Der Duft von Apfelblüten
„Es war ein Mal …“ begann Adam Lewine mit gespielt dramatischer Stimme und das Gemurmel der Umstehenden verstummte. Nicht etwa, weil der Lewine ein so einschüchternder Mensch gewesen wäre, dessen Anwesenheit absolute Stille gebot, doch waren alle durchaus interessiert an der Geschichte, die sich hinter dem Nachbarort Helenenfeld und gleichnamigen Apfelweinsorte verbarg. Auch Julia setzte ihre Flasche ab um besonders konzentriert zuhören zu können.
„… vor langer, langer Zeit, als es weder den Apfelhain noch das Dorf Helenenfeld gab. Damals war unser Dennheim sogar noch kleiner, als Helenenfeld es jetzt ist, das müssen Sie sich mal vorstellen! Es war ein eher ärmliches Dorf. Man lebte vom Ertrag von Ackerbau und Viehzucht, und das nicht sonderlich gut. Die Erde war nicht sonderlich fruchtbar – im Wald wäre sie es vielleicht gewesen, doch rankten sich um diesen solche düsteren Legenden, dass man es nicht wagte, durch Rodung Platz für Äcker zu schaffen. Heute können wir uns vielleicht schwer vorstellen, dass sich Leute tatsächlich aus Angst vor einem Wald davon abhalten ließen, Profit zu machen, aber lassen Sie uns wohlwollend sein. Wie dem auch sei – das Dorf lag mitten im Nirgendwo, gerade weit weg genug vom Wald, sich nicht ständig fürchten zu müssen, aber so nahe daran, dass der Schrecken immer im Hinterkopf blieb. Nur im Winter mussten sich die Ärmsten der Armen wohl oder übel zumindest an den Waldrand wagen, da ihnen das Feuerholz, das man um das Dorf herum sammeln konnte, nicht genügte. Besonders fürchteten sich natürlich die Kinder! Die älteren, die schon mehrere Winter dort gewesen waren, machten sich selbstverständlich einen Spaß daraus, die jüngeren mit ihren Erzählungen immer mehr zu verängstigen. Jeder wollte die anderen mit Geschichten übertrumpfen, welche Gestalten er schon im Halbdunkel durch die Bäume hatte huschen sehen. Doch dies war nur Aufschneiderei – in Wirklichkeit hatte noch keines der Kinder sich je tiefer in den Wald gewagt. Und als es eines Tages geschah, dass ein Mädchen im Wald verschwand, waren die Zurückgebliebenen die einzigen, die Angst ausstanden …“
Er ließ einen zufriedenen Blick über die wie gebannt Zuhörenden schweifen. Die lokale Kultur war schon immer sein Steckenpferd gewesen, aber leider kam es selten vor, dass sich andere Menschen so sehr davon fesseln ließen. Die Älteren kannten die Geschichten alle schon, und die jüngeren schienen sich nicht so sehr dafür zu interessieren. Nur beim alljährlichen Apfelblütenfest gab es immer ein paar neugierige, die die Legende noch nicht kannten. Zumeist Verwandte von Einheimischen, die zu Besuch gekommen waren.
Er räusperte sich und fuhr fort: „Wider Erwarten geschah es nicht im Winter. Es war ein erstaunlich warmer und sonniger Frühlingstag, von daher gab es überhaupt keinen Grund, überhaupt in die Nähe des Waldes zu kommen. Dennoch hatte Helena, die Tochter des Bürgermeisters, sich dazu entschieden, einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie war gerade zwölf geworden und dachte wohl, es sei nun an der Zeit für sie, etwas richtig Mutiges zu tun. Jedenfalls erzählte sie den anderen Kindern stolz, sie wolle im Wald spazieren gehen. Ernst nahm das keiner, alle erwarteten, dass sie noch in der Mitte des Weges umkehren würde. Als sie jedoch nach ein paar Stunden immer noch nicht wiedergekommen war, wurden Suchtrupps ausgeschickt. Zunächst lief man nur am Waldrand entlang, wirkte der Wald doch in seinem dichten Sommergrün so schattig und undurchdringlich, dass sich niemand vorstellen konnte, dass Helena wirklich hineingelaufen war. Als sie jedoch gegen Einbruch der Dunkelheit noch nicht aufzufinden war, beschloss man, am nächsten Tag im Wald zu suchen. Vergeblich. Stundenlang wurde der Wald durchsucht, die Menschen wagten sich tiefer hinein, als in sämtlichen Jahren zuvor. Von Helena war nichts zu sehen. Tagelang hallten die Rufe der Suchenden durch den Wald, bis sie schließlich aufgaben. Dies waren aber auch die einzigen Geräusche, die man im Wald hörte – totenstill war alles, man hörte weder Tiere noch das Rascheln von Blättern, durch die der Wind fuhr. Das trug natürlich sein Übriges dazu bei, dass die meisten lieber nicht allzu lange an diesem unheimlichen Ort suchten. Irgendwann waren es nur noch ihre Eltern, die immer verzweifelter weiter suchten. Sie klammerten sich an die Hoffnung, dass ja schließlich auch keine Leiche gefunden worden war. Doch als Wochen und Monate vergingen, verging auch die Hoffnung. Ein Jahr zog ins Land, und schließlich war der Tag, an dem Helenas dreizehnter Geburtstag war. Für ihre Eltern war das ein entsetzlich trauriger Tag, noch trauriger als all die anderen mehr als 300 Tage nach ihrem Verschwinden. Sie verließen das Haus nicht, wohlmeinende Nachbarn die mit guten Worten an die Tür klopften und ihre Hilfe anboten, wiesen sie ab. Insgesamt herrschte im Dorf eine bedrückte Stimmung, schließlich hatten nicht nur die Eltern eine Kind sondern viele Kinder eine Spielkameradin verloren. Während ihre Eltern also in ihrer stillen Stube saßen, merkten sie plötzlich, dass draußen ein seltsamer Lärm aufgekommen war. Rufen und Geschrei näherten sich ihrem Haus. Plötzlich klopfte es wie ein Mal, und Helenas Vater erhob sich, um die Tür zu öffnen.“
Lewine machte eine Pause. Weniger, um die Spannung aufrecht zu erhalten – der Logik eines Märchens folgend war wohl den meisten klar, wer vor der Tür stand.
„Wie das in Geschichten eben so ist: da stand Helena. Verfolgt von einem Pulk aufgewühlter Menschen aus dem Dorf, die nicht glauben konnten, was sie sahen. Auch ihre Eltern waren zunächst ungläubig, doch dann überwog die unsagbare Freude. Sie schlossen Helena in die Arme, wieder und wieder musste das Mädchen bezeugen, dass es ihr wirklich gut ging. Als sich endlich alle so weit beruhigt hatten, dass sie jemand endlich die Frage stellte, wo sie denn das vergangene Jahr verbracht hatte, sah Helena verwirrt von einem zum anderen. „Ein Jahr?“, fragte sie? „Ich bin während meines Spaziergangs nur für eine Stunde eingeschlafen, ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht länger als das weggeblieben bin! Es war übrigens auch gar nicht unheimlich im Wald! Im Sonnenschein und bei all den singenden Vögel habe ich mich so sicher und geborgen gefühlt, dass ich immer müde wurde und schließlich eingedöst bin, aber nicht für lange Zeit!“ Es dauerte eine ganze Weile, bis die anderen Helena überzeugen konnten, dass sie wirklich ein ganzes Jahr verschwunden gewesen war.
In den folgenden Tagen und Wochen konnten die Eltern ihr Glück immer noch kaum fassen. Sie machten sich auch Sorgen, Helena sei vielleicht verändert wieder gekehrt, doch auch dem war nicht so. Sie war noch das gleiche aufgeweckte und freundliche Mädchen wie vor ihrem unerklärlichen Verschwinden. Das Einzige, was ihren Eltern weiterhin Sorgen bereitete, war, dass sie immer wieder davon sprach, in den Wald zurückkehren zu wollen – nicht lange, nur zum Spazierengehen, so sagte sie, schien noch immer nicht ganz ernst zu nehmen, was passiert war. Für sie war eben nur ein schöner Nachmittag vergangen, nicht mehr. Nachts hörten ihre Eltern oft, wie sie sich in ihrem Bett hin und her wälzte. Als sie sie fragten, ob sie denn Albträume habe, antwortete sie: „Nein, es ist nicht so, als ob ich schlecht schlafe, aber dann doch so, dass ich mich nie so ruhig und gelassen fühle wie an diesem Nachmittag im Wald. Ach, wenn ich doch nur mal wieder dort unter den Bäumen schlafen könnte!“ Ihrer Mutter standen Tränen in den Augen und sie ließ Helena versprechen, nie wieder auch nur in die Nähe des Waldes zu gehen.“
Wieder unterbrach Lewine sich, um einen großen Schluck aus seiner Cider-Flasche zu nehmen. Auch Julia trank etwas und ließ sich das süßliche, prickelnde Getränk auf der Zunge zergehen. Sie betrachtete das Etikett. Die Flaschen zierte eine Zeichnung einer jungen Frau. Das war dann wohl Helena. Auf dem Bild war sie nicht erst zwölf, wie in der Geschichte, sondern schien so alt wie Julia zu sein, vielleicht Anfang zwanzig. Und auf keinen Fall sah sie so aus, wie jemand, der sich etwas verbieten ließ. Ihre grauen Augen sahen den Betrachter direkt an. Nicht unhöflich oder provokant, aber definitiv sehr selbstsicher.
„Und auch wenn Helena es noch so sehr wünschte, sie gehorchte ihrer Mutter. Es schien ihr mit der Zeit auch immer leichter zu fallen, irgendwann sprach sie gar nicht mehr von dem Wald. Und nach ein paar Jahren schien es so, als sei sie gänzlich unverändert aus der Sache herausgetreten. Ihr verlorenes Jahr schien ein unerhebliches Ereignis in ihrer Kindheit, über das man nicht mehr sprach. Nur eines bereitete den Eltern noch Sorgen – zu dieser Zeit wurden Mädchen meist sehr früh verheiratet. Maria hatte das Glück, das ihre Eltern sie damit nicht bedrängten. Die Familie war für den Ort recht wohlhabend, was hieß, dass nicht viel von einer Mitgift abhing, und Maria ihren Eltern auch nicht finanziell zu sehr zur Last fiel. Dennoch hatten sie jahrelang gehofft, Helena würde sich noch für einen jungen Mann entscheiden, Anwärter gab es viele. Ab und an hatte sie sich auch regelmäßig mit Jungen getroffen, doch zu keinem hatte eine Verbindung länger als ein paar Wochen angehalten. Mittlerweile, als sie fast schon zwanzig war, würde es immer schwerer werden, jemanden zu finden, der noch so eine – für damalige Verhältnisse – alte Jungfer heiraten würde. Wie groß war dann aber die Freude, als sie endlich doch einen Partner gefunden hatte! Er war nicht reich, aber freundlich, und schien sie aufrichtig zu lieben. Ihre Eltern konnten sich vor Freude gar nicht halten und begannen sofort, die Hochzeit zu planen. Helena selbst verhielt sich nicht ganz so überschwänglich, doch man erklärte sich es damit, dass sie sich eben lieber im Stillen freute. Endlich war der Tag der Hochzeit gekommen – es war ein schöner, klarer und schon ziemlich warmer Frühlingstag, ganz wie heute. Die Kirche war vom Duft von Apfelblüten erfüllt, da vor der Kirche ein wunderschöner blühender solcher Baum stand. Dessen Zweige hatte man auch verwendet, das Haus ihres zukünftigen Mannes zu schmücken, in das Helena nun einziehen würde. Sie liebte diesen Duft, sagte immer, er erinnere sie an etwas, doch an was, davon wollte sie nicht sprechen, wusste es vielleicht selbst nicht. Sie sagte, der Geruch von Apfelblüten sei wie ein Duft aus einem Traum. Wie dem auch sei: Die Hochzeit fand statt, es war eine wunderschöne Zeremonie und ein rauschendes Fest! Und dann, endlich – so empfand es zumindest der frischgebackene Bräutigam – brach die Nacht herein, und wir wissen ja alle, was eine Hochzeitsnacht bedeutet.“
Ein paar Zuhörer kicherten, beschwipst und wissend. Julia konnte die Situation nicht lustig finden, sie war viel zu gefesselt von der Erzählung und Helena tat ihr Leid. Es war ja ganz offensichtlich, dass diese den jungen Mann nur geheiratet hatte, um ihre Eltern zufrieden zu stellen! Julia fühlte mit und hoffte, dass es für Helena noch ein glückliches Ende geben würde.
Als habe er ihre Hoffnung gespürt, seufzte Lewine besonders tief, bevor er fortfuhr: „Leider jedoch sollte diese Hochzeitsnacht nicht so verlaufen, wie gewünscht. Es ist nicht überliefert, was hinter der verschlossenen Tür des Schlafzimmers geschah, ob das junge Paar sofort stritt oder ob sie versuchten, einander zu verstehen. Schließlich jedoch stürmte Helena hinaus. Zunächst nur ins Vorzimmer – sie hatte ja nichts gegen ihren Bräutigam, es tat ihr ja selbst Leid, dass sie nicht tun konnte, was von ihr erwartet wurde. Sie brach einen der dekorativen Apfelbaumzweige ab und tröstete sich mit dem vertrauten Duft. Nach dem er ihr ein paar Minuten Zeit gelassen hatte, sich zu sammeln, kam auch ihr Mann aus dem Schlafzimmer. An seinem harten Gesicht sah sie, dass er einen Entschluss gefasst hatte, und sie umklammerte den Zweig, als könne sie sich damit zur Wehr setzen. Als er sprach, war seine Stimme drohend: „Ich verstehe, dass du nervös bist, doch das ändert alles nichts. Wir sind nun verheiratet, und wir werden tun, was verheiratete Paare tun.“ Er trat einen Schritt auf sie zu und Helena wusste sich nicht anders zu helfen als mit einer plötzlichen Flucht. Sie stürmte aus dem aus. Ich glaube nicht, dass sie sich ein Ziel überlegt hatte, doch instinktiv leiteten ihre Beine sie in die Richtung, in die sie schon all die Jahre zuvor hatte rennen wollen: zum Wald. Mit fast übernatürlicher Sicherheit hastete sie durch die Dunkelheit, andere wären gestolpert, doch sie schien einfach zu spüren, wo sie ihre Füße hinsetzen musste. Wäre ihr Mann ihr sofort gefolgt, hätte er sie noch im Dorf eingeholt, doch da er sich noch eine Lampe gegriffen hatte, war sie im Vorsprung. So war sie schon beinahe am Wald, als er sie erreicht hatte. Er packte sie am Arm und riss sie herum. Keuchend und außer Atem standen sie sich gegenüber. „Was soll das?“, fragte der Mann mit wütender und ungläubiger Stimme. „Du kannst nicht fliehen! Im Guten wie im Schlechten, du gehörst nun zu mir.“ Sie sah ihn noch ein Mal an, traurig und resigniert. „Es tut mir so Leid. Es liegt nicht an dir, doch ich kann nicht, ich werde es nie können –‚‘‘ Mit diesen Worten wandte sie sich abrupt um und wollte weiter in Richtung Wald rennen, und ihr Mann versuchte hastig, sie fest zu halten. Dabei fiel die Lampe, die er getragen hatte, zu Boden und zerbrach. Die Kerze darin rollte heraus, und statt zu erlöschen verfing sie sich, immer noch brennend, im Saum von Helena Nachtgewand. Zu entsetzt um zu sprechen sahen beide für einen Augenblick regungslos zu, wie ihre Kleidung Feuer fing. Dann, ohne etwas zu sagen, ohne ihm die Chance zu geben, das Feuer zu löschen, lief Maria einfach weiter. Vor Schreck erstarrt konnte der Mann nur beobachtet, wie das Feuer an ihr hochkroch und die brennende Gestalt mit dem Apfelzweig in der Hand fast den Wald erreicht hatte, bevor sie zusammenbrach. Und wie die Legende besagt, begannen genau ein Jahr später, dort, wo Helena gestorben war, viele Apfelbäume zu wachsen. Die tragischen Ereignisse sind heutzutage schon längst vergessen, doch das plötzlich unglaublich fruchtbar gewordene Land sowie natürlich die besonders guten Äpfel, die in unserem Cider stecken, führten mit der Zeit dazu, dass sich auch nahe am Waldrand eine Siedlung aufbaute, die heute Helenenfeld ist.“
Damit endete die Geschichte des Professors. Langsam zerstreuten sich die Zuhörer. Julia nippte nachdenklich an ihrer Flasche und leerte sie dann mit einem entschlossenen Schluck. Sie wusste nicht ganz, ob sie es nett oder morbide fand, ein Dorf und ein Getränk nach einer angeblich auf so grausame Weise zu Tode gekommenen Frau zu benennen. Dem köstlichen Geschmack tat die traurige Geschichte aber keinen Abbruch.
Sie schlenderte noch ein wenig über den Marktplatz, doch als sie nach einer Weile zu frösteln begann, beschloss sie, sich auf den Rückweg zu machen. So nett das Apfelblütenfest auch war, wenn man niemanden kannte gab es nicht viel zu tun. Auch waren nur wenige Leute in Julias Alter anwesend. Die würden wahrscheinlich alle erst später kommen, um, wenn die Älteren sich langsam ins Bett begaben, die Nacht durchzufeiern. Doch in Partystimmung war Julia nun wirklich nicht, außerdem fuhren ab dem Abend keine Busse mehr nach Helenenfeld, und durch die Dunkelheit zu laufen hatte sie nicht wirklich Lust.
An der Bushaltestelle wartete sie alleine und auch im Bus waren von ihr abgesehen nur zwei weitere Passagiere. Trotz der freien Plätze blieb sie stehen und hielt sich für die nur etwas fünfminütige Fahrt an der Haltestange fest. Draußen zogen Felder vorbei, die im anbrechenden Frühling langsam wieder zu grünen begannen und auf die das Licht der sinkenden Sonne einen goldenen Schimmer warf. Ja, gerade wenn man in einer Großstadt aufgewachsen war und lebte, war es wirklich schön, mal ein paar Tage auf dem Land zu verbringen. Julia bereute es ein wenig, ihre Tante nicht früher schön häufiger besucht zu haben. Jetzt würde sie aber bestimmt öfter kommen, das nahm sie sich fest vor. In den letzten Tagen hatte sie sich schon richtig in die idyllische Gegend verliebt. Alles war ein wenig altmodischer als in ihrer grauen Heimatstadt. Die frische Luft tat gut, und der wirklich überaus leckere Cider war auch nicht zu verachten. Sie müsste unbedingt ein paar Flaschen davon mitnehmen, oder gar eine ganze Kiste, auch wenn diese im Zug wahrscheinlich schwer zu transportieren war.
Irgendwie ging ihr die Geschichte nicht aus dem Kopf. Helena tat ihr unglaublich Leid. Sie konnte verstehen, dass sie sich nicht mit einem Mann einlassen wollte, aber auch, dass sie es dennoch versuchte, um ihre Eltern nicht zu sehr zu enttäuschen. Auch ihr war es vor ein paar Jahren schwer gefallen, ihren Eltern zu erzählen, dass sie keinerlei Interesse an Männern hatte, und deshalb nie einen perfekten Schwiegersohn, über den ihre Mutter öfters Mal erwartungsvoll scherzte, nach Hause bringen würde. Zwar hatten ihre Eltern Verständnis gezeigt, und ihr nicht, wie es bei einigen ihrer Bekannten geschehen war, eine große Szene gemacht, doch sie spürte deutlich, dass sie immer noch hofften, dass alles eine Phase wäre. Unwillig schüttelte Julia den Kopf. Auf diese düsteren Gedanken hatte sie jetzt wirklich keine Lust! Gerade in diesem Moment hielt der Bus an der einzigen Haltestelle Helenenfelds und als sie heraussprang kam ihr der spontane Gedanke, von der Legende angeregt, noch einen Spaziergang durch den Apfelhain zu machen.
All die von weißen Blüten bedeckten Bäume sahen wirklich wunderschön aus, und Julia konnte verstehen, dass man jährlich den Beginn der Blütezeit feierte. Hinzu kam dieser wunderbare Duft, zugleich betörend süß und erfrischend. Während sie die langen Reihen der Bäume entlang wanderte, nahm sie sich vor, bis zu ihrer Abreise auf jeden Fall noch häufiger hier Zeit zu verbringen. Wenn es warm und trocken war, würde sie sich mal mit einem Buch unter einen Baum setzen, vielleicht sogar ein kleines Picknick machen. Das müsste wirklich traumhaft sein! Sie sog den Geruch der Blüten tief ein und drehte sich, von einer ruhigen inneren Freude ergriffen, einmal um die eigene Achse. Sie taumelte ein wenig, stolperte fast gegen einen Baum, den sie dann in einem Instinkt fest umarmte. Sie legte die Wange an die raue Rinde und atmete. Dann kicherte sie. Vielleicht war sie doch ein bisschen beschwipst, sie hatte ja durchaus einige Flaschen Cider getrunken.
Ihr war wirklich ein bisschen schwindelig, aber nicht auf eine unangenehme Weise. Im Gegenteil, sie fühlte sich einfach sehr leicht und glücklich. Wieder drehte sie sich und hielt dann abrupt inne. Zwischen den weißblühenden Apfelbäumen hatte sie etwas Rotes hindurchschimmern sehen. Dabei war sie doch alleine auf dem Feld, oder etwa nicht?
„Hallo, ist da jemand?“ rief sie. Sie war nicht wirklich nervös, dafür war die Atmosphäre hier zu friedvoll. „Ja! Ich bin es“, antworte die Stimme, die einer jungen Frau zu gehören schien. Da trat sie auch schon zwischen den Bäumen hervor und stellte sich direkt vor Julia hin. Die lächelte. „Du bist es also? Das sagt mir leider nicht viel! Ich bin Julia, ich bin hier zu Besuch, bei meiner Tante. Sie wohnt hier. Und du?“ Jetzt lächelte auch die andere. „Oh, dann kennst du mich natürlich nicht – ich wohne hier. Ich bin Helena.“ Unversehens lachte Julia laut auf. Das war auch ein zu komischer Zufall! Irgendwie sah die junge Frau dem Logo auf den Flaschen sogar ziemlich ähnlich. Die gleichen grauen Augen, und auch sie hatte rotes Haar, nur umwallte es nicht wie auf den Etiketten dramatisch ihr rundes Gesicht, sondern war zu einem strengen langen Zopf gebunden. Das war wirklich seltsam. Julia schaute und schaute, bis ihr bewusst wurde, dass es wohl ziemlich seltsam war, eine Fremde so anzustarren. Auch wenn sie sehr schön war …
„Du wohnst also hier im Dorf? Komisch, dass wir uns bisher nicht über den Weg gelaufen sind, es ist ja wirklich klein.“ Julia legte einen fragenden Tonfall in ihre Stimme, ohne aber aufdringlich wirken zu wollen. Irgendwie war ihr plötzlich ein wenig unheimlich zu Mute, allerdings auf eine unerwartet angenehme Weise. „Nein.“ Helena sah ihr ernst ins Gesicht. „Nicht hier im Dorf. Sondern hier.“ Sie machte eine Armbewegung, die den gesamten Apfelhain umfasste, ohne ihren Blick von Julia zu lassen. In ihrem Ausdruck lag eine Ehrlichkeit, die aber gleichzeitig darum bat, keine Fragen mehr zu stellen.
So fragte Julia nicht weiter. An diesem Abend, an dem sie sich zum ersten Mal vom Duft der Apfelblüten umwoben im Licht der untergehenden Sonne küssten, sagte keine von ihnen ein Wort. Auch so war es klar, dass Julia am nächsten Tag wieder kommen würde.
Und sie kam. Jeden Tag, für den Rest der Ferien. Helena und Julia redeten, spazierten und küssten einander prickelnden Cider von den Lippen; ab und an liebten sie sich im Schutz der Apfelbäume.
Obwohl sie einander immer mehr erzählten, von Sorgen, Ängsten, Wünschen und Träumen, nie wagten sie es, die wichtigsten Fragen auszusprechen. Ob Helena nun erlöst war, ob sie das Feld verlassen konnte. Wie es weiter gehen sollte.
Als der Tag von Julias Abreise gekommen war, waren sie beide den Tränen nahe. Sie wollten einander versprechen, dass es weitergehen würde, dass Julia wiederkommen würde, doch keiner kamen die Worte über die Lippen. Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende wäre eine Lüge, bei einer, die schon lange tot war, und einer, die eigentlich gar nicht an Geister glaubte. Also küssten sie sich noch ein Mal unter den Bäumen und Julia drückte Helena so fest an sich, als wolle sie den Apfelblütenduft, der für sie untrennbar mit diesem Frühling verwoben war, auf immer an sich tragen.
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