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Ich tanze

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05.02.22 20:43
In Arbeit

Das Nachfolgende schrieb jemand, der kein Technofan ist, weil ich bei elektronischer Musik mit allem was über Can, Tangerine Dream, Eloy, Bauhaus usw. hinausgeht an meine Grenzen komme.

Ehrlich gesagt war mir immer schleierhaft, wo die Technobewegung eigentlich hin will. Eine Jugendkultur ohne Ziele? Auf den Punkt gebracht, Techno war mir nicht rebellisch genug. Hoch rechne ich den Technoleuten an, dass sie unsere geniale Berliner Industriearchitektur vorm Abriss bewahrt haben.

„Dieses neue Berlin,....ist die Feierhaupstadt der westlichen Welt. ...Niemand muss hier wirklich arbeiten... und eigentlich ist man ständig nur auf Partys.“ aus Lost and Sound von Tobias Rapp

2020 Das sehen leider die osteuropäischen Bauarbeiter vor meinem Fenster ganz anders. Sie sind nach Berlin gekommen, um Geld zu verdienen. Jetzt habe ich hier den ganzen Tag Baulärm, und was das schlimmste ist, meine helle Wohnung verwandelt sich nach 20 Jahren in eine Dunkelkammer, weil nebenan ein Wohnblock heranwächst.

Habe ich mal in einem Spiegelinterview mit Dimitri Hegemann gelesen

1990 „Dimitri reich mir mal den Bolzenschneider rein.“ Wieder mal musste sich der schlankeste von allen durch die aufgebogenen Gitterstäbe des Kellerfensters der alten Fabrik in Friedrichshain zwängen und versucht jetzt die Tür von innen aufzukriegen. Dann werden die Boxen reingeschleppt und die Ratten und Mäuse, denen die Örtlichkeit jahrzehntelang allein gehört hat, bekommen Techno auf die Ohren gedrückt. Das löst das Nagerproblem auf natürliche Weise.

Ein paar westdeutsche Studenten oder Exstudenten, die Geschäftssinn und Musikbegeisterung mitbrachten und unter denen auch welche waren, die sich von ihrem Jura- oder BWL Studium noch gut mit Grundstückskaufverträgen auskannten, haben in Wendezeiten im Osten von Berlin ohne Angst vor Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs, mutig Kellerfenster eingetreten und eine Anlage in einem alten Kraftwerk oder Kaufhaus installiert. Aus dem Nichts haben sie einen neuen Club zum Laufen gebracht. So wurde der Grundstein für die heutige Clubkultur in Mitte, Friedrichshain/Kreuzberg und Lichtenberg gelegt.

„Schon einmal hat sich das Clubleben in einer Gegend konzentriert, auf den Kilometer der Leipziger Straße zwischen Potsdamer Platz – damals noch Brachfläche – und Friedrichstraße...“

aus „Lost und Sound“

2000 Ich bin gerade in meine neue Wohnung gezogen und schnappe mir an einem schönen Sommersonntagnachmittag mein Fahrrad.

Auf der westlichen Seite der Leipziger Straße, noch auf Ex DDR Gebiet, kurz vor der ehemaligen Mauer, komme ich in ein absolutes Niemandsland. Alle Gebäude stehen auf Abriss. Die Gegend wirkt so, als ob die Russen gerade Berlin erobert hätten. Die Fenster und die Tür von einem alten Ladengeschäft stehen weit offen. Auf dem Fensterbrett sitzen ein paar lachende Mädchen und baumeln lustig mit den Beinen. Im Innenraum tanzen dichtgedrängt fröhliche Leute. Ich habe plötzlich den Wunsch zu ihnen zu gehören. Der Anblick dieser Lebensfreude geht mir jahrelang nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht habe ich ja damals instinktiv erfaßt, warum es beim Techno eigentlich geht. Das Ausblenden des Alltags, das Leben im Hier und Jetzt. Aber sowas geht ja sowieso nicht lange gut.

„Und der Kaiser hat ja keine Kleider an“,

das hat mal ein Freund, der aber fast 70 ist, über Techno gesagt, nachdem bei ihm in der Nähe mal ein Technoopenair stattgefunden hat.

„Wir haben uns dagegen entschieden“, ätzender Spruch der Einlasser im Berghain, den ich aber von jemandem hören musste, als ich mich mal für ein Praktikum im Bethanien beworben habe. Ich tippe mal, derjenige musste sich diesen Satz auch schon öfter anhören.

Leckt mich doch.“ Ich habe gar nicht vor, die strengen Türsteher um Einlaß anzubetteln. So weit kommt es noch, dass ich mir eine gelbe Brille aufsetze und mir die Haare lila färbe. Ins Berghain möchte ich nicht mal in meinen ärgsten Träumen. Nachher schließen sie noch hinter mir die Tür zu und machen die Musik laut. (Scherz)

Habe ich mal irgendwo gelesen:

„Kater Holzig und Ritter Butzke in der Ritterstraße... , wo unsere Kinder ihre Jugend vergeuden.“

ebenfalls irgendwo gelesen:

Heutzutage tritt das Phänomen auf, das die Eltern bessere Musik hören als ihre Kinder.“

Kam mir bekannt vor

Ein bekannter DJ hat mal in der zitty geschrieben, dass seine Freundin, die immer schon verkündet hatte, dass mit 21 für sie Partyende ist, an ihrem Geburtstag eine Abschiedsparty für ihre Technoclique schmiß und seitdem nirgendswo mehr hingeht. Sie arbeitet jetzt am Amtsgericht in einer kleinen Stadt in Westdeutschland. Das kenne ich auch aus meinem Kumpelkreis. Bloß da waren es 24 Jahre, aber eine Abschiedsparty gab es auch.

Trailer über die Bar 25 an der Holzmarktstraße unweit des Ostbahnhofs

Bunte Vögel, die in die Machokultur des Rock und Blues gar nicht so rein gepaßt hätten. Ich habe mich immer gewundert, dass bei uns früher in der Blues- und Hippiebewegung im Osten keine Schwulen mit dabei waren. Vielleicht gab es ein paar Heimliche. Außerdem muss man wohl als sogenannter Szenetyp immer so tun, als wenn man verflucht gut drauf ist, obwohl einem in Wirklichkeit die Muffe geht.

Und leider fällt man aus solchen oberflächlichen Freundeskreisen auch schnell raus weil: zu alt, kein Geld, zu große Probleme sich über Wasser zu halten usw. . Viele suchen eine Gegenwelt und müssen mit Erschrecken feststellen, dass da die selben Gesetze wie in der restlichen Welt gelten nur oft noch härter. Auch da muß man sich anpassen, genau das, was man ja auf keinen Falle will.

Der typische Technofan: abends in einem abgerockten Club in einer alten Fabrik tanzen, morgens als Architekt dafür sorgen, das die Fabrik abgerissen und in ein Bürogebäude verwandelt wird.

Doku über den letzten Tag im Tresor in der Leipziger Straße – Harte Männer, die Tränen zeigen

Doku über Techno in Berlin

Der Anblick von Ricardo Villalobos in seinem Staub macht mir Mut, mit dem Großreinemachen noch zu warten. Wenn er als Star DJ das kann, kann ich das schon lange. Außerdem sollen Spinnen Nützlinge sein. (Scherz)

Watergate open Air am Spreeufer

Ich möchte endlich mal Ricardo Villalobos sehen, von dem ich im Spiegel gelesen habe und mir deshalb sogar die Doppel CD RE:ECM gekauft habe. Ich stehe unschlüssig vor dem Tor, da schenkt ein Student mir eine übriggebliebene Eintrittskarte, da sein Freund nicht gekommen ist. Auf dem Gelände wundere ich mich, dass die Musik nur auf Zimmerlautstärke läuft, in der Gegend gibt es gar keine Einwohner, sondern nur alte Fabriken und Gewerbehöfe.

Ich frage ein Technomädchen, ob Ricardo Villalobos schon gespielt hat. Sie kennt ihn gar nicht. Eine spanische Transe mit einem lockigen Pferdeschwanz und großen Kreolen in den Ohren, sieht mich mitleidig an. Ich glaube, ich tue ihr leid, weil ich schon ein ganzes Stück älter als die anderen bin und außerdem so gar nicht in die Szene passe. Das macht mir aber nichts aus. Sie als Transe bzw. er kann sich bestimmt ganz gut in die Situation von jemandem reinversetzen, der Aussenseiter ist. Im katholischen Spanien haben es die Schwulen noch heute nicht besonders leicht. Zum Schluß wird „Tainted Love“ gespielt, das ich ätzend finde. Es soll wohl eine Schwulenhymne sein.

Das Sisyphos am Kraftwerk Klingenberg

Der Einlasser winkt mir einladend zu, als ich vorbeiradle. Heute findet hier ein Art Festival statt, und der Eintritt ist frei. Den Platz hinter dem Zaun, an dem ich schon tausende Male vorbeigeradelt bin, erblicke ich heute zum ersten Mal. So schön hätte ich es mir nicht vorgestellt. Was die Ausstattung und besonders die Lichtinstallationen anbetrifft waren echte Künstler am Werk. Es gibt sogar einen verzauberten kleinen See. Mit ein paar Kids aus dem Gymnasium und mit Touristen, die alle höchstens halb so alt sind wie ich, tanze ich im Kreis. Ich staune, als ein DJ Saxophon zu der elektronischen Musik spielt, ein richtiges Instrument. Langsam gewöhne ich mich an den Sound.

In Alt Stralau auf dem Gelände des Neuen Deutschlands findet am Wochenende ein wilde Technoparty statt, d. h. ein Trüppchen Unentwegter steht im Nieselregen vor einem Soundsystem auf Rädern.

Ein paar Kids laufen verzweifelt um das abgezäunte Gelände herum und fragen wo der Eingang ist. Da kann ich leider auch nicht weiterhelfen. Wahrscheinlich sind die, die drin sind, auch über den Zaun gestiegen. Ihr Equipment über den Zaun zu hiefen, der gar nicht mal so niedrig ist, muss aber eine besondere logistische Leistung gewesen sein. Das erinnert mich daran, wie wir zu DDR Zeiten oft mal auf einem spontanen Blueskonzert auf einem Parkplatz an der Dimitroffstraße, in einem Biergarten in Köpenick, in einem Gasthof in Wildau oder unter dem Riesenrad im Plänterwald getanzt haben. Das sprach sich nur über Mundpropaganda rum, da es noch keine Handys gab.

Ich höre die Musik, die tief aus dem dunklen Wald kommt, der die Wuhlheide ja ist. Neugierig geworden schlage ich mich querfeldein durch die Büsche immer der Musik nach. Schließlich sehe ich einen buntgemischten Trupp Jugendlicher aus aller Herren Länder, die in dieser Nacht zusammen auf einer Waldlichtung tanzen und schließe mich an.

2014 „Eden“, Film über Daft Punk in Paris

Die Regisseurin Mia Hansen - Love hat einen Film über ihren Bruder gemacht, dessen Leben typisch ist für viele Technofreaks. Eigentlich ist DJ Paul ein netter Typ. Ich kann zwar nicht verstehen, warum er sich ausgerechnet für Techno so begeistert, aber sonst ist es das Übliche wie bei vielen anderen Musikern bzw. Musikfreaks: Studium vergeigt, die große Liebe verspielt, die Miete muß meist seine Mutter bezahlen.

Irgendwie kommt auch mir das bekannt vor. Eigentlich ist das ja ungerecht, weil er sich wirklich für seine Clubs ganz schön den Arsch aufreißt.Mit Mitte, Ende 30 läuft das Szeneleben für ihn langsam aus, und Jüngere übernehmen das Ruder. Er hat aber eine verflucht geniale Zeit gehabt und kennt hunderttausend Leute und mit Frauen kann er eigentlich auch. Also machen wir uns da mal keine Sorgen.

Unterführung von der Elsenbrücke

Die Bässe werden von den Brückenpfeilern zurückgeworfen. Alle tanzen, also versuche ich es auch. Zufällig ist heute mein Geburtstag. Jemand veranstaltet eine Freeparty nur für mich. Wir tanzen solange, bis die Batterie, die auf einem fahrbaren Untersatz liegt, leer ist.

 

 

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Ich frage ein Technomädchen, ob Ricardo Villalobos schon gespielt hat. Sie kennt ihn gar nicht. Eine spanische Transe mit einem lockigen Pferdeschwanz und großen Kreolen in den Ohren, sieht mich mitleidig an. Ich glaube, ich tue ihr leid, weil ich schon ein ganzes Stück älter als die anderen bin und außerdem so gar nicht in die Szene passe. Das macht mir aber nichts aus. Sie als Transe bzw. er kann sich bestimmt ganz gut in die Situation von jemandem reinversetzen, der Aussenseiter ist. Im katholischen Spanien haben es die Schwulen noch heute nicht besonders leicht. Zum Schluß wird „Tainted Love“ gespielt, das ich ätzend finde. Es soll wohl eine Schwulenhymne sein.