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Die Fürstin des Winters

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26.01.20 19:27
Fertiggestellt

„So ist es, mein Lieber“, meinte die alte Frau in gütigem Tone. Ihr Enkelsohn saß vor ihr auf einem blauen samtigen Sitzsack und starrte sie an.

„Aber Oma, glaubst du nicht, dass sie uns helfen kann?“, fragte der Knabe. Seine schönen blauen Augen blickten für einen Moment in die Ferne. Sein blondes dichtes Haar war verstrubbelt und benötigte dringend einen Haarschnitt. Er hatte ein hübsches fast mädchenhaftes Gesicht, aber das würde sich noch ändern. Er war erst neun Jahre alt. Die roten Wangen leuchteten, seine Augen glitzerten. Waren es Tränen? Seine Großmutter seufzte leise. „Liebling, das ist nur eine Legende und das weißt du. Die Fürstin des Winters, des Schnees, der Kälte, der Eiskristalle und des Raureifs.“ Yngwie schüttelte den Kopf. „Du hast mal erzählt, dass Opa sie mal gesehen hat. Sie ist eine wunderschöne Frau und sie sammelt in ihrem Schneeschloss Eiskristalle. 

„Man sagt die Kristalle hätten heilende Kräfte“, murmelte Abelone, seine Großmutter. 

„Würden sie Papa helfen?“

„Es ist eine Legende, Yngwie.“

„Aber in jeder Legende steckt doch ein Körnchen Wahrheit, oder?“, fragte der Bub leise.

Sein Vater lag bereits seit Wochen mit Fieber im Bett. Bald würde er seine Arbeit verlieren, wenn es nicht bald wieder auf die Beine kam. Das Leben im Dorf war hart, besonders im Winter. Die Nahrungsmittel knapp, genauso wie das Holz zum Heizen.  Das Dorf befand sich auf einer Lichtung inmitten eines großen Waldgebietes wenige Kilometer entfernt von hohen Bergen. Manchmal, wenn es ganz schlimm war, kamen Lastwägen aus der großen Stadt und brachten das Notwendigste. Yngwie war noch nie in der Stadt gewesen. Sein Vater hatte es ihm versprochen, aber er konnte sein Versprechen nicht einhalten, so krank war er. 

Niemand hatte im bis jetzt helfen können. Einen Krankenhausaufenthalt konnte sich die Familie nicht leisten. Einmal war ein Arzt aus der großen Stadt da gewesen. Was er gesagt hatte? Nun, nur, dass Yngwies Vater einen seltenen Virus hatte und er ihm nicht helfen könne. 

„Sei nicht traurig, Yngwie. Dein Vater wird sich schon erholen. Die letzten Tage war das Fieber nicht mehr so hoch.“ Aber Abelone machte sich große Sorgen um ihren Sohn Alvar und ihr Enkel konnte dies spüren.

„Wann kommt Mama wieder?“, fragte Yngwie, während sein Blick durch das kleine Fenster wanderte. Es schneite in dichten Flocken, der Nebel war eingefallen und es würde bald dunkel werden. 

„Bald, hoffe ich. Es gibt bald Abendessen, Yngwie. Ich seh mal nach deinem Vater, gut?“

Yngwie nickte. „Ich gehe mal raus zu Lars, Oma.“

„Ist gut.“

Lars war ein Bärenkind, Yngwies bester Freund. Alvar, Yngwies Vater hatte ihn bei der Jagd gefunden. Seine Mutter war getötet worden. Da es sich bei Lars um ein Bärenbaby handelte, hatte sein Vater sich entschieden, ihn mit ins Dorf zu nehmen und ihn selbst großzuziehen. 

Das war ohne weiteres möglich, denn Yngwies Eltern hatten einen kleinen Bauernhof mit einigen Tieren. Dazum besaßen sie auch einen schönen Garten, einige Felder und einen großen Stall, indem sie das Bärenkind unterbringen konnten. 

Aber dieser Winter war hart und lange. Der Frühling wollte und wollte nicht kommen. Die Futtermittel gingen zur Neige und Alvar musste Heu zukaufen. Und jetzt diese Krankheit! Yngwies Mutter arbeitete in einem kleinen Laden, aber das Geld, dass sie nachhause brachte, reichte kaum.

 

In jener Nacht hatte Yngwie einen Traum. Die Fürstin des Winters erschien ihm in ihrer Pracht. Sie war wunderschön. Ihr Gewand bestand aus glitzerndem Raureif. Sie hatte silbergraues Haar und strahlende eisblaue Augen. Sie deutete Yngwie ihm zu folgen, was dieser auch tat. Am Fuße des hohen Berges befand sich eine Schneehöhle. Sie war nicht dunkel, sondern glitzerte in den schönsten Spektralfarben durch das Sonnenlicht. Eiskristalle so weit das Auge reichte konnte Yngwie sehen, als er Schritt um Schritt in die Höhle ging. Die Fürstin glitt vor ihm über das Eis und deutete auf den größten und schönsten Kristall. „Das Schmelzwasser dieses Kristalls wird deinen Vater von seiner Krankheit befreien“, wisperte sie. Dann war sie verschwunden. Yngwie fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.

„Yngwie!“, rief seine Mutter und weckte ihn zeitig am Morgen auf. 

„Mama?“ Yngwie rieb sich die Augen.

„Ich fahre in die Stadt und versuche noch mal den Arzt für Papa zu holen.“

„Was ist mit ihm?“ Yngwie war mit einem Mal hellwach.

„Es geht ihm wieder schlechter, mein Liebling.“ Yngwie konnte sehen, dass seine Mutter geweint hatte. „Viel schlechter“, fügte sie hinzu. „Aber das wird schon wieder.“

Yngwie lief zu seinem Vater ins Zimmer. Er setzte sich zu ihm an Bett und nahm seine große Hand in seine. „Papa? Kannst du mich hören?“, schniefte er leise.

Stille. Alvar atmete schwer. Seine Stirn war schweißnass, sein Gesicht blass. „Papa?“, fragte Yngwie erneut.

Doch er bekam keine Antwort. Lautlos erhob er sich und verließ das Zimmer. Als er die Türe hinter sich schloss, erinnerte er sich an den Traum von der Winterfürstin. Die Höhle. Der Bub fasste einen Entschluss. Gemeinsam mit Lars würde er der Herrscherin über den Winter einen Besuch abstatten. Vielleicht konnte sie sich ja endlich zurückziehen und dem Frühling Einlass gewähren. 

Yngwie hatte die Zeit gut abgeschätzt. Seine Großmutter schlief, seine Mutter war in der Stadt. Schule hatte er keine, da das Wetter zu schlecht war. „Komm Lars!“, rief er das Bärenjunge. Er hatte Fischstücke für das Tier dabei, um ihn zu locken. Auch hatte er sich eine Jause gerichtet, seine Schneeschuhe angezogen und eine Taschenlampe eingepackt. Es konnte losgehen. Yngwie zog das schwere alte Pferd aus dem Stall und kletterte darauf. Emil war ein guter Gaul, absolut wesensfest und Yngwie gewöhnt. 

Der Wald zog an dem Buben vorbei, als Emil munter dahin trabte. Die Höhle. Wo war sie nochmal. Am Fuß des großen mächtigen Berges. Aber die Sicht war schlecht, der Schneefall verdichtete sich, sodass Yngwie sich wünschte, die Skibrille dabei zu haben. Ab und zu schüttelte Emil seinen riesigen Kopf, als wollte er „Nein“ zu Yngwies waghalsiger Idee sagen. Das Bärenjunge jedoch spielte neben ihm im Schnee, sorglos und glücklich.

Eine Stunde war bereits vergangen, eine zweite. Yngwie musste sich eingestehen, dass es naiv gewesen war, an eine Legende zu glauben und einem Traum zu vertrauen. Aber Yngwie war verzweifelt und das entschuldigte seiner Meinung nach vieles. Auch Dummheit. 

Plötzlich schnaubte das Pferd und blieb abrupt stehen. „Emil, was soll das?“, schimpfte Yngwie. Doch dann sah er, was das Tier aufgehalten hatte. Sie standen vor einer riesigen Schneehöhle. Yngwie konnte es nicht glauben. Es gab sie wirklich. Er ließ sich von seinem Ross gleiten, rief den Bären zu sich und stapfte tapfer in die Höhle. Sie war stockfinster. Kein Leuchten, kein Glitzern, aber das war ganz normal, denn die Sonne ließ sich seit Wochen nicht mehr blicken. Yngwie schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete in die Höhle. Keine Kristalle, nur Schnee? Yngwie war enttäuscht. Trotzdem lief er tiefer in die Höhle. Aber nur aus einem Grund: Lars war verschwunden.

„Lars!“, rief Yngwie. „Lars. Ich habe Fisch für dich, komm schon!“

Nach einigen Minuten ließ sich Yngwie auf einen verschneiten Stein nieder und weinte bitterlich. Alles umsonst und jetzt war auch noch der Bär weg. „Lars!“, heulte er.

„Was ist los, mein Kind?“, fragte plötzlich eine Stimme. Yngwie erschrak mächtig. Die Winterfürstin? Er sah auf, doch anstatt eine schöne Frau vorzufinden, stand eine alte runzelige Dame vor ihm, in Lumpen gekleidet mit einer Fackel in der Hand. 

Lars hockte neben der Alten. Zufrieden. 

„Ich“, stammelte Yngwie verwirrt. 

„Die Winterfürstin, was?“, meinte die steinalte Frau mit einem Lächeln. „Du hast sie gesucht.“

„Woher wissen Sie das?“

„Der Traum“, wisperte die Alte. Yngwie blieb der Mund offen stehen. „Dein Vater, ich weiß. Komm mal mit.“ Die Frau nahm den Burschen an der Hand. Yngwie sträubte sich, der Alten zu folgen.

„Keine Angst, ich kann dir helfen“, murmelte die alte Frau. 

Ganz hinten in der Höhle, geschützt von Schneewechten, hatte die Alte ihr Reich. Ein Häuschen inmitten der Höhle? 

„Was?“, schnaubte Yngwie. 

„Komm, Yngwie.“

„Woher weißt du meinen Namen? Woher weißt du überhaupt so viel?“ Yngwie hielt inne und starrte die Alte an.

„Oh, ich weiß vieles, mein Kind. Ich kenne euch alle. Du musst nicht lange hierbleiben, ich möchte dir nur etwas für deinen Vater mitgeben, dann kannst du gehen.“

Vorsichtig betrat Yngwie das Haus. Lars trottete neben ihm her. Die Hütte der Alten war gemütlich. Der Bub kam aus dem Staunen nicht heraus. Es fehlte an nichts. Auch fließenden Wasser und Strom gab es. Wie war das möglich?

„Hier, mein Kind“, meinte die Alte unvermittelt und riss Yngwie aus seinem Staunen. Plötzlich wurde es finster. Panisch versuchte der Bub, sich zu orientieren. Er wollte schreien, rufen, aber er konnte nicht. Sekunden später erkannte Yngwie den Umriss von seinem Pferd, das ihn mit einem leisen Wiehern begrüßte. „Was?“, fragte Yngwie. Die Schneeflocken tänzelten in der Dämmerung vor seinen Augen. Der Wald hinter ihm erschien wie ein dunkler Schatten. Aber was hielt Yngwie in seiner Hand? Yngwie nahm die Taschenlampe und leuchtete auf den Gegenstand. Ein winziges Glasfläschchen mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit? 

„Geh nachhause Yngwie“, ertönte eine sanfte Stimme. „Dein Pferd wird dich tragen. Lars dich begleiten und die Wölfe abhalten.“

„Wer spricht da?“

„Gehe, Yngwie und gib die Medizin deinem Vater. Rasch. Sonst ist es zu spät.“

Yngwie kletterte auf das Pferd und Emil setzte sich sofort in Bewegung. So rasch, wie man es einem alten Pferd gar nicht zugetraut hätte. 

 

„Trink das, Papa!“, murmelte Yngwie, als er endlich in das Zimmer seines Vaters gelangte, ohne gesehen zu werden. Alvar seuftze leise, doch er öffnete den Mund, sodass ihm sein Sohn die Flüssigkeit einträufeln konnte. Danach verließ Yngwie das Zimmer und kehrte zu seiner Großmutter in die Stube zurück.

„Wo warst du?“, fragte diese kopfschüttelnd.

„Nirgends“, log Yngwie. „Nur bei Lars.“

„Du hast das Pferd genommen und warst im Wald.“

Yngsie presste die Lippen aufeinander. „Wann kommt Mama?“

„Bald.“ Die Großmutter sah ihren Enkel lange an. „Du hast sie gesucht, die Winterfürstin, oder?“

„Yngwie, Abelone!“, rief eine tiefe Stimme. „Astrid!“

„Papa?“ Yngwie hatte die Stimme seines Vaters lange nicht mehr gehört. Er sprang auf und hetzte in das Schlafzimmer. Sein Vater saß im Bett, zum ersten Mal seit Wochen.

„Yngwie, mein Schatz. Mama!“ Alvar sah beide an. In seinen Augen leuchtete das Leben. 

„Was ist passiert?“, stammelte Abelone fassungslos. Yngwie heulte neben ihr und ließ sich nicht beruhigen.

„Weiß ich nicht, aber mir geht es gut. Nur habe ich Hunger und Durst.“

„Was ist hier los?“, fragte Astrid, Yngwies Mutter, als sie von der Stadt endlich heimkam. „Alvar?“, fragte sie ungläubig. „Ich hatte Angst, du wärst bereits tot, wenn ich zurückkomme.“ Sie wischte sich die Tränen von den Wangen.

„Komm her, mein Liebling“, schniefte Alvar, stand auf und umarmte seine Frau. Danach Yngwie und seine Mutter. „Ich weiß auch nicht, aber mir geht es endlich wieder gut.“

Yngwie schwieg. Das Mittel der Alten hatte geholfen. War sie die Winterfürstin in ihrer menschlichen Gestalt gewesen?  

 

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Kurzbeschreibung

Ein Kind rettet seinen Vater

Kategorisierung

Diese Story wird neben Abenteuer auch im Genre Fantasy gelistet.