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"Das unbesiegbare Lächeln" und andere Kurzgeschichten

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16.12.22 19:23
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Ich werde dieses Gefühl nie vergessen: Die bloßen Füße in diesem seidigen, kühlen und lächerlich grünen Gras. Der blaue Himmel über dem See, der später in ein dunkles Blau getaucht werden würde, durchzuckt von bunten Feuerwerken. Meine Sohlen auf dem brennend heißen Asphalt, das Tapptapptapp meiner Füße auf dem Weg zum Steg, der von bunten Blumen gesäumt wurde. Wir nannten sie Froschgoscherl. Das mag wohl kaum der botanische Name sein, aber Oma hat immer recht.

Der See, zu dem wir damals Zugang hatten, war ein alter Ziegelteich, vielleicht vierzehn oder siebzehn Meter tief. Wenn man unter Wasser die Augen öffnete, sah man nichts als grün und gelb und die Sonne, die mal diese, mal jene Farbe unterstrich. In der Mitte des Sees befand sich eine blaue Plattform aus Plastikbojen mit einer gleichfarbigen Rutsche. Mehr gab es dort nicht. Aber mehr brauchten wir auch nicht. Dieser See war alles: Der Inbegriff des Sommers. Wir waren stundenlang im Wasser, auf der Plattform, neben der Plattform, auf der Rutsche (die besonders Wagemutigen sprangen von ganz oben ins Wasser - ich war nie eine von ihnen), unter Wasser.

Danach gab es Himbeeren frisch vorm garteneigenen Strauch. "Pass auf die Ameisen auf!", sagte Oma. Seitdem gehören Himbeeren und Ameisen für mich irgendwie zusammen. Es gab Tonnen an Vanille-Eis vom Diskonter, das mit den zerhäckselten Vanilleschoten darin, garniert mit Sprühsahne und Schoko-Soße. Wer dachte damals an Kalorien? Sonnenschutz? Das alles spielte keine Rolle. Unser Taktgeber war nicht die Sonnencreme, sondern der Trocknungszustand unserer Bikinis und Badehosen.

"Willst du dich nicht hinlegen? Komm, ich klapp' dir das Streckbett aus", sagte (drohte?) Opa. Streckbett (klingt nach Folterinstrument!)? Liegen? Pause? Um Gottes Willen! Tapptapptapp auf dem heißen Asphalt. Platsch - schon waren wir wieder im Wasser.

Das waren noch Sommertage mit unter vierundreißig Grad. Solche, die ewig währten. Solche, die nicht einmal dann doof waren, wenn man sich die Schienbeine an den Waschbetonplatten aufschlug, weil man zu ungeschickt für alles war. Brütende Hitze auf der Fahrt in der Straßenbahn zum See, direkt nach der Schule. Zutritt zum Hintereingang, mit dem besonderen Schlüssel, der für die Ansässigen. Wie auserwählt ich mich fühlte, als mein Bruder und ich uns durch dieses Tor Zutritt in die grüne Oase verschafften, die mitten in Wien lag und doch ganz woanders! Ribiseln, Himbeeren und Erdbeeren von der Hand in den Mund naschen. Das trocknende Seewasser auf der Haut. Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor zehn.

Heute würde ich gern im Streckbett in der Sonne dösen. Heute würde ich nach einer Schale Diskonter-Vanilleeis mit Sprühsahne zu essen aufhören. Aber heute würde ich mich nicht mehr trauen, in diesem See schwimmen zu gehen - und wenn überhaupt, dann nur im Kreis. Nicht auf die Plattform - und wenn, dann nur zum Sonnen.

Heute ist heute. Damals war früher. Und früher war gigantisch.

 

Sie jammert, ich springe auf. Laufe wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung. Suche sie. Umschließe ihre schmalen Schultern, streichle über ihren Rücken. Halte sie behutsam fest. Hasse das Gefühl ihrer Schulterblätter und ihrer Wirbelsäule unter ihrer Haut. Sie ist so verletzlich. So klein. Vier Kilo leben in einer riesigen Welt. „Schon gut", flüstere ich. „Schon gut. Alles gut." Wen ich damit tatsächlich beruhige?

Dann mache ich sauber: Sprühe, wische nach. Hunderte Küchentücher sind uns schon zum Opfer gefallen. Wir finanzieren mittlerweile nicht nur insgeheim die Küchenrollen-, sondern auch die Universalreiniger-Industrie. Ich vernichte Beweise. Ich vernichte Befürchtungen. Sie sieht mich an. Ihre gelben Augen tränen. Sie blinzelt mich langsam an - ein Katzenlächeln - und schnurrt, als ob nichts geschehen wäre. Als ob das alles bedeutungslos wäre und ich mir keine Sorgen machen müsste. Ich hebe sie hoch, drücke sie an mich, vergrabe die Nase in ihrem Nacken. Atme sie ein. Küsse sie. Damit sie vielleicht beim nächsten Mal ihr Futter verträgt.

Worauf habe ich mich eingelassen, als ich euch zu mir geholt habe? Wie hätte ich wissen können, was aus uns werden würde? Drei Leben, zwei Spezies, was kann da schon schiefgehen? Als ihr kaum ein Jahr alt wart, habe ich euch rote Schleifen umgebunden und euch beim friedlichen Schlafen unter dem Tannenbaum zugesehen. Das war in einer anderen Zeit, lange vor dem Wahnsinn, der jetzt die Welt erschüttert. Ihr wart zwei kleine gerettete Leben, gerade fünf Monate alt, die man allen Ernstes töten wollte, weil sie rappenschwarz sind. Keine Vermittlungschancen. Was haben sich diese Typen geirrt!

Zu wissen, dass ihr bei mir Zuflucht gefunden habt, hat mir gereicht. Ich habe weder Zuneigung noch Kontaktaufnahme von euch verlangt oder erwartet und trotzdem: Ihr wart von Anfang an mittendrin, eine von euch auch akustisch. Und trotz des Blödsinns, den ihr euch ständig einfallen lassen habt, trotz des Chaos wart ihr immer eine Bereicherung. Zwei kleine Persönlichkeiten, die ihren Platz in ihrem neuen Zuhause wie selbstverständlich einforderten. Ihr habt ihn bekommen.

Wir gehen diesen Weg gemeinsam. Wir gehen diesen Weg bis zum Ende. Auch, wenn es irgendwann steinig wird, auch, wenn ich einen Teil von mir mit euch zurücklassen werde - es kümmert mich nicht. Ich gehe diesen Weg mit euch. Ich kann nicht anders, als euch zu lieben.

Wie man das nennt? Wahnsinn? Vernarrtheit?

Verantwortung.

 


Sie ist ein Kind. Sie springt auf, packt dich an der Hand und rast quer über eine saftig grüne Sommerwiese, an deren Grashalmen noch der Morgentau hängt. Erst zieht sie dich hinter sich her, dann rennst du von ihrer schieren Freude angesteckt mit. Sie fliegt mit dir hunderte Meter hoch bis über die Wolken und zeigt dir, wie klein die Welt von hier oben aussieht. Sie flüstert dir ins Ohr, dass alles möglich ist. Du nickst und glaubst ihr. Gemeinsam umarmt ihr die ganze Welt.

Dann lässt sie dich los und haut ab. Sie tut es nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie der Meinung ist, du würdest dich jetzt, wo sie mit dir in den blitzblauen Himmel gestiegen ist, auch alleine zurechtfinden. Sie konnte nicht wissen, dass du sie vergisst, wenn sie deine Hand nicht mehr hält. Dein Mangel an Vertrauen ist nicht ihre Schuld.

Also knallst du auf den Boden der Tatsachen zurück. Du findest alles blöd: Du hasst diese Sommerwiese, weil du allergisch bist, und der blaue Himmel ist bestimmt der Vorbote von drückender Affenhitze. Während du deine geschundenen Glieder in dein sicheres Zuhause schleppst, weißt du, dass die Hoffnung andere besucht. Solche, die sie gerade eher brauchen - die Hoffnungslosen. Sie hat dir kurz vor deinem Fall versichert, sie würde auch zu dir zurückkommen. Damals, als du mit ihr geflogen bist, hast du ihr geglaubt und fandest das in Ordnung. Jetzt bist du neidisch und findest es ungerecht.

Und verkriechst dich. Zu den unmöglichsten Zeiten klopft jemand an die Tür, aber du reagierst nicht. Sicher nur ein dummer Kinderstreich. Du wirst verbittert, pessimistisch und langweilig. Eigentlich warst du früher ein Idealist, jetzt findest du Idealismus kacke und gehst zum Pessimismus über, an guten Tagen gerade so zum Realismus. Wen kümmert's? Ist doch sowieso keiner da.

Warum wohl?, flüstert etwas in deiner hintersten Gehirnwindung.

Dann sitzt eines Morgens eine alte Frau mit einem weißen Dutt und einem Haarnetz in deinem Wohnzimmer und liest seelenruhig deine Tageszeitung. Du hältst sie für eine geistig abnorme Rechtsbrecherin und stellst sie zur Rede. Sie ist aalglatt und hat keine Angst vor dir. Irgendwie sieht sie durch dich hindurch; sie sieht durch deine Wut und deine Enttäuschung. Sie sieht dich. Dir stockt der Atem. Sie schmunzelt geheimnisvoll, leckt die Kuppe ihres Zeigefingers ab und blättert genüsslich um, ihre Bewegungen wie die Choreografie eines Tanzes, den nur sie kennt. Sie kichert das heisere Lachen einer alten Hexe, schiebt ihre Lesebrille am Steg höher, hebt prüfend eine Augenbraue und raunt: „Na? Was hab' ich dir gesagt? Hab' ich es dir nicht versprochen?"

Dann ist sie ein Kind. Sie springt auf, packt dich an der Hand und rast quer über eine saftig grüne Sommerwiese, an deren Grashalmen noch der Morgentau hängt.

 

Manchmal wünschte ich mir, ich könnte dich hassen.

Es würde alles so einfach machen, die Welt in ein transparentes, geradliniges Gut und Böse unterteilen, in ein Schwarzweiß mit digitaler Moral. Jeder weiß, dass der Gute gewinnen und der Böse verlieren muss. In der Schlacht geschlagen, seinem verdienten Schicksal zugeführt, auf immer und ewig unschädlich gemacht. Ende der Geschichte, und wenn sie nicht gestorben sind ... Abspann.

Ich will vergessen, dass

jede Medaille zwei Seiten hat,

jeder Standpunkt eine Perspektive und

jedes Verhalten seine Begründung.

Ich will über dich sagen können, was alle sagen würden: Du hast es nicht anders verdient. Du hättest vorher über die Konsequenzen deines zukünftigen Handelns nachdenken sollen. Ich will mich abwenden, dich und alles, was du getan oder nicht getan hast, abhaken können. Kann ich aber nicht. Ein Teil von mir giert danach, von dir gesehen zu werden. Beschämend unterwürfig bettelt er um jeden Funken Aufmerksamkeit. Ein anderer Teil huscht beim kleinsten Glimmen in die finsterste Ecke, verkriecht sich, schaudernd vor Angst. Sieh mich nicht an! Tu mir nichts. Ich bitte dich - mein Herz ist zu weich. Du bist doch vorsichtig damit ...? Aber nein, wie könntest du, bei allem, was war? Ach, ich vertraue dir nicht.

Für immer im Zwiespalt, für immer in der Zwischenwelt.

Ich will mir ein Brett vor den Kopf halten und nicht weiter denken als bis zu meiner Nasenspitze, damit ich nicht mehr hinterfragen und reflektieren und wälzen muss, was längst nicht mehr reflektiert werden will. Mir die Ohren zuhalten und aus voller Lunge "Junge Römer" singen, bis meine Gedanken mit Worten, Rhythmen und Tönen gesättigt sind und sie mir nichts anderes mehr zuflüstern können.

Stattdessen ist mein Herz bleibern voller Fasts: Was wir fast gehabt, was wir fast erlebt hätten. Was uns fast verbunden hätte. Ich wünschte, ich könnte dich hassen. Mein Verstand kann es.

Mein dummes, dummes Herz kann es nicht.

 


Manchmal, wenn sich die Muse als übertrieben keusches Geschöpf präsentiert, das nicht einmal seiner eigenen Oma einen Kuss auf die Wange drücken würde, bleibt einem nichts anderes übrig, als ausgiebig im eigenen Geist zu wühlen. Schließlich muss man sich ja irgendwie inspirieren.

Man fragt sich dann, wen die Muse wohl gerade küsst, wenn man schon nicht selbst in den Genuss kommt. Woran es liegt, dass sie nicht da ist. Auf wessen Couch sie sich gerade räkelt. Und tut sie das auf laszive Art und Weise oder auf eine unschuldige? Man hofft, dass sie sich auf ihre Moralvorstellungen besinnt, obwohl man weiß, dass sie gerade einen feuchten Dreck auf ebendiese gibt, und schraubt daher insgeheim seine Ansprüche zurück. Sukzessive wird man genügsam. Erst würde man sich mit einem freundschaftlichen Kuss zufrieden geben. Dann mit einem Handkuss und - apropos würde - ja, man sinkt zu guter Letzt richtiggehend unter seine eigene Würde, denn irgendwann nimmt man alles. Und ich meine ALLES; selbst wenn der Kuss der Muse zu dem einer Großtante mit Oberlippenbart verkommen ist, und nach abgelaufenen Mon Cherie stinkt, stellt man keine Fragen. Man führt folgende drei Schritte aus:

Erstens: Man nimmt ihn. Zweitens: Man breitet den Mantel des Schweigens darüber aus. Und drittens: Man vereinbart mit dem kümmerlichen Rest seines Selbstwertes: "Es ist nie geschehen. Wir reden nicht über 'den Flaum'."

Aber jetzt mal ganz im Ernst: Langfristig gesehen knabbert die Abwesenheit der Muse an der Motivation wie das Krümelmonster an einem Space Cookie. Dann lechzt man nach einem Wiedersehen. Im Hinterkopf weiß man, dass sie - so wie die Hoffnung - immer zurückkehrt. Aber sie hat ihren freien Willen - den muss sie auch haben, schließlich sind die Gedanken ebenso frei wie sie. Man kann weder ihre Anwesenheit noch ihren Kuss erzwingen. Könnte man das, hätte er keinen Wert (und man hätte sich darüber hinaus strafbar gemacht).

Aber ich sage euch - wenn sie dann endlich ihren ausschweifenden Orgien rund um die Welt abschwört und beschließt, den darbenden, ideen- und motivationslosen Schreibenden auf ein Neues mit ihren Zärtlichkeiten zu überschütten, kann man schon mal den Ventilator ins Wohnzimmer stellen (oder die Klimaanlage aufdrehen, wie ihr wollt). Und zwar nicht aus den schmutzigen Gründen, die sich gerade durch eure Gehirnwindungen schlängeln (aber bitte - lasst euch nicht aufhalten, gern geschehen und viel Spaß dabei!), sondern, weil dann die Tasten glühen, bis der Prozessor heiß läuft.

Das Warten lohnt sich. Denn der Willkommensgruß der Muse ist immer ein glattrasierter Zungenkuss.

 


Es brachte mich wie ein kleiner Traktor von A nach B, dieses dieselbetriebene Gefährt der Neunziger Jahre. Aber es war so viel mehr als das - und das wird es immer bleiben. Nicht nur, weil es das Auto war, mit dem ich meine ersten Fahrerfahrungen machte, sondern auch, weil sein Gaspedal nach weiß Gott wie vielen hunderttausend Kilometern abbrach. Weil ich es in morgendlicher Umnachtung gegen sieben Uhr an einem vernebelten Oktobertag auf eine Baumscheibe setzte. Weil es zeitlos schön war. Und weil es einen Namen hatte. Es war ein er und er hieß Audi.

Und ja, ich pflegte so etwas wie eine Beziehung mit dieser smaragdgrünen Limousine: Ich stellte Audi morgens am Bahnhof ab und freute mich wie ein Kind, wenn ich ihn abends unbeschadet auffand. Wie hübsch und geduldig er da auf mich wartete, er mit seinen vier neckischen Silberringen und der in der Abendsonne unverschämt glitzernden Metallic-Lackierung, so geparkt, dass "der Straßenkehrer seinen Dienst verrichten kann", wie mein Opa, seines Zeichens ehemaliger Fahrlehrer, siehe unten, zu sagen pflegt.

Unsere gemeinsame Geschichte reicht weit zurück. Wir fuhren als Führerscheinfrischlinge mehr als fünftausend Kilometer, um mich fit für die Straße zu machen. Anfahren am Berg mit Handbremse, lange bevor es Hill-Hold-Assistenten gab, einparken am Berg, rückwärts einparken am Berg, Motor starten durch den Berg. Wann immer man möchte, dass jemand innerhalb von fünf Minuten um fünf Jahrzehnte altert, lässt man ihn mit einer tonnenschweren Rodel im Leerlauf einen Abhang hinabrollen. Er wird dann nämlich zur Jungfrau Maria beten, dass der verdammte Motor bitte endlich anspringt, bevor er an dem weißen Fiat 500 zerschellt. Man reiche mir den Rosenkranz. Ich will gar nicht zählen, wie viele Tode ich damals gestorben bin. Wie wurde ich geschunden! Aber Audi war immer cool, verlässlich und anspruchslos. Man konnte mit dem Schaltknüppel rühren wie in einem Hexenkessel zu Halloween und er fuhr trotzdem ohne zu murren. Er war zu allen Schandtaten bereit.

Audi war eine Brücke vom Damals zum Jetzt. Er war eine Konstante. Schließlich bin ich schon mit ihm über Serpentinen gedieselt, als ich noch im Kindersitz auf der Rückbank saß und zum Leidwesen meiner Mutter einen Springbrunnen aus meinem Himbeer-Zitron-Sunkist machte. Damals war mir nicht klar, dass ich viele Jahre später selbst den Zündschlüssel drehen würde und was es bedeutete, eben das tun zu können.

Wir haben Audi nach vielen Jahren verkauft, an einen Händler ganz in unserer Nähe. Noch heute frage ich mich, ob ich eines Tages doch noch ein Modell mit smaragdgrüner Metallic-Lackierung sehen werde und wenn ja, ob es vielleicht er sein wird.

 

 

Er blickte an sich herab, während er nach vorn fiel. Gefrorene Grashalme knirschten unter seinen Knien und drückten sich durch die dünne Anzughose, Kälte kroch von seinen Zehenspitzen bis in seinen Scheitel. Es war nicht die Winterkälte, sondern eine bleierne Schwere, die mit einer eisernen Unumstößlichkeit einherging. Er wusste, dass er tödlich getroffen war. Der, den er „der Andere" nannte, stand gut fünfzig Meter entfernt, den Arm parallel zum Boden, die rauchende Waffe darin noch auf ihn gerichtet. Der Nebel wusch seine schwarze Silhouette zu einem schmutzigen Grau aus. Das alles war Punkt Eins.

Die Hand des Angeschossenen glitt suchend zu Boden. Nur eine Kleinigkeit gab es noch zu erledigen, eine letzte Kraftanstrengung. Er hatte jahrelang für diesen Moment trainiert, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Komme was wolle. Aber jetzt fand er den ersehnten Auslöser nicht.

Ein spöttisches Lachen von oben. Der Nebel riss auf und gab den Blick auf den Anderen vollends frei, der sein Spiegelbild war - bis auf die Sonnenbrille, die seinem Widersacher fehlte. Er begann, zu vergessen, doch als er sich noch fragte, warum er selbst eine Sonnenbrille trug, umgab sie gleißendes Licht, und das Gras unter seinen Knien wurde zu glattem Stahl. Punkt Zwei.

„Lassen Sie es sein", sagte der Andere sanft und steckte die Waffe weg. „Sie können es sowieso nicht mehr starten."

Er wusste, dass er nicht wieder aufstehen würde. Wie gut, dass seine Aufgabe in etwas ganz anderem bestand. Hinter dem Schützen hatte der weichende Nebel zwei nach außen geschwungene Metallsäulen freigegeben - Punkt Drei. In ihrer Mitte waren zwei weitere Anzugträger erschienen, die mit vor der Brust verschränkten Armen breitbeinig ihren Verbündeten flankierten. Seine Hand tastete erneut den Untergrund ab. Er zwang den Blick weg von den drei Männern. Sein Blut war randvoll mit Adrenalin und Dringlichkeit. Es gab ihm Kraft, um genau hinzusehen. Da! Der runde Knopf, kaum größer als zwei Zentimeter im Durchmesser, war in einer unscheinbaren Metallverblendung in den Boden eingelassen. Direkt neben seiner rechten Hand schloss er bündig mit dem glatt gebürsteten Stahl ab.

„Es ist zu spät. Das Zeitfenster ist abgelaufen", sagte der Andere entspannt. „Das Protokoll startet nicht mehr."

Aber er wusste, dass ihm noch ein Moment blieb. Mit der ganzen Handfläche drückte er den Knopf tief in den Boden. Punkt Vier.

Die letzten Sekunden. Kälte in jeder Zelle seines Körpers. Rauschen seines Atems in seiner Lunge. Dann endlich - die erlösende Vibration in seinen Knien, die von den anlaufenden Förderbändern hunderte Meter unter ihm herrührte. Als er die Überraschung und schließlich die Panik in den Gesichtern der anderen Anzugträger las, wurde ihm der vollumfängliche Erfolg seines Unterfangens bewusst. Erleichterung schwappte über ihn – Erleichterung und grenzenlose Freude, die nicht einmal dann versiegte, als er ins Nichts kollabierte.

 


Die Dreadnought, ein kollossales, schnaufendes Ungetüm aus Stahl und Dampf, steht als grauer Riese gegen das Weiß des endlosen Schnees im Evakuierungsposten. Ihre Kabinen sind mit Kohle, Nahrung und halbverhungerten Kindern besetzt. Manche von ihnen tragen fabrikneue Prothesen, alle Lumpen. Die Holzbetten biegen sich unter ihrem Gewicht, knarzen und ächzen unter ihren baumelnden Beinen aus Fleisch und Metall, und dennoch ist immer noch zu wenig Platz für die verbleibenden. Fünfzig Kinder sind auf dieser Fahrt an Bord, fünfzig waren es bei der letzten. Der Captain hat die Kabinen erweitern, zusätzliche Dampfkerne installieren und Zwischenebenen einbauen lassen, doch Gerüchten zufolge haben wir nicht genug Stahl für den nächsten, dringend notwendigen, Ausbau. Sie werden uns nicht alle retten können. Die Zeit läuft uns davon - das tuschelt man im Pub von Winterhome. Und das sind noch die harmlosen Gerüchte. Dass es gar keine andere Stadt gibt, keinen anderen Zufluchtsort, wie der Captain verkündet hat, ist das schwerwiegendste.

Die Stadtwache ruft zur Ordnung auf, ein Handgemenge entsteht am Bahnsteig. Stimmen werden erst laut, dann panisch. Einige wollen der Dreadnought auf eigene Faust durch die -40 °C kalte Eiswüste folgen, auf dass unsere neue Heimat ebenso finden wie die wütende Lokomotive. Sie wären nicht die ersten, die sich über die Anordnungen des Captains hinwegsetzen. Die Ingenieure werden nach den Kindern evakuiert werden, um als Vorhut ein neues Zuhause mit einem neuen Generator aufzubauen. Danach erst soll alles andere kommen: mehr Ressourcen. Mehr Menschen. Als das einer der Arbeiter in die Menge schreit, hält die Stadtwache den Mob gerade so zurück.

Die Unzufriedenheit steigt ständig. Hoffnung gibt es schon lange keine mehr.

Erst haben sie uns versprochen, alle Häuser zu heizen. Dann haben sie versprochen, uns alle zu evakuieren. Vor einer Woche hat jede Seele Winterhomes, ob jung oder alt, gesund oder krank, auf Anordnung des Captains in 24-Stunden-Schichten damit begonnen, die nicht mehr betriebenen Gebäude zu zerlegen und die Bausubstanz zu verwerten. Was für eine Ironie! Als der Captain neu war, lag die Stadt in brennenden Ruinen. Wir haben sie aufgeräumt, Platz für neue Häuser geschaffen, für neue Jagdhütten und neue Krankenhäuser. Zum ersten Mal seit der Fehlfunktion des Generators hatten wir wieder ein Zuhause. Nun, wo wir über unsere eigenen Häuser herfallen wie Aaasgeier, liegt Winterhome erneut in Ruinen vor uns. Aber von Aufbruchstimmung kann man nicht sprechen: Die Finger sind starr vor Kälte, die Herzen sind es vor Angst. Wir alle wissen, dass die Reparaturversuche für den Generator nicht unendlich lange glücken werden. Wir alle wissen, dass Winterhomes künstliches Herz bald verstummen wird. Dann wird nicht einmal mehr das Automaton arbeiten können. Ohne Generator kein Dampf. Ohne Dampf keine Wärme.

Der Dampf ist Leben.

 


"Mir ist langweilig." Ein kleines Gesicht lugt um die Ecke. Eines mit aalglatten, schulterlangen braunen Haaren und einer kreisrunden Brille in grün, blau und rot, hinter der mich wache braune Augen, groß wie Untertassen, anblinzeln.

"Dir ist doch nie langweilig", murmle ich, ohne von meinem Notebook aufzublicken. Sie springt mit einem gewaltigen Satz ins Wohnzimmer, direkt neben den weißen Couchtisch. Ihre dicken Hausschuhe, die über die zarten Knöchel reichen und in denen in kurkumagelbe Strumpfhosen gehüllte Beinchen stecken, landen mit einem Flapp. Das kleine Mädchen dreht sich im Kreis, lässt einen Rock mit Karomuster schwingen - knielang, dunkelblau, aus den 90ern - kräuselt die Oberlippe, nestelt an einer Steppweste derselben Farbe.

"Stimmt nicht. Spiel mit mir!" Ich schüttle vage den Kopf, um weder den roten Faden noch die Zeile meines Textes zu verlieren. "Du sitzt schon wieder den ganzen Tag vorm PC. Irgendwann musst du doch fertig sein mit dieser doofen Geschichte. Die will doch eh keiner lesen."

Ich schnaube empört und drehe mich zu ihr um. "Warum sagst du das? Du weißt, wie viel sie mir viel bedeutet. Außerdem magst du sie auch." Das Mädchen zerrt am Kragen seines currygelben Rollis. "Und was hast du da an?", frage ich entsetzt. "Du hasst doch Rollkrägen!"

Sie stemmt die Hände in die Seiten und neigt den Kopf. "Den hatte ich gestern schon an. Wär' dir längst aufgefallen, wenn du mich anschauen würdest." Als ich sehe, dass ihre Unterlippe zittert wie rote Grütze auf einer Powerplate, speichere ich meine Arbeit und klappe das Notebook zu, stemme die Unterarme auf die Knie. "Fang nicht an zu weinen", sage ich sanft, aber das war nicht die Antwort, die sie hören wollte. Sie zieht die Schultern hoch, senkt den Blick, schwingt ihren Rock lustlos hin und her, zupft an ihren Fingernägeln. Schluckt. Mein Hals schnürt sich zu. "Bitte. Sonst muss ich auch."

"Du siehst mich gar nicht. Immer weichst du mir aus." Ihre Stimme piepst wie ein nackter Vogel, der nach seiner Mutter ruft, "Hängst am Handy, siehst fern", dann überschlägt sie sich: "Und wenn ich was unternehmen will, ignorierst du mich!"

Ich kann ihr nicht sagen, dass sie sich irrt. Weil sie recht hat. Meine Augen füllen sich mit Tränen. "Du weißt, wie sehr ich es versuche. Wir sind doch oft spazieren. Und spielen. Ich hab' dir Ringelsocken gekauft. Eine Packung Gummischnüre. Und Chips und ... Schokolade."

Das kleine Mädchen bleckt seine fehlenden Schneidezähne: "Wen kümmert die blöde Schokolade?!" Ich schüttle hilflos den Kopf. "Du musst mir zuhören. Du bist mit deinen Gedanken überall - bei der Arbeit, beim Haushalt, bei den Nachrichten. Aber nicht bei mir. Dabei brauchst du mich." Sie zieht die Nase hoch, nimmt die Brille ab, wischt mit dem Ärmel über ihre Augen mit den langen Wimpern, ihre Wangen mit den vielen Muttermalen. "Ich weiß", flüstere ich. Ihr Gesicht ist ein riesiges Fragezeichen. "Warum siehst du mich nicht mehr?"

"Weil wir jetzt groß sind."

 


"Verdammt noch mal! Und wie du kannst. Wir haben keine Zeit dafür!" Deine Stimme, sonst so sachte, sonst so wohldosiert, faucht heiser und verwundet, überschlägt sich, ringt um Fassung und Atem. Sie macht mir mehr Angst als das Gebrüll auf der anderen Seite der Tür, mehr Angst als die gierigen Finger, die nach uns greifen.

Deine Bewegungen, klein und schleppend geworden über die Jahre, bringen so viel neuen Mut und Kraft auf, dass sie verwischen. Was geschieht mit dir? Wer bist du gerade? So viel Veränderung, so wenig Raum. Keine Zeit. Du wirfst dich gegen die Tür, die eine erbarmungslose Hand, böswillig wie du es niemals sein könntest, aufzudrücken droht.

"Bitte ... bitte nicht, bitte nicht!" Mir bleibt nicht mehr als ein Stammeln, als ein so entsetzlich tonloses Flehen. Du ignorierst mich. Habe ich denn kein Mitspracherecht in dem Schicksal, von dem du denkst, dass es das beste für mich ist? Ich kann das nicht ohne dich. Dieses Leben lebt sich nicht ohne dich. Ich habe es dir vor Jahren gesagt, aber du hast nicht verstanden. Die Zukunft, die du mir schenken willst, die du in deinen Tagträumen für mich gestaltest, ist eine erbärmliche Illusion. Du sagst, ich verstehe nur nicht. Ich sei noch zu klein. Ich wüsste nicht, welches Privileg mir zuteil würde. Aber wie ich verstehe - du kannst mich nur nicht hören, weil es dein silbriggrauer Hoffnungsschimmer, dein einziger Fixpunkt, ist, mich nach draußen zu bringen. Raus in die weite Welt. Raus in mein eigenes Leben. Du willst, dass ich meine Flügel ausbreite. Aber das einzige, das ich jemals wollte, ist bei dir zu sein. Vertrau mir. Gemeinsam überwinden wir jedes noch so gigantische Hindernis. Lass mich glauben, dass du derjenige bist, der am Ende obsiegt.

Du packst mich an den Oberarmen, hebst mich aufs Fensterbrett, stößt mich halb fallend, halb kniend ins weiche Gras. Dein Griff ist Feuer, nicht minder heiß als der unseres gemeinsamen Feindes. Du, auf den Fensterrahmen gestemmt, starrst mich ungläubig an, als wärst du selbst davon überrascht, was du gerade getan hast. Als könntest auch du nicht fassen, dass du mich über die Schwelle gestoßen hast in diese Existenz ohne dich. Aber in dir ist kein Funken Feindseligkeit; du bist so voller Bedauern und Verzweiflung, dass ich danach greifen kann.

Dann schreist du mich an: "Jetzt lauf! Lauf! Ich komme zu dir zurück!" Das Türblatt hinter dir segelt gegen die Wand. Du wirbelst herum, dann bist du weg. Meine Beine rennen unter mir los, als das Getöse losgeht, meine Sohlen graben sich in die feuchte Erde. Immer tiefer in den Wald, zu dem Platz, den wir vereinbart hatten. Ich presse die Hände auf meine Ohren, denke an etwas Schönes. An den Geruch von Heu und Seife. An die roten Glasmurmeln. An die verschmierte Druckerschwärze auf dem Drachen, den du für mich gebastelt hast. An die Zimtschnecken, die es sonntags immer gab. Ich schließe die Augen, halte alles davon fest. Halte dich fest.

Und weiß dennoch: Mit jedem meiner Atemzüge wirst du mehr Vergangenheit.

 


"Die G-Geschichte der Schokolade begann in ... M-Mittelamerika ... heute M-M-Mexiko".
Das lief ja wieder prächtig. Kichern aus den hinteren Reihen. Meine Hände werden schwitzig. Ich vergesse zu atmen und japse nach Luft. "Für die Maya", meine Stimme quietscht. Gelächter dringt zu mir an die Tafel. Ich schlucke die Tränen hinunter. Kann ich bitte auf der Stelle sterben? "Für die Maya ... war sie Trank der Götter." Die Karteikarten zittern in meinen Händen. Eine rutscht mir aus den Händen und taumelt zwischen meine Sneakers. Auf den schmutzigen Gummikappen meiner Schuhe grinst mich ein Smiley aus Edding blöde an. Ich ringe nach Luft. Meine Ohren werden heiß. Minuten, die sich wie Stunden anfühlen. Ich blicke von meinen Notizen hoch, die ich in den Tagen zuvor auswendig gelernt, jetzt aber vergessen, habe. Leergefegt ist mein Kopf von all dem vorbereiteten Wissen, stattdessen gefüllt mit einer undefinierbaren Schaummasse. Wie eine Schwedenbombe der Angst, garniert mit Kokosflocken an Scham. Den Rest des Referats lese ich runter, stocksteif, Schweiß auf der Stirn, Herzrasen, das nicht mehr gesund sein kann. Dann ist alles vorbei. Und ich lebe trotzdem noch.

Amanda in der hintersten Reihe, einsachtzig groß, hundert Kilo schwer, Dreck unter den Fingernägeln, zwirbelt eine ihrer rabenschwarz gefärbten Haarsträhnen und grinst süffisant. Ich schlage wie ertappt den Blick auf meine Karteikarten nieder und hebe die eine zu Boden gegangene auf, dann schlurfe ich auf meinen Platz und mache mich über meinem Geschichtsbuch klein. Ich spüre Amandas Blick in meinem Nacken, höre ihren hämischen Applaus.

Die Referate der anderen sind wie immer besser als meines. Hier lacht kaum jemand. Aber klar - von den anderen stottert auch niemand. Dann schallt endlich die Glocke der letzten Stunde. Ich stopfe meine Bücher und Hefte in den Rucksack, ziehe mir hastig die Jacke an, setze die Kapuze auf, fummle in den Hosentaschen nach meinen Kopfhörern und nach dem Handy.

"Hey, Steffi!", ruft Amanda.
Ich scrolle nach meinem Podcast, drücke mir die Kopfhörer in die Ohrmuscheln und auf Play. Obwohl die Lautstärke fast hochgedreht ist, höre ich Rammsteins "Adieu" kaum. Raus aus der Klasse, raus aus der Schule. Raus, raus, raus. Ich renne zur Straßenbahn. Die Tür schließt sich, da zwängt Amanda ihre Schuhgröße zweiundvierzig in die Gummidichtung und setzt sich hinter mich. Sie tippt auf meine Schulter, sagt etwas zu mir. Ich schüttle den Kopf, drehe die Musik lauter. "Lass mich in Ruhe."

Fünf Stationen später steigt sie mit mir aus. Wie jeden Tag verfolgt sie mich auch heute, zwei Schritte schräg hinter mir. Immer so, dass ich ihn aus dem Augenwinkel sehe, diesen fetten, schwarzen Fleck ihres Daseins. Sie quasselt pausenlos, bis ich an unserem Haustor stehe und den Schlüsselbund aus der Tasche ziehe, ihn ins Schloss ramme. Drinnen drehe ich mich um. Sie hebt die Hand, winkt, das Gesicht blank. Ich wende mich ab, atme auf. Sie lässt die Schultern hängen und geht. Ich weiß nicht, wohin. Keine Ahnung, wo Amanda wohnt. Ich weiß nur, dass sie mir nicht bis ins Stiegenhaus folgen kann.

Ich schlafe kaum in dieser Nacht. Mein missglücktes Referat, das Gelächter der anderen, das Gefühl der Unzulänglichkeit sind noch zu präsent. Außerdem haben wir morgen Mathematik in der ersten Stunde. Ich hasse Mathematik.
Am nächsten morgen trotte ich todmüde an den grauen Briefkästen im Erdgeschoss vorbei. Keine Spur von Amanda. Irgendwann, wenn ich nicht auf sie reagiere, wird es ihr schon zu blöd werden, mich zu verfolgen - das rede ich mir seit Jahren ein.

Ohne Kopfhörer, ohne Metallicas "Whiskey in the Jar", fahre ich in Stille, starre auf die Regentropfen, die an diesem Novembermorgen gegen das Fenster trommeln und in unterbrochenen Linien an den beschlagenen Scheiben hängen. Nur das Rattern der Räder auf den Gleisen begleitet mich, das Schleifen der Schuhe der anderen Fahrgäste. Werden wir heute wieder Differentialrechnung machen? Wofür braucht man diesen Scheiß überhaupt? Wozu muss ich wissen, wie lange eine Klopapierrolle hält? So ganz durchschaut habe ich den Stoff immer noch nicht. Wenn ich heute keine Erleuchtung habe, wird es schwierig mit der Schularbeit in zwei Wochen. Dann bringe ich wieder eine Vier nach Hause. Am liebsten nicht. Am liebsten gehe ich dann gar nicht mehr nach Hause und fahre irgendwo hin. Ans Meer vielleicht, in den Norden. Nach Warnemünde und Rostock. Wo niemand ist, nur ich selbst. Keine Erwartungen, keine Schularbeiten, keine Pflichten. Nur der Wind und ich.

Was ich auch tue, es reicht nicht. Es ist nie genug.

Jemand setzt sich in die Sitzbank schräg hinter mir. Ich spüre diesen Blick in meine Nacken, drehe hastig den Kopf, sehe einen schwarzen Hoodie, eine Kapuze, tief in die Stirn gezogen. Und eine rabenschwarze Strähne.
"Mensch, Steffi", sagt Amanda. "Kannst du mal aufhören, vor mir weg zu rennen und mir zuhören? Wie lange soll das noch so gehen? Das macht doch nichts besser."
Ich schüttle den Kopf. "Verpiss dich!" Sie legt ihr Doppelkinn auf die Lehne des Sitzes neben mir. "So funktioniert das nicht. Du kannst mich nicht für immer ignorieren."

Ich hasse diese Klette, deren Lebensinhalt es zu sein scheint, mir auf die Nerven zu gehen, weil sie keine eigenen Interessen hat. Vielleicht dackelt sie mir deswegen nach, seit ich sechs Jahre alt bin. Sie tut es nicht aus Bewunderung. Amanda ist alles, aber nicht auf meiner Seite. Wann immer sie kann, wirft sie mir abfällige Blicke zu und verspottet mich. Nie ist ihr etwas an mir genehm: Meine Frisur. Mein Gewicht. Meine Noten. Sie findet an allem einen Grund für Tadel. Über die Jahre ist sie groß geworden, einnehmend, übergriffig. Ich habe sie als kleines, zartes Mädchen kennengelernt, das nervös auf und ab gesprungen ist, als ich auf eine Birke in unserem Hof geklettert bin. Ich mochte sie nicht, weil sie mich beunruhigte. Sie war bei meiner Einschulung dabei und ein paar Jahre später bei meiner Fahrradprüfung. Da war sie schon einen Kopf größer als und doppelt so breit wie ich. Sie ist am Gehsteig gestanden, die Hände in die Hüften gestemmt, wie ein großer schwarzer Vogel, der alles sieht.

"Fahr nicht so schnell! Du wirst hinfallen und dir den Kopf aufschlagen!", rief sie mir zu. Und dann, als Nachsatz: "So, wie du dich anstellst."

Immer, wenn Amanda so etwas sagte, versuchte ich, sie zu ignorieren, doch ihre gehässigen Bemerkungen, Warnungen und Unkenrufe waren kaum zu überhören. Über den Sommer gelang es mir manchmal, sie wochenlang zu vergessen, doch im Herbst saß sie dann erst recht neben mir in der Schule. Herr im Himmel, war sie gewachsen! Ich musste mich noch nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass sie da war. Ihre Stimme war zu einem hochfrequenten Alarm angeschwollen. Zu einem, den ich nicht überhören konnte, der meterdicke Mauern durchdrang und sich direkt in meinem Schädel einnistete.

"Steffilein", säuselte sie vor jeder Schularbeit und tätschelte meine Hand. "Du wirst das auch heute versemmeln. Klare Sache."

Deswegen hasse ich Amanda. Ich habe ihr nie etwas getan, was sie so böse gemacht haben könnte. Trotzdem ist sie immer bei mir, wenn ich im Restaurant Pizza bestelle. Wenn ich am Bankomat Geld abheben will. Wenn ich in der Klasse eine Frage habe. Wenn ich in der Schule aufs Klo gehe. Immer ist er da, der große schwarze Fleck an den Ecken meines Verstandes. Und jetzt gerade sitzt er in der Straßenbahn hinter mir und mahlt gröhlend Penisse an die beschlagenen Scheiben. Nie habe ich sie gefragt, was sie eigentlich von mir will. Aber heute beschließe ich, dass es genug ist. Dass ich diesen Tag nicht so beginnen will, wo ich schon die verhasste Mathematik mit bescheuerten Klorollen-Rechnungen vor mir habe.

Also drehe ich mich um. "Was ist dein verdammtes Problem?", fauche ich sie an. Ihr Zeigefinger, der gerade dabei war, Schambehaarung auf ihre Fenstergenitalien zu malen, bleibt mit einem Quietschen auf der Scheibe stehen. Sie blinzelt.

"Was? Hast du deine Zunge verschluckt?", blaffe ich sie an. "Lass mich endlich in Ruhe. Kein Mensch braucht dich! Mein Leben wäre besser ohne dich."

Sie schiebt ihre Kapuze vom Kopf und starrt mich aus großen Augen an.
"Du redest ja mit mir!"
Sie lächelt. Hämisch? Nein. Ihre Augen glänzen, dann tränen sie und zwar so sehr, dass sich ihr dicker schwarzer Lidstrich und die Wimperntusche verflüssigen und ihre Wangen hinablaufen. "Du siehst mich!", ruft sie begeistert und lehnt sich in ihrem Sitz zurück. Amanda schrumpft.

"Bist ja kaum zu übersehen", brumme ich.

"Nein, ich meine ... so richtig. Du siehst mich endlich, Steffilein. Ich hab das nie böse gemeint. Echt nicht! Ich wollte dir immer nur helfen. Aber du hast mir nie zugehört. Schon bei der Fahrradprüfung nicht. Und nicht beim Klettern. Nie hast du auf mich gehört. Da musste ich doch laut werden. Was blieb mir anderes übrig, damit du mich siehst?"
Amanda schüttelt den Kopf, nicht missbilligend, sondern enttäuscht. Ihr Doppelkinn ist geschrumpft und auch sie selbst wird immer kleiner. Bald ragt sie kaum über ihre Rückenlehne. Als der Strom von gelöster Wimperntusche versiegt, schimmern ihre Wangen rosig, und ein kleines Mädchen sitzt hinter mir. Es sieht aus wie ich.

"Ich wollte nie so groß werden. Wenn du mich nicht jahrelang ignoriert hättest, wüsstest du das" Amanda grinst mich mit einer Zahnlücke an.

Ich seufze widerwillig. "Okay. Wenn du endlich aufhörst, meinen Kopf mit Schwedenbomben zu füllen."

 


Der Witz des Tages: Aggregat 1 ist tot. Der letzte Sonnensturm hat die oberste Schicht der Solarzelle geschmolzen - bei meinem Rundgang gestern Nacht habe ich sie als deformierte weiße Masse unter der Pumpeinheit gefunden. Wenn ich keinen Ersatz finde, werden wir zumindest ein Viertel des Feldes verlieren - Byebye Linsenmehl, byebye Eiweiß. Brackston hat nicht genug Rohstoffe, um das Teil zu reparieren, und die Lieferungen aus Manitra kommen seit Wochen nicht mehr an. Er könnte eine der Erntemaschinen auseinandernehmen und versuchen, deren Solarzellen in die Pumpwerke einzubauen. Nützt aber alles nichts, wenn die Wasserreservoirs kurz vorm Austrocknen sind.

Belal drängt darauf, nochmal die Küste entlang zu gehen und mit anderen Einstellungen nach Wasseradern zu suchen. Vielleicht machen wir das morgen und sehen, was wir finden. Ich würde lieber ins Landesinnere gehen, in die Richtung, wo die Ältesten sein sollen. Will aber der Große nicht. Dorthin wagt sich niemand, auch die Wasserdiebe nicht. Es muss noch andere dieser Bunker geben, von denen Brackston erzählt hat. Der Alte ist schrullig, keine Frage, aber er weiß zumindest ein paar Details über das Davor. Schon möglich, dass vieles davon Erfindungen und Märchen sind, aber wenn das so ist, dann sind die nicht auf Brackstons Mist gewachsen. Wenn einer den Fakten und der Wissenschaft treu bleibt, dann unser Ingenieur. Der würde lieber verdursten, als Schwurbler genannt zu werden.

Wie absurd das ist: Wir sind von nichts als Wasser umgeben und können keinen Tropfen davon trinken. Das Meerwasser ist totes Wasser, verseucht von Schwermetallen, und ... korrisif oder so ähnlich. Brackston nannte es so und die Lehre predigt es in aller Deutlichkeit: Das Wasser des Meeres, in dem alles Menschliche zugrunde geht, zerfrisst selbst Metall. Ich weiß nicht, ob sie recht haben - laut aussprechen darf ich den Gedanken sowieso nicht. Ich sollte dieses Papier verbrennen, wenn ich mir alles, was mir heute auf dem Herzen liegt, von der Seele geschrieben habe. Sogar Belal würde mich zu den Ältesten schleppen, wenn er das hier liest.

Dabei ist Belal der einzige Mensch der Insel, den ich - neben Brackston - als Freund bezeichnen würde. Wir haben immer alles gemeinsam gemacht, aber was die Lehre angeht, vertraut er ihr blind. Er genießt dieses Zeremoniell richtig: die Verbeugungen der Arbeiter, wenn sie nach einem unserer Funde das Wasser abholen, das "Wasser in den Körper, Sucher", das Prestige, das damit kommt, wenn man dieser Kaste angehört, die Ehrfurcht der Dorfbewohner, das Staunen und Raunen der Passanten - und unser Equipment. Wie ein zwei Meter großes Kind schaltet er die Geräte an, prüft den Akku, das Display, verknotet die Seile und Karabiner, faltet unsere Mützen und Handschuhe gegen die Große Kälte. In einem anderen Leben, einem vor dem Omega, muss er ein Bergführer oder Höhlenforscher gewesen sein.

Heute sind wir Wassersucher, denen die Pumpen unter den Händen wegschmelzen.

 


Wenn ich mir eine Sache vom Leben wünsche, dann ist das nicht so sehr eine Sechs im Lotto oder ewigwährendes Glück in der Liebe, sondern ein Soundtrack. Wie oft wird man vor schicksalsentscheidene Fragen gestellt, deren Konsequenzen man erst rückblickend begreift? Manchmal ist einem noch nicht einmal klar, dass man an einem Scheideweg steht. Wäre es da nicht hilfreich, wenn zeitgleich mit einer solchen Frage spannende Musik ertönen würde, vielleicht irgendwas von Hans Zimmer? Oder, epischer, John Williams? Um wie viel mehr würden wir die Gesellschaft anderer schätzen, wenn wir wüssten, dass wir sie heute zum letzten Mal sehen (gilt sowohl für geliebte als auch für ungeliebte Bekanntschaften)? Könnte uns bei solchen Abschiedsszenen ein Streichquartett nicht einen kleinen Hinweis auf das bevorstehende einschneidende Erlebnis aufmerksam machen? Ohne eine solche musikalische Untermalung wirkt jede noch so dramatische Szene so banal. Jede Hiobsbotschaft bei einer vermeintlichen Routineuntersuchung gerät zur Farce. "Unheilbarer Krebs? Ich bitte Sie, Herr Doktor - so unspektakulär diese Situation gerade ist, hier bei Ihnen in Ihrem dröge eingerichteten, sterilen Behandlungsraum und dem Senffleck auf ihrem Ärmel, kann das überhaupt kein Krebs sein. Da müsste schon was von Jeff Buckley spielen, Hallelujah zum Beispiel. Wir sehen uns nächstes Jahr."

Aber das Leben gibt keine Hinweise, es passiert. Ohne Rücksicht darauf, ob wir vorbereitet waren, ob uns das, was es uns auferlegt, gerade in den Kram passt oder ob wir uns auch nur annähernd befähigt sehen, damit umzugehen. Das ist eine der Hinterfotzigkeiten des Lebens.

Und wenn wir schon dabei sind, dann fordere ich die Einführung einer Quicksave-/Quickload-Funktion. Nicht sicher, ob vorm Bohren der Strom abgestellt ist? Quicksave. Nicht sicher, ob wir wirklich zusammenziehen sollen? Quicksave. Nicht sicher, ob das Nichtschwimmerkind schon groß genug für die Beckentiefe ist? Quicksave, Quicksave, Quicksave.

Aber dann denke ich mir wiederum, dass es vielleicht doch ziemlich doof wäre, wenn man schon mit dem unheilvollen Vibrieren eines Chellos aufsteht, das sich zur Untermalung des "Shinings" steigert, bis man dann versehentlich vor einen Bus läuft und sich im letzten Moment denkt: "Ach, deswegen! Upsi."


Wenn ich mir eine Sache vom Leben wünsche, dann ist das nicht so sehr eine Sechs im Lotto oder ewigwährendes Glück in der Liebe, sondern ein Soundtrack. Wie oft wird man vor schicksalsentscheidene Fragen gestellt, deren Konsequenzen man erst rückblickend begreift? Manchmal ist einem noch nicht einmal klar, dass man an einem Scheideweg steht. Wäre es da nicht hilfreich, wenn zeitgleich mit einer solchen Frage spannende Musik ertönen würde, vielleicht irgendwas von Hans Zimmer? Oder, epischer, John Williams? Um wie viel mehr würden wir die Gesellschaft anderer schätzen, wenn wir wüssten, dass wir sie heute zum letzten Mal sehen (gilt sowohl für geliebte als auch für ungeliebte Bekanntschaften)? Könnte uns bei solchen Abschiedsszenen ein Streichquartett nicht einen kleinen Hinweis auf das bevorstehende einschneidende Erlebnis aufmerksam machen? Ohne eine solche musikalische Untermalung wirkt jede noch so dramatische Szene so banal. Jede Hiobsbotschaft bei einer vermeintlichen Routineuntersuchung gerät zur Farce. "Unheilbarer Krebs? Ich bitte Sie, Herr Doktor - so unspektakulär diese Situation gerade ist, hier bei Ihnen in Ihrem dröge eingerichteten, sterilen Behandlungsraum und dem Senffleck auf ihrem Ärmel, kann das überhaupt kein Krebs sein. Da müsste schon was von Jeff Buckley spielen, Hallelujah zum Beispiel. Wir sehen uns nächstes Jahr."

Aber das Leben gibt keine Hinweise, es passiert. Ohne Rücksicht darauf, ob wir vorbereitet waren, ob uns das, was es uns auferlegt, gerade in den Kram passt oder ob wir uns auch nur annähernd befähigt sehen, damit umzugehen. Das ist eine der Hinterfotzigkeiten des Lebens.

Und wenn wir schon dabei sind, dann fordere ich die Einführung einer Quicksave-/Quickload-Funktion. Nicht sicher, ob vorm Bohren der Strom abgestellt ist? Quicksave. Nicht sicher, ob wir wirklich zusammenziehen sollen? Quicksave. Nicht sicher, ob das Nichtschwimmerkind schon groß genug für die Beckentiefe ist? Quicksave, Quicksave, Quicksave.

Aber dann denke ich mir wiederum, dass es vielleicht doch ziemlich doof wäre, wenn man schon mit dem unheilvollen Vibrieren eines Chellos aufsteht, das sich zur Untermalung des "Shinings" steigert, bis man dann versehentlich vor einen Bus läuft und sich im letzten Moment denkt: "Ach, deswegen! Upsi."

 


Trockene Blätter, die im Wind aneinanderschlagen wie das aufgeregte Klatschen kleiner Kinderhände. Schillernde Rosenkäfer, die gegen die Balkonbrüstung donnern und verwirrt zu Boden fallen, wieder zu fliegen versuchen, scheitern. Rund und grün liegen sie da, wie mit Luft und Bewusstsein gefüllte Kieselsteine, verzweifelt kriechen sie umher, starten erneut und gleiten endlich hoch in den weißen Himmel.

Du rührst mit dem Strohhalm in deinem Eiskaffee, den du mit einer stolzen, fast ordinär großen Portion gezuckerter Schlagsahne bedeckt hast, gräbst mit deinem Waffelröllchen eine Schneise in diese Pyramide aus Fett und Milch. Du leckst sie ab, grinst mich an, weil du genau weißt, dass ich alles darangesetzt hatte, ob des riesigen Insekts nicht quiekend aufzuspringen und ins Haus zu rennen.

Wie gut du mich kennst. Wie frei von Häme und Missbilligung dein Blick im Angesicht meiner Schwächen ist, wie filigran die Membran, die uns trennt, wie stabil das, was uns verbindet. Du siehst hoch in den Himmel und seufzt: "Er sollte blau sein." "Er ist blau. Dahinter." Du hebst eine Braue, skeptisch, herausfordernd. "Hinter dem Dunst. So wie die Sonne immer noch da ist, wenn es regnet", erkläre ich. Du beugst dich an mein Ohr und säuselt: "Wie philosophisch du heute bist." Ich, meines Zeichens der unromantischste Mensch der Welt, flüstere im selben Tonfall: "Nichts da. Das ist Physik." Du stellst den Eiskaffee auf den kleinen runden Beistelltisch, dann folgt dein Zeigefinger betörend langsam einem Schweißtropfen, der meinen Hals entlang in die Mulde zwischen meinen Schlüsselbeinen rinnt, und ruht sich dort genüsslich aus.

Die Seiten des Thrillers in meinen Händen werden so uninteressant wie der Baum, der sie einst waren. Sie klappen zusammen und sinken auf den Sitzpolster neben mich. Die Haare auf meinen Unterarmen, ausgeblichen von der Sommersonne, stellen sich auf. Deine Hand rutscht tiefer, spielt mit den Bändern meines neongrünen Bikinis wie der Wind mit den Blättern der Bäume, reist weiter wie ein Vagabund, dem langweilig geworden war. Meine Atemzüge werden tiefer. Du siehst es mit Genugtuung, schmunzelst. "Und das ist auch Physik?", flüsterst du.

Ich schüttle vage den Kopf, rolle um ein Haar mit den Augen. Unsinn. Nicht alles ist Physik. "Das ist Chemie ... im engeren Sinn. Biologie im weiteren." Sonores Gelächter, das sich anfühlt, wie Dulce de leche schmeckt und in meinen Ohren kitzelt. "Du bist schon wieder da oben drin", sagst du und tippst auf meine Stirn. Dein Blick taucht bis auf den Boden meiner Seele, liest mich. Ich schlucke. "Ja? Dann tu was dagegen", höre ich mich sagen. Meine Wangen werden heiß.

Deine kalten Lippen schmecken süß, dein Atem riecht nach Kaffee, deine Haut nach Sonnencreme und Salz. Für die Schlagsahne auf deinem Eiskaffee werden wir anderweitige Verwendung finden - aber das Vanilleeis ist zum Schmelzen verdammt.

Wen kümmert da noch das Weiß des Himmels?

 


Du bist längst wach. Natürlich, wo doch Nachmittag ist. Geräuschlos hast du das Bett verlassen, die Rollo hochgezogen und die Lamellen der Jalousie so eingestellt, dass das Licht in waagrechten Streifen in den Raum fällt. Jetzt sitzt du auf dem Stuhl in der Ecke des Schlafzimmers, an dessen Rückenlehne sich ein Bein meiner Jogginghose klammert. Bald wird es das Schicksal des andern teilen und als graues Knäuel auf den Haufen Schmutzwäsche fallen. Dort wird es lange liegenbleiben.

Ich starre hoch zur Zimmerdecke. Du bist da, aber du machst mir keinen Vorwurf. Du weißt, wie lange ich mich erneut im Bett gewälzt, welche Schlachten ich gestern Nacht geschlagen, welche Gedanken ich gestemmt habe. "Wollen wir das gemeinsam machen?", fragst du, legst den Knöchel des einen Beines auf das Knie des anderen und verwebst die Finger ineinander. Deine Stimme ist so sanft wie das diffuse Licht, das in den weißen Gardinen hängen bleibt.

Ich verziehe das Gesicht: "Nein, Sigmund." Ich weiß blind, dass sich deine Stirn bei meiner Antwort gekräuselt hat und dass sich zwei senkrechte Falten zwischen deinen Brauen gebildet haben. Ich sehe auch so den winzigen Sturm, der in deinen manchmal so widerlich sachlichen blauen Augen aufgezogen ist. Aber du schweigst, und als dich ansehe, ist deine Miene reglos. In diesem Raum bewegt sich nichts. Es macht dir zu schaffen, sonst würdest du nicht in aller Sorgfalt dein pastellrosa Leinenhemd hochkrempeln und in einem French Tuck in deine Blue Jeans stopfen.

"Sigmund?", fragst du irritiert. "Freud", murmle ich. Du lachst nervös, streichst mit beiden Händen über dein blondes Haar, das viel zu kurz ist, um in irgendeine Richtung gestrichen werden zu müssen. Deine Fürsorge ist unverdient und unerschütterlich: "Soll ich dir etwas zu essen holen?" Ich ziehe die Decke über meinen Kopf und schüttle mich. "Wann ist endlich Abend?"

Du stehst auf. Deine Hand schiebt sich unter meinen weichen Schutzschild aus Stoff und streichelt über meine Schulter. "Versuch mal, dich aufzusetzen." Ich tauche aus dem wattigen Meer meiner Bettwäsche auf und blinzle dich aus trockenen Augen an. Warum sollte ich? Warum, wo ein neuer Tag voller Anforderungen, Entscheidungen und Hürden vor mir liegt, die ich nicht bewältigen kann? Warum, wo ich doch noch darüber nachdenken muss, dass ich als Siebenjährige meine Klassenlehrerin nicht gegrüßt, und ob ich den Gesichtsausdruck meines Jugendschwarms in der neunten Klasse richtig interpretiert, oder nicht vielleicht doch zu laut oder zu lang gelacht habe. Warumwarumwarum? Wie sollte mir ein Quäntchen Kraft bleiben, wo ich doch so fundamentale Gedankenketten zu überprüfen habe?

Dein Gesicht taucht vor mir auf. "Aufsetzen, na komm", flüsterst du in aller Unumstößlichkeit. "Eins, zwei, drei." Dann lehne ich am Kopfteil meines Bettes. Ein Streifen Sonne liegt über deinen grauen Augen. Du lachst mich an, als hätte ich den Mount Everest bestiegen.

Und das habe ich. Wie jeden Morgen.

 

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben Nordlichter sah, war ich gerade sechs Jahre alt geworden. Mein Freund - fast vier Jahrzehnte älter als ich und seit meiner Geburt Teil meines Lebens - nahm mich mit in den Garten, hob mich auf einen der Heuballen neben dem Kuhstall und breitete eine Decke über uns aus. Wie gebannt starrten wir hoch in den Himmel, wo sich ein breites Band aus grün und gelb in sanften Wellen über das Firmament schlängelte. Ich war ein Winterkind, und jene Nacht so kalt wie die dunkle Seite des Mondes.

Während er mir erzählte, dass die Nordlichter Spiegelungen auf den Schildern der Walküren seien, die den gefallenen Kriegern den Weg nach Walhall wiesen, drückte ich mich an ihn und lauschte gebannt seinen Worten. Er, der immer nach Seife, nach warmer Erde und nach würzigem Heu duftete, und der sich sonst nie aus der Ruhe bringen ließ, verlor an diesem Tag jedes Mal den Faden, wenn er auf die Silhouette blickte, die in einem der schwach erleuchteten Fenster des Hauses stand. Wir blieben lange über meine Schlafenszeit im Garten. Selbst als die Nordlichter erloschen waren und obwohl mir entsetzlich fror, saß ich noch regungslos neben ihm und tat nichts, als seinen Atemzügen zu lauschen. Ich wusste, dass dieser Moment ein besonderer war und wie sehr wir die Gewissheit genossen, unserer beider ruhiger Atem hören zu können. Solange wir das taten, war die Welt in Ordnung und wir frei von der Gestalt im Fenster, die auch meinen Geist mit Abscheu füllte.

"Lass uns von hier fortgehen", flüsterte ich mit klappernden Zähnen.
Er stellte den Kragen seiner Jacke auf, die er um mich gelegt hatte und zog mich zu sich, um mich aufzuwärmen.
"Wohin sollten wir gehen?"
"Irgendwohin."
"Das geht nicht. Das weißt du."

Ach, ich wusste gar nichts! Ich verstand nicht, warum es nicht möglich sein sollte, unser Zuhause zu verlassen, das wir beide so fürchteten, wenn es da oben im Himmel sogar Walküren gab, die tapfere Kämpfer dem Paradies zuführten. Und mein bester Freund auf der ganzen Welt war selbstverständlich einer jener Krieger, also warum konnten sie ihm nicht auch den Weg an einen anderen Ort weisen? Ich würde ihm dann einfach folgen, wie ich es mein gesamtes bisheriges Leben lang getan hatte.
Er schüttelte den Kopf. In seinen Zügen lag eine solche Endgültigkeit, dass mir schlagartig eine Tatsache klar wurde: Wir würden niemals woanders sein als hier. Ich würde mein Leben lang in dem Zimmer mit der Blümchentapete und den weißen Gardinen mit den roten Seitenteilen aufwachen und er in einem mit gekalkter Wand, brüchigem Putz und einem nackten, zugigen Fenster.
Aber wenigstens würden wir für immer zusammen sein.
"Du würdest das doch machen, oder?", flüsterte ich. "Wenn du könntest. Du würdest doch einen Weg finden? Für mich?"
Er sah mich an, als hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt. Nicht wütend, wie ich es vielleicht gewesen wäre, hätte ich plötzlich den Speichel eines anderen Menschen an der Wange. Wut war ein Emotion, von der ich lange dachte, dass er dazu schlicht nicht fähig war, bis ich Jahre später auf schauerliche Art eines besseren belehrt wurde. Was ich jetzt in seinem Gesicht sah, war viel schlimmer als Wut.
Ich hörte ihn kaum, als er erwiderte: "Wie kannst du daran zweifeln?" Er stand mit einem müden Seufzen auf, faltete die Decke zusammen und reichte mir das Bündel. "Hat er dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?", er nickte zum Haus hinüber.
Ich folgte seiner Geste mit meinen Blicken und musterte das einzelne hell erleuchtete Fenster. Zögerte. Dann zuckte ich mit den Schultern. "Nein. Ich dachte nur ..."
"Dann ist ja gut."

Er lehnte sich auf seinen Stock und wippte auf dem linken Bein vor und zurück, wie er es immer tat, wenn er lange gesessen war. Dann griff er nach meiner Hand und wir beide machten uns behäbig auf den Weg.
Es hatte keinen Zweck, ihn zu bitten, noch länger hier draußen zu bleiben. Wir beide wussten, wie spät es war. Wir beide kannten die Regeln, nach denen wir lebten. Die Uhrzeiten. Die Etikette. Weder er noch ich wollten riskieren, dass sich die Silhouette hinter dem Fenster bemüßigt fühlte, sich nach draußen zu bewegen, weil wir fünf Minuten zu spät kamen. Solange diese Gestalt aussah wie ein Scherenschritt, war sie kaum real. Mehr wie ein Fabelwesen, über dessen Existenz man mutmaßte und weniger wie ein echter Mensch. Weniger wie mein Vater.
Mein Blick huschte zum Fenster, in dem allmählich der Schirm der Öllampe zu erkennen war, die auf dem Fensterbrett stand.
"Sei mir nicht böse", flüsterte ich, während ich darauf achtete, meine Schritte groß genug zu machen, um im selben Rhythmus zu gehen wie er.
"Mach dir deswegen keine Gedanken, mein Junge." Er drückte meine Hand.
Als sich die Gestalt im Fenster erhob, blieb er abrupt stehen. Er, der nicht ein einziges Mal von der Kälte gezittert hatte, erbebte. Wartete auf weiß Gott was.
Ich klammerte mich an seinen Unterarm. "Lass uns ausnahmsweise gemeinsam gehen." Ich sagte es, obwohl wir abends nie gemeinsam die Küche betraten. Immer bestand er darauf, der erste zu sein. In den allermeisten Fällen sah ich ihn wenig später beim Abendessen an seinem Stammplatz an unserem schäbigen Holztisch wieder, direkt neben der Haushälterin, die Schalen mit Pastinakenpürree für uns drei befüllte, während Vater ein paar Meter den Gang hinunter mit Hirschragout, Rotwein und Trüffeln tafelte. Aber manchmal - und das war es, wovor ich mehr Angst hatte als vor Alpträumen, Monstern und Schlangen zusammen - manchmal verschwand er. Für Tage oder Wochen. Und wenn er dann zurückkehrte von diesem Ort, von dem ich weder wusste, wo er sich befand, noch es so wirklich wissen wollte, war ihm immer ein Stück von sich selbst abhanden gekommen. Das sah und hörte ich ihm an, denn dann hielt mich sein Blick kaum fest, er sprach nicht und er starrte Stunden am Stück auf eine Zeitung aus dem Vormonat, ohne sie zu lesen.

Aber wenn er sich dann erfangen hatte, tat er stets so, als wären diese Dinge niemals und als könnten sie auch nicht geschehen. Er war so überzeugend darin geworden, dass ich das, was ich Zuhause sah und hörte, oft genug für schreckliche Blüten meiner Fantasie hielt. Für Hirngespinste eines kleinen Jungens, der mit einer abstrusen Geschichte von einer Fehde zwischen seinem  Vater und dessen Hausdiener Abenteuer in sein langweiliges Leben brachte. Vater war doch ein wohlhabender, ein rechtschaffener, eloquenter und vor allem pflichtbewusster Mann mit unzähligen Verantwortungen, der die Angestellten seiner Firma und sein Personal ordentlich entlohnte und behandelte. Vater war ein guter Mensch. Ich als sein Sohn war es doch auch. Warum also stellte er jemanden als Diener an, der ihm so gar nicht grün war? Mehr noch - für den er, so flüsterte es eine heisere Stimme in der Tiefe meines Kopfes, nichts weniger als blanken Hass empfand?

Mein Freund schmetterte meine Bedenken auch heute ab, indem er das Kinn reckte: "Was wäre der tapferste Krieger ohne seinen Gegner?"
Ich hörte das unbesiegbare Lächeln in seiner dunklen Stimme und stellte mir die Fältchen in seinen Augenwinkeln vor, die die Nacht längst verschluckt hatte. Die warmen braunen Augen. Den dichten schwarzen Bart, hinter dem er etwas versteckte, von dem ich erst Jahre später erfahren sollte, was es war.
Dann schritt er erhobenen Hauptes über die Schwelle.

Er - mein Freund, mein Beschützer, mein Vertrauter - hat mir mein Leben lang mehr Lügen und Märchen aufgetischt, als ich zählen kann. Dass er ein Held war, der unablässig gegen einen übermächtigen Feind kämpfte, war keines davon.

 

Manchmal, wenn ich kreative Lösungen zu komplexen Problemen finde, fühle ich mich wie ein intelligenter Mensch, der seinen Affenzustand Lichtjahre hinter sich gelassen hat. Und dann, als ob das Karma meiner Hybris regelmäßig einen Dämpfer aufsetzen wollte, mache ich wiederum unglaublich dumme Sachen. Zum Beispiel, um drei Uhr Morgens in den Sturm zu rennen. Fluchend. Ratlos. Ach und - nackt.

Die Misere begann damit, dass ich den Sonnenschirm nicht wie jeden Abend in seine Husse gepackt hatte, die genau das oben geschilderte Problem verhindert - erster Fehler. Oh und wie sollte ich meine Faulheit noch büßen! Darüber hinaus war ich in dieser brütend heißen Tropennacht nackt schlafen gegangen - zweiter Fehler. In aller Herrgottsfrühe wurde ich von tosendem Wind und metallischem Krachen geweckt, sprang auf, rannte auf den Balkon. Mein abends noch so adrett zusammengefalteter Schirm blähte sich auf wie eine drei Meter große weiße Qualle, deren daumendicke Streben mit jeder Böe lauter krachten. Meine Mission: Die Qualle in die Husse packen. Nur wollten das weder Qualle noch Husse, denn an beiden riss der Wind. Zumindest gelang es mir nach vielen unbeholfenen Hopsern, die Qualle an den Streben zusammenzuziehen und festzuhalten. Blöderweise blieb mir dann aber keine Hand mehr frei, um die Husse ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung zuzuführen - ich konnte sie noch nicht einmal in der Theorie über die zwei Meter fünfzig hohe Schirmspitze heben, weil der dafür notwendige Stab gerade so außerhalb meiner Reichweite lag - dritter Fehler. Also rollte ich - in inniger Umarmung mit der Qualle - den Stab mit dem großen Zeh zu mir, bis ich seiner habhaft wurde. Siegessicher fädelte ich die Husse darauf und hob das Konstrukt hoch - vierter Fehler. Im Sturm hebt man nichts hoch, man duckt sich, macht sich klein, man faltet. Das beschloss auch die Husse, denn die landete als hämisches Knäuel in den Tomatenpflanzen.

So stand ich also da und tat das, was um drei Uhr nachts nicht so einfach ist: Ich dachte nach. Dabei blickte ich auf die zehn Meter hohe Esche, deren Äste knapp zwei Meter von der Qualle und mir entfernt waren, und deren Blätter gegen den fahlen Nachthimmel zu merkwürdigen runden Flecken zusammenschmolzen, weil sie der Sturm erst in die eine, dann in die andere Richtung trieb.

Ich sah mich schon als Schlagzeile verewigt: "Nackte Frau von Baum erschlagen." (Wobei ich das eher unwahrscheinlich fand, weil ich ein Abkommen mit diesem Baum geschlossen hatte: Wenn er mir im Sturm keinen Ast auf den Schädel schmeißt, erzähle ich jeder Menschenseele, wie wunderbar er ist.) Oder: "Losgerissener Schirm zertrümmert Fensterfront". Oder - mein Favorit: "Nackte Frau gleitet an Sonnenschirm aus drittem Stock und entrinnt sicherem Tod".

Als mein Gehirn wieder online war, fädelte ich die Längsstreben des Schirms an den Enden aus dem Stoff. Die Existenz der Qualle fand so ihr jähes Ende, denn nur noch an der Spitze des Schirms festgemacht, riss der Wind das Tuch vertikal in die Höhe wie den Rauch einer erloschenen Kerze. Irgendwo beeindruckend, aber an mir flogen zu dem Zeitpunkt so viele lose Blätter und Zweige vorbei, dass mir kaum Zeit blieb, das Spektakel zu bewundern. Dann löste ich den Bajonettverschluss des besänftigten Schirms, hob den oberen Teil aus der Stange, und legte das Biest auf den Boden, wo ich es endgültig niederrang, indem ich den halblosen Stoff um sein Skelett schlang. Beinahe armselig lag es da vor meinen Füßen. Aus dem Wasser gezogen, war von der einst majestätischen Qualle nichts übrig geblieben - sie hatte all ihre Anmut eingebüßt.

Gerade in dem Moment, als es zu regnen begann (ich will mir gar nicht vorstellen, wie sich diese Szene im strömenden Regen abgespielt hätte), barg ich die Husse aus dem Gemüse und stopfte die tote Qualle mit der Wut einer aus dem Schlaf gerissenen nackten Frau hinein. Zwei Herzschläge später hatte ich die Balkontür hinter mir verrammelt und sah zu, wie draußen die Welt unterging.

Dicht an die Balkonbrüstung geschoben habe ich sie, und zu einer weniger gottlosen Uhrzeit besucht. Sie sieht ein bisschen so aus, als hätte sie das Meer angeschwemmt. Heute wird sie wieder montiert, als ob nichts geschehen wäre. Aber sie wird mir auf ewig zublinzeln, als ob sie sagen wollte: "Was für Abenteuer. Was für eine Nacht."

 

Wo warst du, als der Regen versiegte und die Bäche zu Rinnsalen verkümmerten? Wo warst du, als die Tage zu endlosen Quälereien entarteten, die sich "Leben" schimpften? Wo warst du, als es um mich so dunkel wurde wie eine vernebelte Neumondnacht und mich meine Worte verließen?

Ich hätte dich gebraucht. Du hättest mir Schönheit zeigen müssen, wo ich sie nicht mehr sehen konnte. Mir Kraft geben müssen für jedes neue Morgengrauen. Mein Leuchtfeuer in der Finsternis sein müssen. Hast du unseren Pakt vergessen - dass deine Wärme immer bei mir sein würde? Dass ich deine Worte, deine Gedanken, immer hören würde? Wie konntest du mich so betrügen?

Wo warst du? Warum hast du mich erst so tief fallen lassen, bevor du dich meiner erbarmt hast und zu mir zurückgekehrt bist? Sieh dir unsere Welt doch an! Sieh hin, was in deiner Abwesenheit daraus geworden ist. Wie brach sie liegt, wie verdorrt und trostlos sie ohne deinen Zuspruch geworden ist, wie viel Unkraut in jeder Ecke wuchert. Waren wir nicht ein gutes Team? So viel Wundervolles haben wir geschaffen. Sag mir nicht, dass du nicht auch in Staunen zurückblickst auf den Weg, der hinter uns liegt. Dass du nicht auch stolz darauf bist, welche Gipfel wir gemeinsam bezwungen, welchen Widrigkeiten wir getrotzt haben. Versuch nicht, mich anzulügen. Untersteh dich, mich für so dumm zu halten, dass ich Wahrheit von Ausflucht nicht unterscheiden könnte.

Von Anbeginn meiner Existenz an hast du mich beschworen: "Wir müssen Hand in Hand gehen. Immer." Also hör auf, große Reden zu schwingen - deine Worthülsen beschämen dich. Meine Hand ist offen. Ich greife nach dir wie ein Ertrinkender nach einem Stück Treibholz. Lass mich nicht länger im Dunkeln stochern. Du musst nichts weiter tun, als deinen Teil zu erfüllen. Jede wache Stunde musst du mich begleiten. Es ist deine einzige Pflicht, weil mein Leben ohne dich nicht funktioniert. Du weißt, wie abhängig ich von dir bin. Wir beide haben keinen Glauben. Wir haben nur einander. Du musst die Leere füllen.

Du musst.

Du, meine innere Stimme.

 


Erinnerst du dich an das verlassene Vögelchen, das wir im Nest in unserem Fliederbusch gefunden haben, als du sieben Jahre alt warst? Flauschig war es, dieses kleine Wesen mit dem deformierten Flügel, und zerrupft vom Wind. Du hast es in eine dunkelgrüne Schuhschachtel gelegt, die du mit Küchtentüchern ausgeschlagen hattest, und mit der Hartnäckigkeit eines jungen Lebens darauf bestanden, dass wir es aufpäppeln.

Einen Monat später war es zu einem flugunfähigen Spatz herangewachsen, den du als Beifahrer auf deine Schulter gesetzt hast, sobald du von der Schule nach Hause kamst. Er hat dich bei deinen Hausaufgaben ebenso begleitet wie bei deinen Gokart-Fahrten durch den Garten und ist selbst beim Zähneputzen nicht von deiner Seite gewichen.

Wochen darauf standen wir im Garten - das Vögelchen hatte über Nacht zu atmen aufgehört. "Es ist der Lauf der Welt. Was in unser Leben tritt, verabschiedet sich irgendwann wieder. Manche Freunde begleiten uns lange, andere kurz", sagte ich zu dir. Die Schuhschachtel, in der du es damals geborgen hattest, lag zwischen unseren bloßen Füßen. Du hast sie mit türkisfarbenem Seidenpapier ausgelegt, deiner Lieblingsfarbe, und eine Pokémon-Karte eines blauen Vogels, der sehr stark und tapfer aussah, beigefügt. Zapa-irgendwas hieß er. Du sagtest, dein kleiner Spatz würde durch den mächtigen Fantasie-Vogel seinen Weg in den Himmel finden.

Der kalte Knauf des Spatens lag in meiner Linken, deine warmen Finger in meiner Rechten. Ein bebendes Häufchen Elend warst du, meine Tochter. Wir standen gut zwei Stunden im Garten vor dem Fliederbusch, dessen Blüten zu kleinen ockerfarbenen Gebilden zusammengeschrumpelt waren, bis du den Anblick und das Geräusch der Erde ertragen konntest, die auf die Schuhschachtel zwischen den Wurzeln des Strauches fiel. Du wolltest deinen Freund nicht allein lassen, bis er begraben war.

"Papa", sagtest du, deine Stimme klein und zerbrechlich, "Papa, Begräbnisse sind echt schrecklich. Versprich mir, dass ich nie wieder auf eines gehen muss." Ich strich dir eine lose Strähne hinter das Ohr, die wie ein verirrter Sonnenstrahl aussah, küsste dich auf die Stirn und drückte dich in dem inbrünstigen Wunsch an mich, die Zeit möge stehenbleiben.

Ein Leben ist das nun her. Mein Leben. Meine Sonne hat ihren Zenit längst überschritten. Zu einer glutroten Scheibe aufgebläht, versinkt sie unter dem Horizont, auf dass sie die Fluten löschen mögen. Seit wir den Spatz begraben haben, fürchte ich den Tag, an dem ich dir Lebwohl sagen muss. Mein Liebes, lass mich dich mit diesen Zeilen trösten:

Wenn du mich vermisst, wirf einen Blick in den Spiegel, und du wirst einen Funken von mir in deinen Augen sehen. Mit jedem deiner Worte wirst du ein Flüstern meiner Stimme hören und wenn du es willst, werde ich von Zeit zu Zeit Gast in deinen Gedanken sein. Mach dir keine Sorgen: Dein starker blauer Vogel ist bei mir.

Ich werde nie ganz weg sein.

 

 

Der Sturm war wie ein Sinnbild der Abrissbirne, die mein Leben überrollte. Es Stück für Stück kleinschlug und abtrug, bis es in Trümmern vor mir lag. Alle Bausteine davon durcheinanderwirbelte, sodass ich sie von einer neuen Seite sah. Wer etwas neu aufbauen will, muss sich alle Teile ansehen, um sie wieder zusammensetzen zu können. Genau ansehen. Jedes einzelne prüfen. Um sicherzugehen, dass das Gebilde im Endeffekt auch wirklich seinen Zweck erfüllt und nicht nur lose zusammenhängt. Sonst würde es schon beim nächsten Windstoß wieder auseinanderfallen.

Manche Dinge geschehen merkwürdig gleichzeitig, gespenstisch zufällig. Als ob das Schicksal, wenn es denn überhaupt existiert, ein überdimensionales Schild aus Pappkarton mit seinen Unkenrufen, seinen Botschaften, seinen Warnungen mit Nachrichten aus Symbolen besprüht hätte. Ein wenig so, als würde etwas wollen, dass man im Buch seines Lebens endlich umblättert. Oder vielleicht nicht nur umblättert – vielleicht ist nicht nur das Ende einer Seite erreicht, vielleicht ist das Buch ganz einfach zu Ende. Ausgelesen, reflektiert, besprochen. Der Blick klammert sich an das letzte Satzzeichen. Seit Wochen oder Monaten. Hängt der Geschichte nach, will sich nicht verabschieden. Aber es gibt nichts mehr zu sagen. Alles ist gesagt, alles ist getan. Keine Entwicklungen mehr, kein Raum mehr für das Selbst.

Und dennoch hält man daran fest, will das Buch nicht zuklappen, krallt sich an das Papier, damit es nicht versehentlich zufällt. Weil man nicht weiß, wie es weitergeht, Angst vor dem Umblättern hat – vielleicht mag man die zukünftigen Protagonisten, das Setting, die Handlung nicht. Vielleicht war die alte Geschichte besser. Manchmal ist eine Brise nicht stark genug, um die Augen zu öffnen. Manchmal braucht es eine Windböe, die das Papier aus der Hand und das Brett vorm Kopf wegreißt.

Manchmal braucht es einen Sturm.

 

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Kapitel: 20
Sätze: 842
Wörter: 11.777
Zeichen: 68.542

Kurzbeschreibung

Warum ist der Himmel manchmal blau und manchmal weiß, und warum ist genau das in den entscheidenden Momenten völlig egal? Wie ist das, wenn man mitten in einer tropisch heißen Sommernacht mit einem Sonnenschirm gegen den Wind kämpft? Was geschieht, wenn man sein Herz so sehr an jemanden hängt, dass man glaubt, ohne ihn nie wieder leben zu können - und was, wenn es dabei um ein Tier geht? Woher wissen wir, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um unser Leben von Grund auf zu verändern? Und wie fühlt sich der eigentlich so an, der behaarte Kuss der Muse? Ein Potpourri von 20 Kurzgeschichten - humorig bis düster, erotisch bis zynisch, tiefgründig bis leichtfüßig, sinnsuchend und sinnverfluchend - in dem für jede:n etwas dabei ist.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Familie auch in den Genres Entwicklung, Erotik, Freundschaft, Humor und gelistet.