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La Paloma Sommer Sonne See I

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06.08.22 21:10
In Arbeit

Sturm auf das Winterpalais

Seemanns Braut ist die See, und nur ihr kann ich treu sein,
Wenn der Sturmwind sein Lied singt, dann winkt mir der großen Freiheit Glück.“ *

Heimat“ von Árija Elksne „Nie tauschte ich dich gegen leichtere Tage ein. So wie man die Mutter zum Tausche nicht gäbe drein. So wie man in der Liebe weiß um den sicheren Hort...“ deklamiere ich vor meiner Klasse. Dieses Gedicht einer lettischen Dichterin, das ich aussuchte, als wir im Deutschunterricht ein Gedicht unserer Wahl vortragen sollten, hatte ich in der „Sowjetliteratur“ gefunden, einer Zeitung, die ich mir immer, wenn wir in den Sommerferien ans Meer fuhren, am Zeitungskiosk am Strand gekauft habe.

Das war gleich in meinem ersten Jahr an der Schule, wo ich eine Berufsausbildung mit Abitur machte, und ich wollte bei der Deutschlehrerin Eindruck schinden. Während ich das Gedicht aufsage, habe ich ein schlechtes Gewissen, da es nicht meine wahren Gefühle wiedergab. Mit meiner Heimatliebe war es nicht weit her war. Ich träumte nur davon, mich aus dem Staub zu machen, was ich ja später auch getan habe. Und mit meiner Mutter verstand ich mich auch nicht besonders. Und mit dem sicheren Hort in der Liebe ist es auch so eine Sache. Aber meine Rechnung ging auf, und ich bekam eine Eins dafür, hauptsächlich vielleicht deshalb, weil keiner das Gedicht kannte. Alle hielten mich jetzt wohl für eine Poesieliebhaberin. Aber mit Gedichten hatte ich eigentlich gar nichts am Hut.

Wenn wir in den Sommerferien in die Stadt am Meer fuhren und bei unserer Bekannten in dem Hochhaus wohnten, lag ich immer in der gleißenden Sonne am Strand, langweilte mich gräßlich und blätterte in dieser Zeitschrift mit Gedichten, Bildern und Geschichten. Sie wurde wohl am Kiosk nicht übermäßig nachgefragt, aber es gab dort nicht viel Auswahl. Ich wunderte mich, dass die Russen zu Eis immer Speiseeis sagten, Konfekt kiloweise kauften und Töpfe als Kasserollen bezeichneten. Das verwechselte ich immer mit Kasematten, was Knast bedeutet. Außerdem fachten sie ständig den Samowar an und tranken Tee durch einen Zuckerwürfel. Und was ist eigentlich Zichorie?

Die Maler und auch die Dichter waren von der Moderne völlig unangekrankt und schrieben noch so wie zu Tolstois Zeiten, Salinger, Hemingway oder Garcia Marquez hatten sie wohl noch nie in der Hand gehalten und malten wie Ilja Repin, weshalb alles ein bißchen antiquiert wirkte. Wahrscheinlich ließ die Zensur nichts Schräges durch. Aber trotzdem waren manche Geschichten ganz gut.

Besonders die eine ist mir in Erinnerung geblieben. Eine junge Frau kommt braungebrannt aus dem Urlaub. Auf dem Flughafen lernt sie einen Lehrer kennen. Eigentlich hatte sie sich, die in einem winzigen Dorf in der riesigen Sowjetunion die Poststelle führt, schon damit abgefunden, sitzengeblieben zu sein. Die beiden heiraten, und sie wird schwanger. Schüler spielen ihrem Mann einen Streich und erschrecken sie dabei so, dass sie ihr Kind verliert. Nach einer Weile erzählen die Leute im Dorf ihr, dass ihr Mann eine Andere hat und sagen ihr, wo die Beiden sich treffen.

Sie geht zu der Stelle und sieht das Pärchen Arm in Arm. Nach der Scheidung trägt sie ihr Schicksal tapfer und hat sich damit abgefunden, nie mehr eine Familie zu gründen, weil es dort keine ledigen Männer gibt, und außerdem heiratet da sowieso keiner eine Frau über Dreißig, die außerdem noch geschieden ist. Liebesmäßig sollte alles gelaufen sein bis ans Lebensende.

Diese Story hatte mich schwer erschüttert. Sie hatten sie mattgesetzt, und sowas sollte man auch noch gutfinden. Da könnte ihr eigentlich nur noch der „Regenmacher“ helfen. Der gleichnamige Amifilm ist aus den Fünfzigern. Ein Mann, Starbuck, kommt in ein abgelegenes Städtchen von Kansas, wo eine Dürre herrscht und behauptet, Regen herbeizaubern zu können, was natürlich nicht ging, aber dafür erweckt er Lizzie, eine Frau, die keinen Mann abgekriegt hat, zu neuem Leben. Ich habe nie verstanden, warum Lizzie den Polizisten geheiratet hat. Ich hätte den Regenmacher, der ein Menschenfreund war, vorgezogen.

Und warum hat ein so interessanter Typ, wie Starbuck, sich ausgerechnet in Lizzie verliebt. Wahrscheinlich sehnte er sich insgeheim nach bürgerlichem Glück. Sie verband wohl auch, dass sie beide Außenseiter waren. Lizzie hatte ja keiner geheiratet, jedenfalls nicht bis der „Regenmacher“ kam und sie wachküßte und sie den Charme und Witz entwickelt, den sie brauchte, um sich endlich einen Mann zu angeln und ihren Platz in der Gesellschaft als Ehefrau einzunehmen. Keinen „abgekriegt“ zu haben, ist oft ein untrügliches Zeichen dafür, dass man in seine Umgebung nicht reinpaßt. Solche „Regenmacher“ gibt es viel zu wenig.

Traurige Frauenschicksale schienen auf einen zu lauern. Frauenschicksale, die von der Gnade von Männern abzuhängen schienen. So stellte sich das der Autor der Story in der Sowjetliteratur, ein russischer Obermacho, jedenfalls vor. Das man immer gleich so am Arsch ist, wenn ein Mann einen verläßt. Was würden Emma Goldmann, Simone de Beavoir und Shulamit Firestone dazu sagen. Ich war damals erst 13, glaubte an den Kommunismus und dachte naiv, dass sich mit der Erstürmung des Winterpalais auch die Situation für die Frauen entscheidend gebessert hätte.

Ich habe mal im Fernsehen eine Sendung über Mädchen gesehen, die merkwürdigerweise einfach nichts mehr essen wollten. Auch ihre Mütter waren ratlos. Vielleicht weigerten sich die Mädchen, die alle recht intelligent wirkten, Frauen zu werden. Ihnen war klargeworden, auch durch das Beispiel ihrer Mütter, dass das Frauendasein seine Tücken hat und Anpassung bedeutet.

Nichts mehr zu essen, war ihre Art von Rebellion. Indem sie alles unternahmen, um keine weiblichen Formen zu entwickeln, versuchten sie dem verhassten Frauendasein zu entgehen, von dem sie sich nicht allzuviel Gutes versprachen. Ich konnte sie verstehen. Auch mir erschien die Frauwerdung so, als wenn sie einen in ein enges Korsett einschnüren und die Bänder dabei nach und nach immer mehr zuziehen.

Hinter mir wird gelacht. Ich schaue ärgerlich von meiner Sowjetliteratur auf und bemerke das Mädchen, das in einer Bude an der Promenade Bratwürste verkauft und ihren Freund. Sie ist ein paar Jahre älter als ich. Die Beiden laufen Hand in Hand ins Wasser und kugeln sich danach lachend im Sand. „So läßt man sich das Leben gefallen“, denke ich. Ich kann es ja zugeben, ich benutzte sogar einen Taschenspiegel, um dem interessanten Treiben zuzuschauen.

Irgendwo musste ich es ja lernen, aber natürlich haben sie nicht ... Ich kam aus einer matriachalisch geführten Familie, in der keine Männer stattfanden. Auch die beste Freundin meiner Mutter war alleinerziehende Mutter, unsere beiden Rostocker Zimmervermieterinnen ebenfalls. Und mein Opa, den ich alle Jahre mal dabei erleben konnte, wie er mürrisch am Küchentisch saß und mit der Welt übereins war, riß es auch nicht raus. In den Ferien schlief ich immer zwischen ihm und seiner zweiten Frau auf der Besucherritze. Mädchen ohne Vater fangen wohl entweder zu früh oder zu spät mit der Liebe an ist mir mal aufgefallen.

Noch interessanter als die junge Bratwurstverkäuferin und ihren Freund fand ich ein Pärchen, beide höchstens siebzehn, die ein kleines Kind dabei hatten, das genauso aussah wie die Mutter. Sie knieten unbeweglich voreinander im Sand und schauten sich wie verzaubert in die Augen. Die Sprache der Liebe schien Schweigen zu sein. Neben ihnen spielte ihr Kind. Ich schaute verstohlen rüber. So stellte ich mir die Liebe vor.

Ich hatte mich als Kind immer in die Schülerinnen meiner Mutter verliebt. Erst als meine Mutter einen Fernseher auf Abzahlung kaufte, da war ich 9 und ich Liebesfilme sah, wurde mir klar, dass ich mich da mächtig geirrt hatte. Als erstrebenswertester Mann erschien mir Daniel Boone. Er kämpft immer für die Gerechtigkeit, seine Frau sieht bildschön aus, obwohl sie schon eine Schar reizender Kinder hat. Aber am besten gefiel mir Mingo, der Indianer. Heute weiß ich, dass er gar kein Indianer war, sondern ein jüdischer Schlagersänger. Ich glaube sogar, er war schwul. Vielleicht hatte er ein Verhältnis mit Lex Barker?

Ich bin Mingo sogar mal begegnet. Natürlich nicht ihm selbst, aber seinem Doppelgänger. Eine, aus meinem Wohnheim, hatte Geburtstag und ihr Freund brachte seine Kumpeltruppe mit, alles langhaarige Musikfreaks. Einer davon sah aus wie ein Indianer und gefiel mir auf Anhieb. "Er ist Mingo," dachte ich. Er saß neben seiner Freundin, einem Hippiemädel mit selbstgestricktem Pullover und Hirschbeutel. Sie hatten sich gerade erst zwei Tage zuvor kennengelernt und waren frischverliebt. Ich unterhielt mich mit ihr. Wir beide verstanden uns gleich. Sie war Neunzehn, ein paar Jahre jünger als ihr Freund und offen und unvoreingenommen. Damals wußte ich noch nicht, dass frischverliebte Leute, immer so anziehend auf andere wirken. Die körperliche Liebe zwingt sie dazu, ihre besten Eigenschaften nach außen zu kehren. Das habe ich mal bei Proust gelesen.

Die Beiden paßten zusammen, das sah man. Deshalb wunderte ich mich darüber, als ich spürte, wie mir eine Hand von hinten zart durch die Haare fuhr. Es gefiel mir. Der Besitzer der Hand sprudelte über vor genialem Nonsenshumor. Er war ein Naturtalent. Das weckte in mir die Hoffung, dass mir ein unabhängiger Freigeist über den Weg gelaufen war. Aber oft erschöpft sich bei solchen Leuten die Aufmüpfigkeit schon im Witz. Als er aufstand, um zu gehen, wunderte ich mich darüber, wie klein er war. Er wurde bald darauf Vater und ist wohl nach seinem Eintritt ins Familienleben von der Bildfläche verschwunden und hat seinem Leben eine radikale Wendung verpaßt. Mingos Doppelgänger war wohl ein Spaßrebell.

Einmal beobachtete ich, wie jemand, der ihm entfernt ähnlich sah, am Rande eines Konzertes stehend, auf eine Frau, die wohl eine alte Bekannte war, einredete. Er gehörte wohl zu denen, die ihr altes Leben hinter sich gelassen hatten, aber die ab und an mal der Hafer stach und die plötzlich wieder bei ehemaligen Kumpels auftauchen und genauso schnell wieder verschwinden. Er wirkte irgendwie fehl am Platze und längst nicht mehr so souverän wie der, den ich kennengelernt hatte und der mir als widerspenstiger Geist erschien. Wahrscheinlich füllte ihn der Alltagstrott nicht aus, und ihm fehlten die alten Zeiten. Er war wohl zu früh ausgestiegen.

Normalerweise freuen die Mütter sich darüber, wenn ihr Sohn endlich „vernünftig“ wird. Aber ich hatte mal eine Arbeitskollegin, der es mit ihrem Sohn genau andersrum erging. „Früher war mein Ältester so wie du, hatte lange Haare und hörte Musik. Seitdem er verheiratet ist und Kinder hat, will er davon nichts mehr wissen.“ Aus ihrer Stimme klang ein geheimes Bedauern über die Wandlung ihres Sohnes. In den Augen seiner Mutter hatte er wohl auch stellvertretend für sie, die als Alleinerziehende wenig Möglichkeiten dazu hatte, aufbegehrt.

 

Seemann, gib acht, denn strahlt auch als Gruß des Friedens,
Hell durch die Nacht das leuchtende Kreuz des Südens.“ *

Seemannsbräute

Ich weiß eigentlich gar nichts über sie, wie alt sie war, wo sie herkam und wo sie hinging. Als ich sie kannte, war ich ein Kind und sie eine verheiratete Frau.

Der Bus, der auch als Schulbus diente, ruckelte auf dem Kopfsteinpflaster hin und her. Es war Freitag mittag, und ich saß neben meiner Mutter. Wir wollten, wie fast jeden Freitag, in die kleine Stadt, die zwölf Kilometer von unserem Dorf entfernt war, zum Einkaufen fahren. In einer abgelegenen Ortschaft stieg ein Mädchen aus dem Bus und wurde sogleich von einer Traube Frauen umringt und freudig begrüßt.

Meine Mutter kannte sie, da sie ihre Schülerin war. „Sieh mal, die Frau im roten Kleid ist ihre Tante und daneben steht ihre Mutter. Die weißhaarige Frau ist ihre Großmutter und das kleine Mächen ihre Schwester. Die beiden jungen Frauen, ganz rechts, sind ihre Schwägerin und deren Schwester.“ Die anderen Frauen, die am Bus standen, entpuppten sich als Nachbarinnen. Es schien so, als wenn sie mit dem ganzen Dorf verwandt war, später hat sie folgerichtig den Jungen, dessen Haus nur einen Steinwurf von ihrem Haus entfernt lag, geheiratet. Sie gehörte in die Gegend rein. Die Gebeine ihrer Vorfahren bleichten auf dem Dorffriedhof.

Neidisch sah ich auf die Szene. Warum konnte mein Vater, den ich leider gar nicht kannte, kein Traktorist sein wie ihrer, und warum verkaufte meine Mutter nicht im Dorfkonsum? Dann säße ich jetzt nicht in Berlin, sondern hätte mir das Haus von Oma ausgebaut. Leider war sie Lehrerin, und ich musste mir auf dem Schulhof allerlei Hänseleien gefallen lassen. Alle Kinder der Lehrer hatten es nicht einfach.

Der Bus fuhr durch das schmale Stadttor durch, wobei ich jedesmal Angst hatte, dass wir darin steckenbleiben. Es war noch zu früh. Die Geschäfte machten erst um drei auf. Bis dahin gingen wir in die Milchbar des Ortes, eine winzig kleine Milchbar, wo das Eis aber sehr gut schmeckte. Der Mittelpunkt dort war sie. Ich weiß gar nicht, wie sie richtig hieß, aber alle nannten sie Gina. Sie war über eins achtzig groß und sehr attraktiv. Es wurde erzählt, dass ihr Mann zur See fuhr und ihr die vielen schicken Klamotten mitbrachte, die sie trug. Nie habe ich sie zweimal in den selben Sachen gesehen.

Sie machte sich für die Arbeit zurecht, als wenn sie in einer Nachtbar arbeiten würde und nicht in einer kleinen Milchbar, in der meist Omas und Kinder saßen und die Leute aus den Nachbardörfern, die eingekauft hatten und jetzt auf den Bus warteten. Obwohl sie sehr groß war, stiefelte sie auf turmhohen Absätzen durch die Gegend, trug Miniröcke, die eigentlich mehr einem Gürtel ähnelten und hatte ständig gewagte Haarfarben, sogar grau und lila waren dabei. Manchmal trug sie dazu auch rote Lackstiefel, die ihr bis zu den Oberschenkeln gingen. Um sie herum, am Tresen der Milchbar, hielt sich immer ein Schwarm Männer auf, mit denen sie flirtete. Aber wahrscheinlich blieb es beim Flirten, und sie war ihrem Mann treu, oder? Ihre Kolleginnen in der Milchbar, Muttitypen mit Dauerwelle und Kittelschürze, waren nicht neidisch auf sie, wie man denken könnte, sondern im Gegenteil, sie beteten sie an.

Als sie wegging, weil ihr Mann versetzt wurde, verlor die Milchbar, in die sie Leben rein gebracht hatte, ihre Anziehungskraft, und es war dort oft recht leer. Der Schwung fehlte einfach. Es hatte sich schon vorher rumgesprochen, dass sie wegzieht, aber man konnte sich die Milchbar ohne sie einfach nicht vorstellen. Auch nach Feierabend blieb sie oft in der Milchbar, zu Hause wartete ja keiner auf sie, da ihr Mann auf See war. Sie saß dann, in einem scharfen geblümten Minirock, mit übereinandergeschlagenen Beinen, auf dem Barhocker vor dem Tresen und hielt lachend die Zigarette zwischen ihren langen Fingern mit den roten Nägeln.

Sie war auch zu Kindern immer sehr nett, weshalb ich dort gern hinging. „Kinder haben ein Gespür für gute Menschen.“ Diesen Satz habe von Dostojewski geklaut. Er stammt aus den „Dämonen“, einem Werk, an dem ich schon mehrmal gescheitert bin. Ich bin einfach mit den Namen nicht mehr klargekommen. War Vera Wassiljewna jetzt die Frau, Tante oder uneheliche Tochter von Iwan Nikolajewitsch oder nichts dergleichen? Nach der ersten Hälfte verlor ich immer völlig den Faden. Beim „Idioten“ bin ich einmal bis zur Hälfte und im zweiten Anlauf bis zum letzten Drittel gekommen, ebenfalls, weil ich einfach nicht mehr wußte, wer wer war.

Meine Mutter und ich setzten uns an einen freien Tisch hinten in der Milchbar. Die einsame Seemannsbraut, deren Mann gerade das Kap der Guten Hoffnung umschiffte, kam auf hohen Absätzen angeschwebt und schaute uns aus großen, schwarz ummalten Augen mit angeklebten Wimpern und grauen Lidschatten fröhlich an. „Was wollt ihr haben?“ fragte sie, die uns kannte. Die Bestellung war einfach. Es gab bloß drei Eisbecher und Bockwurst, die aber sehr gut schmeckte, da sie eine Extraanfertigung für die Milchbar war.

In den Wintermonaten, wenn es draußen schon dunkel war und wir nach dem Einkaufen auf den Bus warteten, war es in der Milchbar immer extrem gemütlich. Vorne, am Tresen, stand Gina und lachte und flirtete und erfüllte den kleinen, schummrigen Raum mit ihrem Charme, und ich saß mit meiner Mutter da, löffelte Eis und fühlte mich pudelwohl. Außerdem saß dort an einem Tisch auch immer eine Runde sympathischer Old Ladys, die schon zum Inventar gehörten und die ich mochte.

Ich habe Gina später noch einmal gesehen, als sie ihre Kolleginnen besucht hat. Sie sah ein bißchen traurig aus. Sie vermisste wohl die Milchbar. Wahrscheinlich war das für sie die beste Zeit ihres Lebens. Mit ihr ging eine Ära vorbei. Immer wenn ich später in der Milchbar war, ging sie dort noch immer unsichtbar umher, mit ihrem fröhlichen Lachen, ihren angeklebten Wimpern und ihrer aufgetürmten Haarpracht, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sie nicht mehr zurück kommt.

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Hinter mir wird gelacht. Ich schaue ärgerlich von meiner Sowjetliteratur auf und bemerke das Mädchen, das in einer Bude an der Promenade Bratwürste verkauft und ihren Freund. Sie ist ein paar Jahre älter als ich. Die Beiden laufen Hand in Hand ins Wasser und kugeln sich danach lachend im Sand. „So läßt man sich das Leben gefallen“, denke ich. Ich kann es ja zugeben, ich benutzte sogar einen Taschenspiegel, um dem interessanten Treiben zuzuschauen. Irgendwo musste ich es ja lernen, aber natürlich haben sie nicht ... Ich kam aus einer matriachalisch geführten Familie, in der keine Männer stattfanden. Auch die beste Freundin meiner Mutter war alleinerziehende Mutter, unsere beiden Rostocker Zimmervermieterinnen ebenfalls. Und mein Opa