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Margaret war eine 80-jährige, stämmige Frau, die gerne geblümte knielange Kleider oder Kittel trug. Sie war bereits seit einiger Zeit in Rente und kümmerte sich sowohl um den Haushalt ihrer 42-jährigen Tochter, als auch um den Familien-Bauernhof und hielt alles in Schuss.
Bereits seit einigen Monaten merkte man, dass sie sich öfters irgendwo im Haus oder auf dem Hof wiederfand und schlichtweg vergessen hatte, was sie wollte. Hin und wieder sogar, wie sie an diesen Ort gekommen war. Selbstverständlich war das auf dem Hof kein Problem; sie kannte ihn schon seit Kindestagen, hatte auf dem schlammigen Pflaster das Laufen gelernt und sich in den riesigen Scheunen beim Verstecken-Spielen hinter Strohballen und Traktoren versteckt. Sie kannte sich dort aus, wie niemand anderes aus der Familie.
Ihre Tochter, Lily, machte sich bereits seit längerer Zeit sorgen. Sie hätte von der Vergesslichkeit ihrer Mutter schließlich auch Wind bekommen. Doch sie hatte nichts gesagt und sie alle einfach machen lassen, sie hielt es für richtig, nichts zu sagen, denn schließlich war sie ihre Mutter: Sie hatte ihr Leben lang geschuftet und tat es immer noch, da war ein bisschen Vergesslichkeit doch nicht weiter schlimm, nicht wahr?
Doch eines Tages, da begann ihr Zustand ernster zu werden.
Wie jeden Monat fuhr Margaret einen Samstag mit ihren besten Freundinnen Gertrud und Waltraud raus in die Großstadt. Um rauszukommen, andere Menschen zu sehen und natürlich zum Shoppen und Imbissbuden abklappern.
Sie entschuldigte sich bei Waltraud und Gertrud und verschwand auf eine der Toiletten. Waltraud und Gertrud warteten über 15 Minuten, und als Margaret immer noch nicht wieder da war, suchten sie sie und als sie nirgends im Restaurant aufzufinden war, riefen sie schließlich die Polizei und die Familie.
Alle suchten sie Margaret in jeder kleinsten Gasse suchten sie nach ihr und fragten willkürlich Passanten, ob sie diese Frau gesehen haben und zeigten ihnen Bilder auf ihren Smartphones.
Nach 4 Stunden Suche fand man sie, sitzend vor einem Müllcontainer, sie unterhielt sich mit einem offensichtlich bekifften, obdachlosen Junkie und es schien so, als stände sie neben sich, als hätte eine neue Margaret das Zepter in ihrer Hülle übernommen, die sie dazu brachte, Junkies in Nebengassen anzulabern und sich neben sie zu setzen.
Man brachte Margaret zu sich nach Hause. Nach und nach kam sie aus diesem Trance-ähnlichen Zustand wieder zu sich und fragte sie alle, warum sie sich in ihrem Wohnzimmer versammelt hätten. Sie sagte, es wäre eine Schande, dass sie vergessen habe, ihnen etwas zu Trinken und wenigstens ein Stück Kuchen anzubieten.
Am nächsten Tag ging Lily zu ihrer Mutter und sprach sie darauf an und sagte, sie müsse sich Hilfe holen. Margaret wies jeden Vorschlag, jede Bitte ihrer Tochter rigoros zurück.
Man ließ die Situation auf sich ruhen. Die nächsten Monate sagte Margaret jedoch die monatlichen Ausflüge mit ihren Freundinnen ab, angeblich, da auf dem Hof so viel zu tun sei.
Doch als dann gefunden wurde, wie sie in einer riesigen Schlammpfütze auf dem Hof spielte, als sei sie ein kleines Kind, dass keine der üblichen Sitten kannte, gab es für Margaret kein Entringen mehr; sie musste sich der Wahrheit stellen. Doch sie wollte nicht zum Doktor und schon gar keinen Pfleger.
Zunehmend wurde es schlimmer: Sie vergaß und vergaß. Und es gab Momente, da war sie in eine andere Zeit zurückversetzt worden, war eine jüngere Margaret.
Schließlich kam es zum Unvermeidbarem: Sie musste ins Krankenhaus. Lily fiel es schwer, wirklich, sie litt darunter, aber was sollte sie im Prinzip tun? Sie konnte sie schlecht weiter durch die Welt gehen lassen und selbst zittern, weil sie Angst hatte, dass sie ihre Mutter bei einem erneuten Vorfall nicht mehr wiederfinden würde, oder sie gar von einem Auto angefahren wurde, in den Teich fiel oder sonst was?
Sie organisierte einen Transport. Früh am morgen kamen die zwei Pfleger, die blütenweiße Kleidung anhatten, und klopften an Margarets Tür. Margaret vergaß ihre Manieren nicht, bat die beiden herein und bot ihnen einen Kaffee an. Doch sie verneinten. Sie erzählten, dass sie dazu da seien, um sie abzuholen, damit sie ins Pflegeheim kam. Margaret war erschrocken. Das hatte sie davon: Zog 20 lange Jahre ein Kind auf, nur um schließlich bei ein oder zwei kleinen Zwischenfällen von ihr in ein Altenheim abgeschoben zu werden.
"Wo ist meine Tochter?", fragte Margaret kalkbleich im Gesicht.
"Sie zog es vor, Sie im Pflegeheim zu besuchen. Sie wollte es Ihnen nicht noch schwerer machen, als es eh schon ist", sagte der linke Pfleger und griff nach ihrem Oberarm, um sie freundlich und vorsichtig, aber doch bestimmt mitzunehmen, in den kleinen Transport.
Margaret zweifelte nicht an ihnen. Sie kannte diese beiden Pfeifen von ihren Freundinnen, die bereits im Pflegeheim waren: Kahlkopf und Hackfresse, wie sie genannt wurden. Denn der eine hatte einen glatt rasierten Kopf und der andere eine schiefe Nase.
"Warten Sie einen Moment, ich ziehe mir nur noch meine grünen Schuhe an! Schließlich muss ich ja durch den Matsch da draußen!", sagte sie und die Pfleger wechselten einen kurzen Blick. Hackfresse nickte schließlich und ließ sie in ihr Schlafzimmer gehen, das am Ende des Flurs lag. Doch was sie nicht wussten: Das Schlafzimmer hatte eine Balkontür zur angrenzenden Terrasse, die ihr Walter ihr damals zum 50 geschenkt hatte.
Sie öffnete die Balkontür, rannte raus und schaffte es, mühsam über den Zaun zu klettern. Sie rannte über das offene Feld, so schnell, wie sie konnte. Sie hörte, wie die Pfleger die Verfolgung aufnahmen; doch niemand kannte sich besser auf dem Hof aus, als sie. Sie rannte geradewegs in ein Maisfeld rein, hielt den Kurs einige Meter bei, bog in einer 90°-Kurve nach links, lief wieder einige Meter, machte eine weitere Kurve von 90° und verharrte mit einem Mal im Mais. Sie hörte die Schritte der Pfleger, die ebenfalls das Maisfeld betreten hatte und bereits nach wenigen Metern die Orientierung und sich selbst verloren. Sie tappten blind durch das Maisfeld und riefen nach dem anderen, sodass sie ihre Position immer der der Pfleger anpassen konnte.
Sie hatte diese Strategie als Kind entwickelt, wenn sie zu vielen Fangen gespielt hatten. Nach einiger Zeit gaben die Pfleger auf und verschwanden.
Margaret folgte ihrem Weg weiter in den Wald. Ihr Walter und sie hatten damals eine Hütte gebaut, von der die Kinder nichts wussten. Sie war dafür gedacht, dass sie, wenn sie im "Wald arbeiteten" auch ein wenig Zeit für sich hatten. Die Hütte hatte Margaret nie vergessen, war selbst nach Walters Tod auf ihren Spaziergängen immer wieder hergekommen und hatte auch immer wieder Vorräte dort hingebracht. Das beste war: Die Hütte lag in keiner Monokultur, so hatten Walter und sie sie einfach mit Baumstämmen, Efeu und anderem Gewirr überschüttet, sodass sie vom Weg aus wie ein großer Stein aussah.
Nun verkroch sie sich in der kleinen Hütte. Sie wusste, das war keine Dauerlösung, doch sie wollte ihren Kindern klarmachen, dass sie auch durchaus dazu in der Lage war, selbstständig zu sein. Sie wollte sich Entspannung gönnen und nach einigen Wochen, wenn die Vorräte zur Neigung gingen, wieder zurückkehren. Andernfalls würde sie sich heimlich des Nacht was aus dem Haus stehlen.
Ja, so würde sie das machen.
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Silly • Am 13.04.2020 um 21:28 Uhr | |||
Diese Story gefällt mir. Du hast ein Thema angesprochen, dass viele nicht sehen wollen und doch sehr wichtig ist - denn es kann uns alle einmal treffen. - Zu deiner Schreibweise kann ich nur sagen, dass ich es sehr gut und flüssig lesen konnte und mir durch deine detailreiche Beschreibung alles sehr gut vorstellen konnte. Die Idee mit den WG´s für Senioren gibt es meines Wissens: Betreutes Wohnen. Trotzdem ziehe ich vor Dir meinen Hut, weil Du Dir als junger Mensch viele Gedanken um die älteren Menschen in unserer (teilweise kaputten) Gesellschaft machst. Vielen Dank, dass Du uns daran teilhaben lässt. LG Silly. Mehr anzeigen |
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JoKarter • Am 18.04.2020 um 21:13 Uhr | |
Hallo , mein Omileinchen war in einem betreuten Wohnprojekt, bis es irgendwann auch durch die Demenz bedingt körperlich nicht mehr möglich war , und sie danach rund um die Uhr Betreuung in ihren letzten drei Monate bedurfte. Es war eine gute Entscheidung, denn sie haben dort gesungen ( sie war früher im Chor), Besuch von den Kindergarten Kindern erhalten , die älteren motiviert haben basteln und Ballspielen ( früher war sie in der Kinderbetreuung) oder Plätzchen gebacken. Alles das was man zu Hause selber hätte machen können, aber es doch nicht hingekriegt hat weil noch soviel mehr ist, die Pflege ausgenommen, dazu gehört, was wir als Angehörige nicht mehr leisten können, unteranderem auch weil es keine Familienbunde mehr gibt. Heute ist man doch überwiegend auf sich selbst angewiesen und ich bin froh das mich dieses Wohnprojekt bei meinem Omilein unterstützt hat. Viele sagen Demenz ändert die Menschen und es ist so, man muss nur lernen es zu akzeptieren. Mehr anzeigen | ||
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