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Der Morgenmuffel, die Nachteule und die Pflicht

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27.12.23 15:39
Fertiggestellt

Es ist immer ein Problem, morgens aufzustehen. Es graut mir schon davor, die Füße auf das eiskalte, harte Parkett zu setzen und die kühle Zimmerluft an meinem Körper zu spüren, wie eine zweite Haut, die unangenehm an mir klebt.
Also liege ich im Bett, haue mit meiner flachen Hand aggressiv auf den Wecker, um ihn zum Schweigen zu bringen. Auf seine Belehrungen kann ich gut verzichten.
Und da sitzt schon der Morgenmuffel dicht an meinem Ohr und flüstert in seinem verführerischen Ton: "Bleib einfach liegen. Das Bett ist warm und weich. Schlaf macht schön. Du verpasst doch nichts." Zu gerne würde ich dem Morgenmuffel gehorchen. Seine Stimme klingt so zart, wie Seide auf der Haut und sein Atem riecht so süß, wie der Duft von frischen Erdbeeren, die mit einer feinen Schicht Schokolade überzogen sind.
Aber dann kommt die Pflicht, dessen Gestalt mich an eine böse, alte verschrumpelte Hexe erinnert. Sie sieht aus wie zu lang gekochtes Gemüse. Ihr Atem riecht nach vergammeltem Fisch, setzt sich in meiner Nase fest und lässt mich würgen. Mit ihrem Krückstock haut sie mir immer wieder auf den Kopf.
"Wenn du nicht aufstehst", tadelt sie mich mit krächzender Stimme, "verpasst du die Schule und somit den Stoff für die nächste Klausur."
Leider hat sie damit Recht. Also stehe ich auf -wie immer eigentlich- und die Pflicht gewinnt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie dem Morgenmuffel ein fieses Grinsen schenkt.

Am Abend jedoch gibt es ein ganz anderes Problem.
Stundenlang kann ich wach bleiben, Bücher bis zum Abwinken lesen und nicht auf die Uhr sehen. Egal, wie laut sie vor sich hin tickt.
Die Nachteule ist stets an meiner Seite und feuert mich mit voller Kraft an. "Schau mal, es sind nur noch 591 Seiten bis zum Ende. Das schaffst du auch noch heute Abend. Außerdem ist das Buch so gut, dass es sich lohnt, es fertig zu lesen."
Die Nachteule hat große, glänzende Augen, die stets mit einem weisen Blick bestückt sind. Ihre Federn sind weich und sie klingt so ruhig, wenn sie mit mir spricht. So, als säße ich in Therapie und ließe mich von einem Psychologen beraten. Oder als wollte sie mich hypnotisieren, auf eine vollkommen meditative Art. Doch in dem Moment, in dem die Uhr zwölf schlägt und der nächste Tag anbricht, erscheint wieder die blöde Pflicht.
Wieder schlägt sie mir mit ihrem Krückstock auf den Kopf und lässt mit ihrem widerlichen Gestank einen Würgreiz in mir aufkommen.
"Morgen früh wirst du müde sein. Geh schlafen!", belehrt sie mich mit ihrer kratzigen Stimme, die mir durch Mark und Bein geht.
Die Nachteule versucht gar nicht erst zu protestieren, genauso wenig wie ich. Es hat keinen Zweck. Schon oft haben wir versucht, die Pflicht zu ignorieren und stattdessen weiter in dem Buchstabenmeer zu versinken. Jedoch vergeblich, denn die Pflicht lässt sich nicht aufhalten. Nicht einmal dann, wenn ich sie am Kragen packe und in den Hausmüll entsorge. Also lege ich das Buch zur Seite, schalte das Licht aus und schließe die Augen.

Es ist immer ein Problem, morgens aufzustehen.

Autorennotiz

Hallo :)
Ich freue mich auf eure Gedanken zu meinem Text. Geht es euch manchmal genauso?
Aber zugegeben, manchmal ist es wirklich gut, dass es die Pflicht gibt, egal wie schrecklich sie ist.

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Sillys Profilbild
Silly Am 10.03.2023 um 22:45 Uhr
Wunderbar beschreibst Du eine Situation (oder zwei), in der ich mich absolut wiederfinde.
Ein Schmunzeln bleibt zurück. :)
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BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker Am 18.02.2023 um 21:02 Uhr
Hallo Mira,
Du hast genau beschrieben, wie ich mich fühlte. Ich habe mich lange so gefühlt, vom 6. bis zum 64. Lebensjahr.
Klar, mit Eintritt ins Rentenalter, spielt das alles eigentlich keine keine Rolle mehr. Nur, wer morgens nicht freiwillig aufsteht, der verpasst als Rentner das, was das Leben lebenswert macht.
Die Aufgaben Aufgaben im Leben ändern sich eben. Wer als junger Mensch nicht aufsteht, vermasselt seine Bildung, wer später nicht aus dem Bett kommt, schafft es nicht, seinen Lebensunterhalt zu sichern, wer als Rentner nicht aus dem Bett findet, kann nicht die Früchte seiner Arbeit genießen.
Ein Problem blieb mir, ich finde nicht in den Schlaf, da die Eule in mir, mich immer weiter lesen lassen will. So bin ich zwar belesen, aber gegenüber anderen Rentnern lebe ich zeitversetzt. Lesen bis nach Mitternacht, schlafen bis nach acht und so bin ich schon mittags gesellschaftsfähig :-) Ach, du verpasst doch nichts - doch ich verpasse die möglichen gemeinsamen Aktivitäten mit Anderen. Wanderfreunde stehen früh auf und gehen früh los, so bin ich gezwungen allein zu wandern. Abends um zehn würde ich gerne etwas unternehmen, das gehen fast alle Rentner so langsam zu Bett. Du siehst, das Problem lässt sich nicht lösen, egal, wie alt man ist.
Liebe Grüße
Bernd
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Sätze: 32
Wörter: 543
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Diese Story wird neben Alltag auch im Genre Humor gelistet.