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Sätze: | 100 | |
Wörter: | 1.143 | |
Zeichen: | 6.535 |
Liebevoll strich Lisa über die verzierte Aschenkapsel ihres verstorbenen Mannes, die auf der Kommode aus Adlerholz thronte. «Heute werde ich zu dir kommen. Ich habe dich so sehr vermisst mein Mann», sprach sie mit brüchiger Stimme zu der Aschenkapsel. Dann wandte sie sich ab und blickte auf das aufgeräumte Wohnzimmer.
Als sie an ihre Enkeltochter, Sophie, dachte, brannten ihr Tränen in den Augen. Sie vermisste das Mädchen so sehr, dass es in ihrer Brust schmerzte. Seit geraumer Zeit hoffte sie, dass sie Sophie wenigstens noch einmal sehen konnte, um ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Leider war ihr Wunsch nicht erhört worden. In drei Stunden musste Lisa für immer weg. Diese Distanz zwischen ihnen hatte keine von ihnen herbeigerufen. Sie war aufgrund der Corona-Pandemie entstanden.
Resigniert setzte sie sich an den Tisch, nahm ihren goldigen Füllfederhalter in ihre zittrige Hand und schrieb erste Worte auf das weisse Papier. Jetzt musste sie es Sophie sagen. Würde ihr Sophie jemals verzeihen?
«Wenn du diesen Brief liest, dann bin ich schon weg liebste Sophie. Du warst immer eine treue Seele und ich bin stolz auf dich, weil ich dich erzogen haben. Und dass du mich nicht besuchen wolltest, weil ich Risikopatientin bin, finde ich löblich. Du hättest aber trotzdem kommen sollen. Es sind über sechs Monate vergangen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.
Als vor einem Jahr dein Grossvater starb, habe ich die Entscheidung getroffen, dass auch ich diese Welt an einem von mir bestimmten Datum verlassen möchte, um wieder bei Grossvater zu sein. Bitte entschuldige, dass ich es dir auf diese Art und Weise sagen muss. Ich liess mir genau ein Jahr Zeit und entschied mich alles in diesem Jahr zu tun, was ich schon immer tun wollte. Vor allem aber nahm ich mir vor, mehr Zeit mit dir zu verbringen.
Mit dem Todeszeitpunkt vor Augen, fing ich an zu reisen, Kreativkurse zu besuchen und mich mit anderen Senioren zu treffen. Plötzlich genoss ich das Leben auf eine Art und Weise, wie ich es vorher nicht gekannt hatte. Ich wollte so viel wie möglich erleben und ich nahm das Leben nicht mehr so ernst wie früher. Es war die beste Entscheidung meines Lebens.
Von einem Tag auf den anderen war die Corona Pandemie da und brachte meine Pläne durcheinander. Plötzlich war ich als 86-jährige Frau alleine zu Hause eingesperrt. Täglich berichteten die Medien über die Anzahl Kranken und Toten. Der Tod war zum ersten mal greifbar nahe. Täglich die Wände meiner Wohnung anzustarren und auf den Todestag zu warten, war für mich die härteste Zeit meines Lebens. Die Telefonate mit dir waren viel zu kurz. Trotzdem gab ich die Hoffnung nicht auf, dass bald die Pandemie vorbei wäre und ich meine Pläne fortführen konnte."
Lisa legte den Füllfederhalter auf den Tisch und wischte sich die Tränen. Sie hatte nicht erwartet, dass diese Gedanken ein Gefühlschaos in ihr auslösen würden. Dann schrieb sie weiter:
"Je näher mein Todestag rückte, desto unruhiger wurde ich. Ich hätte dir gerne ein letztes Mal über dein dunkelbraun glänzendes Haar gefahren und dir gesagt, wie sehr ich dich liebe. Die Hoffnung dich zu sehen, war der Motor, der mich am Leben gehalten hat.
Ich bin nicht mehr da, aber diesen Ratschlag möchte ich dir mitgeben: Das Leben ist zu kurz, um Vorhaben aufzuschieben oder Ideen nicht zu verwirklichen. Tu es einfach und mach dir nicht zu viele Gedanken, denn wir nehmen das Leben viel zu ernst. Im Leben wird immer etwas dazwischenkommen. Die Frage ist, was für dich Priorität hat. Das Leben in vollen Zügen zu leben hat definitiv Priorität. Und wenn du ein Ziel verfolgst, dann hör nicht auf zu hoffen. Hoffnung gibt dir die Kraft weiterzumachen, um das Ziel zu erreichen. Für mich ist das Leben ein einziger Hoffnungsschimmer. Wir leben, lachen, weinen, lieben, hasse, aber wir hören nie auf zu hoffen."
In diesem Moment klingelte ihr Telefon. Klavierklänge von Mozart erfüllten den Raum. Sie wischte sich die Tränen und lief zu ihrem Sessel. Auf dem Display erschien Sophies Name. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie nahm ab. «Hallo», sagte sie. «Hallo Grossmutter. Wie geht es dir?» «Passt schon», presste Lisa hervor. «Fühlst du dich alleine?» «Ja, sehr.» Ein Stechen machte sich in ihrer Brust breit. «Du bist heute unheimlich ruhig. Geht es dir gut?», fragte Sophie besorgt. Eine weitere Stille entstand. «Ach mein liebes Kind. Wie kann ich dir helfen?» «Ich wollte dich fragen, ob ich dich morgen besuchen kann. Ich werde eine FFP2 Maske tragen und meine Hände desinfizieren. Ich kann dir auch einen negativen Covid-Test vorlegen.» Sophie sprach schnell. Lisa fing plötzlich an zu schluchzen. «Grossmutter?», fragte Sophie unsicher. «Warum willst du mich erst morgen besuchen und bist nicht vor zwei Wochen gekommen oder gestern?» Ein Gefühl von Wut bahnte sich bei Lisa an. Sophie räusperte sich. «Grossmutter, ich wollte dich nicht in Lebensgefahr bringen und auch nicht für eine Krankheit von dir verantwortlich sein», sagte Sophie traurig. «Aber Kind, es wird immer einen Grund geben, warum wir sterben.» «Ja, aber ich will nicht der Grund sein. Ich vermisse dich. Kann ich morgen kommen?», murmelte Sophie in den Hörer hinein. Lisa schwieg. «Ja bitte, komm Morgen vorbei. Der Schlüssel liegt im Briefkasten und auf dem Tisch ist etwas für dich, nur falls ich am Einkaufen bin, wenn du ankommst. Bis Morgen.» Lisa hielt ihr Handy so fest umklammert, dass sich ihre Knöchel weiss gefärbt hatten. Sie hasste es, Sophie anlügen zu müssen.
Die Leitung war unterbrochen. Mit herabhängenden Schultern stand Lisa noch eine Weile im Raum und hielt ihr Handy in der Hand. Sie unterschrieb den Brief. Dann legte sie sich auf das Sofa und starrte die alten Lamperien an. Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben und übertönten die unheimliche Stille. Als es um 13 Uhr bei der Haustür läutete, rappelte sie sich unter grösster Anstrengung auf und eilte zum Fenster. Das Auto, das sie zu ihrem Tod führen würde, parkierte vor dem Gartentor. Sie stiess einen lauten Seufzer aus. Dann nahm sie ihre Jacke in die Hand, atmete noch einmal tief ein und aus und lief entschlossen die Treppen nach unten. Sie hoffte, dass sie nach dem Tod bei ihrem Mann sein konnte. Sie hofft, dass Sophie und ihre Familienmitglieder ihr verzeihen würden und dass ihr Kaktus noch lange überlebte. Wieder bemerkte sie, dass Hoffnung sie schon ein ganzes Leben begleitet hatte und ihr das Gefühl gegeben hatte, dass am Schluss, alles gut werden würde. Ein schwaches Lächeln umspielte ihren Mund und sie steuerte zum Ausgang.
N.I.
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BerndMoosecker • Am 01.04.2021 um 17:03 Uhr | |||
Hallo NOW1989, ich bin tief bewegt. Deine Geschichte stellt den Schmerz dar, den die Pandemie auslöst. Ich weiß ich bin in einer komfortablen Lage, ich lebe in einer glücklichen Beziehung, aber trotzdem nagt in mir der Verlust des Kontakts zu Menschen die mir lieb sind und Menschen meiner Altersstufe sind auch ohne Pandemie dem Tode näher als dem Leben. Da ist es schnell möglich, von einem auf den anderen Tag einsam zu sein. Was Deine Protagonistin tut, ist mir fremd. Aber selbstbestimmtes Sterben halte ich für absolut legitim. Du hast ein stimmiges Bild geschaffen. Gruß Bernd Mehr anzeigen |
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