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Kapitel: | 8 | |
Sätze: | 368 | |
Wörter: | 7.577 | |
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Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr nehme ich Fluctin. Als meine Mutter und ich damals beim Arzt saßen, wollte er es erst nicht verschreiben, weil er meinte, ich solle mich nicht daran gewöhnen, zu versuchen, meine Probleme mit Tabletten zu lösen.
Ich sagte: „Wenn diese Tabletten meine Probleme doch aber lösen können?“
Er sagte, dass er gar nicht glaube, dass ich wüsste, was richtige Probleme seien. Und dann sagte ich, dass er vielleicht nicht richtig verstand, was für Probleme die Leute hätten und dass ich es ziemlich anmaßend fand, wie er über die gefühlten Probleme anderer Leute urteilte und dass ich es außerdem lächerlich fand, dass wir mit dem Wort „Probleme“ die eigentlichen Tatsachen so umschrieben, als hätten wir Angst vor ihrer konkreten Bezeichnung.
Daraufhin wies er mich zurecht und meine Mutter gleich mit, weil sie anscheinend nicht in der Lage war, ihre Tochter zu erziehen, ohne dass diese bereits im Teenageralter glaubte, eine Existenzkrise zu erleiden. Dass meine Mutter das zum Kochen brachte, bemerkte ich, er aber nicht.
Ich fragte ihn, ob er der Ansicht sei, dass Menschen, denen etwas Gutes widerfuhr – eine Heilung oder eine Verbesserung des Gesundheitszustandes zum Beispiel –, dafür etwas bezahlen, also eine negative Erfahrung als Ausgleich für die gute in Kauf nehmen müssten, und er sagte, alles habe seinen Preis. Alles habe Konsequenzen und Psychopharmaka nun mal Nebenwirkungen. Es sei nicht üblich, Jugendliche auf diese Weise zu behandeln und er wisse auch gar nicht so genau, ob es überhaupt ein Mittel gäbe, das für Menschen unter 18 zugelassen war und wenn, dann habe man keine Erfahrungen damit.
Er schlug vor, ich sollte eine Gesprächstherapie versuchen, aber dafür war ich zu ungeduldig. Ich brauchte diese Tabletten jetzt sofort. Ob ich nicht eine Kur machen wollte? Himmel, Gott, nein! Was ich von Kunsttherapie hielt? Gar nichts.
Ich hatte mich über all das informiert und mich entschieden, sinnlose Beschäftigungen kategorisch abzulehnen. Ich wollte keine Zeit verschwenden, sondern am besten morgen schon wieder funktionieren. Ich hatte auch über Elektroschocks gelesen und Insulintherapie, kam aber zu dem Schluss, dass ich am ehesten von dem Zeug profitieren würde, das genau dort ansetzte, wo das Problem entstanden war: In meinem Gehirn.
Es ist nichts dabei ein krankes Gehirn zu besitzen. Andere Leute haben kranke Nieren oder ein krankes Herz. Niemand findet es schockierend, wenn man dagegen Medikamente nimmt. Ein Gehirn gilt aber aus irgendwelchen Gründen nicht als Organ, sondern als Sitz der Persönlichkeit. Meiner Ansicht nach, ist es vollkommen überbewertet. Oder unterbewertet, weil man nicht glaubt, es heilen zu müssen und sich nicht traut, es nach eindeutigen Kriterien zu bewerten. Das halten sie für unsensibel. Dann aber frage ich mich, wieso dieser sogenannte Experte nicht einfach mir die Bewertung meines eigenen Oberstübchens überließ, sondern mir einreden wollte, alles käme schon wieder von alleine in Ordnung und ich befände mich nur gerade in einer Phase.
Als wir nach diesem ermüdenden Gespräch mit dem meiner Ansicht nach völlig inkompetenten Arzt im Auto saßen, hatte ich trotzdem mein Rezept für Fluctin und meine Mutter eine Riesenwut.
„Wenn einer einen Kurs in Psychologie braucht, dann dieser Kerl!“, fand sie, „Wie kann man Psychiater werden, wenn man so wenig von Menschen versteht? Es sieht doch jeder, dass du krank bist!“
Ich sagte nichts.
Sie fuhr fort: „Sowas kann man einem doch nicht abgewöhnen oder abtrainieren!“ Sie warf mir einen verstörenden Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Vorwurfsvoll? Mitleidig? Unverständig? Angeekelt? Hilflos? „Da braucht es Medikamente! Wo ist das Problem? Es gibt diese Mittel doch, um solche Dinge zu behandeln. Warum soll man sie dann nicht nutzen?“
„Weil Leiden irgendwie reinigend wirkt“, murmelte ich.
„Ach Blödsinn!“, sagte meine Mutter.
„Doch!“, erwiderte ich, „Ich glaube, das denkt er. Wer sein Leiden annimmt, der bekennt reuig seine Sünden.“
„Du meine Güte, das meinst du doch nicht ernst!“
„Nein“, bestätigte ich ein wenig niedergeschlagen. Sie verstand meine Argumentationen nie.
„Eine Pfeife!“, urteilte meine Mutter weiter.
„Er findet einfach, dass man sich anstrengen muss. Deshalb gibt er nicht einfach so Medikamente raus. Er möchte halt sehen, wie sehr die Patienten danach verlangen“, sagte ich, „Das ist schon okay. Am Ende hat er es ja rausgerückt.“
„Das ist kein Wettbewerb!“, behauptete meine Mutter, aber ich zweifele daran, denn im Grund ist doch alles ein Wettbewerb. Wer bekommt die besten Noten? Wer hat die definierteste Figur? Wer den modischsten Haarschnitt? Wer kennt die neuesten Bands? Wer kann sich die teuersten Klamotten leisten? Wer fährt das dickste Auto? Wer erträgt am meisten Schmerz? Ich denke, da gibt es kaum einen Unterschied, nur dass wir das eine als „krank“ bezeichnen und das andere als „strebsam“.
„Ohne Hilfe machst du dich irgendwann kaputt!“, sagte meine Mutter und ich fand, dass das eigentlich ja auch jeder machte und es deshalb nicht unbedingt erwähnenswert war.
Später erfuhren wir, dass es für Fluctin tatsächlich keine Zulassung für Jugendliche gab. Ich fühlte mich wie ein Versuchskaninchen und das machte mich ein wenig stolz. Es war etwas, womit man angeben konnte.
Aber ich wollte die Tabletten vor allem deshalb, weil ich zwar gut im Rennen um die Frage lag, wer am meisten Schmerz ertrug, ich jedoch bemerkte, wie es an anderer Stelle zu bröckeln begann. Ich konnte mich weniger konzentrieren, schlief schlecht, verlor den Appetit und meine Noten drohten abzufallen.
Schlechte Noten aber kann ich mir nicht leisten. Ich habe Pläne.
Ich glaube, es gibt Fixpunkte in der Weltgeschichte, Ereignisse, die eine Wende markieren und an die man sich ewig erinnern wird. In der Generation meiner Eltern weiß jeder, was er am 22. November 1963 gemacht hat. In meiner hingegen wird man sich für immer an den 08. April 1994 erinnern.
Ein Freitag. Viele Leute, die ich kenne, erzählen davon, dass sie bereits Tage zuvor düstere Vorahnungen gehabt hätten und diese ganze Aprilwoche unter einem schlechten Stern gestanden habe. Dunkler sei es gewesen, die Atmosphäre geradezu apokalyptisch. Meine Erinnerungen an den 08. April 1994 sind dabei eher profaner Natur und ich habe mir nie die Mühe gemacht, sie auszuschmücken. Für mich hat der Tag sogar eher ein glückliches Ereignis bereitgehalten: Ich saß im Sekretariat unserer Schule und wartete.
Die Flure lagen leer, dunkel, kalt und brach vor mir, als ich eintrat, denn es waren noch Osterferien. Keine Lehrer, keine Schüler, keine Schulglocke, die den Morgen erbarmungslos in kleine Zeitabschnitte zerteilte und uns wie eine Herde Schafe herum scheuchte von Klassenraum zu Klassenraum. Das ganze Gebäude hätte genauso gut ein Mausoleum sein können. Doch als ich diesen klotzigen Hohlraum betreten hatte, fühlte ich mich trotzdem irgendwie erhaben. Meine Schritte hallten von den Wänden wider, was ihnen den Ruch von Bedeutung gab. Ich dachte: Was einen Menschen wirklich heraushebt aus der Masse, ist, wenn er ein Echo verursacht.
Nur im Sekretariat brannte Licht und eine übelgelaunte Sekretärin suchte in einem Unterlagenstapel nach dem richtigen Formular. War sie etwa heute extra nur für mich aufgestanden und hierher gefahren? Konnte schon sein, ich traute mich aber nicht, sie zu fragen.
Ich brauchte nur einen Stempel auf meinem Antrag und im nächsten Jahr würden sie mich los sein. Nicht, dass sie mich gerne loswerden wollten, aber ich hatte das Gefühl, dass es mir guttun würde, wenn ich sie eine Zeitlang nicht sah.
Dass ich heute zur Schule kommen musste und die Sache nicht bis Montag warten konnte, lag daran, dass irgendjemand irgendeinen Termin verschlafen hatte – höchstwahrscheinlich die Sekretärin, denn sie hatte mich angerufen und hergebeten.
Ich bekam schließlich meinen Wisch, sowie den Kommentar: „Ein bisschen Eigeninitiative wäre wünschenswert, wenn man sich schon für sowas bewirbt!“ Ich überhörte das geflissentlich, brachte das Formular selbständig zur Post und marschierte leichten Herzens nach Hause. Das nächste Schuljahr werde ich in Donegal, im Norden der Republik Irland verbringen.
Die schrecklichen Nachrichten des Tages hörte ich erst, als ich mich im Wohnzimmer auf die Couch warf und MTV einschaltete. Immer, wenn einem etwas Gutes widerfährt, muss man dafür etwas Schlechtes ertragen. Das war es zwar nicht, was Kurt Loder sagte, aber ich bin sicher, es wissen bereits alle, worum es geht.
Meine Mutter mag es nicht, dass ich so viel vor dem Fernseher sitzt. Ich sagte zu ihr, es sei gut für mein Englisch, wenn ich möglichst viel englisches Fernsehen schaue. Sie findet, dass man von diesem Slang-Sender doch eigentlich nichts lernen kann, außer wie man flucht oder sich Drogen beschafft. In ihren Ohren klingt jede Fremdsprache irgendwie kriminell.
MTV aber bildet für mich ein Fenster zur Welt. Und ja, mein Englisch hat sich dadurch verbessert! Es ist so gut, dass man mich ein ganzes Jahr auf der Insel verbringen lässt. Nicht in England – da wollte ich nicht hin. Ich wollte nach Irland, weil mir ein Satz meines Vaters im Gedächtnis hängen geblieben ist.
Es gibt diese Sätze, die man hört und nie wieder vergisst, die Fix- und Wendepunkte im Leben eines Menschen. Mein Vater sagte: „Die Engländer haben einen Sinn für Trübsinn. Die Iren haben ein Gespür für Magie.“
Er hat es nur einmal so dahin geplappert und wahrscheinlich sofort danach selbst wieder vergessen. Wahrscheinlich hat er es sogar gar nicht ernst gemeint, aber es brachte in mir eine Saite zum Klingen.
Ich will nicht in ein Land, wo man den Trübsinn zelebriert. Trübsinn kenne ich zur Genüge. Ich will in ein Land, dem positives Denken sozusagen in Mark und Bein übergegangen ist, wo man Fröhlichkeit schon im Grundwasser nachweisen kann, dessen Geschichte einen Triumph darstellt und keine Aneinanderreihung von Bestialitäten. Ich will ein Land besuchen, das ein Gegenbeispiel zu der These vorzuweisen hat, dass die Menschheit, ihre Entwicklung und Zivilisation in Wahrheit eine Plage darstellen. Ich spüre, dass ich eine solche Erfahrung brauche, um nicht vollends dem Ekel gegen alles und jeden zu verfallen.
Wenn man 16 ist und keinen Idealismus besitzt, ist man eigentlich schon tot. Ich weigere mich, mir die letzten Reste meiner Hoffnung auf ein positives Menschenbild in den langweiligen, wohlbekannten, bis zum Irrsinn ausgetrampelten Straßen meiner Heimatstadt zerstören lassen. Mürrische Gesichter, wohin man blickt. Leere Seelen, abgestumpfte Ansichten, verschlissene Freundschaften. Hier passiert einfach nie etwas.
Warum so viele Jugendliche frustriert sind, ist eine Frage, die man sich erst stellt, wenn man die Frustration nicht mehr als Belastung, sondern als Bereicherung begreift. Ich glaube, das wahre Genie steckt in der Unzufriedenheit, nicht im Gefühl, schaffen zu können oder geschafft zu haben, was man sich vorgenommen hat. Perfektion ist ein Prozess, kein Produkt. Warum sind gerade junge Menschen genervt und fühlen sich unwohl mit dem, was um sie herum passiert?
Weil sie noch nicht desillusioniert sind? Weil sie immer noch daran glauben, etwas bewegen zu können? Weil sie Angst haben, so zu enden wie ihre Eltern? Weil sie dagegen rebellieren, was Lehrer aus ihnen machen wollen?
Die ungebändigte Wut junger Leute entlädt sich gegen alles Etablierte, alles, was sie als gescheitert ansehen, weil für diese Erkenntnis die Alten offensichtlich zu dumm, zu blind oder zu satt sind. Sie glauben, die Kraft für Veränderungen zu besitzen und sie spüren, wie man sie zurückhält, wie man sie übervorteilt und bevormundet.
Und dann sehen sie ihren Eltern ins Gesicht und erkennen, dass sie diese Menschen eigentlich lieben müssten, dass sie dankbar sein müssten und dass sie dafür dann aber doch zu stolz sind. Sie wissen: Eines Tages werden sie genauso sein. Sie wissen um ihre Prägung, deshalb fürchten sie sich davor. Sie fürchten, bereits verdorben zu sein. Sie fürchten, dass man ihr Potenzial bereits abgewürgt hat, als sie noch keine Chance gehabt hatten, sich zu wehren. Deshalb wehren sie sich jetzt – blind vor Wut und Angst, dass es zu spät sein könnte – gegen alles und jeden. Sie rennen davon, sie knocken sich aus, sie verweigern jeden vermeintlichen Zwang, jede unsinnige, künstliche Regel, jeden gutgemeinten Ratschlag.
Meine Mutter zum Beispiel ist berüchtigt dafür, ungefragt zu allem eine Meinung und einen Lösungsvorschlag bereit zu halten und manchmal erweist sich das durchaus als Vorteil für mich. Wenn sie etwas will, dann bekommt sie es. Das bedeutet einerseits, dass ich mein Zimmer wirklich immer aufräumen muss, wenn sie eine entsprechende Anweisung gibt. Andererseits heißt es aber auch, dass ich alle Tabletten bekomme, die ich will, wenn ich ihr nur glaubhaft versichern kann, dass ich sie brauche und sie mir guttun werden.
Meine Mutter unterscheidet strikt zwischen Drogen und Medikamenten. Während sie Erstere mit geradezu religiösem Eifer ablehnt, so entpuppt sie sich als Ketzerin, wenn es um Letztere geht. „Wenn der Körper eine Fehlfunktion hat“, sagt sie, „dann muss man diese kompensieren! Wenn der Körper keine Fehlfunktion hat, dann darf man ihn nicht mutwillig kaputt machen!“
Sie schärfte mir auch ein, dass es wichtig ist, so viel Wissen aufzunehmen, wie man kann. Wissen sei der Schlüssel, der alle Türen aufschließt. Nichts habe im Berufsleben eine höhere Rendite als eine umfassende Bildung. Das sagt sie, weil sie selbst weder eine umfassende Bildung, noch einen hochbezahlten Beruf hat.
„Du sollst es mal besser haben!“, sagt sie, aber ich kann mir darunter nicht viel vorstellen. Sicher will ich später nicht so leben wie meine Mutter, aber es gibt auch Schlimmeres. Obdachlos sein, zum Beispiel. Ich versuche manchmal, mir vorzustellen, wie ein „besseres Leben“ denn aussehen könnte und erstaunlicherweise bleiben die Bilder dazu unkonkret und verschwommen. Irgendwas mit Schreiben, stelle ich mir vor. Aber nichts Massentaugliches. Wenn ich aber nicht für die Massen schreiben will, wie soll ich dann Geld verdienen? Irgendwas mit Musik vielleicht. Aber bloß nicht in der Öffentlichkeit stehen! Irgendwas mit Zeitungen oder Fernsehen – oder Radio. Aber bloß nicht sowas wie das Zeug, das da heute so durch den Äther gejagt wird. Ich will es einfach niemandem recht machen. Aus Prinzip. Aber Leuten, die jeden vor den Kopf stoßen, haben es nicht „besser“, sondern stehen ständig unter Stress.
„Irgendwann wirst du einsehen, dass jeder Kompromisse machen muss!“, sagt meine Mutter.
Das ist das Problem, glaube ich, alle erwarten, dass jeder immer Kompromisse eingeht und deshalb gibt es keine Ehrlichkeit mehr! Alles ist aufgeweicht und auf Konsens ausgerichtet. Deshalb kommt auch niemand mehr mit Provokationen klar. Deshalb traut sich auch niemand mehr, zu sagen, was er wirklich denkt! Alle haben Angst. Alle sind ständig auf der Hut. Alle suchen ständig nach Aufregung, nur sie selbst wollen niemanden aufregen.
Ich aber will die Aufmerksamkeit. Ohne darüber nachzudenken, will ich heraustreten aus der Masse, mich vor sie stellen und ihr erklären, warum sie mich so ankotzt. Wie könnte ich auch ein Teil davon sein, ohne mich für meine Verlogenheit schämen zu müssen? Meine Prägung lautet: Wenn dir etwas nicht passt, dann sag es, oder leb mit den Konsequenzen! Und ich glaube, es ist nicht die schlechteste Botschaft, die eine Mutter ihrer heranwachsenden Tochter mitgeben kann.
Ich will dieses „bessere Leben“ – egal, wie es aussieht, denn alles, was ich ansehen oder mir vorstellen kann, ist Scheiße. Ich will etwas tun, das die Leute aufweckt und ihnen verdeutlicht, auf was für einem falschen Weg sie sind oder zu was für Arschlöchern sie geworden sind, als sie entschieden haben, dass Kompromisse das Leben einfacher gestalten.
Ich will die Konfrontation und eine Bewegung. Ich will, dass irgendetwas passiert und ich will Dinge zerstören, um sie neu aufzubauen. Reformieren bringt nichts! Es braucht eine Revolution, keine Weiterentwicklung von etwas Bestehendem. Im Gegenteil: Alles Bestehende muss zerschlagen werden und etwas völlig Neues entwickelt. Etwas Echtes, Wahres, Aufrichtiges.
Und ich will es nicht nur in der Phantasie, sondern weiß, dass es echte, reale Arbeit sein wird, dass ich vermutlich tausendmal scheitern muss, ehe man mich anhören und verstehen wird. Aber ich muss eben anfangen, mich hinsetzen und einen Plan ausarbeiten. Ich muss wissen, was ich meine und was ich will, denn man überzeugt niemanden, indem man nur betont, was einem auf die Nerven geht.
Und meine vage Idee gerinnt zu einem recht konkreten Plan. Ich habe viel zu sagen und mein Medium wird ein großes, bedeutendes Werk werden, das die Seele meiner Generation auf Papier bannt. Ein Buch, ein Manifest. Das endgültige, abschließende Werk, das dieser Gesellschaft den Todesstoß versetzt, indem es ihr den Spiegel vorhält, damit sie am Anblick ihrer eigenen entstellten Fratze zu Grunde geht und Platz macht für einen neuen, verbesserten Menschen.
Mein Psychiater vertritt die Ansicht, dass meine Probleme in direktem Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters stehen. Ich weiß nicht, woraus er das schließt. Wahrscheinlich, weil es so naheliegend ist. Ich persönlich glaube jedoch, dass die ganze Sache etwas komplexer ist, als dass man es auf ein einfaches Trauma zurückführen kann.
Mein Vater starb exakt an meinem vierzehnten Geburtstag, was es mir unmöglich macht, dieses Datum je wieder zu vergessen und mir eine Jugend bescherte, die ich zu einem weit größeren Teil auf dem Friedhof verbrachte, als es gut für mich gewesen wäre. Aber sein Tod stellte lediglich das Ende eines Prozesses dar und ich verglich ihn gerne mit dem Auflösen eines Knotens.
Drei Jahre zuvor – im Alter von gerade vierzig Jahren – war bei ihm ein Pankreaskarzinom im Frühstadium entdeckt worden. Man dachte: Früh genug. Tatsächlich aber handelte es sich um eine ziemlich hartnäckige Krankheit, die sich einfach nicht wegtherapieren ließ. Drei Jahre lang erlebten wir ein Tauziehen zwischen moderner Medizin und barbarischer Wucherung. Mal punkteten die einen, dann schlug die andere zurück.
In dieser Zeit entwickelte ich ambivalente Gefühle gegenüber Ärzten. Ich war nicht sicher, ob es sich bei ihnen um eine Bande von Scharlatanen oder um das Bindeglied zwischen wissenschaftlicher Elite und Menschlichkeit handelte. Ich wusste nicht, ob ich ihnen trauen sollte, oder ob sie Menschen mit unheilbaren Krankheiten nicht doch eher als Versuchskaninchen betrachteten.
Meiner Mutter versicherten sie, dass Vater einen absoluten Ausnahmefall darstellte, der sein Überleben nur dem medizinischen Fortschritt verdankte und meine Mutter glaubte das. Sie sagte noch nach seinem Tod: „Wir hätten nicht mehr so viel Zeit mit ihm gehabt, wenn wir diese ganzen Therapien nicht gemacht hätten.“
Wahrscheinlich hat sie Recht, jedoch bedeutet diese Tatsache, dass die letzten Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, Bilder sind, in denen er sich von einem Tag zum nächsten quält – ein Todeskampf, der künstlich in die Länge gezogen wurde. Drei Jahre lang Verfall. Ich begann, mich zu fragen, wo die Trennungslinie zwischen Barmherzigkeit und Sadismus verlief.
Mein Psychiater meint, mein Problem sei der Verlust. Ich käme nicht damit klar, verlassen zu werden und müsste lernen, selbst Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.
Ich finde das zynisch. Ich habe meinen Vater nicht mit dreizehn verloren, sondern bereits drei Jahre davor. Ich war nicht reif oder zumindest heranwachsend oder jugendlich und ich befand mich ganz sicher nicht in der Lage, Verantwortung für mich zu übernehmen, als ich zehn war. Die Probleme liegen nicht im Verlust, sondern darin, dass ich nicht genießen kann, wenn ich weiß, dass der Genuss irgendwann zu Ende sein wird.
Drei Jahre habe ich Zeit gehabt, um mit meinem Vater zu leben und in diesen drei Jahren dachte ich an nichts weiter als daran, dass er sterben und dass es dann auch egal sein würde, ob ich hier und heute mit ihm glücklich gewesen war, denn wenn er erstmal tot war, stellte vergangenes Glück im besten Fall einen Beweis für meine Naivität dar. In meinem Magen ballte sich außerdem das Gefühl zusammen, dass es geradezu obszön wirken würde, wenn man sich in Zeiten der Trauer bewusst an bessere Zeiten zurückerinnert. Es gehört sich einfach nicht, es ist unangemessen, dumm und wird der eigenen Betroffenheit nicht gerecht.
Ich sage Betroffenheit, weil das Wort „Schuld“ hier nicht passt, aber im Grunde habe ich Trauer immer als eine Form von Schuld wahrgenommen und ich grübelte mehr als eine Nacht darüber nach, ob Krankheit und Verlust nicht Strafen für dumme Gedanken oder Fehler darstellen. Habe ich irgendwann und irgendwo vielleicht eine Konsequenz nicht richtig bedacht? Ist das Leben wirklich eine einzige riesige, komplex verschachtelte Kettenreaktion?
Mit den Jahren verblassten die Erinnerungsbilder, die mir von meinem Vater geblieben sind und alles, was von ihm noch in mir haftet, sind Sätze, die er mal gesagt hat. Mit 16 habe ich sein Gesicht schon fast vergessen. Auf Fotos blickt mich ein Fremder aus einer fremden Welt an. Ich bin ein Teenager und hatte das Gefühl, uralt zu sein.
Mein Problem ist nicht das Verlassen-werden. Es ist die Veränderung und die Stagnation. Ich ertrage beides nicht. Ich bin Neuigkeiten gegenüber unaufgeschlossen, aber das Althergebrachte nervt mich beinahe noch mehr.
„Es ist wie mit dem Hören“, erklärte ich meinem Psychiater einmal. „Eine zu laute Umgebung löst Stress aus, aber komplette Stille treibt einen in den Wahnsinn.“
Ich brauche immer etwas, das mich stimuliert, sonst verfalle ich in einen katatonischen Zustand. Bekomme ich aber zu viele Stimuli, brennt irgendwo in mir eine Sicherung durch.
„Vielleicht tut dir ja eine Luftveränderung ganz gut“, meinte mein Psychiater hoffnungsvoll, „Mal was anderes sehen, neue Leute kennen lernen, weg von zu Hause.“
„Ja, vielleicht“, sagte ich und glaubte, eine kleine Stichelei gegen meine Mutter aus seinem Satz herausgehört zu haben, was mir missfiel, denn ich spielte in ihrem Team, nicht in seinem.
„Mal nicht so viel nachdenken, sondern einfach mal was erleben“, sagte er weiter, aber da hörte ich ihm schon gar nicht mehr zu und nickte nur noch.
Ich dachte schon wieder. Das ist auch so eines meiner Probleme: Während andere Leute Dinge einfach machen, denke ich so lange darüber nach, welche Möglichkeiten ich habe, bis es zu spät ist. Vielleicht lege ich es drauf an, mich nicht zu einer Entscheidung durchringen zu müssen. Vielleicht habe ich Angst davor, verantwortlich für die Konsequenzen zu sein.
Ich denke alles Mögliche. Tagträume, Theorien, Argumentationen, die ich niemals jemandem unterbreite, Gedankenexperimente… Alles, um mich davon abzulenken, wenn sich die so mühsam und mutwillig zerknüllten und verblassten Bilder wieder entfalten, an Farbe gewinnen und plastisch werden. Aus dem gleichen Grund, weigere ich mich, mit meinem Psychiater über meine Nachtträume zu sprechen.
Was sind die drei größten Tragödien im Leben eines Egoisten? Anerkennung, Schmähung und Mittelmäßigkeit.
Es ist einsam an der Spitze und Bewunderung ist bei Weitem nicht so nahrhaft wie Freundschaft. Erfolg ist eine betrügerische Braut und wer versucht, sein Leben nach ihr auszurichten, der wird erfahren, wie oberflächlich Liebe sein kann.
Schmähung hingegen ist ehrlich, dafür zerstörerisch. Wer die Erfahrung der Ablehnung macht, der gleitet ab in Selbstzweifel oder Wahn. Beides vergeudet Ressourcen. Beides lähmt.
Meine persönliche Tragödie aber ist weder das Zerbrechen an zu viel noch das Zugrundegehen an zu wenig Ruhm. Ich bin gefangen in der dumpfen Einöde der Mittemäßigkeit – ein Ort, an dem alles schon mal gesagt oder gedacht worden ist, ein Ort, an dem niemand Interesse an etwas Neuem aufbringt und ein Ort, an dem man vor lauter Gedränge seinen Platz nicht finden kann.
Dass ich eine Egoistin bin, weiß ich, seit ich einmal einen Klassenkameraden bei einer Lehrerin verpfeifen wollte, nachdem er in einer Schularbeit zu spicken versucht hatte. Ich tat es so, dass niemand es mitbekam und ich nicht als Petze dastand. Nach der Stunde suchte ich die Lehrerin auf und erbat mir ihre Diskretion. Dann erzählte ich ihr alles und sie hatte daraufhin nichts Besseres zu tun, als mich einer Strafpredigt über unkollegiales Verhalten und Denunziation zu unterziehen. Ich ließ es über mich ergehen, stimmte ihr jedoch nicht zu.
Der springende Punkt ist jedoch, dass ich meinen Klassenkameraden nicht verpfiffen habe, weil ich ein übertriebenes Gerechtigkeitsgefühl besitze, sondern weil dieser Kerl mir meine Position als Klassenbeste streitig machte und mich womöglich überholt hätte, wenn er erfolgreicher spickte, als ich lernen konnte. Es ging mir nicht um einen gerechten Wettbewerb. Es ging mir einzig und allein um meinen Vorteil und wenn er falsch spielte, dann konnte ich das schon lange.
Im Endeffekt verspielte ich meine Position mit meiner Aktion und meinem damals immer instabiler werdenden Zustand. Ich hatte meinem Bild, das jene Lehrerin von mir besaß, nachhaltig geschadet und ich erfuhr so etwas wie Ekel, den sie mir mit einem Mal entgegenbrachte. Ich überlegte, ob sie vielleicht Angst vor mir hatte, ob sie mich für unberechenbar hielt und fand ihr Verhalten so lächerlich, dass ich sie für den Rest den Schuljahres nicht mehr ernst nehmen konnte.
Jedenfalls lernte ich über mich, dass ich eine Egoistin bin und dass ich dagegen wahrscheinlich nichts werde tun können.
Man muss damit umgehen, wenn man etwas an sich nicht leiden kann. Man muss versuchen, es zu ändern und sich zu optimieren. Das Problem ist nur: Ich mag meinen Egoismus. Ich kann mit Anerkennung genauso gut leben wie mit Ablehnung. Das hatte ich gerade erfahren. Was ich verlassen will und womit ich kein bisschen klar komme, ist die Mittelmäßigkeit, die ich immer noch an den Tag lege, wenn ich meine Arbeiten mit denen meiner Vorbilder vergleiche.
Ich will das Extrem. Sie sollen mich entweder anbeten oder verdammen. Ich will entweder Hass oder Liebe. Unbestimmte Sympathie ist keine Option. Sie ist verlogen, sie kostet keine Überwindung, provoziert keine Entscheidung. Ich will, dass die Leute über mich nachdenken und zu einer Schlussfolgerung kommen. Sie sollen urteilen. Ich will es, weil ich ihnen dann überlegen wäre. Wenn die anderen Position beziehen, glaube ich, fällt es mir leichter, eine Gegenposition einzunehmen. Vielleicht werde ich dann endlich wissen, wohin ich gehöre. Vielleicht finde ich dann endlich einen Platz, an den ich mich anpassen, eine Aufgabe, irgendwas, an dem ich mich festhalten kann.
Es fällt mir schwer, mich selbst zu definieren, ohne meinen Standpunkt im Rahmen eines Spektrums betrachten zu können, deshalb muss ich ausloten, in welcher Beziehung ich zu anderen stehe. Ich brauche ihre Ansichten, um meine eignen daran zu reiben. Ich brauche irgendwas, um mich daran zu reiben.
Man muss entweder ganz unten oder ganz oben sein, glaube ich, sonst ist das Leben sinnlos. Man muss etwas zu sagen haben und die Leute müssen entweder zuhören und begeistert sein, oder weghören, sodass man sie als Ignoranten beschimpfen kann. Die Geschichte gibt den Dissidenten Recht, die Gegenwart der schweigenden Mehrheit, die sich vor Veränderung mehr fürchtet als vor der eigenen Knechtschaft.
Die Gegenwart interessiert mich kein Bisschen. In der Gegenwart leben nur Idioten. Die Gegenwart zeichnet sich vor allem durch eines aus: Beklommenheit der Zukunft gegenüber.
Wie anstrengend ich diese Angst empfinde! Wie lähmend diesen Zustand der Stagnation um jeden Preis! Alle Bemühungen gelten nur dem Erhalt, egal wie fehlerhaft das System ist.
Wenn man in die Zukunft blicken will, muss man in die Vergangenheit schauen, sage ich mir. Was schon mal gewesen ist, kann sich wiederholen. Ist es das, wovor alle Angst haben und weshalb sie alles totschweigen, das irgendwie progressiv klingt? Aber ist es nicht fahrlässig, offensichtliche Gefahren zu ignorieren? Machen Erfahrung einen mit der Zeit stumpfsinnig? Liegt darin das eigentliche Trauma der Menschheit? Warum lassen sie dann die Jungen nicht entscheiden? Weil Macht korrumpiert und weil es den Alten in ihren Positionen gefällt? Weil sie sich nicht wieder in die Abhängigkeit begeben wollen, die sie selbst als Kinder erfahren haben, deren Systematik sie jedoch nicht aufzugeben bereit sind?
Ich frage mich, ob es ein unabwendbares Schicksal ist, dass man als Erwachsener resigniert und am Ende so wird wie die, die man einst gehasst hat.
Wenn ich so darüber nachdenke, komme ich zu dem Entschluss, dass ich unter keinen Umständen jemals „ganz oben“ sein will und die Welt lieber von „ganz unten“ zu verändern versuchen sollte. Von oben kommen nie Veränderungen, glaube ich. Von oben kommen immer nur Belehrungen und Befehle. Von unten aber kommen die Hilferufe und die wahrhaftigsten Erkenntnisse der Realität. Man muss sich an die Verschmähten halten! Man muss auf die Abtrünnigen hören!
Ich tue viel dafür, selbst als Abtrünnige wahrgenommen zu werden. Leider genügt es nie und ich hänge fest im klebrigen Spinnennetz des Durchschnitts, der stumm zum Konsumieren verdammt ist, dem niemand etwas abseits der Indoktrinierung zutraut und der gebraucht wird – nicht als konstruktiven Teil der Gesellschaft, sondern als Statist in einer Inszenierung von „Schöne Neue Welt“.
Einmal hat der Chef meiner Mutter ihr und einer Kollegin einen Satz gesagt, der meine Mutter unendlich aufgeregt hat und wegen dem sie damals fast ihren Job hingeschmissen hätte. Sie hat es dann nicht getan, weil sie erkannte, dass es ja genau das war, was ihr Chef bewirken wollte, als er meinte: „Niemand ist unersetzlich.“
Meine Mutter arbeitet in einem Supermarkt und wir leben zu einen Teil von diesem Gehalt und zum anderen von einer kleinen Witwen- und einer noch kleineren Halbwaisenrente. Sie hätte es sich nicht leisten können, den Job wegen einer Eitelkeit hinzuschmeißen.
Was aber, wenn ihr Chef Recht behält. Ich meine, er führt seinen Laden nicht erst seit gestern und nach den Maßstäben, die man für eine solche Berufung anlegen muss, ist er ein erfolgreicher Mann. Was also, wenn dieser Erfolg darauf beruht, dass er Recht hat, wenn er sagt, dass alle Menschen austauschbar sind?
Ich frage mich, wer mich ersetzen kann und ob man es überhaupt merken würde, wenn ich nicht mehr da wäre… also wenn ich in Irland sein werde. Ich frage mich, ob meine Klassenkameraden überhaupt an mich denken, wenn ich nicht anwesend bin. Ich frage mich, wie man es anstellen kann, nicht selbst jemanden ersetzen zu müssen, sondern man selbst zu bleiben, was auch immer das heißt.
Und dann fällt mir Kurt Cobain wieder ein. Kann man ihn ersetzen? Ersetzte er irgendjemanden? Kam er nicht damit klar, dass er in eine Rolle gedrängt wurde? Oder kam er nicht damit klar, dass er keine Rolle für sich fand?
Und erst, als ich mir überlegte, dass der einzige Ausweg aus diesem Ersetzen-und-Ersetzt-werden-Spiel der eigene Tod war, begann ich über Cobains Tod zu weinen.
Ich weine nicht sehr oft, denn ich sehe keinen Sinn darin. Es ändert nichts und es zieht nur die Menschen in der unmittelbaren Umgebung mit runter. Ich weiß, wie genervt ich bin, wenn ich jemanden trösten muss, deshalb verlange ich es von niemandem. Kurt Cobains Tod jedenfalls brachte mich zum Weinen und es war einer dieser ungesunden, unkontrollierbaren Heulkrämpfe, die immer wieder aufflammen, wenn man darüber nachdenkt, wie lächerlich man sich gerade verhält.
Irgendwann weint man nur noch aus Gewohnheit, weil einem sonst nichts geblieben ist, weil man glaubt, überhaupt nichts anderes mehr machen zu können und dass die ganze Welt es nicht verdient hat, dass man über sie etwas anderes als enttäuscht ist.
Was, wenn mit Kurt Cobain, der letzte aufrechte Mensch gestorben ist? Was, wenn die letzte Generation aufrechter Menschen bereits jetzt am Aussterben ist? Wenn sich alle aufrechten Menschen umbringen müssen, um nicht korrumpiert zu werden? Was macht sie nur so kaputt? Sehen sie etwas, das normale Menschen nicht wahrnehmen? Und wenn ja, sind es realistische Dinge oder Trugbilder?
Ich komme zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielt, ob man tot ist, weil man eine schreckliche Wahrheit erkannt hat oder weil man einem Irrlicht hinterhergelaufen ist. Ich denke: Vielleicht gibt es sowas wie Wahrheit sowieso überhaupt nicht. Sie erzählen uns Dinge, aber das ist immer nur zur Hälfte wahr. Die andere Hälfte ist zu gefährlich, passt nicht ins Bild, das sie vermitteln wollen und schürt vielleicht Emotionen, die nicht erwünscht sind. Ich denke: Vielleicht mischen sie uns Beruhigungsmittel ins Trinkwasser. Ich denke: Vielleicht haben sie Angst davor, was ein Mensch zu leisten in der Lage ist.
Sie... Du meine Güte. Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Am Ende hatte er sich selbst erschossen. Niemand hat ihn dazu gezwungen, dazu gedrängt, ihm die Idee in den Kopf gesetzt. Er war selbst schuld und das ist die ganze Wahrheit.
Wie profan die Welt ist und wie sehr Leute versuchen, sie zu verkomplizieren, indem sie wahnwitzige Konzepte entwickeln, mit denen sie versuchen, irgendwelche Dynamiken zu erklären, die es wahrscheinlich überhaupt nicht gäbe, wenn niemand versucht hätte, ein entsprechendes Konzept zu erfinden.
Am Ende dient alles dem Selbstzweck. Egoismus ist keine Charakterschwäche, sondern ein spezienspezifisches Merkmal des Menschen. Die einzige Unterscheidung, die man treffen kann, ist die zwischen den Menschen, die es zugeben und denen die es verleugnen.
Einmal stellte unser Englischlehrer uns folgende Hausaufgabe: Wir sollten einen Aufsatz darüber schreiben, welche Superkraft wir gerne hätten und wie wir sie einsetzen wollten. Eine dämlichere Fragestellung war ihm wohl nicht eingefallen…
Ich mag keine Superhelden, weil ich Selbstlosigkeit für verlogen halte und alle diese Helden mit ihren besonderen Fähigkeiten diese immer nur zum Wohle anderer einsetzen und niemals für ihr eigenes Vergnügen. Sie sind immer ernst und entschlossen und wissen ganz genau, was das Richtige ist – im Gegensatz zu all den hilflosen kleinen Maden, für die sie heroischer Weise ihr Leben aufs Spiel setzen, ohne dass sie dafür Anerkennung oder eine Belohnung erwarten. Sie sind bescheiden und bilden sich doch etwas ein auf ihre Unersetzlichkeit, während sie die Austauschbarkeit aller anderen nicht in Frage stellen.
Ich verbrachte einen langen, kopfschmerzbehafteten Nachmittag damit, mir zu überlegen, welcher Superheld ich gerne sein würde und kam zu dem Schluss, dass, egal, wer man ist, jedes Dasein von Unzulänglichkeiten und Zweifeln geprägt ist und dass ich dann auch genauso gut ich selbst bleiben konnte. Was macht es für einen Unterschied? Ich bin nicht der Typ dafür, mir zu wünschen, jemand anderer zu sein, weil ich mich selbst nicht ausstehen kann. Ich will aus dem, was ich bin, das Beste rausholen.
Ich änderte also die Aufgabenstellung und schrieb einen Aufsatz darüber, welcher fiktionale Charakter mich für mein Leben entscheidend geprägt hatte und wem ich nacheifern wollte, statt irgendwelchen Träumereien nachzuhängen, die am Ende doch nur Zeit stahlen und das Gehirn vernebelten – ich wusste schließlich, wovon ich redete.
Wenn ich ein Held sein könnte, dann würde ich so sein wollen wie Holden Caulfield, schrieb ich. Seine besondere Fähigkeit war es, Heuchelei zu erkennen, wo immer er sie antraf und wenn ich das auch könnte, bräuchte ich nicht mehr so viel Zeit mit lästigen Bekanntschaften zu verbringen, die sich später als oberflächlich und uninteressant entpuppten.
Mein Englischlehrer schrieb mir unter den Aufsatz, dass ich das Thema verfehlt hätte und den Aufsatz noch mal schreiben müsste, wenn ich keine schlechte Note haben wollte. Das ärgerte mich ungemein, denn der Kerl sollte mir ja Englisch beibringen und nicht in meinem Seelenleben herumstochern und es so verdrehen, dass ich unrealistische Wünsche entwickelte und in eine Phantasiewelt abdriftete.
Weil diese Englischnote aber nun einmal wichtig war, schrieb ich diesen zweiten Aufsatz, der beinhaltete: „Ich wünsche mir die Superkraft, unter Wasser atmen zu können und ich würde sie dafür einsetzen, um ein ruhiges, ungestörtes Leben am Grund eines Sees zu verbringen.“
Dafür bekam ich eine Vier und den enttäuschenden Kommentar: „Du solltest mehr an andere denken und weniger nur an dich selbst. Ein Superheld zeichnet sich dadurch aus, dass er seine Überlegenheit nicht egoistisch einsetzt, sondern zum Wohle aller verwendet.“
Dann wäre ich in der Logik eines Comic-Universums eben ein Schurke, dachte ich und finde den Gedanken eigentlich gar nicht so schlimm. Unsere Fähigkeiten gehören uns selbst. Ich schulde meine Intelligenz nicht der Gesellschaft, finde ich. Und wenn diese Form des Egoismus einen Schurken aus mir macht, dann hege ich eben Sympathien für den Teufel. Wieso soll ich daran etwas ändern, wenn ich vollkommen zufrieden damit bin?
In der fünften Klasse kam eine Frau in unsere Klasse, um uns zum Thema Drogen aufzuklären und uns davor zu warnen, jemals auch nur in Erwägung zu ziehen, irgendwelche chemische Substanzen zu uns zu nehmen. Ich fühlte mich wie in einer Verhaltenstherapie, obwohl ich damals noch gar nicht wusste, was das war. Wir saßen im Stuhlkreis wie im Kindergarten und hörten dem auf jugendlich hipp getrimmten Vortrag zu.
Ich habe alles vergessen, bis auf folgenden Vergleich: „Der Mensch ist wie ein Obstbaum. Wenn man ihn einfach wuchern lässt, bringt er keine Frucht. Man muss ihn zurechtstutzen, damit er Ertrag bringt.“
Mir wurde übel dabei und ich musste aufstehen und den Raum verlassen. Solche Sachen treffen mich körperlich. Es war wie ein Faustschlag in den Magen. Niemand fragt, was der Obstbaum will und ob es für ihn gesund ist, so viel Ertrag zu bringen, wie man von ihm erwartet. Er wird einfach ausgebeutet und man setzt voraus, dass dem Baum das gefällt, dass er seinen Platz in der Welt kennt und bereit ist, sich bestmöglich dafür anzustrengen, andere zufrieden zu stellen.
Aber die sind nie zu frieden. Wenn man hundert Kilo Äpfel abwirft, fragen sie, wieso es nicht hundertfünfzig sind, ob man zu faul, ob man von Parasiten befallen sei, ob man mehr Wasser oder Dünger braucht… Man ist nicht krank, nur weil man sein Pensum erreicht hat, denke ich und finde, dass man diesen Erwartungsdruck senken muss, wenn man sich nicht auslaugen lassen will. Streik, kommt mir in den Sinn. Wir sollten alle öfter Streiken!
Andererseits gibt es immer jemanden, der am längeren Hebel sitzt. Die Lehrer würden einen einfach nicht versetzen oder von der Schule schmeißen, die Gärtner würden einen widerspenstigen Baum einfach absägen.
„Ein Kind ist wie dieser Baum“, sagte die Frau, „Es braucht Führung, Schutz und Anregung.“
Ich dachte: Der Baum wird schon wissen, wie er zu wachsen hat, um seinen Interessen zu genügen. Hunderttausende Bäume wachsen, ohne dass sie beschnitten oder zurecht gedrahtet werden. Die Natur bringt keine Wesen hervor, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen und ein Kind ist verdammt noch mal kein Baum. Und auch keine Milchkuh. Und auch kein Roboter.
Vielleicht bin ich ein Baum, der kein Interesse daran hat, zu blühen und sich mit Leistung und Ansprüchen zu belasten, die mich nicht interessieren und von denen ich nicht profitiere. Was hat der Apfelbaum davon, wenn seine Äpfel geerntet und zu Mus verarbeitet werden?
Ich frage mich, ob man diesem Vergleich und dieser Realität vielleicht entgehen kann, indem man anfängt, Drogen zu nehmen.
Wenn das Leben dazu da ist, um es zu einem Denkmal seiner selbst zu gestalten, dann ist die Welt nichts weiter als ein unendlich großes Museum verlorener Träume und verpasster Chancen. Man gräbt sich durch Unmengen von bedeutungsloser Scheiße, um etwas zu finden, von dem man glaubt, dass es einen Wert hat, bis man feststellt, dass man aller Begeisterung irgendwann entwächst und selbst ein Klumpen Gold nicht nützlicher ist als ein Klumpen Scheiße.
Ich glaubte mal, die Jugend zeichnet sich durch Radikalität und Pioniergeist aus, in Wirklichkeit stellt sie eine Phase der Orientierungslosigkeit und der Hemmung dar, die man nur verlassen kann, indem man Erkenntnisse zu ignorieren beginnt, wie diese, dass die Zukunft unbestimmbar ist und nur wir selbst sie beeinflussen.
Da ist diese Angst, Fehler zu machen, Dummheiten zu begehen, später irgendwann all das zu bereuen. Da ist diese Angst, sich zu blamieren, dass einem auf ewig ein Makel anhängt, dass die Leute sich nur an dein Scheitern erinnern und sich über deine idiotischen Überzeugungen kaputtlachen.
Ich besitze eine geradezu zärtliche Zuneigung zum Konzept der Lüge, seit mir aufgefallen war, dass alles, was ich sagte – egal, ob ich es wirklich so meinte oder nicht – sich früher oder später als Lüge entpuppte. Das macht es mir leichter, überhaupt zu reden. Denn zu wissen, dass man lügt, gibt einem ein Gefühl von Befreiung. Trotzdem bin ich manchmal selbst überrascht von mir, dass ich so oft meine Meinung ändere, meine Ansichten ausdehne oder relativiere, bis ich sie völlig über den Haufen werfe und durch etwas Neues, Interessanteres ersetze.
Ich bin wankelmütig und unentschlossen. Ich habe keine Überzeugung, weil es – wie ich damals bereits zu wissen glaubte – keine Wahrheiten gibt, oder weil ich, wenn es sie doch gibt, diese nicht kenne.
Wenn man jung ist, tappt man im Dunkeln und das ändert sich niemals, wenn man es darauf anlegt, integer zu bleiben. Das Problem ist jedoch, dass eben diese Integrität heftig in Frage gestellt werden muss, wenn man bedenkt, wie oft ich meine Meinungen ändere.
Es macht mich fertig, wenn ich glaube, etwas verstanden zu haben, um mich dann daran zu erinnern, dass ich noch zwei Monate zuvor vom Gegenteil überzeugt gewesen bin und es dafür sicher auch gute Gründe gegeben hat.
Die Aufrichtigen sind zu zimperlich, deshalb werden sie übervorteilt von den Einfältigen, dachte ich. Das sind die Leute in den hohen Positionen, die sagen wo es lang gehen soll. Denen ist es egal, ob sie Unrecht haben oder sich ihre Entscheidungen als Murks entpuppen, sie machen einfach und sehen, was passiert.
Wenn aber alles Lüge ist, wem oder was kann man dann noch vertrauen? Man tappt nicht nur im Dunkeln, der Boden ist auch noch mit einem Film Schmierseife überzogen und rechts und links wartet ein Abgrund darauf, dass man eine Kurve nicht richtig erwischt.
Einen hell erleuchteten Sommertag lang war ich zum Beispiel vollständig davon überzeugt, dass Planwirtschaft das sinnvollste Konzept der Weltgeschichte darstellte, aber nur, weil die Schulstunde endete, bevor wir all die Nachteile und Unzulänglichkeiten dieser Wirtschaftsform durchnehmen konnten. Diese Lektion folgte dann am nächsten Tag und ich schämte mich für meine Kurzsichtigkeit und es dauerte zwei weitere Tage, bis ich mich zu fragen begann, welche Agenda meine Sozialkundelehrerin eigentlich verfolgte. Wie selbstlos sind die Leute, die einen belehren wollen? Welche Absichten hegen sie?
Ich denke an den Superhelden, der ich nicht sein will, an Ideale, die ich nicht besitze, daran, dass der letzte aufrichtige Mensch, sich erschossen hat und daran, dass es jetzt nur noch bergab gehen kann mit der Gesellschaft, weil es nie die aufrichtigen Menschen sind, die einen belehren wollen. Aufrichtige Menschen wissen, dass Belehrung Manipulation ist.
Was kann man schon sein? Held, Schurke, Statist. Anerkennung, Ablehnung, Mittelmaß. Es läuft immer auf eines der drei hinaus.
„Es wird Zeit, dass du mal hier raus kommst“, sagt mein Therapeut. „Dieses Gedankenkreisen ist nicht gut.“
Ich frage mich, ob man sowas im Medizinstudium lernt: Dinge als „nicht gut“ zu erkennen und zu beschreiben. Heilen... na ja, das muss der Patient schon selbst übernehmen.
Meine Mutter und ich können es uns nicht leisten, in Urlaub zu fahren. Deshalb fügt mein Therapeut hinzu: „Du solltest dich wirklich von dem ganzen Trott mal erholen. Du hast es verdient, weißt du.“
„Meine Noten sind gut genug“, sage ich.
„Leistung zahlt sich eben aus.“ Er grinst.
Ich unterdrücke ein Gähnen. Leistung macht müde, das ist alles.
Manifest der Lüge
Wir bekennen und zu Egoismus und Lüge. Wir bekennen uns zu Selbstbetrug und Illusionen. Wir feiern den Wahn, die Phantasie, die Unwirklichkeit und den Schein.
Wir bekennen uns zu Subjektivität und kämpfen für die Anerkennung der Faulheit, der Träumerei, der Lasterhaftigkeit und einem Bewusstsein für die Nutzlosigkeit aller Tätigkeiten, die nicht aus vollster Überzeugung und mit Leidenschaft ausgeführt werden.
Wir bekennen uns zu Lustlosigkeit, zu Widerwillen und dem Protest gegen Zwang, Beeinflussung und Heuchelei.
Ein Leben erfüllt einen Selbstzweck, es muss weder nützlich noch gut sein. Ein Leben muss nicht altruistisch oder demütig sein.
Wir bekennen uns zur Wert- und Wertungslosigkeit.
Wir negieren jede Wirklichkeit, die nicht unsere ist. Wir verweigern uns allen Ansprüchen und Selbstverständlichkeiten. Wir lehnen ab: Assimilation, Uniformität, den Zeitgeist, der darauf angelegt ist, die menschliche Natur durch Technokratie zu ersetzen, um so einem Schicksal in vermeintlichem Elend und Unwissenheit zu entgehen, jegliche Form von Anstand und den Erwartungsdruck, einem nicht von uns selbst entwickelten Ideal gerecht zu werden.
Wir glauben an eine Gerechtigkeit, die in der Freiheit zu lügen besteht. Wir sehen die Lüge als Schutz vor Beeinflussung und Waffe gegen Bevormundung.
Unser Selbstbild ist das von unabhängigen, selbstbestimmten Menschen. Unsere Gesellschaft ist geprägt von individuellen Möglichkeiten, nicht von vorher festgelegten Zielen.
Es gibt keine „besseren“ Lebensentwürfe, keine falschen Entscheidungen, keinen Grund zur Reue. Zufriedenheit ist unser Maßstab für Rechtschaffenheit. Toleranz ist unser Mittel zum Zweck.
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Vermuepft • Am 14.01.2017 um 23:16 Uhr | |||
So, jetzt will ich doch mal einen Kommentar zu dieser Geschichte schreiben, denn irgendwie beschäftigt sie mich. Victoria. Sie ist gut geschrieben. Und hat Charakterzüge mit denen ich mich identifizieren kann, sowohl wie ich sie um manches beneide und um anderes bedauere. Sie will gehasst oder geliebt werden. Ich glaube ich liebe sie. Sie erinnert mich an das Bild, dass ich von einer ehemaligen Mitschülerin habe. Victoria ist gebildet und lässt das sehr raushängen, was sie überheblich macht. Verstehe ich. Sowohl sie, als auch Leute, die das nicht mögen. Mir gefallen einige Gedankenansätze. Dass die Jugend doch von Radikalität geprägt seien soll. Dass Jugendliche etwas verändern wollen sollen und dass die Gesellschaft an all den Unterhaltungsmedien verkommt. Dass ist es, was ich täglich in der Schule beobachten kann. Medien und Unterhaltung regieren. Umso fröhlicher bin ich, wenn ich dann mal irgendwo politisches Interesse sehe. Weiß nicht, ob ich's dir schon mal gesagt habe, aber ich finde, man sollte diese Geschichte als Schullektüre lesen. Nicht um sich Victoria als Vorbild zu nehmen, aber um vielleicht mal über ihre Gedanken nachzudenken. Diese Geschichte spricht so viele Dinge an und ist auf jeden Fall eine Geschichte, die ich noch viele Male lesen werde. Ich hoffe, der Text ist nicht so wirr, wie ich denke.. -Müpfo Mehr anzeigen |
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Kapitel: | 8 | |
Sätze: | 368 | |
Wörter: | 7.577 | |
Zeichen: | 45.527 |