Ich laufe. Jetzt schon seit über einer Stunde. Vier Menschen habe ich in der ganzen Zeit getroffen. Vier. Die treffe ich meistens schon auf den ersten zehn Metern. Es ist total schönes Wetter. Ein leichter Wind weht, aber es ist genau richtig. Da vorne sehe ich eine Bank. Ich glaube, da setze ich mich erstmal hin. Im Grunde sehe ich ja eh nur das Gleiche die ganze Zeit. Natur. Grün. Sonne. Da kann ich auch sitzen bleiben. Jeder der nicht weiß was los ist, würde wohl denken, es sei Sonn- oder ein Feiertag. So wirkt es zumindest. Leer und friedlich. Es hat nichts Bedrohliches an sich. Außer man weiß es. Ich setze mich auf die Bank. Das Holz ist ganz warm von der Sonne. Angenehm warm. Langsam lasse ich meinen Blick über den Anblick, der sich mir bietet, schweifen. Schön. Ich hole tief Luft, spüre wie sich meine Lungen füllen und sich mein Brustkorb hebt. Dann atme ich ganz langsam und vorsichtig wieder aus, um auch ja alles zu fühlen was sich in meinem Körper bewegt. Meinen Herzschlag spüre ich jetzt deutlicher. Tut gut. Ich lehne mich zurück und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich denke daran, dass es ihm hier bestimmt gefallen hätte. Er hat solches frühlingshafte Wetter geliebt. Er sah dann immer so richtig zufrieden aus. Als hätte er alles, was er brauchte. Als würde er vergessen können, was los war. Ich konnte das nie. Ich erinnere mich an die ganzen schönen Tage, die wir zusammen verbrachten, noch bevor er die Diagnose bekam. „Es tut mir sehr leid, ich weiß wie schwierig das für Sie sein muss“, hatte der Arzt gesagt. Aber das was eine Lüge und wir wussten es alle. Meine Mutter, mein Vater, der Arzt und ich, wir wussten es. Und mein Bruder, ich glaube, der hat in diesem Moment gar nicht so sehr drüber nachgedacht. Später hat er mir erzählt, was er in dem Moment dachte. Er dachte: „Was wird denn dann mit der Reise nach Hamburg? Wer passt denn dann da auf sie auf?“ Ja, er hat an mich gedacht. Und ich natürlich an ihn. Lungenkrebs mit 23. Scheiße. Ich dachte nur: „Scheiße!“ „Verdammter Mist!“, hab ich gedacht. „So ungerecht!“ Mehr konnte ich nicht denken. Ich konnte nicht überlegen, was in diesem Moment eine gute Reaktion gewesen wäre. Oder für was er sich wohl entscheiden würde. Chemo oder nicht. Er hat sich für nicht entschieden. Weil es ja gar nicht so arg schlimm war. „Erst noch warten“, wollte er. So ein Idiot. Weil dann, dann kam Corona. Ich denke an diesen Abend als Papa die Tagesthemen angeschaut hat. In China nur, hieß es da. „So eine übertriebene Panikmache“, hat er gesagt und die Augen verdreht. Er wusste da noch nicht, dass es eine Pandemie wird. Ich hab wieder weg geschaut und mein Bild weiter gemalt. Fünf. Da in der Ferne sehe ich die fünfte Person. Mit einem Hund. Aber auch allein. Ich frag mich, ob diese Person auch einsam ist oder nur allein? Ich frage mich, ob ich einsam bin oder nur allein? Ob er wohl einsam war? Nein, ich glaube nicht. Er hatte mich. Bis zum Schluss. Und das wusste er. „Fahr trotzdem hin. Ich weiß, du kannst das alleine schaffen. Mama und Papa haben Unrecht, das weißt du. Also, versprichst du mir alleine diese Reise zu machen?“, hat er mich oft gefragt. „Ja, ich werde es versuchen. So gut ich kann, ich verspreche es dir“, hab ich jedes Mal geantwortet. Und dann hat er immer gelächelt und gesagt, wie stolz er auf mich ist. Und dass ich das ruhig auch auf mich sein könnte. Uns war da beiden schon klar, dass es sich bei ihm nur noch um Tage oder höchstens Wochen handelte. Selbst mir war das klar, auch wenn es mir niemand gesagt hat. So intelligent bin ich dann doch noch. Auch mit Autismus verdammt! Er wusste das immer. Er hat mich auch nie behandelt wie eine Idiotin, die nichts kapiert. Die andern schon. Und jetzt ist er weg. Wieso musste dieser verfluchte Corona-Virus auch hier her kommen? Und wieso musste gerade er sich anstecken? Jeder andere ohne Krebs hätte schon genug zu leiden gehabt, aber er? War ja klar, dass es ihn dann langsam aber sicher dahin rafft. So ungerecht. Ich fühle mich immer noch so oft machtlos. Es ist schrecklich verzweifelnd. Ich schaue auf die Uhr. Seit Eineinhalb Stunden bin ich jetzt weg. Wahrscheinlich hat er schon die Polizei gerufen und denen klar gemacht, wie „gefährdet“ ich bin. Einer Autistin kann in seinem Kopf sehr viel passieren. Bescheuert, wenn ihr mich fragt, aber mich fragt ja keiner. Vielleicht hat Mama sogar versucht ihn davon abzuhalten die Polizei zu rufen, aber seit sie die neuen Pillen nimmt, sagt sie kaum noch etwas. Ist trotzdem besser als vorher. Da hat sie die ganze Zeit nur geweint oder rum geschrien. Jetzt liegt sie nur im Bett. Manchmal setze ich mich zu ihr und halte ihre Hand. Sie schaut mich dann ganz lange an und lächelt dann traurig. „Durch dich lebt ein Teil von ihm weiter“, hat sie dann manchmal gesagt „du warst alles für ihn.“ „Er hat euch alle geliebt“, erwidere ich dann immer, aber ich weiß, dass das nicht so richtig stimmt. Richtig glücklich hat sein Leben ihn nie gemacht. Und das war hart glaube ich. „Hallo, bist du das hier?“, fragt mich auf einmal eine raue Männerstimme. Ich schaue auf. Ein Polizist hält ein Bild von mir hoch. Ich nicke und stehe auf. „Na, dann komm mal mit. Wir bringen dich erstmal nach Hause zu deinen Eltern. Die vermissen dich schon“, sagt die Frau neben dem Mann. Sie ist hübsch. Lange, zu einem Zopf geflochtene, blonde Haare. Der Mann ist nicht so hübsch. Aber nett sieht der auch aus. Ich nicke wieder und folge den beiden zu ihrem Auto. Ich möchte nicht nach Hause, aber ich weiß auch, Widerstand ist zwecklos. Seufzend steige ich hinten ein, während die Frau und der Mann nach vorne gehen. Auf der Fahrt fragt mich der Mann ein paar Sachen. Wie alt ich bin, ob es mir gut geht und den ganzen anderen Kram halt. Ich glaube er versucht nett zu sein, aber ich antworte nur knapp. Auf eine Konversation habe ich gerade wirklich keine Lust. Die Frau ist die Fahrt über still. Nur einmal dreht sie sich um und lächelt mich an. Ich lächle zurück. Bald schon sehe ich unser Haus auf uns zukommen. Wie ein dunkler Fleck in meinem Blickfeld. Ein von dunklen Rauchschwaden umgebenes Ungetüm welches sich auf jede Art von Freude stürzt. Der Streifenwagen hält an. Wir steigen aus und der Mann klingelt an der Haustür. Papa macht auf. Krank vor Sorge sieht er nicht aus. Eher genervt. „Vielen Dank“, sagt er und will dem Polizisten schon die Hand reichen, als ihm wahrscheinlich einfällt, dass das in Zeiten von Corona, und dann auch noch mit Todesfall, keine gute Idee wäre. „Gerne. Ihnen und Ihrer Familie einen schönen Abend noch“, sagt der Polizist, grüßt mit der Hand und geht zurück zum Wagen. „Auf Wiedersehen“, sagt die Frau nur und folgt dem Mann. Am liebsten würde ich laut rufen: „Nein, wartet, nehmt mich wieder mit! Bitte!“ Aber gar kein Laut kommt mir über die Lippen. Natürlich nicht. Ich beneide die beiden. Sie können einfach wieder gehen. Ich nicht. „Komm jetzt endlich rein“, sagt Papa und schiebt mich rein, direkt zum Bad, um Hände zu waschen. „Wo hast du dich nun schon wieder rumgetrieben, hm?“, fragt er, aber es ist eigentlich keine richtige Frage. Es interessiert ihn nicht wirklich, wo ich war oder was ich gemacht habe. Geschweige denn wieso ich immer wieder weg gehe, obwohl ich nicht darf. Als ich wieder in meinem Zimmer bin, kann ich die Tränen nicht länger zurück halten. Leise schließe ich die Tür ab und lege mich zusammen gekauert auf mein Bett. Es ist ganz weich wegen der ganzen Kissen, die darin liegen. Er fand das immer lustig. Er hat gelacht und gesagt: “Wie kann ein sechzehnjähriges Mädchen nur so an solch einem Kram hängen?“ Aber er hat es nicht böse gemeint. Er wusste, dass das wichtig für mich war. Dass alles so bleibt, wie es immer war. Deswegen tat es ihm glaube ich auch so leid, dass er mir weggenommen wurde. Ganz ruhig lieg ich da und beweg mich keinen Millimeter. Alles an mir ist schwer und ich bin müde. Viel zu müde. Es kommen viele Tränen. Und es tut unendlich weh an ihn zu denken. Nicht wie ein Stich durch meine Brust, eher wie ein schwerer, großer Pflock durch meinen ganzen Körper. Es zerreißt mich fast, an die Zeit, in der alles noch so leicht war zu denken. Ohne Krebs, ohne Corona. Als wir uns noch hatten. Wir hatten keine besonders guten Eltern, aber die haben wir auch nicht gebraucht. Es waren nur wir zwei Geschwister gegen den Rest der Welt. Und das tat gut. Ich vermisse ihn so sehr, dass ich das Gefühl habe, es zerreißt mich von innen heraus. Ich vermisse sein Lachen, sein genuscheltes „Morgen“, wenn er zum Frühstück runter kam. Die Art, wie er mir immer die Wahrheit sagte, egal ob ich dann sauer auf ihn war. Ich vermisse alles an ihm und das war eine ganze Menge. Ich glaube, solche Schmerzen hatte ich echt noch nie. Als irgendwann keine Tränen mehr kommen, schließe ich wieder auf und schleiche zum Schlafzimmer von Mama und Papa. Mama liegt im Bett und dreht den Kopf zu mir, als ich die Tür aufmache. Sie sieht irgendwie teilnahmslos aus. Ich lächle sie an und setze mich zu ihr auf die Bettkante. Es ist ziemlich dunkel hier. „Hey, Mama“, hauche ich ganz sanft. Wenn ich bei ihr bin werde ich immer zur Erwachsenen und sie zum Kind. „Du warst schon wieder draußen“, sagt sie leise. Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. „Ja, Mama, war ich. Ist das schlimm?“, frag ich sie. „Nein, mein Mädchen, ist es nicht“, erwidert sie und streicht mir liebevoll durch´s Gesicht. „Soll ich dir was vom Abendessen mit rauf bringen? Du solltest was essen, Mama“, sag ich. „Das wäre wirklich lieb von dir, mein Mädchen“, antwortet sie und richtet sich schwer auf. Unten höre ich Papa telefonieren. Er klingt sauer. Er klingt fast immer sauer, wenn er telefoniert. Ich glaube, weil das mit dem Home-Office in seiner Firma nicht so gut klappt. Ich gehe runter und hole etwas von der Gemüse-Lasagne, die er gemacht hat. Mit einem Teller für Mama und einem Teller für mich gehe ich wieder ins Schlafzimmer. Mama sitzt da im Bett. Unverändert. Sie schaut mich an. Sie wirkt ein wenig verloren. Ich setze mich auch aufs Bett und schweigend essen wir die Lasagne. Sie schmeckt gut. Sie wärmt von innen und auch wenn es seltsam ist, mag ich das Gefühl das Gleiche zu essen wie Mama. Wir machen sonst nie das Gleiche. Und so sitzen wir da. Still. Irgendwie gemeinsam, aber auch jeder für sich. Worüber sollen wir auch reden? Wir haben keine Gemeinsamkeiten. Werden wir wohl auch nie haben. Ich starre an die weiße, leere Wand und denke über mich, das Leben und mein Leben nach. Zwar sind wir nicht allein, aber irgendwie einsam. Und dann denke ich: Ich bin doch einsam, und manchmal, da bin ich auch allein.