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"Möchtest du eine Kastanie haben?", fragt mich meine Oma.
"Gerne Oma", antworte ich.
Ich nehme die Kastanie, betrachte sie kurz nachdenklich und stecke sie mir in die Hosentasche.
Früher war ich mit meinem kleinen Bruder oft am Kastanienbaum des Ortes. Wir haben versucht, den Kastanienbaum mit allem möglichen zu bombardieren, um an die hängenden Stachelballen zu kommen und das braune Innere räubern zu können. Unter anderem wurde Stöcke geworfen und Bälle geschossen, von außen muss dieses brutale Schauspiel wild ausgesehen haben. Ob wir zwei Jungs zum Kastaniensammeln gegangen sind, um Kastanien zu sammeln und mit diesen später zu basteln oder unseren Übermut rauszulassen, kann ich im Nachhinein nicht mehr genau sagen. Das wussten wir damals wohl selbst nicht so genau. Aber es hat Spaß gemacht, und wir konnten nie genug davon haben, nachmittageweise Bälle in den unschuldigen Baum zu kloppen.
"Möchtest du eine Kastanie haben?" fragt mich meine Oma erneut.
"Ja gerne Oma", erwidere ich und nehme die mir entgegengestreckte Frucht dankend entgegen. Da eine Hosentasche mittlerweile mit 5 Kastanien gefüllt ist, stecke ich sie in die gegenüberliegende Hosentasche und führe dort meine Sammlung fort.
Solch unbekümmertes Glück wie damals beim Kastaniensammeln hatte ich seither immer seltener. Die Seele baumeln lassen würden Influencer heute empfehlen, doch genau dies verhindert wohl oftmals die Unbekümmertheit. Wie viele Stunden habe ich diese Woche am Handy verbracht? Zu viele, so viel oft sicher. Und genau dort, auf unseren portablen Ablenkungsgeräten, wird einem Glück vorgegaukelt, man wird in andere Welten entführt, anstatt sie selber zu entdecken. Es ist wohl leichter, anderen Menschen bei ihrer Reise zuzuschauen, anstatt selber eine zu erleben.
"Möchtest du eine Kastanie haben?" fragt mich Oma. Die mittlerweile siebte Kastanie wandert in die Hosentasche.
Meine Oma hat starke Demenz und vergisst mittlerweile Dinge, die nur wenige Minuten her sind. Sie hat also bereits vergessen, dass sie mir vor 2 Minuten eine Kastanie in die Hand gedrückt hat. Und vor 4 Minuten. Und vor 6. Das Leben ist verdammt unberechenbar, denke ich. Du kannst morgen aufwachen und dich an nichts mehr erinnern. Jederzeit. Bei dem Gedanken an meine Oma läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Sie war der organisierteste Mensch, den ich kannte, und ist jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das Sprechen und Denken fällt ihr mittlerweile schwer, aber wenn sie könnte, würde sie meinen Handykonsum vermutlich nicht gut heißen. Genieß das Leben, denk weniger darüber nach, würde sie wahrscheinlich sagen. Aber ist das wirklich so leicht?
"Möchtest du eine Kastanie haben?" fragt mich meine Oma und schaut mich mit ihren leeren, aber unglaublich liebevollen Augen an.
Vielleicht sollte ich nicht nur die Kastanien annehmen, sondern auch ihren nicht ausformulierten Rat, denk ich mir. Ich stecke mir die Kastanie in die Hosentasche. Langsam wird es eng da drin.
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Klugscheisser • Am 03.10.2024 um 23:07 Uhr | |
Eine sehr anrührende Geschichte. Gefällt mir gut. | ||
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