Storys > Kurzgeschichten > Alltag > Fliederblütentee

Fliederblütentee

175
1
09.09.19 17:50
Fertiggestellt

Mein Spiegelbild beäugte mich kritisch, strich mit dem Finger über den Nasenrücken und versuchte die kleinen Falten zu inspizieren. Die Worte meiner Mutter drangen in mein Bewusstsein: "Kind, kräusel nicht die Nase beim Lachen, davon bekommst du später mal Falten." als Kind dachte ich mir damals "ich bekomme mal keine Falten." Sehr naiv, wie ich heute feststellen musste. Ich zog die Augenbrauen hoch und zählte 3 zarte Reihen von Stirnfalten. Zu Lachen traute ich mich gar nicht, meine Lachfalten an Augen und Wangen wollte ich mir jetzt, nach Entdeckung meiner "Nasenrückenlachfalten" nicht auch noch zumuten.

Als Kind war ich der Überzeugung, dass alles so bleiben würde wie in dem Moment. Dass ich immer die Freunde haben werde die ich hatte, immer die Zeichentrickserien schauen werde und niemals Erwachsen werde. Niemals. Das war wie ein Mantra. Heute seh ich mich, fast 30 und frage mich: bin ich denn nun eigentlich erwachsen geworden? Woran merke ich es denn? Unweigerlich fiel mir die Kiste auf dem Dachboden mit der Liste ein, die ich als Kind ersellt habe: "daran weis ich, das ich erwacksen bien" lautete der Titel. Da standen dann so sachen wie: Wenn ich nicht mehr in die schule gehe, geheiratet habe, kinder habe, in einem haus wohne, ein Auto fahre... Diese Liste habe ich mit ungefähr Neun Jahren begonnen und sie über meine "Jugend" fortgeführt. Ich las sie mir, im Fahlen Licht des Dachbodens durch und hakte die Dinge innerlich ab. Eins nach dem anderen:

- Arbeit, Ehe, Kinder - ✔

- kein Sailor Moon Fan mehr sein - ✔

- statt mit einem Besen die Wohnung mit einem Staubsauger putzen - ✔

- Hausschuhe tragen - überwiegend ✔

- keine Unsichtbare Freundin mehr haben - ✔

- Nachrichten und Naturfilme gucken - ✔

- Zusammenpassendes Geschirr haben - ✔

- Blumen in eine Vase stellen und Türkränze aufhängen - ✔

- mir nicht mehr vorstelle, ich hätte zauberkräfte - ✔

- sich mit Freunden treffen um zu "labern" anstatt was

zu spielen -✔

- Schule vermissen - ✔

- Knopers "vorschriftsgemäß" essen und nicht mehr Schicht für Schicht mit den Zähnen abschaben - ✔

- Alles, was meine Mutter mir prophezeit hat, ist eingetreten - ✔

An den letzten Punkt konnte ich nun heute auch gedanklich einen Haken setzen, nachdem ich im Spiegel meine Nasenrückenlachfältchen entdeckt habe.

Also laut dieser Liste und die Sicht eines Kindes wäre ich heute absolut erwachsen. Und dennoch fühle ich mich einfach kein bisschen anders als zu irgendeinem vergangengen Zeitpunkt meines Lebens. Ich weiß zwar, dass ich weder optisch noch biologisch noch geistig kein Kind mehr bin und dennoch bin ich für immer das Kind meiner Eltern. Ich bin kein junger, wilder Teenager mehr, der seine Identität noch nicht gefestigt hat aber trotzdem bin ich noch keine "entgültige Persönlichkeit". Ich bin immer noch das Kind, die Jugendliche, die heranwachsende Erwachsene, die ich in den letzten 30 Jahren auch schon war.

Mit diesem Gedanken wollte ich die Liste zusammenfalten, die Erinnerungskiste schließen und das Licht löschen als mein Blick zufällig auf die Rückseite des Papieres fiel. Da war noch ein letzter Punkt:

- wenn ich Fliederblütentee trinke, wie meine Mutter.

Ich musste unweigerlich lächeln, denn ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter diesen Tee trank und die Mundwinkel verzog, weil sie den Tee nicht mochte. Als Kind habe ich nicht verstanden, warum sie etwas trinkt, was sie nicht mag. Ich habe es einfach nicht verstehen können.

Dennoch:

Dieser eine Punkt ist noch nicht abgehakt.

Und das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben.

Autorennotiz

basierend auf einer wahren Begebenheit des Autors

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

0
Yukis Profilbild
Yuki Am 21.09.2019 um 18:11 Uhr
Ja ja, das ist so eine Sache mit dem Älter werden. Ich finde das ist gut Beschrieben, auch wenn es bei mir anders war. Ich dachte früher mit dreißig ist das Leben vorbei, doch jetzt denk ich mit vierzig fängt es erst richtig an. Gut das ich bis dahin noch etwas Zeit habe und mich jetzt schon darauf freuen kann, wenn es soweit ist. Also ich werde später keine 40 Jährige Frau sein, die sich selbst Bemittleidet.
Gruß Yuki

Autor

Amselrots Profilbild Amselrot

Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Sätze: 24
Wörter: 603
Zeichen: 3.513

Kurzbeschreibung

"woran erkenne ich, dass ich erwachsen bin? An meinen Nasenrückenlachfältchen etwa? Oder daran, dass ich Sailor Moon nicht mehr schaue?" In dieser Kurzgeschichte steht eine vermeintlich erwachsene Frau vor dem Spiegel mit einer Liste, die sie als Kind verfasst hat "daran weis ich, das ich erwacksen bien"

Kategorisierung

Diese Story wird neben Alltag auch in den Genres Entwicklung, Nachdenkliches gelistet.