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Sätze: | 78 | |
Wörter: | 1.036 | |
Zeichen: | 6.025 |
Der Wecker klingelt, Thorsten öffnet seine Augen. Er schaut auf die Uhr. Es ist sechs Uhr morgens. Ein Wochentag. Thorsten muss zur Arbeit. Wenn er pünktlich um 8:00 Uhr im Büro sein will, müsste er jetzt aufstehen. Thorsten ist müde und hat schlecht geschlafen. Eigentlich schläft er jeden Tag schlecht. Er wacht häufig auf und schläft meistens nicht vor 1:00 Uhr ein. Und dann sind da noch diese Verspannungen. Das wird im Laufe des Tages schon vergehen, denkt er jeden Tag. Doch so richtig vergeht es nie.
Thorsten arbeitet in der Personalabteilung einer großen Firma in der nahegelegenen Großstadt. Er lebt mit seiner Familie in einer Vorstadt, etwa 50 Kilometer entfernt. Dort sind die Mieten noch bezahlbar. Meistens fährt Thorsten mit dem Auto. Das kostet etwa gleich viel Nerven, als mit dem Zug zu fahren, mit dem kleinen Unterschied, dass er mit dem Auto weniger Verspätung hat.
Thorsten steht auf und geht ins Bad. Duschen, Anziehen und Zähneputzen – ein ganz normaler Tag eben. Als er vor dem Spiegel steht, erschreckt er innerlich und denkt, man, siehst du wieder fertig aus. Vielleicht werde ich durch eine Dusche munter, denkt er und bedient den Duschkopf.
Thorsten fühlt Verspannungen und fragt sich, wie es eigentlich sein kann, dass er überhaupt solche Verspannungen hat, schließlich geht er jeden Tag ins Fitnessstudio, um zu trainieren. Thorsten fährt im Fitnessstudio immer etwas Fahrrad oder stemmt leichte Gewichte. Früher war er ein leidenschaftlicher Sportler gewesen. Vor allem Gewichtheben, Laufen und Fahrradfahren haben ihm große Freude bereitet.
Doch jetzt, mit Anfang 40, kann Thorsten nur noch leichte Gewichte stemmen. Das Training bereitet ihm zusehends Schmerzen, vor allem in den Gelenken. Das fängt schon bei den Füßen an. Thorstens Füße sind eine Katastrophe. Seine kleinen Zehen fangen bei jedem Schritt an zu krallen und lassen sich kaum noch geradebiegen. Außerdem hat er Plattfüße. Aber auch seine Knie und Schultern bereiten ihm immer wieder Schmerzen. Das wird am Alter liegen, denkt er sich. Alle Menschen werden doch irgendwann unbeweglich und bekommen Schmerzen, das ist doch normal. Und Thorsten ist eben ein ganz normaler Mann.
Thorsten steigt aus der Dusche. Er sieht immer noch müde aus und fühlt sich auch so. Er zieht seinen Anzug an. In der Arbeit muss er einen Anzug tragen. Er mag keine Anzüge, empfindet sie als einengend und unbequem. Manchmal hat er das Gefühl, gefangen zu sein. Wenn er den Anzug abends auszieht, glaubt er spüren zu können, wie seine Haut zu atmen beginnt und sich sein ganzer Körper ausdehnt.
Besonders schlimm ist es im Sommer. Natürlich gibt es im Büro eine Klimaanlage und das Sakko darf auch mal ausgezogen werden. Bei den großen Fenstern hilft das im Hochsommer aber nicht gerade viel, es sei denn, man sitz direkt vor der Klimaanlage. Die ist jedoch meistens defekt. Seine Füße jucken immer stark, wenn er im Sommer die geschlossenen Anzugschuhe trägt. Nur gut, dass jetzt Herbst ist. Als wären die „normalen“ Fußschmerzen noch nicht genug.
Thorsten geht in die Küche, macht sich noch schnell ein Brot mit Wurst und Käse und verlässt anschließend die Wohnung. Hoffentlich habe ich Margot und die Kinder nicht geweckt, denkt er sich.
Thorsten wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. Es ist inzwischen 6:30 Uhr. Er macht sich auf den Weg zum Bahnhof, zu Fuß. Der Weg von seiner Wohnung zum Bahnhof ist, zumindest unter der Woche, so ziemlich die einzige Strecke, die er zu Fuß und aufrecht zurücklegt und das auch nur, wenn er nicht mit dem Auto fährt. Es sind allerdings nur 10 Minuten bis zum Bahnhof. Überhaupt verbringt er 90 Prozent des Tages sitzend. Da machen auch die Eineinhalbstunden im Fitnessstudio keinen großen Unterschied, vor allem, weil er die meiste Zeit auf dem Ergometer sitzt.
Thorsten steigt in sein Auto und fährt los. Eigentlich hat Thorsten ja, wie die meisten anderen Angestellten in seiner Firma auch, eine 40-Stunden-Woche. Dabei bleibt es bei ihm und seinen Kollegen aber fast nie. Es sind eher 40-50 Stunden, manchmal auch mehr. Thorstens Frau arbeitet auch, sie ist Erzieherin. Sie macht kaum Überstunden. Dennoch haben beide das Gefühl, ihre Kinder kaum noch zu sehen.
Während der Fahrt sieht Thorsten aus dem Fenster und sieht, wie die Häuser an ihm vorbeiziehen. Bald ist von seinem Wohnort nichts mehr zu sehen. Es ist keine schlechte Gegend, in der er mit seiner Frau und den beiden Jungs wohnt. Ihre Wohnung ist gerade ausreichend für vier Personen. Sie liegt im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses. Die Miete ist bezahlbar - noch. Dennoch ist er nicht gerade zufrieden mit seiner Wohnsituation.
Sollte man sich für so viel Arbeit nicht mehr leisten können, fragt sich Thorsten. Warum müssen wir immer mehr arbeiten, trotz Digitalisierung und Produktivitätssteigerung, fragt er sich. Wenn wenigstens die Gehälter in gleicherweise steigen würden, aber auch das ist nicht der Fall.
Thorsten denkt nicht weiter darüber nach. Seine Freunde sagen immer, er denke zu viel. Mach doch einfach - sagen sie. Andere sagen, es komme immer nur auf die eigene Einstellung an. „Denk positiv, dann passiert schon etwas Gutes“. Gar nichts passiert von selbst, murmelt Thorsten. Das Einzige, was Thorsten aufmuntern kann, ist der Gedanke seine Familie.
Thorsten mag seinen Job nicht und seinen Chef noch weniger. Es verdient nicht schlecht, im Vergleich zu vielen anderen sogar relativ gut. Es reicht jedoch nicht aus, um eine Familie allein zu ernähren, jedenfalls nicht, wenn sich ab und zu etwas gönnen will. Und für ein Haus im Grünen reicht es schon gar nicht. Thorsten gehört zu einer langsam aussterbenden Spezies – der sogenannten Mittelschicht.
Thorsten hat schon häufiger darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, ganz neu anzufangen und alles hinter sich zu lassen. Aber wie soll das gehen, mit Frau und zwei Kindern? Seine Familie zu verlassen, wäre für ihn keine Option.
Als Thorsten auf die Autobahn fährt, ist er gedanklich schon bei seiner Arbeit. Es ist eben ein ganz normaler Tag - für einen ganz normalen Menschen.
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BerndMoosecker • Am 13.08.2023 um 0:25 Uhr | |||
Ja, ich bin ein alter Rentner und so hat diese Story vieles aus einem langen Arbeitsleben wieder in mein Gedächtnis zurück geholt. Thorsten ist ein ganz normaler Mann, es gibt Millionen Frauen und Männer, die ihr Leben so fristen. Vielleicht liegt es an der inneren Einstellung zum Leben, ob man so ist, wie Thorsten oder ob man sein Leben als erfüllt ansieht. Auch ich kenne diese Tage, an denen man den Eindruck hat in einer Sackgasse gelandet zus sein. Aber doch wird mein Leben im Rückblick auf Arbeitswelt eher von positiv verlaufenen Tagen geprägt. Für mich ist die Erzählung abgeschlossen und regt zum Nachdenken an. Da bin ich nun anderer Meinung als suedehead und Silly und das zeigt eigentlich nur, dass man das Leben aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann und muss. Liebe Grüße Bernd Mehr anzeigen |
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suedehead • Am 12.08.2023 um 21:06 Uhr | |||
Okay, ja. Du hast nicht Unrecht mit deinem Text. Der zählt schon viel auf, was Leute heutzutage in eine persönliche Krise treibt, wenngleich dahinter natürlich systemische Weichen stehen. Von daher ist der Text eine ungewöhnliche, erfrischende Bereicherung auf einer ansonsten eher phantastisch ausgerichteten Plattform. Aber mir fehlt ein bisschen die Dekonstruktion und ein erweiterter Blick. Du hast vor uns ein Alltagspanorama ausgebreitet und jetzt? Wie geht es weiter? Läuft es so weiter? Gibt es einen Bruch? Wer oder was wird der Auslöser sein? Wohin führt das alles? Wie fühlt es sich an, wenn deinem Prota bewusst wird, dass sein Leben in eine Sackgasse geraten ist/er ein neues Leben beginnen muss/ihm alles unter den Füßen wegbricht...? Oder du gehst in die andere Richtung: Wo kommt der Prota her? Wie konnte es passieren, dass sein Leben so wird? Was hatte er sich als jüngerer Mensch gewünscht, erhofft, befürchtet? Wie ist das alles schief gelaufen? Hat er überhaupt je eine Chance gehabt? Wann ist er glücklich gewesen und wann und warum hat es aufgehört? Ich finde, du solltest die Geschichte weiter schreiben und aus deiner Platzhalter-Normaler-Mann-Figur einen echten Charakter machen. Mehr anzeigen |
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Silly • Am 11.08.2023 um 23:21 Uhr | |||||||
Die Situation von Thorsten hast Du gut beschrieben; so dass man sich da gut hinein versetzen kann (auch, was die Verspannungen und die Fußschmerzen betrifft). Ich bin gespannt, wie es weiter geht...ähm, es geht doch weiter, oder? Wäre echt toll. LG Silly |
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