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Spuren im Schnee

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04.05.18 22:09
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

 

Es schneite. Dicke weiße Flocken legten sich über die Welt
und die Kälte der einbrechenden Dunkelheit vertrieb die Menschen in  ihre Häuser vor den warmen Kamin.

 

Nur eine einzelne Gestalt stapfte stolpernd und leise
fluchend durch die verlassenen Straßen.

 

Indem sie sich an einem Laternenpfahl festhielt, fing sie im
letzten Moment einen Sturz ab.

 

Raisa schüttelte den Schnee von ihrer Jacke, zog sich die
Kapuze tiefer in die Stirn und hauchte ihre erkalteten Hände an, bevor sie
diese wieder in den Jackentaschen verschwinden ließ.

 

Einen Moment blickte sie in das ihr gegenüberliegende
Fenster, wo ein Mann zwei Kindern aus einem Buch vorlas. Zärtlich küsste er den
Schopf des Mädchens und tauschte ein strahlendes Lächeln mit dem Jungen aus, bevor
er sich erneut über das Buch beugte.

 

Wie vertraut ihr der Titel vorkam. Ronja Räubertochter. Beinahe
hörte sie den Donner und sah die Blitze, die am Tag von Ronjas Geburt in die
Mattisburg einschlugen, sie roch die frische Stutenmilch und sah vor ihrem
inneren Auge Ronja und Birk über den Höllenschlund springen. Woher kamen nur die
Tränen auf einmal? Hatte sie nicht geglaubt, über das Vergangene hinweg zu
sein?

 

Ärgerlich wischte sie die Zeichen der Schwäche fort und wandte
sich von dieser Familienszene, wie sie es jedes Kind erleben sollte, ab

 

Sie trieb durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin sie
wollte. Ihre Finger formten Blumen aus Eis und Schnee auf Mauern und Zäunen, die
sie von den glücklichen Paaren trennten, die sich hinter den Fenstern küssten
und sich lachend unterhielten.

 

Doch Raisa blieb eine stumme und unbemerkte Beobachterin. Niemand
sah ihr hinterher, niemand bemerkte sie und wenn doch, wandte er sich sogleich
wieder ab.

 

Einzig die Schneeflocken bedeckten ihren Körper mit sanften
Küssen und der Wind allein zog sie in seine feste, unausweichliche Umarmung.

 

Doch lag keine Wärme in diesen Zärtlichkeiten, so dass die
einsame Gestalt erbärmlich fror.

 

Was hatte sie am heutigen Abend nur in diese Kälte
hinausgetrieben? War es allein der Gedanke gewesen, dass es der heutige Tag
war? Heute.

 

Sie ließ sich die Klänge auf der Zunge zergehen, bis ein
bitterer Nachgeschmack verblieb. Heute.

 

Dennoch kehrte sie nicht um zu der Wohnung, in der nur
Aufgaben auf sie warteten, sondern lenkte ihre Schritte vorwärts.

 

Der Schnee dagegen bedeckte die noch frische Fußspur hinter
ihr, so dass schon in wenigen Minuten niemand mehr den Menschen, der eben noch
hier geatmet und gestanden hatte, erahnen können würde.

 

Ihre Füße trieben sie vorwärts, als ob sie alleine die
tiefsten Wünsche ihres Herzens kannten und trugen sie zuverlässig, und doch
unbemerkt von ihr selber, bis vor die Tore des Friedhofs.

 

Raisa blickte zu der hübschen Backsteinkirche hinüber. Die
großen, glänzenden Messingbuchstaben „Gloria in excelsis deo“  konnte sie selbst von hier erkennen.

 

Doch griffen ihre Hände nur zögernd nach dem Gitter, das sie
von den Toten trennte. Einen Moment umfasste sie die kunstvolle Schmiedearbeit
nur, dann stieß sie es zurück, als ob sie sich an ihr verbrannt hatte.

 

Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, aber Vögel und
Blüten schwangen bereitwillig zur Seite und gaben den Blick auf die Reihen der
Toten frei.

 

Endlose Reihen von Daten und Namen, deren Geschichten bald
vergessen sein würden. Dazwischen die vereinzelten Farbtupfer der bunten Blumensträuße,
die fürsorgliche Seelen auf die Gräber gelegt hatten.

 

Raisa blieb, sich für einen Moment umsehend, stehen, dann
ging sie über schneebedeckte Kieswege zu den frisch angelegten Gräbern.

 

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie doch nicht die Einzige
gewesen war, die sich an diesem kalten Abend vor die Tür gewagt hatte.

 

Eine Person hockte vor einem Grabstein, der so dunkel war
wie ihre Kleidung.

 

Raisa trat näher, denn glaubte sie zu wissen, wer es war.

 

„Du warst nicht bei der Beerdigung.“, stellte die Frau fest
und klopfte Schnee und Erde von ihrer Kleidung, ehe sie sich aufrichtete.

 

„Nein.“, erwiderte Raisa leise. 

 

Drei Jahre. Im Nachhinein fragte sie sich, wie sie diese
Zeit alleine hatte leben können.

 

Sie schwiegen.

 

„Du hast deine Haare geschnitten.“, bemerkte die Jüngere schließlich.

 

Denn das lange, hellblonde Haar, das ihre Mutter einst mit
Inbrunst gepflegt hatte und das schon so gewesen war, seitdem Raisa sich
erinnern konnte, war nun kurz und von grauen Strähnen durchzogen.

 

„Als Erinnerung“, erklärte ihr Gegenüber schließlich, „Als
du acht warst, hast du dich entschlossen, dass du kurze Haare wolltest und sie
abgeschnitten. Ich wollte es nicht vergessen.“.

 

Seltsam, was man alles über die Jahre vergaß und was einem
in Erinnerung blieb.

 

All der Schmerz der Vergangenheit kam für einen Moment
erneut über sie, doch schob Raisa es beiseite und versuchte sich die schönen
Erinnerungen vor Augen zu halten.

 

Sie wollte etwas sagen, die Stille überbrücken, doch die Worte
kamen nicht. Der Grabstein bildete einen allzu unüberwindbaren Wall zwischen
Mutter und Tochter, so wie es der Lebende auch getan hatte. 

 

Sie blickte darauf.

 

Walter Wendt

 

1961-2017

 

Der dunkle Grabstein war schmucklos und bis auf diese
wenigen Zeichen leer, doch hätte sich ihr Vater auch zu Lebzeiten nicht daran
gestört.

 

„Raya“. Anisja wisperte die Worte nur noch, als fürchtete
sie, dass ihr Mann sie auch als Toter noch hören konnte, „Es tut mir leid, dass
ich meine Pflichten als Mutter nicht erfüllen und dir nicht den Schutz und die
Liebe geben konnte, die dir zugestanden hätten.“.

 

Erst jetzt bemerkte die Tochter, wie sehr sie die Stimme
ihrer Mutter vermisst hatte. Der russische Akzent, den selbst all die Jahre in der
neuen Heimat nicht hatten vertreiben können, die einzigartige Art wie nur sie
ihren Namen aussprach.

 

„Ich weiß.“, erwiderte sie schließlich und blickte ihrer
Mutter zum ersten Mal seit drei Jahren in die Augen.

 

Sie wusste selbst nicht, was sie dort erwarten hatte. Doch fand
sie dort eben denselben Schmerz, den sie auch in ihren Augen sah, wenn sie in
den Spiegel blickte. Es war derselbe traurige Schatten, der jegliches Lachen
zur Farce machte.

 

„Und ich habe dir vergeben.“.

 

Tränen liefen über das Gesicht der Frau, die ihr unter Schmerzen
das Leben geschenkt hatte, sie aufgezogen und genährt hatte und ihr in den
letzten drei Jahren eine Fremde geworden war.

 

„Ich musste einfach weg.“, hörte Raisa sich selbst wie aus
weiter Ferne sagen, „Ich brauchte Abstand zu alldem und musste mir über meine
eigenen Ziele und Wünsche bewusst werden.“.

 

„Und weißt du jetzt, was du willst?“. Die Stimme ihrer
Mutter war schon immer leise gewesen, erinnerte sie sich, aber die Heiserkeit
war ihr neu.

 

„Ja.“, entgegnete sie schlicht.

 

„Das ist gut.“.

 

Für einen Moment schwiegen Mutter und Tochter erneut und
blickten sich einfach nur an.

 

Schließlich war es Raisa, die zuerst die Hand ausstreckte.
Die Hände ihrer Mutter waren rau, doch hielten sie die Kleineren mit Kraft fest
und boten die Sicherheit, der sie seit Jahren entsagt hatte und die sie so sehr
vermisst hatte, dass auch ihr vereinzelte Tränen über die Wangen liefen.

 

Der Strom der Tränen jedoch wollte schier nicht enden und
schließlich löste die Tochter eine Hand und legte sie auf die Wange ihrer Mutter.

 

Ihr Körper kribbelte ob dieser einfachen und zugleich allzu
schwierigen Bewegung, doch spürte sie wie sich Anisja entspannte.

 

„Es ist alles gut.“, flüsterte sie und konnte kaum
begreifen, dass sie es auf einmal war, die ihre Mutter tröstete. „Ich habe dir
vergeben.“.

 

Doch die Tränen versiegten erst, als die beiden Frauen sich
über dem Grab des Ehemannes und Vaters in die Arme schlossen.

 

Raisa musste lächeln, denn erst jetzt begriff sie, wie sehr
sie unter dem Kontaktabbruch gelitten hatte.

 

„Meinst du, dass wir es gemeinsam schaffen?“, fragte ihre
Mutter zögernd.

 

Nach einer Weile nickte sie.

 

„Ja. Ich denke schon.“.

 

Anisja löste sich aus ihren Armen und kniete auf dem Grab
nieder.

 

„Sieh nur, Raya“, meinte sie, als sie sich wieder erhob. Und
auf einmal waren alte Freude und Zuversicht in ihre Stimme zurückgekehrt.

 

Raisas Hände schlossen sich um das Schneeglöckchen, als
wolle sie so die Hoffnung auf den Frühling bewahren und schützen, weil es auch
die Hoffnung auf einen Neuanfang war, die in ihrem Herzen kostbar wie ein
Schatz genährt wurde und beständig wuchs.

 

Vielleicht war jetzt nach dem Tod ihres Vaters wirklich ein
Neuanfang zwischen Mutter und Tochter möglich und – wer wusste – möglicherweise
würde sie eines Tages sogar vermögen, ihrem Vater zu vergeben, der ihr doch so
viel Leid angetan hatte. Gemeinsam mit ihrer Mutter würde es einfacher sein,
den gemeinsamen Schmerz zu bewältigen und für sie beide einen neuen Weg der
Zuversicht und der Liebe zu finden.

 

Gemeinsam. Wie gut sich dieses Wort auf ihrer Zunge anhörte.
Sprach es doch von all der Liebe und Gemeinschaft, die sie in all den Jahren
nur durch einen dunklen Schleier erlebt hatte. Doch jetzt wo dieser Schleier
gelüftet worden war, schien auf einmal alles möglich und die Welt lag ihr offen.

 

Und dieses Mal schob sich Raisas Hand wie von selbst in die
von Anisja und so waren es zwei Paar Fußspuren, die den Friedhof Seite an Seite
verließen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kasera Am 30.10.2018 um 0:47 Uhr
Der Text ist wunderschön. Am Anfang kamen mir diese großen Zeilenumbrüche kompliziert, doch dann nach drei- vier Absätzen gaben sie Sinn. Ich weiß nicht wie, aber sie passen so verflucht gut dazu. Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll. Ich vermute mal, dass es aus versehen geschehen, aber schlecht finde ich es nicht. Ich liebe zudem die Schreibweise, so melancholisch, gefühlsvoll aber gleichzeitig zeigt sie wie die Person ihrer Umgebung fremd ist. Oder soll das überhaupt so sein? Sehr poetisch auf jeden Fall. Mehr anzeigen
Limayeels Profilbild
Limayeel (Autor)Am 30.10.2018 um 18:05 Uhr
Vielen Dank^^ Es ehrt mich, dass dir diese Geschichte trotz der Zeilenumbrüche so gut gefällt. Mit Sicherheit waren sie nicht gewollt, aber dass sie so gut dazu passen, freut mich.

Liebe Grüße,
Limayeel
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Simons Profilbild
Simon Am 22.10.2018 um 16:33 Uhr
Gut geschrieben was ich las. Im 9. Absatz solltest/wolltest du sie statt er schreiben glaub. ;)
Die Formatierung ist etwas kompliziert!

Write on!
Limayeels Profilbild
Limayeel (Autor)Am 24.10.2018 um 20:35 Uhr
Danke für dein Lob und den kleinen Fehler, der sich eingeschlichen hat. Sorry, ich habe auch keine Ahnung, was ich gegen die Formatierung machen soll. Ich schreibe auf Word und kopiere die Sachen dann rein. Früher war das noch schön bündig, aber neuerdings hat das so eine komische Absatzformatierung.
Jedenfalls vielen Dank für deinen Kommentar.

Liebe Grüße,
Limayeel

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Sätze: 105
Wörter: 1.482
Zeichen: 9.007

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Diese Story wird neben Familie auch in den Genres Nachdenkliches, Freundschaft, Schmerz & Trost, Angst und gelistet.