Gruppen, aber nicht die einzelnen Personen. Bei einer Gruppe müsste man gleich zwei Personen verschwinden lassen.
“Nein, nein, nein”, sagte Jonas zu sich. Das konnte alles nicht stimmen.
Er warf sich aufs Bett und sah an die Zimmerdecke. In seinen Gedanken versuchte er alternative Szenarien zu seiner Theorie zu finden, aber er entkräftete jede andere Interpretation selbst. Alle Puzzlestücke passten zusammen.
Aber war das wirklich der beste Weg, um Leute anzulocken?
Er nahm sein Handy in die Hand und suchte ein Video über den Werdegang des Dämon. Es war eine der Dokumentationen, die er gesehen hatte, als er das erste Mal von dem Influencer erfahren hatte.
Die Stimme aus dem Off erzählte davon, dass es sich bei Wolfgang um einen normalen Jugendlichen gehandelt habe, der versuchte zu streamen, durch seine Art aneckte und sich durch den entgegenkommenden Hass veränderte.
Was, wenn es nicht der Hass war, sondern etwas anderes?
Er versuchte, den Moment zu finden, an dem Wolfgang sich verändert hatte. Gab es Anzeichen? Nahm vielleicht zeitgleich der Schimmel im Haus zu?
War es vielleicht nur der einfachste Weg, den bereits aufkommenden Hass weiter zu schüren?
Während er nach Videos suchte und sie im Liegen ansah, merkte er nicht, wie die Erschöpfung des Tages von ihm Besitz ergriff und er seine Augen nicht mehr offen halten konnte.
Er fand sich wieder vor der Schillerhöhle.
Jonas stand allein auf dem Weg, der zum Gitter vor dem Eingang führte. Ohne seine Beine zu bewegen, schwebte er darauf zu. Er wollte schreien und sich wehren, aber sein Körper gehorchte ihm nicht und schwebte einfach weiter durch die Luft.
Das Gitter kam immer näher und im nächsten Moment würde er dagegenstoßen.
Nein, wollte er schreien, aber seine Lippen bewegten sich nicht, als er auch schon durch die Metallstangen schwebte. Als sei er nur ein Geist, bewegte er sich durch die festen Gitter und war im Höhleneingang.
In der Luft tanzten feine Sporen und das Pochen im Kopf fing wieder an. Es war begleitet von Worten, die ihm im Kopf hallten, ohne dass er eine Stimme dazu hörte.
Hunger. Hunger. Hunger.
Bei jedem Pochen, das hinter seinen Augen einsetzte, spürte er das Gefühl eines knurrenden Magens, ohne dass es sein eigener war. Mit jedem Pochen bekam er Lust etwas zu essen. Etwas Tierisches, Fleischiges, Blutiges.
Jonas war sich bewusst, dass das nicht sein Empfinden war, aber es war so echt, als wäre es seins.
Er ließ sich weiter durch die Höhle treiben. Die Emotionen nahmen zu. Zu Hunger kam Gier. Man hätte es fast mit Völlerei beschreiben können. Er wollte mehr und mehr und mehr.
Um ihn herum wurde es dunkel, aber Jonas hatte sich inzwischen damit abgefunden und sah zu, wie sein Körper durch die engen Höhlengänge schwebte. Eine Art von innerer Ruhe breitete sich in ihm aus, als wollte sein eigener Verstand ihm sagen, dass alles gut werden würde.
Dann sah er vor sich das Loch im Boden. Das Loch, dass Christian das Leben gekostet haben soll und vielleicht so vielen vor ihm. Das Loch, in das er selbst fast gefallen wäre.
Er hatte angenommen, er würde sich davor fürchten es zu sehen, aber jetzt schwebte er über der Mitte des Lochs und langsam begann er zu sinken. Nach und nach fiel sein Körper in Zeitlupe wie in einen langen Schacht.
Er wusste nicht, seit wann aber ihm war aufgefallen, dass kleine weiße Fäden die Wände des Schachts schmückten. Sie pulsierten leicht, als hätten sie einen Herzschlag und hin und wieder konnte er sehen, wie einer der Fäden seine Position leicht veränderte. Kleine hilfreiche Fingerchen, wie die Arme eines Oktopus.
Poch. Hunger.
Poch. Mehr.
Poch. Alles.
Sein Kopf dröhnte noch immer, auch wenn es ihm inzwischen nichts mehr ausmachte. Je näher er dem Boden des Schachts kam, desto mehr kleine Fäden konnte er sehen. Sie bewegten sich immer öfter und schneller. Manche von ihnen griffen nach ihm und schlängelten sich um seine Kleidung oder Hände, bevor sie er außerhalb ihrer Reichweite fiel.
Die Gedanken in seinem Kopf wurden auch immer klarer. Er musste Wolfgang helfen. Er konnte sicher etwas tun, um mehr Leute anzulocken, mehr Einzelpersonen. Er war schlau und kannte sich mit der Technik und der Kultur des Internets aus.
Er musste nur helfen. Den Hunger stillen. Helfen. Zu. Wachsen.
Poch. Hunger.
Poch. Verschlingen.
Poch. Angst.
Ein neues Gefühl mischte sich in seine Wahrnehmung. Angst vor zu wenig Nährstoffen. Angst entdeckt zu werden. Angst getötet zu werden.
Er dachte an sich selbst, der so viel herausgefunden hatte. Dachte an den Blogger, der den Artikel über die Schillerhöhle geschrieben hatte. Dachte an Nils, der Angst vor den bösen Menschen mit dem Geruch hatte.
Jonas müsste sie alle stoppen. Müsste sich selbst stoppen. Den Blogger stoppen. Nils stoppen.
Er hörte auf zu schweben. Etwas in ihm regte sich und sagte, dass das nicht seine eigenen Gedanken waren. Panisch warf er den Kopf hin und her. Aber seine Sicht veränderte sich nicht.
Nein, versuchte er wieder zu sagen, aber sein Körper reagierte immer noch nicht.
Er wollte Nils nichts antun. Nils war unschuldig und vor allem würde es Josephine traurig machen. Sie würde ihn hassen. Wieder versuchte er den Kopf zu bewegen.
“Nein”, hörte er schließlich seine Stimme krächzen. Er warf seinen Kopf nach rechts und spürte eine harte Kante gegen seine Stirn schlagen. Sein Körper rollte in die gleiche Richtung hinterher. Jonas stieß scharf die Luft aus, als er auf dem Boden neben dem Bett aufschlug.
Er sah sich um. Um ihn herum war das angemietete Gasthauszimmer.
Sein Schädel pochte und sein Magen verkrampfte sich. Jonas rappelte sich auf alle Viere auf und spie seinen Mageninhalt auf den Boden.
Als er sich am Bett hochzog und seinen Mund mit dem Ärmel abwischte, fielen ihm die weißen Pünktchen auf seiner Kleidung auf.
“Sporen”, murmelte er.
Ohne zu zögern, zog er sich komplett aus und sammelte alles, was er am Abend anhatte auf einem Haufen. Er lief zum Fenster und öffnete es, atmete tief die Luft ein und sah hinaus.
Die Morgendämmerung hatte gerade angefangen den Himmel zu verfärben. Er schwor sich, dass das die letzte Morgendämmerung war, die er in diesen gottverdammten Käffern sehen würde und ging ins Bad, um sich die Sporen vom Körper zu waschen.
Josephine und Nils würden ebenfalls Grauenfels den Rücken kehren. Selbst wenn er sie entführen müsste.
“Es dauert alles viel zu LANGE!” Walter warf sein halbvolles Glas gegen die Wand. Er ignorierte die Scherben und die Flüssigkeit in seinem Wohnzimmer.
In der Linken hielt er noch immer seine Dienstwaffe. Sie könnte ihm helfen. Könnte alles einfacher machen. Alles schneller machen.
“Der Hunger kommt immer schneller. Er will wachsen.”
Er dachte an Wolfgang. Zu vorsichtig.
Er dachte an den Neuankömmling Schäfer. Zu neugierig.
Seine Finger schlossen sich so fest um den Griff der Schusswaffe, dass sich seine Knöchel weiß abzeichneten.
“Bin ich denn nur von Idioten umgeben?”
Er fiel auf die Knie. Tränen rannen ihm über das Gesicht. Sein Blut schoss ihm so schnell durch die Adern, dass er es förmlich rauschen hören konnte.
“Wir sollten stolz sein, zu dienen. Heinrich hatte das verstanden.”
Er umschloss die Waffe mit beiden Händen und drückte sie an seine Brust.
“Aber vielleicht war sein Plan auch zu weich. Wenn etwas rechtmäßig ist, muss man das Recht auch einfordern.”
Seine Hände zitterten, als er die Dienstwaffe wieder von seinem Körper nahm und nach vorne streckte.
“Das kann doch nicht in deinem Interesse sein. Gib mir ein Zeichen!”
Er schrie die letzten Worte. Sie hallten in dem kleinen Raum wider.
Dann wieder das Gefühl von Hunger. Wachsen. Ausbreiten.
Wenn er es nur anderen zeigen konnte. Sie würden die Schönheit auch sehen. Wären gerne bereit, als Nahrung zu dienen. Da war er sich sicher.
Aber Wolfgang war zu vorsichtig. Und Schäfer gefährdete alles durch seine Neugier.
“Gib mir ein Zeichen!”
Sein Ruf hallte im Zimmer wider. Dann richtete er sich langsam auf.
“Nein. Die Schwachen und Ungläubigen brauchen Zeichen. Ich kann handeln, wie es richtig ist.”
Als Jonas das Zimmer verließ, hatte er dieses Mal alle seine Habseligkeiten in die Taschen gestopft und bei sich, mit Ausnahme der Kleidung, an denen die Sporen hafteten. Er wollte dieses Mal nicht den Eindruck hinterlassen, dass Zimmer sei noch bewohnt, ebenso war es ihm aber auch vollkommen egal, wenn dieser Eindruck entstand. Er wollte nur weg.
Er warf die Taschen in den Kofferraum und setzte sich auf den Fahrersitz. Sein Blick wanderte durch den Innenraum und blieb an einem kleinen Kästchen auf dem Beifahrersitz kleben.
Ein Lächeln zog über sein Gesicht. Vor so wenigen Tagen hatte er sich darüber noch Sorgen gemacht.
Während er das Beifahrerfenster herunterließ, öffnete er noch einmal den Deckel und sah sich die Ohrstecker an. Es war Josephine gegenüber nicht fair, ihr etwas zu schenken, was für eine andere gedacht war. Und sie war Geschichte.
Er warf das Schmuckschächtelchen aus dem offenen Fenster und fuhr los.
Jonas Fahrt führte ihn in die entgegengesetzte Richtung von Grauenfels. Er hatte beschlossen den Ort komplett zu meiden, soweit es möglich war. Sein Plan führte ihn zu einer Tankstelle bei der nächsten Autobahnauffahrt, wo er sich auch gleich zwei Reservekanister mit Benzin füllte, Energy Drinks und Snacks kaufte.
Sobald er Josephine und Nils im Auto hatte, würde er fahren wollen bis der Tank leer war. Kein Zwischenstopp ohne Sinn, keine Kurzstrecke, kein irgendwo Stehenbleiben.
Er nahm die Autobahnauffahrt in Richtung Süden. Sein kleiner Umweg hatte ihn mehr als 50 Kilometer gekostet, aber nicht mehr durch Grauenfels zu müssen, war es wert. Er wollte nicht Wolfgang sehen, Walter Meier, Renate oder irgendwelche in der Luft tanzenden Sporen. Keine Pilze und gottverdammt nicht die Gedanken dieses Pilzes in seinem Kopf.
“Fuck! Reiß dich zusammen!”, schrie er sich selbst an und umklammerte das Lenkrad fester. Seine Knöchel traten weiß hervor und er biss die Zähne aufeinander.
Radio. Das Radio war eine gute Idee. Für den Rest der Fahrt konzentrierte er sich auf das Gedudel irgendwelcher Popsongs und die übertrieben gut gelaunten Radiomoderatoren.
Als er bei Josephine ankam, war es bereits hellichter Tag. Jonas zögerte keine Sekunde und klingelte.
“Ja?”
“Ich bin’s Jonas. Lass mich bitte kurz rein.”
“Jonas? So früh?” Ernsthafte Verwirrung war in ihrer Stimme zu hören.
“Bitte. Es ist wichtig!” Er versuchte seiner Bitte so viel Nachdruck wie nur möglich zu verleihen.
“O.. okay.”
Der Summer ertönte und Jonas drückte die Tür auf.
Josephine machte ihm in Jogginghose und weitem Shirt die Wohnungstür auf. Auch wenn sie ernsthaft verwirrt wirkte, hatte sie trotzdem ein Lächeln für ihn aufgesetzt.
“Na? Was ist so wichtig, dass du nicht warten kannst? Ich dachte, ihr Männer meldet euch erst nach drei Tagen warten.”
Jonas sah sich im Treppenhaus um. Er hatte sofort beim Reinkommen versucht zu schnuppern, ob er den modrigen Geruch wahrnahm, den er inzwischen mit dem Pilz verband, aber das Haus schien sauber zu sein. Trotzdem wollte er kein Risiko eingehen.
“Lass uns drinnen reden”, entgegnete er.
“Was…?”, begann Josephine, aber verstummte, als sie Jonas genauer ins Gesicht sah.
Offenbar konnte man ihm ansehen, dass die letzten Tage nicht gerade einfach für ihn waren, aber um sein Äußeres konnte er sich gerade wirklich keine Gedanken machen.
“Was ist denn los?”, fragte sie, als sie die Wohnungstür hinter ihm geschlossen hatte.
“Pack Klamotten für Nils und dich ein. Und alles, was ihr unbedingt braucht. Ausweise, Bankkarten, Führerschein, Smartphone. So, dass du nie wieder hier her musst.”
“Was soll das? Was ist passiert?” Josephine bewegte sich nicht vom Fleck und sah ihn halb besorgt und halb zweifelnd an.
“Es ist …”, er konnte ihr nicht sagen, dass ein Pilz Hunger auf Menschenfleisch hat. Ebenso wenig würde sie aber mit ihm mitkommen, wenn er ihr keinen Grund liefern könnte.
“Wolfgang ist ein Mörder, ein Serienkiller. Und Meier schützt ihn. Sie wissen, dass ich es weiß und ich gehe nicht ohne euch und lasse euch bei dem Psychopathen.”
“Was soll der Quatsch? Wolfgang ist etwas durch, aber der tut keiner Fliege was zu Leide.”
“Glaub mir, bitte glaub mir einfach!” Jonas ging einen Schritt auf Josephine zu und packte sie an den Schultern. “Es geht um Leben und Tod, bitte!”
“Jonas, du machst mir Angst, bitte lass mich los”, sagte Josephine kalt. Als Jonas sie losließ, wich sie einen Schritt zurück.
“Tut mir leid.” Er atmete durch und versuchte sich zu beruhigen.
“Wir müssen wirklich hier weg. Ich will nicht, dass einem von euch etwas passiert. Hass mich ruhig dafür und sieh mich nie wieder, wenn wir hier weg sind, aber bitte komm mit!” Er spürte, wie dicke Wassertropfen über seine Augen flossen.
“Jonas, ich verstehe das nicht. Warum rufen wir nicht die Polizei, wenn du dir so sicher bist?” Josephine redete ganz ruhig mit ihm. Sie schien ihm seinen Ausbruch von zuvor zumindest erstmal verziehen zu haben.
“Ich weiß nicht, wer noch mit unter der Decke steckt.” Er schaute sich hilfesuchend um und sah das Sofa, auf dem er die Karte mit den Kreuzen mit den Informationen von Nils gemalt hatte.
“Erinnerst du dich an die bösen Leute, die laut Nils stinken? Sie gehören alle zusammen und vertuschen das Ganze. Morden zusammen.”
“Das war eine Spinnerei von meinem Sohn. Zieh ihn nicht in diese Geschichte mit rein.”
“Aber er war der Einzige, der es durchblickt hat.” Er konnte ihr noch nicht die ganze Wahrheit sagen, schaute dann aber nochmal vom Flur ins Wohnzimmer. Das Sofa war leer und die Tür zu Nils Zimmer offen, aber der Junge selbst war nicht zu sehen.
“Wo ist Nils? Sie wissen, dass er sie durchschaut hat und wollen ihn loswerden.”
“Was? Was meinst du damit?” Diesmal war es Josephine, die Jonas Schultern hart griff und ihn zu sich zog. Er ließ sich von dem Griff nicht beeindrucken
“Wo ist er? Wir müssen weg. Alle drei!”
“Wir? Es gibt kein Wir! Sag mir, wer Nils etwas antun will!”
“Halb Grauenfels. Bitte schnapp dir alles wichtige. Wir müssen zu Nils und dann fahren wir hier weg.” Er versuchte es so ruhig wie nur möglich zu sagen. Als er merkte, dass ihr Griff an seinen Schultern sich gelockert hatte, nahm er ihre Hände herunter und umschloss sie mit seinen. “Bitte. Bitte beeil dich!”
Etwas in ihren Augen hatte sich verändert. Als hätte etwas in ihr Klick gemacht. Sie drehte sich um und schnappte sich ihren Geldbeutel und Schlüssel. Sie war schon an der Wohnungstür, als Jonas versuchte sie aufzuhalten.
“Hey, was ist mit Kleidung und Ausweisen? Wichtige Papiere?”
“Fahr mich zu Nils, ich will sichergehen, dass es ihm gut geht und wenn du recht hast, dann geh ich mit dir überall hin, wo du hin willst.” Jonas konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, da sie immer noch in Richtung Wohnungstür gedreht war, aber ihre Stimme klang leicht kratzig.
“Wo ist er?”
“Bei seinem Freund Tim.”
“Gehen wir”, entgegnete Jonas und griff nach Josephines Hand. Erstaunt sog sie die Luft ein, als er sie plötzlich so mit sich durch den Hausflur zog, aber sie wehrte sich nicht und schon nach wenigen Schritten merkte er, dass sie sich nicht mehr nur noch mitschleifen ließ, sondern selbst durch den Flur eilte.
“Ich habe noch so viele Fragen an dich, aber erstmal holen wir Nils.” Josephine klang leicht kalt, aber nichts im Vergleich dazu, wie sie vorher auf ihn wirkte. Sie sah aus dem Beifahrerfenster, kaute an ihrem Nagel und wippte mit dem Bein.
“Ja, das ist erstmal das Wichtigste.”
Er ließ sich von Josephine durch die Straßen in Brettheim führen und die beiden hielten schließlich vor einem Mehrfamilienhaus am Ortsrand in Richtung Grauenfels.
“Du bleibst hier”, sagte sie und riss die Tür auf.
Jonas sträubte es zwar nicht mitzubekommen, was los war, aber vermutlich war es besser, wenn er nicht unnötigerweise etwas Falsches sagte. Er beobachtete die Szene vor ihm.
Josephine hatte gerade geklingelt und redete mit der Gegensprechanlage. Dann ein verwirrter Blick zurück zum Auto, aber gleich wandte sie sich wieder der Klingel zu.
Für Jonas wirkte es wie ein ewiges Hin und Her. Es ging so viel Zeit komplett unnötig drauf. Sie mussten Nils da rausholen und wegfahren.
Er öffnete die Fahrertür und stieg aus. In leichtem Laufschritt eilte er zur Tür und versuchte den Kontext der Antwort zu erraten.
“… alle von dene Verrückt’n weg’g’lauf’n.”
“Und Nils?”
“Meier wollt wohl no’ bissi was wiss’n. Was die g’macht han un so. Die war’n ja vermutlich scho bei Wolfgang un …”
“Wo?”, unterbrach Jonas energisch die Dame an der Gegensprechanlage.
“Ja, beim Wolfgang halt.”
“Nein, wo war Meier mit Nils?”
“Wer isch’n jetzt do?”
“WO?” Jonas verlor langsam die Geduld. Wenn Meier ihn hatte und seine Befürchtung zutraf, dann würde er vermutlich zu Wolfgang gebracht worden sein.
“Uff’m Radweg nach Graue, aber sag e mol. Des kamma a anderschd…”
Jonas hörte schon nicht mehr zu und wandte sich an Josephine, die mit leicht geöffnetem Mund da stand. Ihre Augen waren feucht und ihre Hände zitterten. Vermutlich konnte sie es noch nicht glauben, was er über Wolfgang und Meier gesagt hatte, aber sie hatte sicher Zweifel, ob nicht doch etwas dran sein könnte.
“Lass uns gehen”, sagte er sanft und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Sie sah ihn an mit ihren großen grünen Augen und er konnte sehen, wie sehr sie alles, was er gesagt hatte der Lüge bezichtigen wollte.
“Was, wenn die Pilger ihn aufgeschnappt haben?”, ihre Stimme klang emotionslos.
“Dann zwingen sie ihn Eier auf Wolfgangs Haus zu werfen. Aber was wenn Meier ihn hat und ich hatte recht?”
Sie streifte seine Hand zur Seite und legte einen Sprint zum Auto hin, wo noch immer die Türen offen standen.
“Na los!”, rief sie ihm zu. Jonas eilte hinterher.
Die beiden schwiegen sich an, während Grauenfels immer näher rückte. Jonas hielt es nicht mehr aus und öffnete den Mund, wurde aber von Josephine unterbrochen.
“Fahr mich zu Meier!”
“Wir sollten zu Wolfgang. Wenn einer von den beiden ihn hat, dann werden sie ihn dorthin bringen.”
Einen Moment schwieg sie, dann gab sie einen Schrei von sich und schlug mit der Faust auf das Handschuhfach.
“Meier hat meinen Nils mitgenommen. Ist mir egal, was für eine Verschwörung du glaubst gefunden zu haben. Bring mich zu Meier!”
“Okay, ich lass das Auto unten an der Kreuzung stehen, du gehst zu Meier und ich zu Wolfgang. Wenn einer von uns nichts findet, geht er zum anderen. Deal?”
“Deal!”
Es war Jonas nicht geheuer sich aufzuteilen, aber wenn Nils wirklich bei Wolfgang im Haus war, dann musste er sofort dorthin. Er kam nicht umhin das Bild von Nils vor Augen zu haben, wie er halb in der Wand hing wie der Pilger.
Unbewusst drückte er aufs Gaspedal und beschleunigte, während die beiden sich langsam Grauenfels näherten.
Der Ort war ruhig und weder Autos noch Menschen waren zu sehen, was am Sonntag Vormittag nicht unbedingt ungewöhnlich war. Jonas fühlte sich jedoch beobachtet. Er merkte selbst, wie er das Lenkrad fester umklammerte, um nicht zu zittern. Er wollte nicht hierhin zurück.
Als er Josephine aus dem Augenwinkel beobachtete, konnte er ihren Blick immer wieder zu beiden Seiten huschen sehen. Ihre Brauen waren zusammengezogen und ihr Hände zu Fäusten geballt. Am Liebsten würde er sich nicht von ihr trennen, aber er wusste, dass er sofort zu Wolfgang musste, falls Nils wirklich dort war. Und sie davon zu überzeugen könnte wichtige Sekunden kosten.
Der Wagen kam am unteren Ende der steilen Straße zu Wolfgangs Haus zum Stehen. Es musste ungefähr diese Stelle gewesen sein, wo der Pilger von Meier niedergeschlagen wurde.
Jonas schnallte sich direkt ab, öffnete die Tür und nahm sich aus dem Fach an der Tür eine FFP2-Maske. Das war das erste Mal, dass er froh war, dass die Pandemie sie alle dazu gezwungen hatte, sich einen Vorrat davon anzuschaffen. Dann verharrte er einen Moment, ehe er sich nochmal Josephine zuwandte. “Denk dran, so schnell wie möglich zu Wolfgang nachzukommen, sobald du dir sicher bist, dass Nils nicht bei Meier ist. Und geh nicht zu ihm ins Haus und halt Abstand zu ihm!”
Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg er aus und warf die Tür hinter sich zu. Während er schon die Hügel in Richtung der Höhle des Dämons hinauf eilte, hörte er unten die zweite Autotür ins Schloss fallen. Er drückte auf die Verriegelungstaste des Autos, sah sich aber nicht um, ob es geklappt hatte.
Seine Gedanken waren bei Nils und dem Pilz.
Er erreichte schnell das Grundstück und sah sich erst kurz um. Keine Pilger weit und breit, der Schandfleck des Ortes stand seelenruhig auf dem Grundstück und wüsste er nicht, was sich hier abspielte, hätte man das Ganze fast für ein idyllisches, verschlafenes Dorf halten können.
Das konnte Jonas aber nicht mehr sehen.
Seinen ganzen Mut zusammen nehmend, kletterte er über das Tor und lief über den Hof in Richtung der Haustür.
Letztes Mal war die Tür offen, aber dieses Mal schien das nicht der Fall zu sein. Egal wie sehr er rüttelte und seinen Körper gegen die Tür warf, bewegte sie sich nicht.
“Scheiße”, murmelte er und ging ein paar Schritte zurück. Wenn eines der Kellerfenster offen gewesen wäre, dann könnte er vielleicht … Aber die Kellerfenster waren gut verschlossen.
Er könnte durch die Kellerklappe auch reinkommen statt nur dadurch zu fliehen, aber von innen waren sie fest verschlossen und er wusste nicht, ob es so ratsam war, direkt in diesem Raum einzubrechen. Schließlich vermutete er genau hier Wolfgang.
Jonas sah sich die Fassade und Fenster genauer an, während er um das Haus lief, doch alle waren verschlossen oder sogar vernagelt. Als er eine weitere Runde ums Haus ging, fiel ihm die Dachterrasse über der Garage auf, die an das Haus angebaut wurde. Es sah so aus, als wäre dort die Terrassentür sperrangelweit geöffnet.
Aber wie überhaupt bis zu der Dachterrasse kommen?
“Verdammt nochmal, ich habe keine Zeit für so einen Quatsch.” Jonas schnappte sich einen faustgroßen Stein, der auf der Wiese lag und umrundete das Haus erneut.
Am Küchenfenster machte er Halt und ohne zu Zögern rammte er die Hand mit dem Stein voraus gegen die Scheibe. Doch statt eines erwarteten Klirrens hörte er nur ein dumpfes Geräusch und es fühlte sich an, als sei die gesamte Kraft des Aufpralls in seinen Arm gewandert.
“Fuck!”, zischte er im Versuch leise zu bleiben. Er hatte die Scheibe unterschätzt. Wütend nahm er den Stein, den er fallen gelassen hatte wieder in die Hand und ging einen Schritt zurück.
Mit all seiner Kraft schleuderte er den Stein nach vorne in Richtung des Fensters, wobei er ihn diesmal losließ. Er verfolgte die Flugbahn und mit einem Klirren zerbrach das Glas an der Stelle und der Stein landete im Inneren.
Jonas rollte den Ärmel seiner Jacke nach innen ein und hielt ihn mit der Hand fest, um sicherzugehen, dass keine Glasscherben ihn verletzen konnten, dann begann er die Reste der Fensterscheibe aus dem Rahmen zu schlagen.
Er war sich vollkommen bewusst, dass es unmöglich war, dass ihn niemand dabei gesehen oder gehört hatte, aber er hatte den Entschluss gefasst, Nils da rauszuholen und er war sich sicher, dass das nicht der Moment zum Hadern war.
Er kletterte in die Küche, der die einzigartige Verschmutzung zu eigen war, wie man sie nur in einer Küche finden konnte. Ein dünner Fettfilm vom Anbraten und Frittieren zahlloser Kalorienbomben hatte sich über die meisten Einrichtungsgegenstände gelegt und darüber hatte sich eine Staubschicht verteilt, so dünn, dass man fast noch das Glitzern des Öls sehen konnte.
Auch in der Luft lag der Geruch nach altem Öl und verschimmeltem Essen. Jonas setzte sich die FFP2-Maske auf und hoffte, dass die Sporen es damit ein Stück weit schwerer hätten, in seine Atemweg einzudringen.
Bedacht darauf, die verdreckten Möbel so wenig wie möglich zu berühren, machte er sich auf den Weg in Richtung Flur. Bisher hörte er noch keine Geräusche im Haus und nur das Knarzen der Dielen unter seinen Füßen leistete seinem eigenen Atemgeräusch und dem Klopfen seines Herzens Gesellschaft.
Er ging in den Flur zurück, wo die Treppe nach oben und in den Keller zu finden war. Diesmal kümmerte er sich nicht um die Bluetooth-Box oder eine Ablenkung. Wenn Wolfgang dort unten war, war Jonas bereit es mit ihm aufzunehmen.
Der Flur war noch immer gesäumt von Müll und Schimmel. Er begann trotzdem alles genau unter die Lupe zu nehmen, in der Hoffnung etwas zu finden, was ihm einen Vorteil verschaffen könnte, als er schließlich die Metallstange von Wolfgang an das Geländer des Treppenaufgangs lehnen sah.
Das Metall fühlte sich kalt an in seiner Hand und beide Enden waren von Einkerbungen und Kratzern verziert, die zeigten, wie oft es zum Einsatz kam. Jonas wollte sich gar nicht ausmalen, wofür es schon eingesetzt wurde.
Mit dem Stab bewaffnet, arbeitete er sich durch die Müllberge in Richtung des Kellerabgangs vor. Wie zuvor war die Luft zum Schneiden dick und Sporen flogen zwischen den Spinnennetzen und den Staubflusen umher. Verhöhnend tanzten sie zu unhörbarer Musik und Jonas spürte die Übelkeit aufkommen, bei den Erinnerungen, die er mit diesem Keller verband.
“Reiß dich zusammen”, murmelte er sich selbst zu und begann die Stufen hinabzusteigen.
Bei jedem Schritt verdunkelte sich die Umgebung und Jonas Atmung wurde flacher. Er spürte den kalten Schweiß auf seiner Haut.
Im Gegensatz zum letzten Mal war das Licht im Flur ausgeschaltet und so ragte ein neblig erscheinender Lichtstrahl aus dem Zimmer, welches Jonas den meisten Grauen bereitete. Während er langsam darauf zuging, umklammerte er die Metallstange und hielt sie wie einen Baseballschläger in halb ausgeholter Position.
Schon wenige Schritte, bevor er in den Lichtkegel trat, hörte er das schmatzende Geräusch. War es schon zu spät?
Jonas ignorierte jedwede Form von Vorsicht und rannte in das Zimmer zu seiner Linken. Vor ihm befand sich der selbe Kellerraum wie beim letzten Mal und was ihm sofort in den Blick fiel, war die Gestalt von Wolfgang wie er oben ohne einige Meter vor dem Pilzgeflecht stand, welches aus der Wand wuchs und die Arme ausbreitete, als würde er es willkommen heißen.
Seine Schritte schienen ihn verraten zu haben, denn kaum hatte er die Tür durchschritten, drehte sich Wolfgang zu ihm um. Schräg über seinem Bauch hatte er eine groteske Wunde, die offen war, aber nicht blutete. Daraus ragten die kleinen weißen Ärmchen, die das Pilzgeflecht auszumachen schienen.
Ohne zu Zögern rannte Jonas auf ihn zu und ließ die Metallstange auf den Kopf des Mannes vor ihm heruntersausen. Ein dumpfer Schlag hallte nach, als der Stab den Schädel traf, gefolgt von einem weiteren, als der massige Körper auf dem Boden aufprallte.
Jonas wandte sich dem Pilz zu und erwartete, Nils im Schlund des Wesens zu sehen, aber die Öffnung war geschlossen und zog sich rhythmisch zusammen und löste sich wieder, was das Schmatzen auslöste. War Nils bereits im Schlund verschwunden oder wurde erst noch der Pilger verdaut?
Jonas drehte sich zu dem am Boden liegenden Mann um und schaute ihn sich genau an.
Wolfgangs Kopf zierte eine Platzwunde und sein Auge auf der selben Seite war zugekniffen, aber was aus seinem Mund kam, passte nicht dazu. Er lachte. Er lachte laut und herzlich.
Jonas schlug wuterfüllt auf die Narbe an seinem Oberkörper, was Wolfgang aber nicht vom Lachen abhielt.
“Wo ist Nils?”
“Is doch eh egal. Von euch beiden kommt eh keiner lebend raus”, erwiderte Wolfgang trocken. Seine Augen blitzten kurz auf etwas hinter Jonas und sahen ihn dann wieder hasserfüllt an.
Jonas schaute sich um und sah an der, dem Pilz gegenüberliegenden Wand Nils liegen. Sein Mund war zugeklebt und seine Hände und Füße gefesselt, aber er schien zu schlafen. Jonas atmete erleichtert auf und wandte sich wieder Wolfgang zu.
“Du warst im Netzwerk un weißt es net?” Der Mann am Boden kicherte. “Ich dacht scho du wärsch ne Gefahr als du wieder raus bisch, aber du bisch nur nicht lange genug drin g’wesen.”
“Welches Netzwerk?”
“Von dem was du Ungläubiger ‘Pilz’ nennsch. Wärsch du net rein, hätten wir nie g’wusst, dass der Bub uns erkennt. Danke dir!”
Jonas hatte es geahnt, es sich aber nicht getraut auszusprechen. Als er die Empfindungen des Pilzes in sich gespürt hatte, da kam es ihm so vor, als würden seine Empfindungen und Gedanken gleichzeitig dem Pilz zur Verfügung stehen. War er schuld, dass es Nils getroffen hat?
“Wie würdest du diesen Pilz denn nennen?”
“Gott! Und wir sin sei Auserwählten.” Wieder ein wildes Kichern, dann sah er ihn grimmig an.
“Du hasch kei Ahnung, womit du dich anlegsch. Wir finden dich un alle, die du kennsch! Alle, die dir wichtig sin’.”
Jonas schlug erneut kraftvoll auf die Narbe ein und er hörte, wie Wolfgang schmerzhaft die Luft einzog.
“Du wirst gar nichts mehr”, erwiderte Jonas und hob erneut die Metallstange in seiner Hand.
“Un wenn, dann nimmt er mich auf. Ich werd eins mit ihm un er wächst. Er wächst immer, frisst immer. Du kannsch net g’winnen.”
“Ich kann vielleicht nicht gewinnen, aber ich kann dafür sorgen, dass du verlierst!”
Wieder rauschte der Stab durch die Luft und knallte auf die Narbe auf Wolfgangs Bauch. Er erhob erneut die Stange.
“Wenn ich sterb, werden alle kommen”, murmelte Wolfgang. Inzwischen sah er sehr mitgenommen aus, aber Jonas sah ihn schon nicht mehr als Mensch an seit er das Pilzgeflecht aus dem Bauch des dicken Mannes ragen sah.
“Wer denn alle?”, fragte Jonas nach.
“Alle, die im Netzwerk sin’, alle Gläubigen.”
Jonas hob wieder die Stange in seiner Hand und holte aus, um zuzuschlagen.
“Stopp”, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. Jonas drehte sich um und hob die Hände. Die Stange fiel auf den Erdboden.
Am Eingang des Raums stand Walter Meier mit gezückter Dienstwaffe, die auf Jonas gerichtet war.
“Haha! Ich sagte doch, die andern werden dich kriegen!” Wolfgangs Stimme überschlug sich förmlich und beim Versuch sich aufzurichten, brach er lachend zusammen. “Erschieß ihn!”
“Noch nicht. Erst bist du dran!” Meier bewegte den Lauf der Pistole in Richtung des am Boden liegenden Mannes und Jonas versuchte ein Stück aus dem Weg zu gehen, doch als er Meiers kalten Blick sah, blieb er stehen.
“Was? Ich red’ für ihn. Ich bring ihn euch. Ich bin sei Sprachrohr! Seit Jahr’n scho! Du kannsch mich net töten!” Aus Wolfgangs Mund tropfte Speichel, der sich mit dem Blut, dass von seiner Platzwunde lief, vermischte. “Du weisch, was mei Vadda g’tan hat, was ich geopfert habe. Ihr verdankt alles nur ihm un mir!”
“Es wird Zeit für einen Wechsel. Nur weil deine Familie die erste war, die Kontakt hatte, müsst ihr nicht für immer das Sagen haben.”
Für Wolfgang schien das genug gewesen zu sein. Er stützte sich auf seine Hände und wuchtete sich hoch. Sein Gesicht war wutverzerrt und die weißen Fäden in seinem Körper bewegten sich ungleichmäßig.
Jonas wich einen Schritt zurück. Er versuchte Wolfgang aus dem Weg zu gehen, aber er war zu langsam. Der dicke Mann rannte wie ein Berserker an ihm vorbei und stieß ihn mit der Schulter zu Boden. Jonas entwich die Luft aus den Lungen als er aufschlug.
Im gleichen Moment donnerte ein Schuss aus Meiers Pistole. Das Knallen hallte im Keller wider und kurzzeitig war Jonas, das Gesicht auf dem Boden und die Ohren betäubt, seiner wichtigsten Sinne beraubt worden.
Dann spürte er einen harten Schlag auf den unteren Rücken und die Beine. Ein Keuchen kam aus seiner Lunge und er musste husten.
Erst nach einer Zeit, die sich für ihn wie eine Ewigkeit anfühlte, verstand er was das Gewicht auf seinem Körper wirklich war; Wolfgangs massige Gestalt lag auf ihm. Er spürte nach und nach eine warme Flüssigkeit auf seine Beine fließen und in seine Hose sickern.
Durch das Dröhnen in seinen Ohren konnte er einen Satz fast schon zu klar verstehen, als hätten seine Ohren genau diesen herausgefiltert, um ihn vor seinem eigenen Ende zu warnen: “Und jetzt bist du dran!”
Jonas hörte etwas das klang, wie der Wagenrücklauf einer Schreibmaschine. Würde das das letzte Geräusch sein, dass er in diesem Leben hören würde?
Viel lieber hätte er nochmal Josephine gehört.
“Warte! Bitte!”
“Egal, wie lange du es herauszögern willst, es wird am Ende nichts ändern!”
Meier wirkte fast ein wenig reumütig. Jonas stand selbst in seinem Traum unter dem Einfluss der Sporen oder war im Netzwerk, wie Wolfgang es nannte. Er konnte genau nachvollziehen, wie sehr er sich gegen das Sträuben könnte, was ihm als einziger Weg, als sinnvollste Handlungsweise erschien. Der Pilz machte ihm klar, dass mein Tod die einzige Möglichkeit war, aber seine eigene Moral lief dem vielleicht entgegen. Die Frage war nur, ob noch genug von ihm übrig war oder seine Gedanken und Moralvorstellungen schon so sehr vom Pilz vereinnahmt wurden.
“Sag mir nur eins”, fing Jonas an und versuchte sich unter dem schweren Körper zumindest so weit umzudrehen, dass er den anderen Mann sehen konnte. “Bist du auf dem Weg hierher jemand anderem begegnet?”
“Nein, ich bin auf direktem Weg hier hergekommen. Aber das ändert nichts. Keiner kann verhindern, was hier passieren wird. Und jetzt wo Wolfgang nicht mehr hier ist, werde ich bestimmen, wie wir in Zukunft die Nahrungsversorgung sicherstellen können.”
Wolfgangs Ansatz war bisher Leute anzulocken und nur einzelne Personen verschwinden zu lassen, um weniger Aufmerksamkeit auf den Pilz und Grauenfels zu lenken. War Walter Meier vorsichtiger oder würde er skrupelloser vorgehen. Irgendwie konnte sich Jonas ersteres nicht wirklich vorstellen.
“Mach dich bereit”, sagte Meier. Er hob die Waffe an und zielte den Lauf direkt auf Jonas Gesicht.
“Warte!”, rief Jonas erneut. Wenn er Josephine nicht getroffen hat, heißt das, dass sie noch bei ihm Zuhause war oder auf dem Weg hierhin. Wenn er genug Zeit herausschlagen könnte, wäre sie vielleicht zumindest in der Lage Nils zu retten, während er Meier ablenkte.
“Ich will ins Netzwerk!”, warf er schnell hinterher. Meier nahm die Waffe zwar nicht herunter, aber Jonas sah, wie der Lauf sich leicht bewegte.
“Wir entscheiden das nicht, Gott macht das!”
“Aber er wollte mich letztes Mal schon. Da hatte ich nur noch nicht verstanden, wie groß und mächtig er ist.”
“Lüge!” Meiers Stimme erfüllte den Kellerraum und sein Speichel flog durch die Luft während er mit zusammengepressten Zähnen stoßartig atmete.
“Deine Maske zeigt, dass du dich ihm nicht nähern willst. Du hast selbst entschieden!”
Jonas konnte förmlich spüren wie seine Sekunden verstrichen, während Meier sich bereit machte, den nächsten Schuss abzufeuern. Er versuchte sich von Wolfgang zu befreien und schaffte es auch fast, sich umzudrehen, als er wieder Meiers Stimme hörte.
“Zieh die Maske ab. Dann entscheidet Gott, ob er dich zum Gläubigen macht oder zu einer Nahrungsquelle.”
Mit zitternden Händen griff Jonas nach der Maske, er spürte wie sein Atem sich beschleunigte und flacher wurde. Wenn dieses Ding wieder von ihm Besitz ergriff, während er alles mitbekam, was passierte, das war das was er am Wenigsten wollte.
Im Moment, als seine Gedanken gelenkt wurden, klang das alles so nachvollziehbar und richtig, aber kaum war er von der Kontrolle befreit, hatte er erst begriffen, was für einen Einfluss die Sporen auf ihn hatten. Was wenn er genau in diesen Momenten etwas machte, was er nie wieder gut machen konnte.
“Zieh sie ab!”, schrie Meier erneut und ging einen Schritt auf ihn zu, um ihm mit der auf ihn gerichteten Pistole zu bedrohen.
Jonas hatte keine andere Wahl. Seine Finger umschlossen den Rand der Maske und er zog sie sich langsam herunter.
Er hatte zwar vorher schon den Geruch im Keller wahrgenommen, aber der bestialische Gestank traf ihn jetzt auf eine ganz andere Weise. Es fühlte sich an, als schlüge ihm der Gestank entgegen und traf ihn ins Gesicht härter, als es Wolfgangs lebloser Körper tat.
“Gut.” Meier richtete den Lauf der Waffe nach unten, machte aber keine Anstalten sie zu sichern oder gar aus der Hand zu legen.
Langsam verdunkelte sich Jonas Sicht nach und nach und es war, als würde er die Höhle vor sich sehen. Bevor er nicht mehr Herr seiner Selbst war, überschlugen sich Jonas Gedanken. Irgendwie musste er es verhindern, aber wie.
Er merkte wie sein Körper sich auf die Höhle zubewegte. Das Gitter war schon fast in greifbarer Nähe. Gleichzeitig spürte er aber immer noch den harten Erdboden an seiner Brust und den schweren Körper auf seinem Rücken und seinen Beinen.
Jonas versuchte sich umzudrehen, auch wenn er wusste, dass das nicht das Bild vor seinen Augen beeinflussen würde, aber vielleicht seinen echten Körper.
Durch einen plötzlichen Schmerz in seinem Knöchel schlug Jonas die Augen auf. Er war noch immer im Keller von Wolfgangs Haus. Er lag noch immer auf dem Bauch, noch immer war der schwere Körper auf seinem Rücken.
Die Schmerzen in seinem Knöchel kamen dadurch, dass er sich versucht hatte zu drehen, während sein Fuß fest unter Wolfgangs Gewicht lag. Er hatte es so sehr versucht, sich umzudrehen, dass er das Schmerzsignal seines Körpers ignoriert hatte und jetzt fühlte es sich an, als sei sein Fuß verletzt.
Waren Minuten vergangen, seit er die Vision von der Höhle hatte oder Sekunden?
Egal, wie lange es war, er musste die Sporen loswerden, bevor es wieder begann. Aufgrund seiner flachen Atmung hatte er fast nur durch den Mund geatmet. Wenn er sich nur irgendwie selbst zum Erbrechen bringen könnte, vielleicht könnte er die Sporen zum Teil wieder herausspülen.
Während sich seine Dicht weiter verdunkelte, konzentrierte er sich auf seine Situation. Der tote Wolfgang lag auf ihm. Ein niedergeschossener Mensch, eine Leiche hatte direkten Kontakt zu ihm. Sein Bauch war aufgeschlitzt und ein Pilzgeflecht wuchs daraus hervor.
Es war alles nicht echt genug für ihn, um ihm mehr als ein Unbehagen zu bereiten. Außerdem durchschritt sein Körper soeben die Gitterstäbe vor der Höhle. Bald war es zu spät.
Ein weiteres Mal konzentrierte er sich auf seine anderen Sinne, während seine Sicht von dem Innern der Höhle eingenommen wurde.
Jonas konzentrierte sich auf das Gewicht des Körpers, der auf ihm lag. Versuchte sich in den Kopf zu rufen, wie das Geflecht in seinem Bauch offenbar unabhängig von ihm lebte.
Er erinnerte sich an die Flüssigkeit, die auf seine Hose gelaufen war. Das Blut eines Toten klebte an seinen Beinen. Als er versuchte die Beine zu bewegen, spürte er, wie die Hose an ihm klebte, seine Haut mit dem Stoff der Jeans verband; verbunden durch das Blut von Wolfgang.
Jonas konnte das Blut in der Luft riechen, konnte beim Atmen auf der Zunge das Eisen schmecken.
In diesem Moment verkrampfte sich Jonas Magen und während er schlagartig in die Realität des Kellers zurückkehrte, erbrach er seinen Mageninhalt über dem Erdboden.
“Du machst das absichtlich. Du willst nicht Teil des Netzwerks werden.” Meier hatte wieder die Waffe in seine Richtung gewandt. Jonas hob panisch eine Hand.
“Nein, er drückt mir die Luft ab und der Schmerz durch das Gewicht. Ich kann mich so nicht drauf einlassen!”
“Alles Lügen. Du hast lang genug meine Zeit verschwendet.”
Er hob die Hand, die die Schusswaffe hielt und Jonas konnte direkt in den Lauf sehen, während sich in seinem Augenwinkel etwas bewegte. Er durfte darauf keine Aufmerksamkeit lenken, sonst würde Meier es bemerken.
“Ein letztes Gebet. An unseren gemeinsamen Gott”, fing Jonas an, doch Meier schnalzte mit der Zunge.
“Wenn du beten willst, mach das im nächsten Leben. Unser Gott glaubt nicht ans Beten!”
Sein Griff an der Waffe schien sich anzuspannen.
Gleich würde es passieren.
Ein Knall hallte durch den Keller, dann ein zu Boden fallender Körper. Eine Waffe fiel dem Körper aus der Hand.
Josephine hatte Meier von hinten mit einem Schraubenschlüssel auf den Kopf geschlagen. Für Jonas sah sie noch nie so gut aus, wie in diesem Moment.
“Danke dir! Hilf mir schnell hier raus!”
“Was geht hier vor sich. Hast du Wolfgang…?” Josephine konnte den Satz nicht beenden. Sie hatte in der Situation richtig reagiert, aber jetzt schien erst alles bei ihr anzukommen. Dann merkte Jonas, wie ihr Blick an ihm vorbeiging.
“Oh Nein! Oh Gott!” Sie wich einen Schritt zurück und stolperte zu Boden. Ein schriller Schrei entwich ihr und ihre Augen waren von Tränen gefüllt.
“Hör mir zu! HÖR MIR ZU!” Josephine schaute zu ihm, aber ihr Blick fiel unaufhaltsam immer wieder auf das Ungetüm hinter ihm.
“Schau zu mir!” Wieder hatte er kurz ihre Aufmerksamkeit. “Schau nur zu mir. Das ist wichtig. Es geht um dich und Nils!”
Als sie den Namen ihres Sohnes hörte, schaute sie sich kurz um, aber Jonas fing sofort an zu reden. Vielleicht waren es Adrenalin oder Angst, aber er hatte es geschafft, bisher nicht von den Sporen übernommen zu werden und musste jetzt schnell handeln.
“Du musst mir genau zuhören und machen, was ich sage, sonst werden wir alle drei sterben.”
Er zog sich die Maske wieder über Nase und Mund.
“Zieh dein Shirt über deine Nase und deinen Mund, bei Nils genauso. Dann hilf mir mit Wolfgang und dann geht ihr zwei hier raus und wascht euch ab. Haare, Haut, in der Nase, im Mund, die Klamotten. Alles muss sauber gemacht werden. Kein Staubkorn mehr, keine einzige Polle.”
Josephine sah ihn verloren an. Ihre Augen tanzten durch den Raum und ihr Blick wurde trüb.
“JOSEPHINE!” Sein Ruf schien sie wieder zu sich zu holen. “Bitte!”
Sie nickte und stand auf, den Blick auf dem Pilz hinter Jonas haltend, zog sie sich das Shirt über die Nase und ging zu Nils. Als sie wieder bei Jonas war, fing sie sofort an, an Wolfgang zu zerren.
“Wenn wir hier raus sind, wirst du mir einiges erklären müssen!”
Jonas nickte nur.
“Wieso kommst du nicht mit? Soll ich dir noch helfen?”
Josephine stand am Eingang des Raums und hatte Nils bewusstlosen Körper auf dem Arm. Sie sah ehrlich besorgt aus, aber Jonas schüttelte den Kopf.
“Ich komme nach. Denk dran, euch beide gründlich zu waschen! Alles!”
Als die beiden weg waren, atmete Jonas erleichtert durch. Er sah sich das Durcheinander im Raum an und ignorierte seinen pochenden Kopfschmerz. Er war sich nicht sicher, wie viele der Sporen er im Körper hatte und ob sie ihn schon beeinflussten oder nicht.
Er war sich nicht mal sicher, ob er diesen Tag überleben würde. Jeder Schritt schmerzte ihn im Fuß. Sein Kopf schien zu explodieren. Und wer wusste schon, wen oder was außer Wolfgang und Meier dieser Pilz noch in der Hinterhand hatte.
Aber er wusste eins: Er würde es heute beenden und danach nie wieder nach Grauenfels zurückkehren.
So sehr sich die Situation auch verbessert hatte, Jonas wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis weitere Opfer des Pilzes aufschlugen oder sie selbst übernommen wurden. Er musste sich beeilen.
Auch wenn sein Fuß bei jedem Schritt schmerzte, so war er froh, dass er ihn zumindest genug belasten konnte, um nicht zu hinken. Rennen war vermutlich nicht drin, aber Jonas konnte nur darum beten, dass er nicht in die Situation kam, das herausfinden zu müssen. Auch wenn er nicht wusste zu wem er beten sollte. Auf jeden Fall nicht zu dem gefräßigen Pilzmaul.
Dass es so gefräßig war, hatte ihn auf eine Idee gebracht und er hatte sie absichtlich Josephine nicht erzählt, weil er sich nicht sicher war, ob das überhaupt funktionieren konnte. Aber im Moment kannte er nicht viele Alternativen.
Er ging in den Kellerflur und sah an die Decke. Er folgte den Rohren und ging in einen Kellerraum auf der anderen Seite. Er hatte Glück. Es handelte sich tatsächlich um Heizungsrohre und sie führten ihn zu einer alten Ölheizung mit mehreren Öltanks daneben. Die Frage war nur, ob er einen dicken Schlauch finden könnte und ob der Pilz dumm genug war.
Der Raum, in dem er das erste Mal im Keller gewartet hatte, bis Wolfgang vorbeigelaufen war, erschien ihm wie ein Abstellraum. Jonas machte sich sofort auf den Weg dorthin.
Zwischen altem Zeitungspapier und Sonnenliegen, lagen dort Schlitten und Winterkleidung. Offenbar hatte man alles, was nicht benötigt wurde, hier reingeworfen und es verstauben lassen. Wenn Jonas die Wahl gehabt hätte, hätte er hier nichts angefasst, aber jetzt griff er ohne zu Zögern zu und wühlte sich durch Müll und Andenken.
Zum Glück fand er schnell, was er suchte. Ein alter Gartenschlauch, an mehreren Stellen geflickt, wie scheinbar alles in diesem Haus. Wenn er so drüber nachdachte, war selbst der Bauch des Hausbesitzers vom Pilz geflickt worden.
Des ehemaligen Hausbesitzers, verbesserte er sich selbst und war über seine eigene kalte Art erschrocken, auch wenn sich sein Magen noch schmerzlich zusammenzog, bei dem Gedanken an all die Grausamkeiten, die er in den letzten Tagen gesehen hatte.
“Arggh!” Jonas keuchte. Etwas hatte ihn von hinten gepackt. Ein starker Arm hielt ihm im Schwitzkasten. Er spürte, wie er ihm die Luft abschnitt.
“Ich wusste, ich kriege dich!” Meiers Stimme, aber nicht Meiers Ton. “Ich kriege sie alle.”
Jonas zerrte wild an dem Arm, der ihn festhielt, aber er regte sich nicht. Seine Fingernägel gruben sich in die Haut und tief ins Fleisch, aber Meier zuckte nicht einmal zusammen.
Er schlug verzweifelt nach dem Arm. Er trat nach dem Bein des Polizisten, aber nichts machte einen Unterschied.
Während Jonas immer schwindliger und schwächer wurde, nahm er den erstbesten Gegenstand, den er in die Hand bekam und schlug ihn rechts neben sein eigenes Gesicht. Er spürte, wie der Gartenschlauch seine eigene Wange traf und die Maske verrutschte.
Aber er traf auch Meier. Der Griff hatte sich gelockert und Jonas versuchte durchzuatmen, als er sich wieder schloss.
Schnell schlug er ein weiteres Mal zu. Und ein weiteres Mal. Keine weitere Reaktion von Meier. Der Griff blieb fest. Langsam wurde es dunkler.
Jonas merkte, wie ihm der Schlauch aus den Händen zu gleiten drohte und spürte etwas Schweres an einem der Enden. Das musste der Anschluss sein. Bei so alten Schläuchen war er noch nicht aus Plastik, sondern noch aus gutem alten Messing.
Er nahm seine letzte Kraft zusammen und schwang das Schlauchende über seine Schulter. Ein dumpfer Aufprall, dann ließ der Arm von ihm ab.
Jonas Beine gaben unter ihm nach und er kniete auf dem Boden. Sein Körper war von der plötzlichen Möglichkeit wieder atmen zu können, so überrascht, dass er in einen Hustenanfall verfallen war, während er krächzend nach Luft rang.
Hinter ihm merkte er, wie Meier nach hinten taumelte und sich an der Wand abstützte. Er wusste, dass es jetzt auf jede Minute ankam.
Noch im Husten sah Jonas sich nach rechts und links um. In dem Raum waren viele Regale mit allerlei Müll, aber kaum etwas, das er sinnvoll als Waffe benutzen könnte.
Meier hatte sich inzwischen wieder gefangen und machte einen Schritt auf den immer noch knieenden Jonas zu. Es gab nur eine Möglichkeit und vermutlich auch nur diese eine Chance.
Jonas zog sich auf ein Bein hoch, quälend langsam kam es ihm vor. Er hatte seinen Fuß vergessen und ein scharfer Schmerz zog durch sein gesamtes Bein. In vollkommener Agonie schrie er los, während er aufstand und das Schwerlastregal neben Meier griff und in seine Richtung zog.
Meier riss die Augen auf und drehte sich um, wurde aber von der Masse an kleinteiligen, schweren Gegenständen überrumpelt und begraben, während eine Staubwolke durch die Luft rauschte, die Jonas Hustenanfall verschlimmerte und ihm komplett die Sicht nahm.
Als der Husten und der Staub sich gelegt hatten, versuchte Jonas herauszufinden, ob Meier noch bei Bewusstsein oder noch am Leben war. Schnell fand er die heraushängenden Beine, aber sein Gesicht und Oberkörper waren bedeckt von Müll, Werkzeug und Regal. Bei der Entscheidung, ob er einen besessenen Polizisten, der ihn töten wollte aus dem Unrat befreite oder sich um das kümmerte, was er machen musste und von hier verschwand, musste er nicht lange überlegen.
Er zog sich sein Shirt über Nase und Mund, schnappte sich den Gartenschlauch und rannte zu den Öltanks. Ein Ende versenkte er bis zum Boden in einem der Tanks, das andere nahm er mit zum Pilz.
Inzwischen hatte sich das Maul des Geflechts wieder geöffnet. Darauf hatte wohl auch Wolfgang gewartet, weshalb Nils noch immer lebte. Ganz offensichtlich dauerte die Nahrungsaufnahme einige Zeit.
“Schauen wir mal, wie hungrig du bist”, murmelte Jonas. Er steckte das andere Ende des Schlauchs in den Schlund des Pilzes. Von nahem roch er den modrigen Geruch viel intensiver, gemischt mit dem rostigen Geruch von Blut, der aus dem Maul zu kommen schien.
Wie viele Menschen waren in dieser Öffnung wohl schon verschwunden?
Und wie viele zuvor in der Schillerhöhle?
Jonas war überrascht von seinem eigenen Gedankengang. Er hatte sich nie gefragt, wie es jetzt noch in der Höhle aussah. War das Maul des Pilzes nur hierhin gewandert oder befand sich das Herzstück noch immer dort und das war nur ein ausgedehnter Fühler?
Bei dem Gedanken zog sich sein Magen schlagartig zusammen und seine Kopf drehte sich. Er wurde nur aus seinen Gedanken gerissen, als das schmatzende Geräusch einsetzte.
“Schluck das oder so”, sagte Jonas zu dem Pilz. Der Spruch ging ihm gerade durch den Kopf und auch wenn er zur Situation passte, war Jonas froh, dass keiner da war, um ihn gehört zu haben.
Er ging langsam in Richtung des Heizungskellers. Sein Fuß schmerzte und pochte immer wilder. Sein Kopf drohte zu explodieren. Sein Hals und seine Kehle kratzten, sein Atem ging flach. Er war müde und erschöpft.
“Nach dieser Woche brauche ich erstmal Urlaub vom Urlaub”, sagte er in die Leere des Kellers.
Der Pilz schien gieriger zu sein, als er es erwartet hatte. Heizöl war ohnehin schon sehr dickflüssig, aber es wurde mit einer Geschwindigkeit aus dem Tank gesaugt, die ihn hart schlucken ließ.
Er mochte sich gar nicht erst die letzten Gedanken des Pilgers vorstellen, die ihm wohl durch den Kopf schießen mussten, als ihn diese wahnsinnige Kraft festhielt und langsam auffraß. Wäre Jonas nur ein paar Minuten früher da gewesen.
Der Tank war fast leer und Jonas machte sich auf den Weg zum Pilz zurück. Ein Feuerzeug hatte er inzwischen gefunden und auch getestet, dass es wirklich funktionierte. Er hatte sich den Ärmel seines Shirts abgerissen und um die Metallstange gewickelt.
In ein paar Tropfen des Heizöls getunkt, sollte es möglich sein, eine Art Fackel zum Anzünden des Pilzes daraus zu basteln. Das war zumindest Jonas Plan.
Jetzt allerdings versuchte er schon fast seit zwei Minuten das Heizöl zu entzünden. Die Flamme des Feuerzeugs schien nicht auszureichen.
“Komm schon. Lass mich nicht im Stich!” Die Flamme des Feuerzeugs flackerte, aber Jonas versuchte es weiter. Er konnte sich dunkel aus dem Chemieunterricht erinnern, dass manche brennbare Flüssigkeiten erstmal eine gewisse Grundtemperatur brauchen, um in Flammen aufzugehen.
“Oder die Oberfläche muss vergrößert werden”, murmelte er.
Sinnvoll zerstäuben konnte er das Öl nicht, aber er hatte seine selbstgebaute Fackel gut im Öl getränkt. Vielleicht konnte er das zu seinem Vorteil nutzen.
Er hob das Feuerzeug so weit von sich gestreckt wie nur möglich, schlug dann den Metallstab in dessen Richtung und stoppte so abrupt wie er konnte. Einige Tropfen des Öls hingen in der Luft und fielen zu Boden. Als er das Feuerzeug in die Nähe der Öltropfen brachte, spürte er eine plötzliche Hitze vor ihm und wurde zu Boden geworfen.
Das Öl in der Luft wurde spontan entzündet und die Druckwelle der Stichflamme hatte ihn komplett unerwartet getroffen.
“Verdammt”, stöhnte er und richtete sich wieder auf. Als er jedoch in die Richtung der Fackel sah, die ihm aus den Händen gefallen war, musste er grinsen. Zumindest brannte sie jetzt lichterloh.
Schnell nahm er sie in die Hand und hielt das flammende Ende von sich. Er ging auf das Pilzmaul zu, welches noch immer das Ende des Gartenschlauchs fest im Mund hielt. Als er mit den Flammen näherkam, konnte er fast ein Zischen hören.
Er hob seine Hand und schob sie gemächlich nach vorne, voller Vorfreude auf die Schmerzen und die Vernichtung des Ungeheuers vor ihm. Noch ein kleines Stück. Die Hitze verbrannte die Sporen in der Luft und hinterließ eine reine Luft, die fast unnatürlich in dem Kellerraum wirkte.
“Auf Nimmerwiedersehen!”
Dann berührte Jonas Fackel den Pilz. Augenblicklich zogen sich die weißen Fäden zurück. Einer nach dem anderen verschwand in dem Loch, aus dem sie herausragten und mit ihnen ging auch der Schlund des Pilzes selbst.
“Was?”
Jonas öffnete den Mund um mehr zu sagen, um zu schreien oder um sich zu beschweren, aber nichts kam heraus. Er fühlte sich einfach betrogen.
All das für Nichts?
“Komm. Wieder. Raus!” Jeder seiner Schreie wurde von einem Schlag der brennenden Metallstange gegen das Loch in der Wand untermalt. Dann sackte auf den Boden und schlug die Faust gegen die Wand.
“Verdammt. Verdammte Scheiße!”
Nach kurzer Zeit stand er auf und drehte sich um. Wenigstens wusste er jetzt, dass Feuer die Lösung sein könnte. Er wandte sich der Treppe nach oben zu und machte sich daran die Höhle des Dämons zu verlassen. Aber das war noch nicht das Ende, schwor er sich. Es war schon längst etwas Persönliches.
Der Auswuchs des Pilzes in Wolfgangs Haus war nur ein Symptom des eigentlichen Geschwürs. Die Wurzel des Übels befand sich woanders und Jonas hatte eine genaue Idee davon, wo.
“Von einer Höhle in die andere!”
Die Sonne stand bereits hoch über ihm und war das erste, was ihm auffiel, als Jonas Wolfgangs Haus verließ. Er riss sich das Shirt von Körper und atmete tief durch. Sein Kopf fühlte sich sofort freier an und der Schwindel, der ihn die ganze Zeit über begleitet hatte, ließ nach.
Je mehr er aber wieder selbst zu Sinnen kam, desto mehr spürte er in seinen Kopfschmerzen diese fremden Gedanken. Es war nur eine leise Stimme, aber es war, als hätte sie sich tief in seinem Gehirn eingenistet.
Jonas sah nur einen Weg aus diesem Albtraum herauszukommen und dafür zu sorgen, dass Nils, Josephine und er auch in Zukunft ihre Ruhe haben könnten.
Er hastete zum Auto und als er um die Kurve kam, sah er bereits Josephine mit Nils dort warten. Der Junge schlief noch immer in den Armen seiner Mutter, aber die Blässe in seinem Gesicht hatte nachgelassen und langsam kam wieder Farbe auf seine Wangen. Josephine sah aus, als wäre sie in diesen wenigen Stunden um mehrere Jahre gealtert. Sie lächelte ihn schwach an, ihre Haare und Kleidung war noch nass.
“Da bist du endlich. Alles okay bei dir?”
Jonas nickte und öffnete den Kofferraum. Er durchsuchte die Taschen und nahm Wechselkleidung für sich und Josephine heraus.
“Es wird dir zu groß sein, aber wenigstens bist du dann trocken”, sagte er, während er sich selbst am helllichten Tag auf der Straße bis auf die Unterhose auszog. Vor ein paar Tagen wäre ihm das peinlich gewesen, aber im Moment war ihm nur wichtig, die von Sporen besetzte Kleidung loszuwerden. Er warf sie einfach an die Seite auf einen der Büsche.
“Dann … können wir jetzt weg?”, fragte Josephine vorsichtig. Sie sah aus wie ein Kind, dem man Süßigkeiten versprochen hatte, wenn es sich gut benehmen würde. Leider musste er ihr genau die noch eine Zeit lang verwehren. Er schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen.
“Es fehlt noch eine letzte Sache.”
“Jonas. Bitte. Wir müssen hier weg. Ich weiß nicht, was das war oder wer da noch mit drinsteckt.”
“Deshalb muss ich nochmal in die Schillerhöhle. Wenn es nicht stirbt, weiß ich nicht, ob es uns jemals in Ruhe lassen wird.”
Josephine schluckte hart. Er konnte sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte, klammerte sich aber an Nils und es war für Jonas schwierig zu erkennen, wer wem mehr Halt gab in diesem Moment.
“Was ist das überhaupt für ein … Ding im Keller gewesen? Was war mit Meier los?” Ihre Stimme zitterte, aber sie wich seinem Blick nicht aus.
“Ich geb dir die Kurzfassung, während wir zur Höhle hochfahren. Ich möchte so nah wie möglich dran sein.” Er schloss den Kofferraum und öffnete die hintere Tür, damit Josephine Nils auf die Rückbank legen konnte. “Du musst aber fahren. Ich spring nur kurz bei der Höhle raus.”
“Also?”, fragte Josephine, als sie den Motor startete und in Richtung Schillerhöhle fuhr.
“Hast du schon mal von dem Pilz gehört, der Ameisen dazu bringt, an hohen Stellen zu sterben, damit sich seine Sporen gut verbreiten können? Ich… glaube, dieser Pilz lenkt die Gedanken von den Leuten hier und es sind genau die Leute, die für Nils stinken.”
Er ließ den Teil absichtlich weg, in dem er selbst nicht nur glaubte, dass der Pilz die Gedankenwelt seiner Opfer lenkte, sondern es auch selbst miterleben musste. Er wollte sie nicht weiter verunsichern.
“Das heißt Wolfgang, Meier, Renate, …”
“Ja. Und wahrscheinlich noch viel mehr.”
“Willst du die anderen auch … wie Wolfgang?” Ihre Stimme brach ab.
“Ich habe Wolfgang nicht getötet. Meier hat ihn erschossen. Und ich werde keinen der anderen töten. Nur diesen Pilz.”
“Weißt du wie?”
Inzwischen waren sie den kurzen Weg bis zur Höhle gefahren und Josephine parkte das Auto nur wenige Meter vom Gitter entfernt. Jonas sah eine Zeit lang das Gitter an, dass leicht im Wind hin und her wogte. Er hatte ihre Frage gehört, aber war sich selbst nicht sicher, ob das funktionieren würde. Im besten Falle hatte sich das Heizöl im Pilzgeflecht ausgebreitet und er brauchte den Brand nur starten, aber … was wenn nicht?
“Ich gehe kurz rein. Warte hier auf mich. Wenn es gefährlich wird und ich in einer Viertelstunde nicht wieder hier bin, fahr weg.”
“Nein. Ich werde warten”, antwortete Josephine ohne zu Zögern.
“Ihr solltet wirklich…”, begann Jonas, doch Josephine unterbrach ihn direkt. Als er zu ihr rüber schaute, sah er die Tränen auf ihren Wangen.
“Bitte. Ich kann das nicht alleine.”
Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
“Warte auf mich. Ich bin gleich wieder da”, flüsterte er heiser und drehte sich sofort um, um das Auto zu verlassen. Er meinte, nochmal ihre Stimme gehört zu haben, ignorierte es aber. Er merkte wie seine eigene Sicht leicht verschwommen wurde und blinzelte die Tränen weg.
Jonas öffnete nochmal den Kofferraum. Er nahm einen der Benzinkanister und stopfte Kleidungsstücke hinein, die er noch halb herausragen ließ. Dann steckte er sich ein Feuerzeug in die Hosentasche und setzte sich eine der Ersatzmasken auf.
Er schloss den Kofferraum und ging um das Auto herum auf die Höhle zu. Er zwang sich nicht den Blick zu Josephine zu suchen. Er hatte ihr gesagt, er sei gleich zurück und das müsste er einhalten. Es gab keinen Grund für einen Abschied. Zumindest hoffte er das.
Durch die Gitterstäbe konnte er bereits die klamme und modrige Luft aus der Höhle riechen. Es war der stinkende Mundgeruch des Monsters, vor welchem er schon als Kind am meisten Angst hatte, aber es war nie so real für ihn wie jetzt.
Er stieß die unverschlossene Tür auf und schaltete die Taschenlampe an seinem Smartphone an. Als er die Höhle betrat und die Dunkelheit um ihn herum mehr und mehr zunahm, begann er das erste Mal dem Flüstern in seinem Kopf mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Bisher hatte er es erfolgreich verdrängt, aber mit jedem Meter, den er auf die Höhle zugemacht hatte, wurden die Stimmen klarer.
Es war seine eigene Stimme, die zu ihm sprach. Es klang wie seine eigenen Gedanken, aber er war sich bewusst, dass es nicht seine waren. Was auch immer dieses Ding war, es bediente sich seiner eigenen inneren Stimme, um ihm schmackhaft zu machen, was ihm anbot.
“Sie werden dich alle behandeln wie einen Gott. Du kannst der neue Prophet sein. Wir zusammen werden wachsen und mächtiger”, flüsterte die Stimme süße Versprechen in sein Ohr.
Jonas blinzelte und versuchte die tanzenden Sporen vor seinen Augen zu ignorieren. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und gab Acht, nicht auszurutschen auf den kalten, nassen Steinen.
“Du willst sie haben. Ich gebe sie dir.”
Er drückte den Benzinkanister fest an sich, um sicherzugehen, dass er alles hatte, was er brauchte und ging im Kopf seinen Plan wieder und wieder durch. Es war seine Art, die Stimme zu ignorieren, aber das Flüstern ging unaufhörlich weiter.
“Wenn sie Teil von uns wird, wird sie sich dir hingeben. Sie wird dir alles geben, was du verlangst.”
Jonas kam nur langsam voran. Wo er zuvor eine Hand frei hatte, um sich an der Wand entlangzutasten, hatte er jetzt dank Smartphone und Kanister keine Hand mehr frei. Die Dunkelheit um ihn herum bedrückte ihn und er war sich nicht sicher, ob seine Kleidung wegen des kalten Schweißes oder der feuchten Luft an ihm klebte.
Er blinzelte die Tropfen, die von seiner Stirn über die Augenbrauen liefen zur Seite und atmete durch, bevor er weiter in die Höhle vordrang.
“Sie muss es nicht alleine sein. Wir können dir alle geben und alles geben. Sie werden dir alle zu Füßen liegen.”
Die Stimme wurde lauter. Seine Kopf dröhnte förmlich. Die Maske alleine schien nicht alles abzuhalten oder die Nähe zum Geflecht verstärkte die Wirkung der Sporen.
Jonas war sich nicht sicher, was davon zutraf, aber er war sich sicher, dass es weiter zunahm.
Nur noch diese Ecke.
Jonas erkannte die Ecke im dunklen Gang wieder. Vor ihm lag die Ecke hinter der sich das Loch befand, er war sich sicher. Sein Herz schlug gegen seinen Brustkorb, als wollte es seinem eigenen Körper entkommen.
“Sie wird für immer bei dir bleiben und dich nie betrügen.”
Er blieb stehen. Mit Mia war es auch schön anfangs, aber wann genügte er ihr nicht mehr?
Würde er Josephine weiterhin genügen?
“Sie wird dich immer lieben, alles für dich tun.”
Für immer lieben? Sein Bauch verengte sich und sein Hand griff den Benzinkanister fester. Er konnte es in der Höhle nicht sehen, aber war sich sicher, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
“Sie wird den Boden anbeten, auf dem du läufst.”
Sie … Er schüttelte den Kopf. Das war keine Liebe, es war Unterwürfigkeit, Manipulation. Er wollte nicht mit einer Puppe zusammen sein, die mal Josephine war, sondern mit Josephine selbst.
Er verbannte den Gedanken an den Schmerz, den er mit Mia durchgemacht hatte aus seinem Kopf. Mia war Mia, aber Josephine ist Josephine.
Während er die letzten Schritte auf das Loch im Boden zuging, schwieg die Stimme, dann dröhnte sie wieder in seinem Kopf, lauter als zuvor.
“Ich werde sie dir nehmen.”
Er hielt inne. Er war einen Moment alleine mit seinem Atem, der in seinen Ohren widerhallte. Dann setzte die Stimme in seinem Kopf wieder an.
“Du kannst sie nicht beschützen, wenn du nicht bei ihnen bist und wir sind viele.”
Er versuchte zu lauschen, ob er von draußen etwas hören konnte, aber er war so tief in der Schillerhöhle, dass von draußen keine Geräusche mehr an seine Ohren drangen.
“Sie sind schon umzingelt. Ich werde sie quälen. Sie werden nicht schnell sterben. Du kannst sie retten, wenn du dich mir hingibst.”
Jonas Atmung ging schneller. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinab. Seine Beine zitterten und seine Hände hatten immer mehr Probleme das Handy und den Kanister zu halten. Er kannte dieses Gefühl bereits, aber noch nie in dieser Intensität.
Er hatte Angst. Angst um Josephine. Angst um Nils. Und vor allem Angst zu sterben. Er fürchtete sich vor dem Tod. Er wollte nicht, dass ihm etwas passierte. Er musste es auf jeden Fall verhindern.
Die Angst lähmte ihn und ließ ihn seinen eigenen Plan vergessen. Was würde das noch bringen? Er musste weg, musste überleben, aber wie?
Er stellte den Kanister ab und ließ sein Handy fallen. Das Licht fiel in Richtung des Lochs vor ihm und beleuchtete ein Knäuel aus weißen Fäden, ineinander verstrickt wie ein festes Seil und sich windend wie eine Schlange, kroch es aus dem Loch heraus. Aber trotz dieser bedrohlichen Situation wirkte es auf Jonas fast verletzlich.
Er schluckte schwer und tastete in seiner Hosentasche. Als er die Fäden vor ihm zittern sah und mit glitschigen Händen versuchte das Feuerzeug herauszuziehen, wurde ihm eines klar. Die Angst, die er verspürte, war nicht seine eigene. Das Wesen, das sich im Loch vor ihm verbarg hatte Angst um sein eigenes Leben.
Jonas wusste, die Angst war nicht seine eigene, aber er konnte seine zitternden Hände nicht unter Kontrolle bringen. Er meinte schon zweimal das Feuerzeug gegriffen zu haben, verlor es aber wieder im Schweiß und durch seine Unruhe, die das Monster vor ihm in ihm auslöste.
Endlich hatte er es. Er zog die Hand heraus und drückte auf den kleinen Schalter. Ein metallisches Klicken folgte und die Flamme flackerte in der kalten, feuchten Höhle. Jetzt musste er nur noch die Kleidung im Kanister entzünden und…
Ein Schlag in den Magen traf ihn überraschend und warf ihn nach hinten um. Er hörte das Feuerzeug über den Boden schlittern und gegen die Steinwand prallen. Der unerwartete Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen und nahm ihm kurz die Orientierung.
Der Knäuel aus weißen Fäden hatte sich blitzartig nach vorne bewegt und ihn in die Magengrube gestoßen. Er stützte sich auf einem Ellenbogen ab und saß sich halb auf den Boden, um im Schein der Lampenfunktion des Smartphones den Tentakelartigen Arm des Wesens besser zu sehen.
“Scheiße”, stieß er aus und rappelte sich schnell wieder auf. Vor ihm war nicht mehr nur noch ein Arm, sondern fünf solcher Arme wiegten sich hin und her aus dem tiefen Loch am Boden, als wären sie die Kobras eines Schlangenbeschwörers.
Jonas wollte sich schon umdrehen, um nach dem Feuerzeug zu hechten, sah jedoch, wie einer der Arme ausholte. Er war zu weit weg um getroffen zu werden, aber er brauchte nicht nur das Feuerzeug.
Er hechtete nach vorne und schnappte sich den Bezinkanister, der gerade von einem der Arme erwischt wurde. Er konnte ihn retten, aber einige Tropfen der brennbaren Flüssigkeit fielen auf den Boden vor dem Loch.
Ohne zu Zögern machte Jonas kehrt und versuchte sich in Richtung des Feuerzeugs zu flüchten, als ihn etwas am Bein traf. Sein Fuß rutschte weg und er fiel mit dem ganzen Gewicht und Schwung auf sein Knie.
Jonas hörte seinen eigenen Schmerzensschrei durch die Höhle hallen und biss die Zähne zusammen. Die Stimme in seinem Kopf kommunizierte nicht mehr in Worten mit ihm, aber er spürte den Hohn und den Hass. Es war eine Arroganz, die Gewissheit, dass Jonas keine Möglichkeit hatte, gegen das Wesen zu gewinnen, die in den Gefühlen vorherrschte.
Er kroch auf allen vieren nach vorne, raus aus der Reichweite der Arme und weiter in Richtung des Feuerzeugs. Aus dem Kanister schwappte bei jedem Schritt etwas vom Benzin heraus. Mal auf Jonas, mal auf den Boden.
“Wie sie schreit. Ich genieße, wie sie schreit und leidet”, sagte die Stimme plötzlich. Das Wesen bedrohte wieder Josephine, aber Jonas ignorierte es. Er konnte nur darauf hoffen, dass das Wesen bluffte.
Als er sich sicher war, dass die Arme nicht bis zum ihm reichen würden, stand Jonas auf. Sein Gesicht und seine Hände waren von Schürfwunden übersät und brannten höllisch, während sein Fuß und Knie in leicht einknicken ließ. Aber er hatte nur noch das eine Ziel.
Jonas sah sich auf dem Boden um und sah das Feuerzeug vor sich liegen. Es war zum Glück noch immer funktionstüchtig. Er atmete erleichtert aus und sah sich den Weg durch den engen Gang bis zum Loch im Boden an.
Er konnte unmöglich den Armen ausweichen, während er zwischen den Felswänden hindurch ging. Ebenso wenig konnte er den Kanister werfen. Er hatte nur diese eine Chance und konnte nicht darauf vertrauen zu treffen.
In seiner Hand wog er den Kanister, um abzuschätzen, wie viel Benzin er wohl schon verschüttet hatte. Er war auf jeden Fall noch mehr als halb gefüllt, aber wie viel bräuchte er, um das Wesen zu zerstören. Während er die Zähne zusammenbiss, sah er sich die in Regenbogenfarben schimmernden Tropfen auf dem Boden der Höhle an. Verschwendetes Benzin … es konnte ihm jetzt nicht mehr helfen.
Das Benzin am Boden brachte ihn plötzlich auf eine Idee. Er zwang sich zu einem verzerrten Grinsen und sprach in die Höhle hinein, als könnte er wirklich mit dem Wesen kommunizieren: “Danke. Ohne dich wäre ich darauf nie gekommen.”
Er zog die mit Benzin getränkten Kleidungsstücke aus dem Kanister und holte aus, um mit einer raschen Handbewegung einen Schwall Benzin auf dem Boden zwischen sich und dem Loch zu verteilen. Dem Gewicht nach zu urteilen, war immer noch etwas Flüssigkeit im Behälter übrig geblieben. Er hoffte, dass es reichen würde.
Dann nahm er das größte Kleidungsstück, eins seiner Shirts und stopfte es zurück in den Container, eine Unterhose legte er in die Pfütze aus Benzin. Er stellte den Kanister einige Meter weiter weg hinter sich und zündete die Unterhose an.
Augenblicklich verbreiteten sich die Flammen vor seinen Füßen in Richtung des Lochs. Der Geruch von brennendem Benzin stach ihm kurz in die Nase, dann war sie wie betäubt von der Hitze. Der modrige Gestank des Schimmels, der Geruch des Benzins, sein eigener Angstschweiß. Nichts davon kam mehr an seine Nase.
Er spürte den Hass und die Angst aus der hinteren Ecke seines Kopfes. Das Wesen fürchtete sich mehr als er und er unterdrückte sich sein Lachen nicht. Wie von Sinnen stieß er einen Freudenschrei aus und suhlte sich in der Angst des Monsters.
Dann nahm er den Benzinkanister und macht einen Schritt auf die Flammen zu. Er musste schnell handeln. Wie lange würden die Flammen halten, wenn außer etwas Benzin kein brennbares Material da war, um das Feuer zu nähren?
Sein Fuß und sein Kopf pochten wie wild, sein Herz schlug gegen seine Brust und die Hitze des Feuers fühlte sich an, als würde sie seine Haut in Flammen setzen, aber er war froh. Er war so froh, endlich die Oberhand zu haben.
Nach einem ersten Auflodern, züngelte das Feuer bei weitem nicht mehr so hoch und Jonas nahm den Beinzinkanister in beide Hände und hob ihn über seine Brust. Die Flammen sollten so das getränkte Shirt nicht erreichen können.
“Jetzt oder nie”, murmelte er zu sich selbst und rannte durch die Flammen auf das Loch zu.
Die Furcht in der hinteren Ecke wurde größer. Er fühlte eine Panik in sich wachsen, fast schon komplettes Entsetzen. Bei jeder Eskalation der Gefühle des Wesens wusste er sich weiter bestätigt.
Er musste nur noch bis zum Loch … Ein Luftzug wirbelte die Flammen um ihn herum hoch und die aus dem Kanister hängende Kleidung entzündete sich. Er hatte keine andere Wahl mehr.
Jonas holte aus und warf den Kanister in Richtung des Lochs. Dann rannte er zu der einzigen Stelle, die er sah, an der es nicht brannte. Er konnte nicht mehr sehen, wo der Kanister landete, konnte sich nur noch auf den Boden werfen und über die kalten Steine rollen.
Erst als er den Behälter nicht mehr in Händen hielt und es nicht mehr an ihm hing, was passierte, spürte er die Hitze an seinen Beinen durch seine brennende Jeans. Durch die Wucht seines Sprungs knallte er gegen die kalte nasse Steinwand und stieß sich den Rücken.
Einen Moment lang blieb er liegen. Wenn es jetzt endete, wäre es für ihn okay gewesen. Sein ganzer Körper fühlte sich geschunden an. Dann wären wenigstens die Schmerzen vergangen.
Als gerade die Anspannung seinen Körper verließ und er sich seinem Schicksal und den Armen des Monsters ausliefern wollte, hörte er ein dumpfes Grollen wie von einer gedämpften Explosion.
Dann der stechende Schmerz. Es fühlte sich an, als würde jemand einzelne Glassplitter in seinen Kopf rammen. Immer wieder. Ein weiterer Splitter. Und wieder.
Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf, Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er schrie, als würde ihn jemand umbringen wollen.
Jonas konnte nicht sagen, wie lange er auf Knien und Ellenbogen gestützt seinen Kopf festhielt und schrie, aber als er aufblickte, waren nur noch einzelne kleine Flammen in der Höhle zu sehen.
Er lauschte in sich hinein, aber das einzige Gefühl von dem er nicht wusste, ob es sein eigenes war, waren die Schmerzen. Kein Hunger, keine Gier, kein Hass und keine Furcht mehr. Nur sein zerschundener Körper und seine Erschöpfung. Jetzt konnte er in Ruhe mit Josephine und Nils…
Jonas kämpfte sich auf die Beine. Josephine und Nils wurden laut der Aussage des Monsters gequält. Er musste raus, konnte nur hoffen, sie waren geflohen.
Sein Smartphone war den Flammen, den Steinen oder dem Monster zum Opfer geworden. Wem genau war ihm weder wichtig, noch änderte es etwas. Es wäre aber verdammt schön gewesen etwas zu sehen.
Er tastete sich mit der rechten Hand an der Wand entlang und setzte einen Fuß vor den anderen. Nicht nur sein Fußgelenk, inzwischen schmerzten seine beiden Beine und der Geruch von verbranntem Stoff mischte sich verdächtig mit dem von angesengten Haaren.
Es blieb noch genug Zeit später seine Wunden zu lecken. Solange er nicht wusste, dass Josephine und Nils sicher waren, konnte er sich nicht entspannen.
Nach schier unendlich langem, qualvollen Dahinschleichens kam endlich das erste Tageslicht wieder bei ihm an. Er vertraute seinen Sinnen noch nicht, merkte aber dass sich sein Schritt beschleunigt hatte. Dann hörte er es.
Es klang wie Weinen und Schreien. Noch weit weg, aber deutlich zu erkennen. Es war auf jeden Fall eine Frauenstimme, aber es klang auch als würde ein Mann weinen. Die Stimme passt weder zu Josephine, noch zu Nils.
Trotzdem legte Jonas einen Zahn zu und humpelte schneller auf die Lichtquelle zu. Mit jedem Schritt wurde auch die Geräuschkulisse lauter und deutlicher. Es hörte sich an wie eine ganze Menschenmenge, die gefoltert wird.
Die Sonne blendete Jonas, als er die Öffnung vor sich schließlich sehen konnte. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam daran, nachdem er die ganze Zeit nur Dunkelheit gesehen hatte. Dann sah er sein Auto und schließlich außenrum mehrere Silhouetten.
Sie lagen vor Schmerzen verkrümmt auf dem Boden, knieten auf dem Gras oder rollten sich über den Weg. Keiner von ihnen schien mehr bei Sinnen zu sein, sondern durch die Schmerzen komplett dem Wahn verfallen.
Jonas war froh, dass er offensichtlich noch nicht unter der vollen Kontrolle der Pilzsporen gewesen war. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie es ihm ergangen wäre, wenn er wie die hier Liegenden schon jahrelang den Sporen ausgeliefert gewesen wäre.
Unter den Personen konnte er Renate und den Herbergsvater erkennen, aber er ignorierte sie alle und ging zur Beifahrertür seines Wagens. Ihm fielen sofort die vielen Kratzer und Dellen auf. Offenbar war nicht alles gelogen, was der Pilz ihm gesagt hatte.
Doch das Wichtigste war, dass Josephine und Nils noch im Wagen waren. Er sah, wie Josephine den weinenden Nils in den Armen hielt, selbst mit geschwollenen, roten Augen.
Jonas klopfte gegen die Scheibe, aber sie reagierte nicht. Er klopfte erneut und nach einem kurzen Moment fanden sich ihre Blicke. Sie rief etwas, dann öffnete sie ihm die Tür und kletterte nach vorne auf den Fahrersitz. Nils lag auf der Seite, drückte sein Gesicht in die Rückenlehne des Sitzes und hielt sich die Ohren zu.
Vielleicht war das sogar am Besten, dachte Nils bei sich und öffnete die wieder unverschlossene Tür.
“Gott sei Dank lebst du noch.” Josephines Stimme brach und sie fiel ihm sofort um den Hals, als Jonas sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.
“Ahh. Bitte, meine Schulter und mein Arm und … sei einfach vorsichtig”, murmelte er entschuldigend und rieb sich leicht über die schmerzenden Stellen, die die junge Frau neben ihm zu fest gedrückt hatte.
“Was ist … was ist passiert? Renate und Günther und … sie haben uns angegriffen und plötzlich haben sie aufgehört und …”
Jonas unterbrach sie: “Sagen wir einfach, es ist vorbei. Komplett vorbei.” Er konnte es nur hoffen, aber er wollte ihr seine Zweifel nicht zeigen. Sie hatte genug mitgemacht. “Für immer”, fügte er hinzu und zwang sich zu einem schmerzhaften Lächeln.
“Sollen ich dich ins Krankenhaus fahren, du bist … du musst”
“Ich muss nur eins und das ist dringend weg von hier. Bitte fahr nach Islingen. Wir gehen zu meinen Eltern, lecken unsere Wunden und dann für immer raus aus dieser Pilzverseuchten Region.”
Als Josephine den Wagen wendete und in Richtung Grauenfels fuhr, stoppte Jonas sie abrupt. Sie waren gerade auf dem höchsten Punkt des Hügels und konnten viel von Grauenfels und sogar bis nach Brettheim sehen. Das Dorf sah fast unberührt aus. Genau so wie es aussah, als Jonas vor so wenigen Tagen hier ankam.
Aber einen kleinen Unterschied gab es. Aus dem Haus, das ihnen am nächsten war, dem gelben heruntergekommenen Haus, das man im Internet die Höhle des Dämons nannte, stiegen dicke Rauchwolken auf. Sie schienen aus dem Keller zu kommen.
Als Jonas seinen Blick über das Dorf schweifen ließ, fielen ihm weitere Rauchschwaden auf. Von Renates Haus, Meiers Haus, der Herberge und etlichen weiteren und in der Ferne meinte er auch kleine Rauchsäulen aus Brettheim kommen zu sehen.
Überall rauchten die Überreste des Ungeheuers. Überall, wo sich der Pilz ausgebreitet hatte. Überall, wo er mit seinen Sporen die Menschen beeinflusste.
“Verdammt”, entglitt es Josephine. “Ist das … warst das du?”
“Ja. Und ich bin froh über jedes einzelne davon.”
Josephine lächelte ihn schwach an und er nickte ihr zu, bevor sie die rauchenden Gebäude und das Dorf hinter sich ließen und in Richtung Islingen davon fuhren.
Ein einzelnes kleines Auto war auf der Landstraße zwischen Grauenfels und Islingen unterwegs. Zu sagen, dass es beschädigt war, hätte das falsche Bild erzeugt, denn das Auto sah nicht so aus als hätte es einen Unfall überlebt. Viel eher war es von allen Seiten malträtiert worden. Ein Seitenspiegel war abgeschlagen, zwei Fenster hatten Risse und unzählige Kratzer zierten die Karosserie.
Die Menschen, die auf den Vordersitzen des Wagens saßen, passten zu dem Auto. Während der Beifahrer, der sich nur mühsam wach halten konnte, ähnlich wie das Gefährt, in dem er saß von Kratzern und Blessuren nur so übersät war, spiegelte die Fahrerin den erschöpften Zustand wieder, der dem Wagen anzuhängen schien. Beide liefen auf ihren letzten Reserven.
Auf der Rückbank lag ein Junge, der sich in den Schlaf geweint hatte. Seine Kleidung klebte an ihm, als sei er damit Baden gegangen und hätte sie am Körper wieder trocknen lassen. Sein Schlaf war unruhig und er murmelte immer wieder panisch einige wenige Worte, was jedes Mal die Aufmerksamkeit der beiden Erwachsenen erregte.
Trotz des Zustands der beiden wachen Personen machten sie allerdings nicht den Eindruck, als hätten sie aufgegeben. Der Mann blickte zu der Frau am Steuer. In seinen Augen lag etwas Liebevolles.
“Es wird Zeit für ein Haus mit Garten und einen Teilzeitjob”, sagte er und lächelte ihr zu.
“Das hast du dir gemerkt?” Die Stimme der Frau klang heiser und sie versuchte zu flüstern, um den Jungen nicht zu wecken. Der Mann nickte zur Bestätigung, als sie den Blick kurz von der Straße ihm zu wandte.
“Aber ohne Keller”, murmelte sie. Über ihr Gesicht huschte fast etwas wie Freude. Sie schaute in den Rückspiegel und sah das schlafende Kind. Egal, was passiert war oder passieren würde, alleine für ihn musste sie das alles hinter sich lassen.
Sie kamen in den nächsten Ort und der Mann wies der Fahrerin die Richtung.
“Jetzt noch hier links hoch und auf der linken Seite …”, er unterbrach sich selbst. Seine Augen schlossen sich kurz und öffneten sich wieder mit Tränen gefüllt. Er räusperte sich.
“Fahr am Ende der Straße links, dann die erste rechts. Dort geht es Richtung Autobahn.”
Die Frau sah ihn an, als wollte sie etwas sagen. Etwas Tröstendes, etwas Aufheiterndes. Aber sie nickte nur und beschleunigte den Wagen wieder.
Im Rückspiegel konnte der Mann das ihm vertraute Elternhaus erkennen, in dem er viele Jahre seines Lebens verbracht hatte und sah die dicke Rauchsäule aus dem Kellerfenster aufsteigen.
“Nicht auch noch ihr…”, murmelte er und wandte den Blick ab.
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| Kapitel: | 30 | |
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