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Der erste Januar 1814, Koblenz
Das neue Jahr begann wie das alte geendet hatte: kalt und
nass.
Während seine klammen Finger sich um die Steine der
Stadtmauer klammerten, sah der Junge in die Dämmerung.
„Er sollte schon da sein“, sagte er zu seinem Bruder
Emmanuel, der zwölf Jahre alt war.
„Ich weiß.“, antwortete dieser.
Nervös blickte der Junge zu den vier Soldaten, die sich
leise in ihrer Nähe unterhielten. Sie waren Deutsche. Obwohl er schon seit vier
Jahren mit seiner Familie in Koblenz lebte, waren die Deutschen Fremde
geblieben. Sie waren seltsam und hassten ihn und seine Familie nur, weil sie
Franzosen waren.
Der einzige ihres Volkes außer den beiden Brüdern in
Sichtweite war der Offizier Lefèvre, aber er schlief an die Mauersteine gelehnt
und schnarchte leise.
Plötzlich hörten sie einen Schrei.
„Was war das?“
„Ich weiß es nicht.“, antwortete Emmanuel mit zitternder
Stimme.
Die Deutschen sagten etwas, doch rührten sich nicht von der
Stelle.
„Was haben sie gesagt?“, fragte der Junge seinen Bruder, der
besser Deutsch sprechen konnte.
„Etwas mit der Sperrstunde.“
„Aber der Schrei kam doch nicht von der Stadt! Ich bin
sicher, dass er vom Fluss kam.“
„Was?“, Emmanuel beugte seinen Oberkörper über die Mauer,
„Bist du sicher, Napoléon?
Der Junge nickte nur mit dem Kopf, während er den Rhein
betrachtete, dessen Wasser sanft in der Ferne schimmerte.
„Ich höre etwas.“, erklärte Napoléon mit einem Mal.
„Es ist ein Reiter.“, erkannte sein Bruder aufgeregt.
Kurz darauf erschall der Ruft: „Öffnet das Tor!“
Man öffnete eine kleine Pforte und ließ einen alten Soldaten
ein, der laut keuchte.
„Die Preußen, sie sind da! Sie überqueren den Fluss bei
Kaub!“
„Das ist unmöglich.“, antwortete einer der Deutschen auf
Französisch, „Sie sind weiter im Osten“
„Es waren keine Geister, gegen die wir gekämpft haben.“,
beharrte der Reiter, während er den Kopf über diese Sturheit schüttelte.
Ein anderer Deutscher beugte sich über Lefèvre und
schüttelte ihn sanft.
„Ein Bote!“, erklärte er.
Lefèvre öffnete die Augen. „Aber was ist denn?“, murrte er
unwillig.
Der Reiter stieg von seinem Pferd und kam zu ihnen.
„Die Preußen überqueren den Rhein bei Kaub“, wiederholte er
vor dem Offizier.
Dieser wirkte sogleich viel wacher.
„Bist du sicher? Waren es vielleicht Aufklärungsoffiziere?“
„Ich bin mir sicher! Es war die schlesische Armee“
Als ihm das Ausmaß dieser Neuigkeit bewusst wurde, fing der
Offizier leise an zu fluchen.
„Ich halte Blücher durchaus für fähig, ohne Kontakt mit der
Hauptarmee durch feindliches Gebiet zu marschieren. Auch wenn er angeblich in
Wiesbaden Silvester feiert! Er war schon immer ein alter Teufel!“, schäumte
Lefèvre, doch ein letzter Rest von Misstrauen blieb, so dass er sich
entschloss, vorerst Soldaten auszuschicken, die diese Nachricht überprüfen
sollten.
Napoléon verstand nicht viel von Militärtaktiken, doch
selbst er hatte schon von Blücher gehört. Jenen legendären General, den die
Preußen fast noch mehr als ihren König verehrten und dem die verbündeten Russen
den Titel „Marschall Vorwärts“ verliehen hatten. Sein Vater nannte ihn nur den
Alten Teufel, denn Blücher sollte schon über siebzig sein!
Aber für Blücher war es doch kein feindliches Gebiet, dachte
der kleine Napoléon, Der General der schlesischen Armee war Deutscher und die
Bewohner von Koblenz waren ebenfalls überwiegend Deutsche. Was würde nur
geschehen?
Dann huschte ein Gedanke durch seinen Kopf und er zupfte
seinen Bruder am Ärmel.
„Emmanuel!“, wisperte er.
„Ruhe! Ich will etwas von dem Gespräch verstehen.“
„Emmanuel! Was ist mit Papa? Er ist da draußen.“
Emmanuel weitete seine Augen.
„Stimmt. Jemand muss ihn warnen!“
Ihr Vater war ein Verwalter des Jean Marie Thérèse Doazan,
dem Präfekten des Département de Rhin-et-Moselle und führte einen Befehl in
einem benachbarten Dorf aus. Heute sollte er zurückkehren.
Emmanuel begann sich auf die Lippen zu beißen, wie immer,
wenn er nervös war.
„Wir müssen ihn warnen!“, entschloss er plötzlich.
„Was?!“ Entgeistert starrte er seinen Bruder an. „Es ist
gefährlich. Hast du nicht zugehört? Die Preußen sind da.“
„Und du? Hast du nicht zugehört? Sie sind in Kaub. Das ist
Stunden von hier entfernt.“
„Aber vielleicht…“ Emmanuel ließ ihn gar nicht erst
aussprechen.
„Komm!“
Nachdem er seinen Kopf in alle Richtungen gewendet hatte,
folgte Napoléon seinem Bruder, der sich bestens in Koblenz auskannte und es
trotz der guten Bewachung vermochte, einen Weg hinaus zu finden.
Doch als sie die Stadt verlassen hatten fiel Napoléon,
dessen Herz wild pochte, etwas ein: „Emmanuel! Es ist dunkel. Wir werden den
Weg nicht finden.“
„Napoléon ! Habe Vertrauen in mich!“, erwiderte der
ältere Junge beschwichtigend, „Wir werden uns am Fluss orientieren.
Und mit diesen Worten fuhr er mit seinem lauten Gang fort,
während Napoléon ihm schweigend folgte.
Als sie schon viele Schritte gelaufen waren, vernahm der
Junge etwas. Er hielt an.
„Was ist denn?“, fragte Emmanuel.
„Ich höre etwas.“
„Unsinn!“
„Aber jemand ist da! Oder hast du keine Ohren?“, wisperte Napoléon,
„Ich habe die Sprache nicht verstanden, aber es war weder Französisch noch Deutsch.“
„Komm! Das will ich sehen“ Auf Zehenspitzen schlich Emmanuel
vorwärts.
„Emmanuel!“ Aber sein Bruder reagierte schon nicht mehr. Mit
einem Seufzen auf den Lippen folgte Napoléon ihm, während er zugleich Gott für
seine schützende Hand über ihnen anflehte.
Sein Bruder belauschte hinter einem kleinen Hügel liegend
die Soldaten, die soeben den Fluss überquerten.
„Also ist es wahr.“, meinte der ältere Junge leise, als sein
Bruder sich neben ihn duckte, „Die Deutschen sind da und haben unsere Armee
besiegt.“
Sein Vater würde sehr traurig sein, dachte der kleine Napoléon,
denn hatte dieser immer gesagt, dass Napoléon unbesiegbar sei. Aber weil die
Feinde hier waren, musste Napoléon
besiegt sein.
„Ich denke, dass es Russen sind.“, beurteilte
Emmanuel.
„Russen!“
Napoléon wusste nicht viel von diesen Russen. Sein Vater
bezeichnete sie als ungehobelte Barbaren, deren Bauern immer noch in
Leibeigenschaft lebten und nicht vom Segen der Revolution profitieren. Deshalb
hatte sein Vater es auch als rechtmäßig empfunden, als ihr Kaiser vor zwei
Jahren in Russland einmarschiert war, wo ihm leider der eisige Winter zum
Verhängnis wurde.
In Koblenz erinnerte der Kastorbrunnen an diesen Feldzug:
„Am MDCCCXII/ Erinnerung an den Russlandfeldzug/ unter dem Präfekturat von
Jules Doazan“ Napoléon glaubte nicht wirklich, dass die Russen diese Inschrift
mögen würden, wo die französische Armee doch sicherlich viel Leid unter der
Bevölkerung angerichtet hatte.
Er konnte nicht wissen, dass dies das Korps Saint-Priest
war, das überwiegend aus Russen bestand. Ebenfalls konnte er nicht wissen, dass
in demselben Moment das ebenfalls russische Korps Sacken den Rhein mit Fähren
bei Mannheim überquerte. Und auch der Bote hatte Recht gehabt, denn die beiden
anderen Korps der schlesischen Armee – Yorck und Langeron – setzten bei Kaub
über, wo sie zwei Pontonbrücken errichtet hatten, eine bis zu der Insel mit der
Zollburg Pfalzgrafenstein und eine andere von dort bis zum rechtsrheinischem
Ufer.
„Sieh!“, sagte sein Bruder und deutete auf etwas unter
ihnen. „Es ist ein General, denke ich.“
Aber Napoléon war
nicht im Mindesten so fasziniert wie Emmanuel.
„Ich will umkehren.“, sagte er flehend.
„Und was soll schon geschehen? Wir sind Franzosen, Napoléon
ist unser König und er ist unbesiegbar!“
Einen Moment überlegte, der Junge als Antwort zu entgegnen,
warum der Kaiser dann hatte Russland verlassen müssen, doch dann ließ er es
bleiben.
„Aber er ist nicht hier und wir sind alleine.“, erklärte er
also. Erneut begann er Emmanuel, am Ärmel zu zupfen.
„Hast du etwa Angst?“, fragte sein älterer Bruder spöttisch
und blickte auf ihn herab.
Natürlich hatte er Angst, doch das würde er vor Emmanuel
niemals zugeben, also schüttelte er den Kopf.
„Na also, dann gibt es ja auch kein Problem“ Mit diesen
Worten wandte er sich wieder von dem Jüngeren ab und blickte hinunter an den
Rhein, wo eben von einer Fähre neue Soldaten das Ufer erreichten und sich in
die bereits aufgestellten Reihen einreihten. Das leise Keuchen der Männer klang
bis zu ihnen herauf. Ab und an unterbrachen leise Stimmen die Stille, doch
verstummten die fremden Worte immer wieder rasch. Der Stahl der Bajonette
glänzte im Schein des Mondes und ließ den kleinen Napoléon vor Angst zittern
„Emmanuel!“, flehte er.
„Stille!“ Und dieses Wort schrie er laut und weithin hörbar
hinaus.
In diesem Moment geschah alles sehr schnell. Stimmen, ein
großes Paar Hände, das die beiden Jungen packte.
Napoléon schmeckte die Angst. Sie war überall: in seinen
Kleidern, im Gesicht seines Bruders, aber vor allem in seinem eigenen Herz.
Kalt und fesselnd war sie.
Die Soldaten diskutierten, aber die Jungen sahen nicht ihre
Gesichter, die nicht selten nur wenig älter waren als Napoléons ältester Bruder,
sondern nur ihre funkelnden Waffen.
„Ihr seiet Dutsche?“, fragte ein Mann plötzlich.
„Ja!“, antwortete Emmanuel und ignorierte den überraschten
Blick seines Bruders.
Der Fragensteller wechselte einen Blick mit seinen
Kameraden, dann verschwand er. Nun schlug Napoléons Herz den Trommeln gleich,
mit welchen die Heere ihre Signale übermittelten.
Als der Soldat zurückkam, wurde er von einem anderen Mann
begleitet. Es war der General, von dem Emmanuel so fasziniert gewesen war.
Vor den beiden Jungen hockte er sich hin.
„Woher kommt ihr?“ Seine Stimme klang nett, aber die Worte
waren fremd.
„Aus Koblenz“ Nur weil Napoléon seinen Bruder so gut kannte,
bemerkte er das leichte Zittern in seiner Stimme.
Der Russe sagte etwas sehr schnell, dass Napoléon nicht
verstand.
„Felix“, sagte Emmanuel.
„Und du?“
In diesem Moment verstand der Junge, dass der Russe seinen Namen
wissen wollte.
„Friedrich“, antwortete er also den ersten deutschen Namen,
der ihm einfiel: den des preußischen Königs, der Friedrich Wilhelm hieß.
Die folgenden Worte des Russen waren so schnell, dass die
Antwort Emmanuels nur stockend kam.
„Zieht ihr französisch vor?“, fragte der General in Napoléons
Sprache.
„Ja“ Das Wort kam zu schnell für seinen Verstand.
„Zwei kleine Franzosen, die sich durch die Dunkelheit schleichen.
Aber ist es wahr, dass ihr aus Koblenz kommt?“
„Ja“
„Und eure wahren Namen?“
„Emmanuel“, antwortete sein Bruder, während die Angst in
seinen Augen leuchtete.
„Napoléon“
Nachdem er diesen Namen genannt hatte, zog sich zuerst ein
Lächeln über das Gesicht des Generals, aber dann begann er leise zu lachen.
Er hatte ein schönes Lachen, fand Napoléon, auch wenn es den
Schmerz aus seinen Augen nicht vertrieb.
„Das würde den Krieg für uns deutlich einfacher machen. Aber
ich denke, dass du nicht Napoléon Bonaparte bist?“
„Nein.“, entgegnete der Junge, überrascht über diese Frage,
„Der Kaiser ist viel älter.“
„Selbstverständlich!“ Das Lächeln verschwand so schnell wie
der Schnee in der Sonne und in diesem Moment verstand Napoléon, dass die Zeit
der Nachsichtigkeit und Höflichkeit Vergangenheit war.
„Hört zu! Ich bin Guillaume de Saint-Priest und Kommandeur
dieses Korps, weshalb ich nicht viel Zeit besitze. Erzählt mir alles, was ihr
über die Befestigungen und die Soldaten in Koblenz wisst, dann wird euch nichts
Böses geschehen.“
„Seid Ihr Franzose?“, stellte Napoléon jene Frage, die ihm
auf der Zunge brannte, seitdem de Saint-Priest begonnen hatte, Französisch zu
sprechen.
„Meine Familie kommt aus Saint-Priest in der Nähe Lyons und
ich habe in Heidelberg studiert, aber es ist Russland und der ehrwürdige Zar
Alexander, der mir die Freiheit geschenkt hat. Und jetzt: erzählt!“
Also erzählte Emmanuel alles, was er wusste: über die
Soldaten, Doazan, der Gesinnung der Deutschen und den Befestigungen.
Sobald er damit fertig war, erhob sich de Saint-Priest und
verschwand.
Es sollte das letzte Mal sein, dass Napoléon diesen General
sah, der als Franzose geboren war, in den deutschen Ländern studiert hatte und
nun für die Russen kämpfte. Aber er hielt sein Versprechen.
Nachdem er Koblenz kampflos eingenommen hatte, da die
französische Besatzung es zuvor verlassen hatte, konnten die beiden Jungen zu
ihrer Familie zurückkehren, wo alle Kinder, aber auch die Erwachsenen, die
Geschichte von Emmanuel und dem kleinen Napoléon hören wollten.
Als er größer war, erkundigte sich Napoléon über diesen
General, der Menschlichkeit in Zeiten der Unmenschlichkeit gezeigt hatte.
Guillaume Emmanuel Guignard de Sait-Priest war tot. Nur drei Monate nach diesem
Neujahrstag war er an den Folgen seiner Verwundung von der Schlacht von Reims
gestorben.
Aber vergessen sollte Napoléon jene Begegnung nie. Denn
jedes Mal, wenn er ein Lächeln mit seinem Sohn Guillaume Emmanuel Guignard
austauschte, erinnerte er sich an diesen Moment.
Und immer wenn der am Kastorbrunnen vorbeikam, war es ihm
nicht anders möglich, als in Lachen auszubrechen.
Denn dort, wo Doazan geschrieben hatte: „Am MDCCCXII/
Erinnerung an den Russlandfeldzug/ unter dem Präfekturat von Jules Doazan“ war
nach dem Einzug der Russen eine neue Anschrift angebracht worden: „Gesehen und
genehmigt von uns, russischer Kommandant der Stadt Koblenz, am 1 Januar 1814“
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