Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel, verdeckte alles unter einer weißen und im Licht glitzernden Schicht. Gebannt verfolgte Crispin das Schauspiel, das kleine Kristalle an der Fensterscheibe hinterließ, an der er sich gerade die Nase platt drückte, als könnte er dem Ganzen so noch ein wenig näher sein. Es war nicht das erste Mal, dass er Schnee sah und doch war es für ihn immer wieder ein Ereignis, dem er stundenlang zusehen konnte. Dass ihm seine Beine langsam einschliefen, da er auf der Fensterbank kniete, störte ihn dabei wenig. Er war von dem, was er sah, viel zu fasziniert. Leider hatte er selten so viel Zeit und Ruhe, um das alles zu genießen und gerade konnte er das nur, weil seine Eltern nicht zu Hause waren. Andernfalls würden sie ihn wohl wieder dazu zwingen, sich an diesen scheußlichen Flügel zu setzen und zu üben. Er mochte es nicht und verstand nicht, warum er es lernen sollte, doch egal wie sehr er sich auch dagegen wehrte, er wurde doch immer wieder davor gesetzt und mit Hausarrest bestraft, wenn er sich weigerte. Was unter anderem ein Grund dafür war, warum er hier am Fenster saß, anstatt wie viele andere Kinder draußen zu sein und mit der weißen Pracht zu spielen.
Betrübt senkte er den Blick und fuhr mit den Fingern über das Glas unter seinen Händen. Selbst wenn er es wollte, wusste Crispin nicht, ob er es jemals hinbekommen würde, Klavier zu spielen. Im Gegensatz zu seinem großen Bruder hatte er keinen Zugang dazu, da er mit den Notenblättern nichts anfangen konnte. Für ihn waren das einfach nur ein paar schwarze Kreise mit Linien und Fähnchen, die Muster auf dem Papier bildeten und egal, wie oft man ihm versuchte, zu erklären, welche Note auf welcher Linie auf dem Papier, welche Taste auf dem Instrument darstellte, er verstand es einfach nicht. Wie auch? Er war gerade einmal fünf. Dabei wollte er eigentlich nichts anderes, als seinen Eltern zu gefallen und Cyrian nachzueifern, aber er schaffte es nicht.
Einige Tränen lösten sich aus seinen Augenwinkeln und er wischte sie trotzig weg. Zu weinen half ihm auch nicht. Durch die Bewegung merkte er nun allerdings, dass seine Füße eingeschlafen waren, und er verzog das Gesicht. Im selben Augenblick hörte er leise Musik und er wandte den Blick Richtung Tür. Sofort wurde ihm klar, woher das kam und wer die Stille im Haus durchbrochen hatte. Ohne zu zögern, rutschte er von der Fensterbank, wobei er noch einmal das Gesicht verzog, weil seine Füße noch immer kribbelten, und tapste nur in Strümpfen aus seinem Zimmer und in den Raum, aus dem die Melodie kam. Und er behielt recht: Cyrian übte das Stück, das er zu der Weihnachtsfeier spielen sollte, zu der ihre Familie in einer Woche eingeladen war. Um ihn dabei nicht zu stören, blieb er in der Tür stehen, hielt sich am Rahmen fest und beobachtete ihn. Doch bereits nach ein paar weiteren Tönen hörte der andere auf und sah zu ihm. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen.
“Du musst da nicht stehen bleiben. Komm her.”
Normalerweise war es ihnen verboten, zusammen am Klavier zu sitzen. Es würde den anderen ablenken, hieß es, doch da ihre Eltern gerade nicht da waren, begannen seine Augen bei der Idee zu leuchten. Er liebte es, seinem Bruder beim Spielen zuzusehen. Aus diesem Grund zögerte er auch nicht und lief zu ihm. Nachdem Cyrian etwas Platz gemacht hatte, setzte er sich neben ihn und hörte ihm dabei zu, wie er noch einmal von vorne begann.
Es war noch nicht perfekt, aber für ihn klang es dennoch wunderschön und er konnte nicht verhindern, dass es ihn durchaus in den Fingern juckte, es auch zu versuchen. Dieses Gefühl hatte er immer, wenn er seinem Bruder zuhörte, doch sobald er alleine an dem Musikinstrument saß, war davon nichts mehr zu spüren. Dann fühlte er sich einfach nur noch dazu gezwungen und unter Druck gesetzt.
Kaum waren die letzten Töne verklungen, sah er zu Cyrian und strahlte ihn an.
“Du spielst wirklich toll. Ich wünschte, ich wäre wie du.”
Bei dem letzten Satz senkte er seine Stimme und sah traurig auf das Klavier. Vorsichtig legte er seine Finger auf die Tasten, ohne diese jedoch zu betätigen. Im nächsten Moment spürte er eine Hand auf seiner Schulter und er schaute wieder zur Seite. Er bemerkte, wie sein Bruder etwas sagen wollte, doch er kam nicht dazu, denn in diesem Augenblick hörten sie die Haustür und kurz darauf standen ihre Eltern ebenfalls im Raum. Statt einer Begrüßung traf ihn jedoch direkt der missbilligende Blick ihrer Mutter.
”Crispin, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst deinen Bruder nicht beim Üben stören? Es ist nicht mehr viel Zeit bis Weihnachten und bis dahin muss er das Stück perfekt beherrschen. Du hinderst ihn daran, sich voll und ganz darauf zu konzentrieren.”
Augenblicklich presste er die Lippen aufeinander. Es tat weh, dass sie so mit ihm sprach, aber er wollte ihr das nicht zeigen, auch wenn er bereits spürte, wie ihm die ersten Tränen in den Augen brannten. Und so versuchte er sich, zusammenzureißen - nicht zuletzt, weil ihre Eltern der Meinung waren, dass Jungs nicht weinten und dies sowohl Cyrian als auch ihm des Öfteren eingetrichtert hatten. Er wollte gerade aufstehen und wieder in seinem Zimmer verschwinden, als sie noch einmal etwas sagte.
“Bleib ruhig sitzen. Cyrian muss ohnehin eine Pause einlegen und solange kannst du üben. Komm mit, Schatz, wir haben etwas für dich.”
Den zweiten Satz richtete sie an seinen Bruder und Crispin sah zu ihm. Ihre Blicke trafen sich und er wirkte so, als wollte er ihn gerade nicht alleine lassen.
“Ich bin gleich wieder da”, meinte er dennoch mit einem kleinen Lächeln, bevor er aufstand und ihren Eltern aus dem Zimmer folgte. Crispin blickte ihnen nach und wandte sich anschließend wieder dem Klavier zu. Und in diesem Moment traf er die Entscheidung, dass er es doch versuchen würde. Er wollte alles dafür tun, damit seine Mutter und auch sein Vater ebenso mit ihm sprachen wie mit Cyrian.
Eine Woche später war es dann so weit. Sie alle waren auf der Weihnachtsfeier, die ausgerechnet direkt zu Weihnachten stattfinden musste. Crispin mochte solche Veranstaltungen nicht und gerade bei dieser hatte es mehrere Gründe. Er hasste es, in Anzüge gesteckt zu werden. Auch wenn diese für seinen Bruder und ihn maßgeschneidert wurden, fand er sie unbequem und wollte sie am liebsten überhaupt nicht anziehen. Doch ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er sich nicht eine der Predigten seines Vaters anhören wollte, in denen ihm gesagt wurde, dass er als Sohn aus reichem Hause nun einmal gut und passend für so ein Event gekleidet sein musste. Zudem würde auch diese nichts daran ändern, dass er hinterher in den Anzug schlüpfen musste. Cyrian schien damit weniger ein Problem zu haben oder er ließ es sich nicht anmerken, dass es ihm ebenfalls nicht gefiel. Ein weiterer Grund war: Es war Weihnachten! Kein Kind wollte an diesem Tag bei völlig fremden Leuten sitzen, auch er nicht. Viel lieber wäre er zu Hause. Er wollte Kekse essen, mit seinem Bruder spielen, Spaß haben und mit ihm gemeinsam dem Moment entgegenfiebern, an dem es die Geschenke gab. Doch auf dies alles würde er wohl verzichten müssen. Crispin wusste nicht, wie lange sie auf dieser Weihnachtsfeier blieben, aber er war sich sicher, dass es für sie heute keine Geschenke gab. Sicherlich würden sie erst spät am Abend wieder nach Hause fahren und anschließend ins Bett gesteckt werden, weil längst Schlafenszeit war - wenn er nicht sogar schon unterwegs einschlief. Plätzchen gab es zwar, aber für seinen Geschmack waren diese einfach ungenießbar und schon alleine bei der Erinnerung daran, verzog er das Gesicht.
Zu all diesen Punkten, die eigentlich schon ausreichen sollten, kam noch hinzu, dass er sich langweilte. Für einen Fünfjährigen gab es auf solchen Veranstaltungen nichts Spannendes und es nervte ihn, die ganze Zeit nur still und brav dazusitzen und den Erwachsenen dabei zuzuhören, wie sie sich über Dinge unterhielten, die er nicht verstand. Genauso störte es ihn, wenn seine Eltern von Cyrians Talent am Klavier schwärmten, was er auch an diesem Tag wieder einmal unter Beweis stellte, als er das Stück spielte, welches er vor einer Woche noch geübt hatte, und es perfekt beherrschte. Besonders das letztere Thema war ihm unangenehm. Immer, wenn es zur Sprache kam, spürte er die Blicke der anderen auf sich, bevor sie seine Eltern fragten, wie es denn bei ihm lief. Anschließend sahen auch sie zu ihm - enttäuscht und unzufrieden, da er es noch immer nicht konnte - bevor sie den anderen genau dies erwiderten. Jedes Mal lief es so ab und keinen schien es zu interessieren, dass er sie verstand und wie er sich dabei fühlte. Es tat ihm weh, denn er hatte es wirklich versucht. Vor allem in den letzten Tagen hatte er sich täglich dazu gezwungen, sich an den großen Flügel zu setzen und zu üben. Doch so sehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht, die Noten und Tasten zusammenzubringen und jeder Fehlschlag frustrierte ihn.
Um den Blicken und den verletzenden Worten zu entgehen, hatte sich Crispin aus diesem Grund heute aus dem großen Raum geschlichen, in dem die Feier stattfand. Einige Zeit war er durch das Gebäude geirrt, bis ihn seine Füße nicht mehr tragen wollten und er sich deshalb in einem der Zimmer auf die breite Fensterbank setzte, die Beine an den Körper zog und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Traurig schaute er aus dem Fenster, sah wieder einmal den Schneeflocken dabei zu, wie sie vom Himmel auf die Erde tanzten, und konnte dabei dieses Mal nicht dieselbe leichte Freude und Faszination verspüren, wie noch eine Woche zuvor. Vorsichtig lehnte er seinen Kopf gegen die Fensterscheibe, während er eine Hand an das Glas legte.
“Warum haben mich Mom und Dad nicht genauso lieb wie Cyrian? Ich kann doch nichts dafür, dass mich die Noten ärgern”, murmelte er leise und spürte sowohl einen Kloß in seinem Hals als auch Tränen in seinen Augen. Bevor er es verhindern konnte, rannen sie ihm über die Wangen und auch sein trotziger Versuch, sie wegzuwischen, brachte nichts, da immer neue kamen. Dabei durfte er doch nicht weinen. Er war ein Junge und schon groß. Aber was sollte er machen? Es tat weh - gerade heute - und er konnte es einfach nicht mehr zurückhalten. Zusätzlich kam ihm ein leises Schluchzen über die Lippen und das genau in dem Moment, als die Tür aufging, die er vorsorglich hinter sich geschlossen hatte, weil er alleine sein wollte.
“Pino…?”
Erschrocken setzte sich Crispin etwas mehr auf und starrte Richtung Tür. Durch die Dunkelheit in dem Raum, da er auch das Licht ausgelassen hatte, blendete ihn die Lampe, die genau gegenüber im Flur an der Wand hing. Doch er brauchte gar nicht zu sehen, wer ihn da gefunden hatte, denn Pino nannte ihn ausschließlich Cyrian.
“Ist alles in Ordnung bei dir?”, drang die leise Frage an sein Ohr und er konnte hören, dass er besorgt um ihn war. Er überlegte kurz, ob er lügen oder die Wahrheit sagen sollte, entschied sich schlussendlich aber für Letzteres. Warum sollte er ihm auch etwas vormachen, wenn es so offensichtlich war?
“Nein… Aber es geht gleich wieder”, log er zumindest in diesem Punkt, denn so schnell würde es nicht besser werden.
Ein weiteres Mal wischte er sich über die Augen und die Wangen, um diese zu trocknen, und dieses Mal half es auch. In der Zwischenzeit kam Cyrian näher zu ihm und nun fiel ihm auch auf, dass dieser die Hände hinter dem Rücken versteckt hatte. Warum er eben geweint hatte, war plötzlich völlig vergessen und Neugier machte sich in ihm breit, da diese Haltung untypisch für seinen Bruder war. Dieser konnte trotz der Dunkelheit wohl seinen Gesichtsausdruck deuten und biss sich leicht auf die Unterlippe.
“Ich… Also… Ich habe etwas für dich. Ich hab es vorhin heimlich ins Auto geschmuggelt, weil ich dachte, dass es heute wohl spät wird…”
Mit diesen Worten holte er genau das hinter seinem Rücken hervor und als Crispin erkannte, um was es sich dabei handelte, weiteten sich seine Augen. Es war ein pinker Hase - oder besser gesagt, es war das Plüschtier, das sein Bruder vor Kurzem auf einem Jahrmarkt gewonnen hatte. Er hatte es ebenfalls versucht, hatte jedoch nicht so viel Glück und war daher nur mit einem kleinen Trostpreis nach Hause gegangen. Dass Cyrian ihm den Hasen nun schenkte, trieb ihm ein weiteres Mal die Tränen in die Augen. Augenblicklich schwang er die Beine von der Fensterbank, ignorierte dabei, dass sie durch die lange Zeit, in der er so da saß, schmerzten und fiel ihm um den Hals.
Diese Reaktion zauberte Cyrian ein Lächeln, das eine Spur Traurigkeit in sich trug, auf die Lippen und er schlang seine Arme mitsamt dem Hasen ebenfalls um ihn.
“Ich weiß, dass das nichts besser macht, aber ich wünsche dir trotzdem frohe Weihnachten, kleiner Bruder.”
Völlig unvermittelt zuckte Crispin zusammen, als sich zwei Arme von hinten unter seine eigenen schoben und sich ein Kopf auf seine Schulter lehnte.
“Wieso bist du denn schon wach? Es ist noch mitten in der Nacht”, murmelte sein Freund leise, aber vor allem verschlafen. Er blinzelte ein paar Mal, um sich voll und ganz von seiner Erinnerung zu lösen und sie wieder in die hinterste Ecke seines Verstandes zu verscheuchen. Anschließend löste er seine Augen vom Fenster, vor dem er stand und auf dessen anderer Seite sich die Welt rechtzeitig zu Weihnachten in eine weiße Winterlandschaft verwandelte, und sah stattdessen zu August. Bei seinem Anblick, der in diesem Moment so sehr einer wirklich müden Katze ähnelte, die es gerade so geschafft hatte, aufzustehen und ein paar Schritte zu laufen, bevor sie sich einfach wieder irgendwo fallen ließ, schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen.
“Ich hab nur über etwas nachgedacht. Du hättest aber nicht extra aufstehen müssen.”
Das Gesicht des anderen bekam bei seinen Worten einen schmollenden Ausdruck, der sich auch in seinem Tonfall zeigte.
“Dein Kopf arbeitet schon wieder viel zu viel. Und außerdem wurde es ohne dich kalt im Bett.”
Es klang beinahe so, als wollte er noch mehr sagen, doch er wurde von einem Gähnen daran gehindert. Daraufhin löste er die Umarmung, nur um anschließend Crispins Hand zu ergreifen und ihn wieder Richtung Schlafzimmer zu ziehen.
“Lass uns weiter schlafen. Der Tag nachher wird anstrengend genug.”
Wortlos folgte er ihm, denn August hatte recht. Spätestens am Abend würde er sich vermutlich nach Schlaf sehnen und sich darüber ärgern, sollte er nun wach bleiben. Schließlich war eine große Weihnachtsfeier geplant und das obwohl ihre besten Freunde wussten, dass weder August noch er Partys mochten, doch wenn die beiden dazu einluden, war es besser auch aufzukreuzen.
Auf dem Weg zum Schlafzimmer streifte sein Blick den pinken Plüschhasen, der einen Platz neben einem genauso ungewöhnlich aussehenden Plüschkeks auf ihrem Klavier gefunden hatte, auf dem er inzwischen liebend gerne spielte. Das Lesen von Noten war für ihn noch immer ein Buch mit sieben Siegeln, aber wer brauchte diese schon, wenn man erkannte, dass man Melodien nur ein paar Mal hören musste, um sie spielen zu können?! Eine weitere Erinnerung versuchte sich ihren Weg in seinen Kopf zu bahnen, doch er schüttelte diesen nur, um sie loszuwerden. An seine Familie zu denken, war auch an einem Tag wie Weihnachten vollkommen unnötig, denn ihr Verhältnis hatte sich seit damals nicht gebessert. Eher im Gegenteil. War er mit Cyrian als Kind ein Herz und eine Seele, so ging auch diese Verbindung mit der Zeit immer mehr verloren, bis sie vollkommen zerriss. Doch er brauchte sie nicht, um glücklich zu sein, denn auch wenn es hieß, dass man sich seine Familie nicht aussuchen konnte, hatte er für sich zumindest beschlossen, wer nicht mehr dazu gehörte.
Feedback
Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!