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Wem wird geholfen?

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06.06.18 22:23
18 Ab 18 Jahren
In Arbeit

Depressionen. Suizid. Tod.

Ein schwieriges Thema.

Diese Geschichte dreht sich um P.

 

Er hockt zwischen den Zweigen eines dünn bewachsenen Strauches und verharrt in dieser Position inzwischen schon seit geschlagenen 15 Minuten. In der Ferne, auf der anderen Seite der Schienen, vernahm er Stimmen. Ein paar Jugendlichen. Sie scheinen angentrunken zu sein und albern zusammen rum. Sie lachen augenscheinlich über jede Kleinigkeit. Ihr Verhalten und ihre Art erinnert P. unterschwellig an die schöne Zeit vor ein paar Jahren, als er noch genau so war. Mehr oder weniger sorgenfrei, unbekümmert und voller Hoffnung für die Zukunft. Er sieht ein wenig sein jüngeres Ich in den Jungs. Das Lächeln, das sich langsam auf seinen Lippen abzeichnete, weicht schnell wieder einer leeren Miene

Gefühlt ewig her. An sich herunter sehend...erkennt P. sich nicht mehr wieder. Äußerlich noch immer der gut gekleidete Typ - wenn man das so sagen kann. Psychisch und innerlich jedoch ein Wrack. Gefühllos, antriebslos und leer. Ohne Emotionen. Ohne Kraft. Das war nicht mehr er. P. wollte nicht mehr. Seinen Abschiedsbrief hat er auf sein, ausnahmsweise gemachtes, Bett gelegt. Niemand sollte leiden, redete er sich ein. Erklärt hat er in dem Brief nichts. Ihm fehlen die Worte. Ihm fehlen die Erklärungen für all das. Aber wohl fühlen tut er sich nicht. Seine Haut fühlt sich nicht länger wie die eigene an. Seine Gedanken sind ihm fremd. Aber er hatte schon zu vielen Leuten egoistisch und grundlos weh getan. Sei es mit Fäusten oder Worten. Die Grenzen verschwimmen in der Ferne. Es wird das Beste für alle sein.

 

P. wurde durch ein grelles Leuchten aus seinen Gedanken gerissen. Der Zug. Er kroch aus seinem Versteck hervor und kletterte die Steine hoch zu den Schienen. Sie fühlten sich überhaupt nicht so kalt, wie erwartet an. Der Zug kam näher. Ein letztes Mal sich die warme Sommerluft um die Nase wehen lassen. P. richtet sich auf, streckt die Arme aus und verabschiedet sich innerlich mit den letzten Worten, die ihm bleiben. Der Lichtkegel der Scheinwerfer erfasst ihn.

Es ist dunkel. Es ist still.

 

Zwei Wochen später, es war der 15. Juli, auf einem Friedhof, außerhalb der Stadt, wurde P. beigesetzt. Es waren an die 100 Leute gekommen, um Lebewohl zu sagen. Familie, Freunde, Bekannte und jeder stellte sich die Fragen: Warum hat er sich das Leben genommen und was hätte man tun können, um das zu verhindern?

Seine Mutter ging voran. Sie nahm eine Rose und warf sie in eine tiefe Erdgrube, die das Grab für ihren Sohn darstellen sollte. Aber sie realisierte nicht, dass sie gerade ihren Sohn beerdigten. Sie hatte noch immer nicht realisiert, dass ihr einziger Sohn sich vor zwei Wochen das Leben genommen hatte. Sie schaute noch immer vor dem Schlafen gehen in sein Zimmer rein, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Morgens legte sie ihm für die Uni noch immer ein paar Brote auf den Esstisch, die P.s Vater anfangs immer noch wegräumte, bevor seine Frau nach Hause kam. Sie lebte fortan in ihrer eigenen Welt, wo ihr Sohn noch lebte und alles noch gut war.

Sein Vater war nicht weniger traurig und verzweifelt, aber er versuchte damit zu leben. Er versuchte den Ablauf des Alltags ganz normal weiter zu führen. Aber es ging nicht. P. war nicht mehr da. Tagsüber das Pokerface aufsetzen, den Frust und die Traurigkeit in sich hineinfressend, Abends der Blick in die Flasche. Seine Freunde Jacky, Gordon und Morgan ließen ihn vergessen. Vergessen, dass er noch eine Familie besaß, um die er sich kümmern musste. Aber über den Schmerz des Verlustes reden, nein, das machte er nicht. Das war nicht seine Art. Das sei nur etwas für Schwache. Ihre Ehe zerbrach an P.s Suizid könnte man sagen, sie hatten sich eigentlich noch so viel zu sagen, aber es gab aus der Sicht der beiden nichts mehr auszusprechen. Sie glaubten versagt zu haben. Tatenlos und wortlos ging es zu Ende.

 

P. hatte auch eine Schwester. Sie hatte sich immer viel von ihrem Bruder abgeschaut. Er war ja schließlich ein Vorbild, wie sie immer überall herumerzählte. In der Schule immer einer der Besten und auch auf der Uni schrieb er nur gute Noten. Im Sportverein war er auch nicht schlecht. Sie tat es ihm nach, lernte immer fleißg, um genau so zu sein, wie ihr großer Bruder. Selbst, wenn es ihren Eltern mal schlecht ging, war ihr Bruder für sie da, half ihr mit Schulaufgaben, brachte sie zu Veranstaltungen und holte sie wieder ab. Aber nach seinem Tod war da eine Lücke, die auch sie mit nichts füllen konnte. Sie hatte nun, da P. nicht mehr da war, keinen Antrieb mehr. Die Leere war grässlich. Erdrückend. Ihre Noten wurden langsam aber sicher schlechter, sie geriet an die falschen Leute. Die Lehrer gaben ihr die Schuld. 'Selbstständiges Lernen' wurde in ihrer Schule groß geschrieben. Fehlende Leistung wurde mit Faulheit erklärt. Auch sie lernte den Alkohol kennen und versuchte mit ihm die Lücke zu füllen, die ihr großer Bruder hinterlassen hatte. Die Abende wurden einfacher. Die Morgen dafür umso hässlicher. Ihr erster Freund brachte ihr die Drogen näher. Der Anfang war schön. Schön schlimm. Es war ihr egal. Sie hatte wieder jemanden zum reden und zum hochschauen. Aber da war es bereits zu spät. Nein. Es war bereits vor Ewigkeiten zu spät. Der Tag, an dem ihr großer Bruder sich das Leben nahm.

Familie Otto traf sich seit Jahren mit P.s Eltern regelmäßig zum Bowlen, das war inzwischen eine Art Tradition geworden. Sie tauschten Erfahrungen über die Kinder aus und redeten über 'Erwachsenenzeug', so hatte es P. mal seiner Schwester erklärt. Die Treffen fanden nach P.s Tod erstmal weiter statt. Ein krampfhafter Versuch, eine Tradition aufrecht zu erhalten. Bis das Ehepaar Otto die Reißleine zog. Sie wollten ihren freien Abend nicht damit verbringen, sich das "traurige Gesülze anzuhören, weil sich der Sohn umgebracht hat", so hatte es Herr Otto vor seiner Frau mal formuliert. Sie wollten schon gar nicht mit ihnen darüber reden. Das war bevor P.s Vater mit dem Trinken angefangen hatte. Monate später lief man sich nochmal in der nahegelegenen Stadt über den Weg, doch man tat so, als hätte man sich nie gekannt. Aus Freunden wurden Bekannte und letztendlich Fremde.

Der Zugführer machte sich Vorwürfe. Vorwürfe, die niemand beseitigen konnte. Er hatte einen Jungen überfahren, der fast sein ganzes Leben noch vor sich hatte. Sein Arbeitgeber gab ihm erst einmal Urlaub, da er für fahruntüchtig befunden wurde. Der Arzt, der ihn behandelte, gab ihm Tabletten, damit er wieder schlafen konnte. Sein Psychologe riet ihm nach ein paar Wochen, es wieder mit dem Zug fahren zu probieren, eine Art Probesitzen. Bekämpfe Feuer mit Feuer. Er willigte ein, doch als er wieder auf dem Sitz Platz genommen hatte und aus der Scheibe in die Ferne starrte, sah er ihn wieder. Den Jungen in seinen letzten Augenblicken. Die weit aufgerissenen Augen. Ein Ausdruck von Erlösung. Und ein Ausdruck von Bedauern. Er hörte wieder das dumpfe Geräusch des Aufpralls, das ihm seit dem Unfall nicht mehr aus dem Kopf ging. Als würde der Körper des Jungen immer und immer wieder gegen die Frontscheibe knallen. Er wurde panisch und stürzte Hals über Kopf aus dem Führerhaus raus in die Richtung seines Autos und fuhr mit quietschenden Reifen los. Sein Arbeitgeber entließ ihn, sie hatten keine Verwendung mehr für einen Zugführer, der keinen Zug mehr fahren konnte.

 

 

Ihm fehlten die Worte. Ihm fehlten die Erklärungen für all das. Aber wohl fühlen tat er sich nicht. Seine Haut fühlte sich nicht länger wie die eigene an. Seine Gedanken waren ihm fremd. Die Grenzen verschwammen in der Ferne. Es wird das Beste für alle sein.

Für wen war es das Beste? Die Motive bleiben unergründet. Aber die Folgen sind offensichtlich.

Autorennotiz

Alternatives Ende folgt..

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