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Warnemünde auch anders

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29.08.22 17:02
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Ich sitze gemütlich in meinem Zimmer an diesem Abend und lese. Das Buch ist fast zu Ende und es ist ziemlich spannend. Die beiden Hauptfiguren gehen gerade den Strand entlang in Warnemünde. Christian will Sabine endlich sagen, dass er sein ganzes Leben nur sie liebte und sie immer noch liebt.

Ich muss denken, wie toll dieser Roman ist. Es fing an mit Sabine, die in Berlin aufwuchs und zum Studium unbedingt weg wollte von ihren Eltern wegen den vielen Familienprobleme. Das konnte ich absolut nachvollziehen, aber ob ich das auch jemals darf bezweifle ich.

Sabine studierte dann in München und traf den charmanten und lustigen Christian im Urlaub in Moskau. Sie hatten eine turbulente Beziehung, denn obwohl sie sich sehr liebten, konnte sein freier Geist einer stabilen Beziehung irgendwann nicht mehr nachgeben. Er verließ Deutschland und verließ sie.

Dann kam das schöne und interessante Kapitel, als Sabine nach Paris zog. Über Paris liest bestimmt jeder gern!

Hmm, warum ist es plötzlich so laut draußen?

Ich stehe auf und mache das Fenster zu.

So, wo war ich? Ah ja, Sabine zog dann irgendwann von Paris zurück nach Berlin und ich erinnere mich am meisten an ihren traurigen Tag im Tempelhofer Feld. Obwohl es ein sonniger Tag war und viele Leute fröhlich im Park rumhingen, fühlte sie sich elend alleine und mit ihren Gedanken überfordert. Es half ein bisschen, den Leuten beim Windskaten zuzuschauen und ganz besonders den spielenden Kinder einer ausländischen Familie, die im Park Picknick machten.

Und dann nach acht Jahren treffen sich Sabine und Christian endlich wieder! Vereint in Warnemünde!

Jetzt ist es wieder laut draußen! Obwohl ich das Fenster gerade zugemacht habe. Was ist denn da los auf der Straße?

Ich lege das Buch zur Seite, bedecke locker mein Haar mit einem Tuch und schaue aus dem Fenster. Die Typen meiner Nachbarschaft haben wieder mal einen Straßenkampf, wie schon so oft in den letzten zwei Wochen. Ich schaue auf die Fenster der Wohngebäude nebenan und sehe, dass die meisten Nachbarinnen schon an den Fenstern sind und zuschauen. Mein Bruder, wie viele Männer meiner Nachbarschaft, ist schon unten auf der Straße und schaut sich das Geschehen aus sicherer Nähe an. Ich und die Frauen der Nachbarschaft machen uns keine Sorgen um unsere Männer unten auf der Straße, denn die werden schon ausreichend Distanz halten vor den fliegenden Latschen, Steinen, Plastikstühlen oder vielleicht sogar Messerstichen, wie letzte Woche.

In meiner Stadt in Jordanien schaut man sich Action-Filme halt nicht nur im Fernseher an, sondern auch live auf der Straße.

Während Ahmad, der älteste Sohn von Abu Ahmad, in der Straße oben laut brüllt, muss ich kurz überlegen, warum mich die Geschichte von Sabine und Christian eigentlich so fasziniert? Vielleicht liegt es daran, dass meine Mutter auch Sabine heißt? Zwar heißt mein Vater nicht Christian sondern Tarek, denn er ist Jordanier und meine Mutter ist Deutsche, aber diese schöne Liebesgeschichte von Sabine und Christian wirkt auf mich irgendwie nah. Ich kann mir sogar den Christian gut vorstellen, bei uns im Fernsehen laufen ja lauter westliche Filme und Serien mit einer Figur namens Christian. Bei den Liebesszenen im Buch muss meine Fantasie sich alleine was ausmalen, denn bei uns im Fernsehen werden Liebesszenen rausgeschnitten und so wird nie geküsst im Fernsehen. Die Leute bei uns, die den Job haben, diese Szenen rauszuschneiden, beneiden bestimmt viele.

Der Straßenkampf scheint langsam zu einem Ende zu kommen, als plötzlich Mustafa, der Sohn vom verstorbenen Abu Mustafa einen Messerstich abkriegt. Chaos herrscht, und Umm Mustafa, seine Mutter, heult jetzt laut am Fenster. Der Bruder von Mustafa zusammen mit einem anderen Nachbarn packen Mustafa in ein Auto und rasen schnell ins Krankenhaus. Die Polizei kommt kurz danach an.

Mustafas Mutter heult immer noch laut am Fenster. Kareem, ihr jüngster Sohn ist noch auf der Straße und schreit laut in ihre Richtung: ‚Khalas Yamma, futi juwwa‘, sie solle aufhören und rein gehen. Die Polizei macht nichts und fährt nach einigen Minuten wieder weg. Die Töchter von Umm Mustafa ziehen ihre Mutter vom Fenster rein ins Haus und dann ist es ruhig auf der Straße und der Action-Film von heute geht zu Ende.

Ich bemerke erst jetzt, dass meine Mutter neben mir am Fenster steht, sie hatte geschlafen, das erkenne ich an ihren verwüsteten Haaren, die trotzdem noch wunderschön sind, ich hätte auch gern blonde Haare wie sie.

Unsere Nachbarin Umm George, die Mutter von George, klopft an der Wohnungstür, und meine kleine Schwester macht ihr auf. Dann kommt Umm George zu uns ans Fenster und wir schauen zusammen weiter auf die Straße und quatschen gleichzeitig über die Geschehnisse des Tages und über die neue Frisur und Haar-Farbe von Umm George. Sie hat sich die Haare blond gefärbt, aber mir gefällt die Farbe nicht. Ich schaue kurz nach unten und merke, dass einer meiner Cousins zu uns nach oben schaut, es ist schon Jahre her, dass ich mit ihm zusammen auf der Straße gespielt habe oder überhaupt zu zweit gequatscht haben. Ich glaube, dass er mich mag, denn er guckt mich öfters an, wenn ich am Fenster bin, ich glaube, er freut sich auch, wann immer ich mit meiner Familie bei meinem Onkel, sein Vater, zum Essen eingeladen bin und wir dann ohne Probleme in der Gruppe zusammen reden können. Vielleicht irre ich mich aber und er schaut nicht auf mich, sondern auf Umm George in der Hoffnung, dass ihre älteste Tochter Layla da ist und gleich auch ans Fenster kommt. Ach, Unsinn, das wäre doch Zeitverschwendung, denn Umm George und ihre Familie sind doch Christen und er ist Muslim, er dürfte ja Layla sowieso nicht heiraten.

Wir ziehen uns zurück ins Wohnzimmer. Ich leiste meiner Mutter und Umm George Gesellschaft, weil es sich so gehört, obwohl ich lieber meinen Roman im Zimmer weiterlesen würde. Wir trinken schwarzen Tee und ich bin neugierig, was bei Sabine und Christian in Warnemünde wohl passieren wird.

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Jordeu Am 31.01.2020 um 9:00 Uhr
Großartig kombiniert, die beiden Kulturkreise!

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