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Plastikefeu hält sich gut - Leseprobe

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14.10.22 09:02
18 Ab 18 Jahren
Homosexualität
Homosexualität
Bisexualität
Fertiggestellt

Autorennotiz

„Plastikefeu hält sich gut“ ist eine in der aktuellen Zeit angesiedelte, humorvolle queere Romanze mit expliziten BDSM-Sexszenen und Bezug zur Corona-Pandemie. Der Roman ist ein abgeschlossener Einzelband mit etwa 300 Seiten und wird aktuell für die Veröffentlichung vorbereitet. Wenn ihr das Buch jetzt schon bestellen möchtet, könnt ihr das Crowdfunding zur Veröffentlichung hier unterstützen und euch den Roman als E-Book oder gedruckte Version sichern
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Kapitel 1
Das Bewerbungsgespräch

„Ja, hallo?“

Die Gegensprechanlage des nobel renovierten Altbaus rauschte und knackte vernehmlich. Unwillkürlich neigte Kay sich näher heran und sagte sehr laut und deutlich: „Hallo Herr Engel, Holzmann hier! Wir hatten telefoniert!“

„Ah ja. Kommen Sie bitte hoch in den 3. Stock, es ist die Tür rechts.“

Der elektrische Türöffner summte, und hastig stemmte Kay sich gegen die Tür, mal wieder mit zu viel Kraft. Sie donnerte gegen die weiß verputzte Wand im Flur, und das Knallen ließ Kay zusammenfahren.

„Scheiße!“

Peinlich berührt trat er in den hohen Hausflur mit den bemalten Decken und betrachtete die Bescherung: Er hatte tatsächlich ein Loch in die Wand geschlagen. Das ging ja gut los. Kay zögerte einen Moment, aber dann wandte er sich der Treppe zu. Nicht, dass noch jemand auf die Idee kam, nachzusehen, was da so einen Krach gemacht hatte. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, bei seinen langen Beinen machte ihm das nicht viel aus.

Die gewachste Doppelflügeltür aus Eichenholz auf der rechten Seite öffnete sich gerade, als Kay den letzten Treppenabsatz erreichte. Eine geschäftig wirkende Person in einem schlichten anthrazitfarbenen Kostüm trat heraus, die Aktentasche in der Hand.

„Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, von Ihnen zu hören“, sagte sie gerade und richtete die farblich zum Kostüm passende Maske, „Oder soll ich Sie vielleicht Ende der Woche noch einmal anrufen?“

„Ich denke, das wird nicht nötig sein“, entgegnete ihr Gegenüber, das sie zur Tür begleitet hatte; offensichtlich Herr Engel. Seine Stimme war durch seine FFP-2-Maske ein wenig gedämpft.

„Denken Sie denn-“, setzte sie erneut an, unterbrach sich aber, als sie Kay erspähte, der gerade die letzten Stufen erklomm und aus dem unteren Geschoss auftauchte wie Moby Dick aus dem Meer. Kay machte sich nichts aus ihrem verdutzten Blick, er war daran gewöhnt. Mit 1,95 m überragte er die meisten Leute; gepaart mit seinen breiten Schultern und 120 kg Kampfgewicht war er praktisch unübersehbar.

Herr Engel war weniger überrascht. „Herr Holzmann, nehme ich an? Sie waren ja schnell hier oben! Kommen Sie doch herein.“

„Gern“, antwortete Kay und trat an ihm vorbei in die Wohnung.

„Danke, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten.“ Engel schloss die Tür hinter ihm, ohne sich von seinem vorherigen Besuch zu verabschieden. Die Visitenkarte, die er bis eben noch in einer Hand gehalten hatte, riss er in der Mitte durch und beförderte sie in einen nahen Papierkorb.

„Kein Problem.“ Kay blieb zögernd auf der großen Fußmatte im Eingangsbereich stehen und fühlte sich mit einem Mal ziemlich fehl am Platz. In einer Prachtbude wie dieser hier hatte er noch nie ein Bewerbungsgespräch geführt. Das Fischgrätparkett war alt, aber tadellos aufgearbeitet, und die minimalistische Garderobe aus Echtholz sah teuer aus. Abstrakte Gemälde in kräftigen Farben schmückten die Flurwände. Anscheinend lohnte es sich, ein Virologe zu sein.

„Das Bad ist sich gleich hier“, erklärte Engel und wies auf eine Tür rechts neben Kay. „Wenn Sie sich die Hände gewaschen haben, können Sie dann in mein Büro kommen, das ist auf derselben Flurseite, eine Tür weiter.“

„Schuhe ausziehen oder anlassen?“, fragte Kay automatisch.

Engel stutzte, dann lächelte er unter seiner Maske, was Kay zum Glück an den Lachfalten um seine Augen erkennen konnte.

„Ich fürchte, ich habe keine, wie sagt man, ‚Gästepantoffeln‘ in Ihrer Größe“, erklärte er mit einem Wink zu Kays riesigen Füßen. „Davon abgesehen, dass sie auch nicht besonders hygienisch sind. Entscheiden Sie einfach selbst, was Ihnen bequemer ist.“

Kay nickte und zog sich, nach kurzem Bedenken und einem Rundumblick, die schwarzen Sneaker von den Füßen. Der Fußboden war blitzblank; er hätte sich schlecht gefühlt, unnötig Dreck in die Wohnung zu tragen. Das hielt er so lange für einen schlauen Gedanken, bis er ein Loch in der Socke an seiner rechten großen Zehe entdeckte. Perfekt, in der ersten Minute als absoluter Schluffi geoutet.

„Ich bin dann mal Hände waschen“, brummelte Kay hastig und beeilte sich, ins Badezimmer zu kommen.

Das war recht schmal, aber gemütlich und vollgestopft mit Grünpflanzen, die auf Simsen standen, das Fensterbrett belegten und von der Decke hingen. Entweder hatte Engel einen Faible für Grünzeug, oder er bekam genau wie Kay als Dank für seine Arbeit immer Topfpflanzen geschenkt.

Hastig vertauschte Kay seine Socken, sodass sich das Loch strategisch günstig bei seiner kleinen Zehe befand, und schob die löchrige Stelle zusätzlich noch unter den Fußballen. Danach absolvierte er seine 30 Sekunden am Waschbecken und benutzte auch den Desinfektionsmittelspender, der neben der Handseife stand. Ein Virologe war bei so etwas bestimmt pingelig.

Zum Abschluss richtete Kay seine Haare und betrachtete sich noch einmal. Das dunkelblaue Hemd sah trotz des warmen Wetters nicht schweißfleckig aus und ließ ihn nicht ganz käseweiß erscheinen. Die schwarzen Jeans saßen. Die Maske passte farblich dazu, und sein Vollbart verschwand ordnungsgemäß darunter, sodass sie richtig abschloss. Er mochte so breit wie hoch und ein wandelnder Schrank sein, aber wenigstens war er ein gut angezogener, professioneller und motivierter Schrank. Zeit, einen weiteren Job klar zu machen.

Kay verließ das Bad und nahm die zweite Tür, die bereits offen stand. Der Raum war groß und wirkte sehr hell und einladend. Durch die hohen Fenster, die alle offen standen, drangen Vogelgesang und ein leichter Windhauch aus dem Innenhof herein. Die Wände waren pastellgrün gestrichen, und riesige Topfpflanzen umsäumten den modernen weißen Stahlrohrschreibtisch in der Mitte des Zimmers wie ein Wäldchen.

Herr Engel saß dahinter und tippte fleißig etwas auf der Tastatur seines Desktop-PCs. Der Stuhl vor seinem Schreibtisch, in gebührendem Abstand, schien für Gäste bestimmt. Kay setzte sich kommentarlos, fischte seinen Notizblock aus der Umhängetasche und wartete dann geduldig. Er plante immer genug Zeit für neue Aufträge ein, und sein Gegenüber schien sehr vertieft. Zwischen Engels Augen stand eine konzentrierte Falte, die Kay spontan sympathisch war, so wie der ganze Rest von ihm. Er wirkte ganz anders als bei seinen Auftritten im Lokalfernsehen, bei denen er kurze Kommentare zur Corona-Situation gegeben hatte. Unwillkürlich glich Kay seine Erinnerung mit der Realität ab und korrigierte ein paar Angaben in Marian Engels Profil. Zum einen war er deutlich kleiner, als Kay angenommen hatte, nur um die 1,75 m groß. Er wirkte allerdings wesentlich lockerer, was sicher auch daran lag, dass er jetzt keinen dunklen Anzug trug, sondern ein helles Leinenhemd und eine dunkle Jeans. Seine blonden, gelockten Haare waren heute nicht fernsehtauglich geglättet, sondern fielen ihm locker in die Stirn, um sein rundes Gesicht und fast über die Gläser seiner randlosen Brille. Auch seine Haltung war deutlich offener und entspannter; vermutlich war er nicht der Typ Mensch, der sich im Rampenlicht wohlfühlte. Kay, der einmal bei einem Karaokeauftritt vor Nervosität die Bühne in Brand gesetzt hatte, konnte so etwas nachfühlen.

Mit einem zufriedenen Seufzen und einem letzten Klick schien Herr Engel seine Arbeit beendet zu haben. Er schob die Tastatur von sich, sah zu Kay auf und faltete die Hände auf dem Schreibtisch.

„So. Tut mir leid, ich wollte eigentlich bis zu unserem Termin fertig mit der Arbeit sein, aber dann hat mich unangemeldet diese Recruiterin überfallen und wollte nicht wieder verschwinden.“

„Kein Problem, ich habe Zeit mitgebracht“, antwortete Kay und schlug seinen Notizblock auf. „Haben Sie mir deshalb eine Anfrage geschickt? Brauchen Sie jemand, der Ihnen Recruitingfirmen vom Hals hält?“

Engel stutzte, doch dann lächelte er und schüttelte den Kopf. „Nein, das zum Glück nicht. Ich hätte in meiner E-Mail an Sie wohl ein bisschen konkreter sein sollen. Aber ehrlich gesagt, die ganze Sache ist ziemlich neu für mich. Bei Bodyguards dachte ich bisher immer an Hollywoodfilme.“

Das überraschte Kay nicht sonderlich; er war lange genug Personenschützer, um die ganz neue Kundschaft zu erkennen. „Aus dem Grund sprechen wir in der Branche auch eher von Personenschutz statt Bodyguards.“

Engel nickte. „Ist notiert.“

„Und ich beantworte Ihnen gerne alle Fragen, die Sie haben. Als Erstes würde ich mir aber gern ein Bild von Ihrer Lage machen. Es gibt ja sicher einen konkreten Grund, warum Sie Personenschutz möchten.“

Engel seufzte vernehmlich. „Ich spare mir am besten die langen Erklärungen und zeige Ihnen einfach das Material.“

Er zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und holte einen Stapel Papiere und Fotos hervor, die er Kay kommentarlos reichte. Kay nahm sich die Zeit, sie eingehend zu betrachten und sich den Inhalt in Stichpunkten zu notieren. Einige Fotos zeigten den Eingang des Wohnhauses, durch den Kay gekommen war, und die Reihen der Briefkästen; einer davon lag auf dem Boden, und lediglich ein dunkler Krater zeugte davon, wo er zuvor an der Wand befestigt gewesen war. Kay tippte auf Feuerwerkskörper, allerdings die heftigere Sorte, die es in Deutschland nicht zu kaufen gab. Er betrachtete ein anderes Foto, auf dem der Schaden am Briefkasten aus der Nähe aufgenommen worden war; das Weißblech war komplett verbeult, die Tür herausgedrückt. Über allem lag eine Schicht aus Asche und zerfetzten Papierfragmenten, deren Text nicht entzifferbar war. Kopfschüttelnd legte Kay den ersten Stoß Bilder beiseite und betrachtete die restlichen Fotos. Sie zeigten die Doppelflügeltür, durch die er die Wohnung betreten hatte. Sie war über und über mit Edding beschmiert, und Kay las allerlei Beschimpfungen, die sich alle auf Corona und Engels Beruf bezogen. Einige waren auf dem Foto geschwärzt worden. Dann gab es Kopien einiger grob zusammengeschmierter Briefe, die Kay überflog. Manche enthielten Fotomanipulationen und Diagramme, alle waren in schrägen, wie willkürlich platzierten Lettern verfasst, die darauf hindeuteten, dass die Handschrift wissentlich verfälscht worden war. Kay glich das Schriftbild mit den Schmierereien auf der Tür ab; das passte zueinander. Auch der Inhalt der Briefe entsprach auf den ersten Blick den Beschimpfungen auf der Tür, ein unzusammenhängender Schwall aus Anschuldigungen und Drohungen.

Kay kam nicht umhin, zu bemerken, dass auch hier Passagen geschwärzt waren, und dass Umfang und Platzierung dieser Schwärzungen konsistent mit denen der Schmähungen auf der Tür waren. Engel hatte einen sehr spezifischen Teil aus dem Material entfernt. Nachdenklich klopfte Kay mit dem Stift auf das Papier. Was hatte Engel hier redigiert? Und vor allem, warum?

Er ließ den Gedanken vorerst fallen, als er bemerkte, dass Engel ihn zunehmend nervös betrachtete und auf seine Einschätzung wartete.

„Sie sind also aktuell das Ziel von Vandalismus und Drohbriefen“, fasste er ruhig zusammen und legte die Dokumente zurück auf den Schreibtisch. „Haben Sie die Polizei eingeschaltet?“

Engel nickte unbehaglich. „Ja, zum ersten Mal. Ich meine, die letzten Jahre habe ich immer wieder Briefe bekommen und das nicht so ernst genommen. Das bringt mein Job mit sich. Aber die neusten waren mir etwas zu … konkret. Also habe ich diesmal Anzeige erstattet.“

Kay kannte den abfallenden Ton der Enttäuschung in seiner Stimme. „Ich nehme an, außer Formalitäten ist nichts weiter passiert?“

„Die Ermittlungen laufen, aber die sehen das als Lappalie. Wenn ich ehrlich bin, will ich das Thema aber auch nicht in deren Händen lassen.“

Irgendetwas sagte Kay, dass das nicht von ungefähr kam. „Die Polizei ist nicht so ihr Ding?“, fragte er rundheraus.

Engel zögerte mit seiner Antwort. „Aus verschiedenen Gründen nicht“, gab er schließlich zu.

„Da sind sie kein Einzelfall, genau deshalb wendet sich ein Gutteil meiner Kundschaft auch an mich“, sagte Kay und hoffte, dass man ihm sein beruhigendes Lächeln auch mit Maske ansah. „Sie müssen mir dazu keine Erklärung abliefern. Wenn es zu einem strafrechtlich relevanten Zwischenfall kommt, müssen wir die Polizei natürlich einschalten, aber sonst nicht.“

Engel nickte, und er schien sich etwas zu entspannen.

Sehr schlechte Erfahrungen also, notierte sich Kay gedanklich. Laut sagte er: „Jedenfalls verstehe ich, dass Sie die Sache ernst nehmen. Wie lange bekommen Sie denn schon Briefe? Seit Welle 20-1?“ Er warf einen Blick auf seine vorbereiteten Notizen. „Öffentlichkeitswirksam arbeiten Sie, soweit ich weiß, ja erst seit 21-3, oder?“

„Sie sind gut informiert!“, sagte Engel. „Richtig, im Fernsehen bin ich recht spät aufgetaucht. Aber ich war schon vorher beratend tätig, vor allem für die Stadt. Praktisch seit der ersten Welle von COVID-19 hatte ich immer wieder mal so ein Traktat im Briefkasten. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber mir erschien es immer … na ja, harmlos. Albern. Ich meine, einmal hat jemand sich die Mühe gemacht, mich und die ehemalige Kanzlerin über Fotomanipulation in ein Doppelbett zu verfrachten.“

„Wusste gar nicht, dass Sie ihr so nahe stehen“, witzelte Kay, und Engel grinste unter seiner Maske.

„Unser kleines Geheimnis. Wussten Sie, dass die Raute mit den Händen eigentlich ein geheimes 5G-Chemtrails-Signal an Bill Gates sendet?“

Kay grinste zurück und hätte fast etwas Passendes erwidert, um den Witz weiterzuspinnen, aber dann riss er sich zusammen. Er war ja nicht zum Plaudern hier.

„Gab es einen bestimmten Zeitpunkt, ab dem sich die Situation verschlimmert hat?“, fragte er stattdessen. „Sonst noch irgendwas, an das Sie sich erinnern? Einfach ganz ungefiltert.“

Engel führte die Hand zum Gesicht, wollte sie nachdenklich ans Kinn legen, bevor er ein wenig schuldbewusst zurückzuckte. Anscheinend hatte selbst er Probleme mit alten Gewohnheiten. Stattdessen griff er nach einem Fidgetwürfel, der auf dem Schreibtisch lag.

„Dass es so richtig an Fahrt aufnahm, muss etwa zwei oder drei Wochen her sein“, erzählte er, während er den Würfel in der Hand drehte. Die vielgestaltigen Oberflächen schienen eine beruhigende Wirkung auf ihn zu haben. „Zuerst wurde der Briefkasten demoliert, ein paar Tage danach war die Sache mit der Tür. Einiges kann ich aber auch einfach nicht einordnen. Ich bekam seltsame Anrufe, und zwischendurch brach immer wieder meine Internetleitung für ein paar Stunden zusammen. Letzteres könnte allerdings auch mein, gelinde gesagt, beschissener Provider sein. Ein paarmal nachts meinte ich, irgendwas im Hausflur zu hören, aber natürlich habe ich auch Nachbar*innen, die kommen und gehen.“ Er zögerte kurz, fügte dann frustriert hinzu: „Ich hätte vermutlich aufmerksamer sein müssen. Ein Protokoll anfertigen sollen. Im Grunde hab ich jetzt nichts vorzuweisen.“

„Ich finde das recht verständlich“, sagte Kay beschwichtigend. „Man geht nicht automatisch vom Schlimmsten aus.“

„Kann sein“, erwiderte Engel, wenig überzeugt. „Aber ich glaube, ich wollte mir auch nicht eingestehen, dass es etwas Ernstes sein könnte, bis ich diese neusten Briefe bekam. Es waren einfach zu viele Details, wie und wo und wann sie mich abfangen wollten, bis zu der Uhrzeit, zu der ich normalerweise das Haus verlasse. Das konnte ich nicht mehr ignorieren. Ganz aus war es für mich, als letzten Freitag nachts jemand an meiner Tür rüttelte und irgendetwas brüllte. Als die Polizei auftauchte, war natürlich niemand mehr zu finden.“

„Ist es möglich, dass sich jemand Informationen über Sie aus einer leicht zugänglichen Quelle beschafft hat?“, warf Kay ein. „Ein E-Mail-Konto mit den entsprechenden Kalendereinträgen kann gehackt werden, und ihr Institut gibt sicher Pressetermine heraus, zu denen Sie anwesend sind. Ihre Wohnadresse findet man sehr einfach über das Einwohnermeldeamt. Darauf basierend kann man sich gut ausrechnen, wann Sie wo sein werden.“

Engel schüttelte energisch den Kopf. „Bei der Adresse haben Sie vielleicht recht, aber die Termine stammten direkt aus meinem privaten Kalender, und der ist so analog, wie es nur geht.“ Er deutete auf ein kleines, etwas zerfleddertes Notizbuch, das auf seinem Schreibtisch lag. „Und selbst wenn sie den in die Finger bekommen hätten: Woher kannten sie den Weg, den ich nehmen würde?“

Kay nickte und kritzelte eine nachdenkliche Spirale um seine letzten Notizen. Das alles ließ eigentlich nur einen Schluss zu.

„Haben Sie in Erwägung gezogen, dass Sie jemand stalken könnte?“

Engel seufzte und antwortete: „Ich habe es befürchtet, ja. Aber mir ist niemand aufgefallen, wenn Sie das meinen.“

„Das heißt, direkt wurden Sie auch nicht angegriffen? Oder mit Waffen bedroht?“

Die Frage schien Engel deutlich zu beunruhigen. „Zum Glück nicht. Denken Sie, dass das möglich wäre?“

„Nein nein, das wollte ich damit nicht sagen“, antwortete Kay schnell. „Ich wollte es nur ausschließen. Wenn jemand vorhätte, ein Attentat mit tödlichem Ausgang auf Sie zu verüben, müssten wir ganz neu überlegen. Für solche Bedrohungen bin ich nicht gut genug ausgerüstet und bringe die Zeit nicht auf, dann hätte ich Ihnen eine Agentur empfohlen. Aber bisher sieht es mir eher danach aus, dass man Sie einschüchtern will und dass Sie gestalkt werden. Das Gute ist: Solche Menschen drohen gern, aber sie machen meist nur Ernst, wenn ihr Opfer allein und hilflos ist. Die Präsenz eines Personenschützers erschwert das deutlich. Was denken Sie denn: Wie oft werden Sie mich brauchen?“

„Das Institut, in dem ich arbeite, hat einen Wachdienst unter Vertrag, der leistet gute Arbeit. Drei, selten vier von fünf Tagen die Woche bin ich dort und arbeite. Den Rest der Zeit bin ich unterwegs oder hier in meinem Home Office. Für den Start würde ich Sie gern zu einigen wiederkehrenden Terminen mitnehmen, auf die sich die Briefe ganz spezifisch bezogen haben. Vielleicht fällt Ihnen da etwas auf.“

Kay nickte und kritzelte weiter an seinen Notizen. „Klingt erst einmal gut. Ich habe noch ein paar andere Leute auf meiner Liste, wie das so ist, wenn man freiberuflich tätig ist. Aber das takten wir ein. Ich meine, wenn Sie jetzt nach unserem Gespräch das Gefühl haben, ich könnte Ihnen weiterhelfen.“

„Ehrlich gesagt könnte ich mir niemand Besseren vorstellen.“

Etwas in seinem Tonfall ließ Kay aufhorchen, und er blickte von seinen Notizen auf. Die Lachfalten um Engels Augen waren wieder da, und er hatte den Kopf leicht schief gelegt, betrachtete Kay eingehend. Er sah entspannt aus, wie er da saß, viel selbstsicherer als zu Anfang ihres Gesprächs. Herr der Lage. Er war im echten Leben wirklich deutlich sympathischer als im Fernsehen, und deutlich attraktiver. Kay bereute den Gedanken, sobald er ihn zu Ende gedacht hatte. Scheiße, wie kam er jetzt darauf?

Engel hatte ihn etwas gefragt, und er hatte gar nicht zugehört.

„Verzeihung, wie war die Frage?“

Die Lachfalten um Engels Augen vertieften sich noch. „Ich wollte wissen, ob Sie mit regelmäßigen Tests einverstanden sind? Wie dem, dessen Ergebnis Sie mir heute im Voraus gemailt haben.“

„Na klar, das gehört zum Job. Ist ja sogar gesetzlich geregelt“, versicherte Kay schnell und verhaspelte sich fast dabei. Verdammt, er durfte jetzt nicht kurz vor Schluss den Faden verlieren. „Aber wem erzähle ich das? Natürlich informiere ich Sie auch über Risikokontakte oder im Krankheitsfall. Ich kann meine Maske aber auch immer aufbehalten, ganz, wie Sie wollen.“

„Ich würde das je nach Situation und Risiko individuell handhaben. Wenn Sie mich beispielsweise draußen zu Fuß begleiteten, ist der Mindestabstand ausreichend, dann können wir auch auf Masken verzichten.“

Sign me the fuck up, dachte Kay und ärgerte sich sofort wieder über sich selbst. Wo blieb seine Professionalität? Wie Engels Lächeln ohne Maske aussah, war für ihn doch völlig irrelevant!

„Das geht in Ordnung“, antwortete er und verfluchte, das seine Ohren plötzlich heiß wurden.

„Schicken Sie mir gern alles Vertragliche direkt per E-Mail zu, ich möchte so schnell wie möglich starten“, fuhr Engel fort. „Oder gibt es noch etwas, das wir vorher besprechen müssen?“

Kay scharrte mit dem Fuß über den Boden, starrte auf seine Notizen, aber ihm fiel beim besten Willen nichts mehr ein, was sie bereden könnten.

„Im Grunde nicht, nein. Ich würde mich dann wieder auf den Weg machen.“ Kay erhob sich, verstaute sein Schreibzeug und Engel begleitete ihn in den Flur.

„Schön haben Sie es hier. Sehr groß für eine Person“, sagte Kay, um Konversation zu machen.

„Ja, es war mal für drei Personen gedacht, aber na ja … seit Kurzem wohne ich hier wieder allein“, antwortete Engel. Sein Tonfall war plötzlich sehr kühl. „Ich hab überlegt, umzuziehen, mir was Kleineres zu nehmen, auch wegen der Briefe, aber so schnell geht das dann doch nicht. Der Wohnungsmarkt ist eine Katastrophe.“

Kay nickte und beerdigte das Thema schnell. Warum fand er eigentlich immer zielsicher das nächste Fettnäpfchen? Hätte er raten müssen, hätte er auf eine frische Trennung getippt. War Engel am Ende gerade wieder single geworden? Nun, selbst wenn, es ging ihn wirklich nichts an!

„Eine Frage hätte ich noch, so aus, na ja, marktforscherischen Gründen“, sagte er, während er in seine U-Boot-großen Sneaker schlüpfte. Engel nickte aufmunternd. „Wie sind Sie denn nun auf mich gestoßen? Sie sind im Fernsehen zu sehen, Ihr Institut berät offiziell die Landesregierung. Ich hätte vermutet, Sie wenden sich direkt an eine große Agentur.“

„Ehrlich gesagt waren Sie der Einzige, der mich spontan überzeugt hat. Ihre Website war sehr aussagekräftig“, antwortete Engel und öffnete Kay die Doppelflügeltür, damit er hinaus treten konnte.

„Irgendwas, das besonders positiv herausstach?“ Er kam sich albern vor, so zwischen Tür und Angel noch zu fragen, aber Engel hielt nachdenklich inne.

„Lachen Sie nicht“, sagte er, „aber ich war positiv davon angetan, dass Sie alles sehr inklusiv gestaltet und ordentlich entgendert haben. Dass es im Kontaktformular eine zusätzliche Möglichkeit für das Hinterlegen von Pronomen gab. Mittlerweile sollte das selbstverständlich sein, aber das ist es leider nicht.“

„Darüber werde ich ganz bestimmt nicht lachen, das ist mir auch sehr wichtig! Und Jenny, sie erstellt die Webseite für mich, sie kennt sich aus. Also wenn Sie da mal Bedarf haben …“

Engel schmunzelte. „Dann frag ich bei Ihnen nach, versprochen.“

Sie verstummten beide. Irgendwie gelang es Kay nicht, sich einfach zu verabschieden, und Engel schien es ähnlich zu gehen. Einen ruhigen Moment lang sahen Sie sich nur an. Engel lehnte entspannt am Rahmen der geöffneten Tür. Ohne großes Aufhebens nahm er seine benutzte Maske ab und warf sie in den Papierkorb. Anders als bei seinen Fernsehauftritten war er nicht glatt rasiert, sondern trug einen Dreitagebart, der ihm gut stand.

„Brauchen Sie die heute nicht mehr?“, fragte Kay und versuchte, sein Gesicht nicht allzu offensichtlich anzustarren.

„Nein, heute arbeite ich nur noch im Home Office. Was ist mit Ihnen?“

Warum fragte er das? War das Höflichkeit, oder doch Interesse?

„Nur noch eine Stunde am Nachmittag, sonst ist heute nicht mehr viel los“, sagte Kay. Er begann zu schwitzen, obwohl es im Treppenhaus eigentlich kühl war. Engel sah ihn immer noch neugierig an und machte keine Anstalten, die Tür zu schließen. „Wissen Sie“, fuhr Kay fort, einfach nur, um irgendetwas zu sagen, „ich würde mich freuen, wenn Sie auf mich zurückkommen würden. Ich habe gerade eine Lücke zu füllen, und da kommen Sie mir sehr gelegen. Äh. In meinem Terminkalender, meine ich.“

Oh Gott, hör bloß auf zu reden!

Engel nickte. „Ich verstehe. Übrigens …“ Seine Stimme wurde plötzlich leiser, vertraulicher. „Bevor Sie gehen … ich wollte ihnen die ganze Zeit schon etwas sagen.“

Kays Herz machte einen seltsamen Hüpfer „Äh, ja?“

„Sie haben da ein Loch in Ihrer Socke.“

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Tristans Profilbild Tristan

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Sätze: 289
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Diese Story wird neben Erotik auch in den Genres Liebe, Freundschaft gelistet.