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Himmelslichter

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23.01.19 13:11
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

Schnee verfing sich in Jalos Fell, als er rücklings den kurzen Abhang hinabrollte. Er sah, dass Taavi ihm nachsetzte, versuchte auf die Beine zu kommen, doch Taavi war schneller. Er war auf ihm, drückte ihn mit den Vorderpfoten tiefer in den Schnee.
So leicht gab sich Jalo nicht geschlagen! Er knurrte und schnappte nach Taavis grauem Fell, jedoch ohne ernsthaft zuzubeißen. Seine Vorderpfoten stemmten sich gegen Taavis Brustkorb, versuchten ihn zur Seite zu drücken. Endlich schaffte er es. Taavi verlor das Gleichgewicht und erlaubte es Jalo so, unter ihm hinweg zu kommen.
Schnell sprang Jalo auf die Beine und rannte einige Meter.
Natürlich folgte Taavi ihm, sprang auf ihn zu, landete jedoch einen knappen Meter von ihm entfernt. Er drückte den Brustkorb auf den Boden, knurrte.
Dann schnappte Jalo. Er bekam das Ohr seines Bruders, der ihm in dieser Gestalt gar nicht ähnlich sah, zu fassen, und zog daran seinen Kopf nach hinten. Er drückte sich gegen Taavi, brachte ihn zu Fall und sprang dann seinerseits auf seine Brust. Sein Maul bekam das weiche, graue Fell an Taavis Kehle zu fassen und er biss zu – vorsichtig ihn nicht ernsthaft zu verletzen.
Taavi knurrte. Seine Beine ruderten in der Luft, trafen beinahe Jalos rechtes Auge.
„Gib auf!“, befahl Jalo.
„Niemals!“ Sein Bruder knurrte erneut. Er wand sich unter ihm, versuchte sich zu befreien. „Ich werde doch nicht gegen einen Winzling verlieren!“
Auch Jalo knurrte, verlagerte sein Gewicht, um Taavi weiter in den Schnee zu drücken. „Gib auf!“
„Nein!“ Die Brust des grauen Wolfes hob und senkte sich schnell. Sein Atem kondensierte in vielen, kleinen Wölkchen.
Jalo ließ ein tiefes Knurren hören. Er legte sich ganz auf Taavi, der einige Zentimeter weiter in den Schnee drang. Dabei erlaubte er es seinen Zähnen, zumindest oberflächliche Spuren in der Haut zu hinterlassen. „Gib auf!“
Ein Jaulen, ein Knurren. Dann: „Okay.“
Zufrieden richtete Jalo sich auf. Dabei hätte er eigentlich die Taktik seines Bruders kennen müssen. Kaum, dass er von ihm zurückgetreten war, sprang er ihn an und warf ihn zu Boden.
Wie immer. Dabei war Taavi der große Bruder. Sollte nicht er der vernünftige von ihnen sein?
Jalos Augen blickten zu seinem Bruder. „Du schummelst.“
„Wäre das ein Kampf auf Leben und Tod …“, begann Taavi.
Jalo jaulte und verdrehte die Augen. „Typisch.“ Er sah gen Himmel, der beinahe den gesamten Tag schon dunkel war. Kaum ein Wunder. Mitsommernacht war erst seit zwei Tagen vergangen.
Dann atmete er tief durch. Er ließ seine Wut, seine Macht von seinem Bewusstsein fortgleiten, drängte das innere Tier von sich fort. Er konnte spüren, wie seine Gestalt sich veränderte, konnte spüren, wie er wieder zum Mensch wurde. Sein schwarzes Fell verschwand. Seine Arme und Beine nahmen die übliche schlaksige Gestalt an.
Atemlos lag er unter dem grauen Wolf, der ihn mit einem langen, missmutigen Blick bedachte. Er jaulte beleidigt.
„Wenn du schummelst, mache ich nicht weiter“, erwiderte Jalo nach Atem ringend. Er schob den Wolf zur Seite, etwas, das Taavi geschehen ließ.
Ein grünes Schimmern zeigte sich in der Ferne, jenseits des Kovddoskaisi. Sie waren so weit von Kilpisjärvi entfernt, waren soweit gelaufen in ihrem Streit.
„Wenn ein Gegner dich töten willst, kannst du ihm auch nicht glauben, wenn er sich ergibt“, meinte Taavi, als auch er seine menschliche Gestalt annahm. Sein blondes Haar hing lose und wirr unter seiner Mütze hervor. Wie immer. Er schaffte es nicht mehr als die nötigste Kleidung – in diesem Fall seine fellene Schneehose, sein Mantel, seine Schuhe und die braune Mütze – mit sich zu verwandeln.
Jalo verdrehte nur erneut die Augen. „Das sagst du immer. Aber eigentlich magst du es nicht zu verlieren.“ Er gab ihm einen Stoß mit der Faust in die Seite. Anders als sein Bruder hatte er auch Handschuhe und zumindest grundlegende Kleidung unter seiner Winterkleidung.
„Als würdest du es mögen“, grummelte Taavi. Dann seufzte er und ließ sich rücklings in den Schnee fallen. Er sah zum Himmel.
Jalo lachte. Natürlich mochte er es nicht. Er hasste es. Noch mehr hasste er es, dass Taavi durch seine Taktiken doch immer wieder gewann. Er war der „Alpha“ – war es für die letzten sieben Jahre gewesen. Zumindest war er dabei nicht mehr so unausstehlich, wie er es in ihrer Jugend gewesen war.
War es nicht albern, dass sie diese Begriffe nutzten? Dabei war die Legende vom Alphawolf nur eine Mythe – eine moderne Mythe noch dazu. Dennoch wusste er nicht einmal, wie die Wölfe alter Zeit ihre Anführer genannt hatten. Einfach „Anführer“? Oder vielleicht „Fenris“?
Er seufzte, den Blick Richtung Kovddoskaisi gerichtet.
Flackernd und tanzend flutete das grüngelbliche Licht über den Himmel. Wie eine Welle rollte es über sie herein. Wie ein Vorhang im Wind schwebte es über ihnen, seine Gestalt beständig leicht verändernd.
„Glaubst du, es ist soweit?“, fragte Taavi leise.
Jalo sah zu seinem Bruder. Er seufzte. „Vielleicht sollten wir noch etwas warten.“
Taavi verzog das Gesicht. „Warum soll ich überhaupt warten?“
„Fragte der große Alpha, der Hüter unserer Tradition.“ Jalo schenkte ihm einen kurzen Seitenblick.
„Tradition!“ Taavi verdrehte die Augen. „Was interessiert mich Tradition! Sie ist meine Frau!“
„Sie ist in den besten Händen“, meinte Jalo und seufzte. Er lächelte matt. Er verstand seinen Bruder. Ihm würde es wohl ähnlich gehen, wäre es seine Frau, die seine Kinder zur Welt brachte.
„Ich will dennoch bei ihr sein“, murmelte Taavi.
Jalo ließ sich neben ihn fallen. Er sah zum Nordlicht hinauf. In manchen Legenden der Wikinger war es ein Zeichen für eine gute Geburt – solange die Mutter dabei nicht direkt hinein sah. Doch die Gefahr wäre im Haus ihrer Eltern, wo sich ihre Mutter und Sari um Irina kümmerten, wohl eher nicht gegeben. Davon abgesehen war das Schlimmste, das laut den Mythen geschehen würde, dass das Kind schielte.
Was es wohl für die Zwillinge bedeutet hätte?
Davon abgesehen waren sie Sami. Ihre Legenden sprachen von einem Fuchs mit brennendem Schweif. Als Jugendliche hatten sie diverse Firefox-Witze gemacht. Jetzt erschien es ihm zu albern. War die Legende nicht ohnehin der Ursprung für den Browsernamen?
„Es wird schon gut gehen“, meinte er schließlich zu seinem Bruder. „Es wird alles in Ordnung sein.“ Er schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
Taavi erwiderte nichts. Sein Blick war stur in Richtung der tanzenden Lichter am Himmel gerichtet.
Jalo lächelte. „Pass auf oder deine Zwillinge schielen.“
Genervt verzog Taavi das Gesicht. „Wieso?“
„Ach, alte Legenden“, erwiderte Jalo. „Wikingerlegenden.“
„Aha“, murmelte Taavi. „Und die sagen was?“
„Na, die Kinder schielen, wenn die Mutter bei der Geburt ins Polarlicht schaut“, erklärte Jalo seine Gedanken.
Taavi verdrehte die Augen. „Ich bin aber nicht die Mutter, Neunmalklug.“
„Ach, du dein langes, güldenes Haar lässt dich fast wie eine Prinzessin aussehen!“
Die Nase gerümpft, nahm Taavi eine Hand Schnee und warf sie seinem Bruder ins Gesicht. „Selbst Prinzessin.“
Jalo gluckste. Da rollte er sich zur Seite, um etwas Abstand zu gewinnen und formte einen Schneeball. „Denkst du etwa nicht?“, fragte er.
Natürlich sprang Taavi auf und bekam prompt den Schneeball ab. Er schüttelte sich. „Soll ich dir etwa eine Lektion erteilen?“
So kam er zumindest auf andere Gedanken. „Versuch's doch!“, rief Jalo aus. Wieder ließ er sich auf alle viere Fallen, nahm die Gestalt des kleinen, aber wendigen schwarzen Wolfes an und lief über die Schneedecke davon, die die tanzenden Lichter glänzend reflektierte.
Er wollte gewinnen. Aber vor allem wollte er seinen Bruder ablenken. Zumindest noch für ein paar Stunden.

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GreenQuills Profilbild
GreenQuill Am 20.06.2019 um 7:53 Uhr
Hallo NelaNequin, ich hab deine Geschichte schon vor einer Weile im Rahmen der Alphabet-Lesechallenge im Forum gelesen, komme aber erst heute dazu, dir Feedback zu hinterlassen. Ich finde sie sehr schön. Zu Beginn hatte ich mich etwas gewundert, wohin dieser Kampf führen sollte. Er war lebendig geschrieben, aber für eine Lurzgeschichte fehlte mir noch irgendwie was zwischen den Zeilen und dann kam die Wende zur Geburt und ich finde es einfach nur schön wie ein Bruder den anderen von den Sorgen ablenkt und hinter diesem Rumtollen eigentlich noch viel mehr steckt. Das ist genau das Zwischen-den-Zeilen-Gefühl, das ich zu Beginn vermisst habe und ich finde, es ist dir sehr gut gelungen. Liebe Grüße, Augurey :) Mehr anzeigen

Autor

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Sätze: 122
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Zeichen: 7.547

Kurzbeschreibung

Zwei Wölfe im verspielten Kampf. Zwei Brüder. Wartezeit. Ein leuchtender Himmel.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Familie auch im Genre Fantasy gelistet.