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Sternenmaus

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01.11.22 23:34
Fertiggestellt

Twit die Rötelmaus war eine anständige Maus – so sagten alle. Eine vielversprechende Maus, die ihren Eltern keine Sorgen zu machen brauchte. Nein, nicht der junge Twit. Der seiner Mutter jederzeit und ohne zu murren dabei half, Knospen und Samen für das Abendbrot zu sammeln. Der seinem Vater bei der täglichen Arbeit zur Hand ging. Den man bedenkenlos zum Spielen in den Wald schicken konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass er nicht rechtzeitig vor Sonnenuntergang zurück sein würde.

Jeder in Mäuseheim mochte den jungen Twit. Die Nachbarin, Frau Spitzmaus, freute sich jedes Mal, wenn Twit ihr im Vorübergehen zuwinkte und sie mit einem höflichen „Guten Tag, Frau Spitz!“ grüßte. „So eine höfliche junge Maus“, pflegte sie dann zu sagen und winkte ihm gerne zurück. Herrn Feldhamster half er öfters dabei, die Nüsse zu tragen, die dieser nicht mehr in seinen Backentaschen hatte unterbringen können. Als Dankeschön gab ihm Herr Hamster dafür oft eine ganze Haselnuss für sich allein. „Eine fleißige Maus wie du muss auch entsprechend belohnt werden“, sagt er mit wichtiger Stimme. Und wann immer die Kinder der Familie Eichhorn wieder ihre Streiche spielten, konnte man ihre Mutter aus dem Astloch schimpfen hören: „Rasselbande, wenn ich euch erwische! Der junge Twit macht seinen Eltern nie solchen Kummer!“ Selbst den grummeligen alten Herrn Maulwurf konnte man immer wieder grantig sagen hören: „Der Twit, deen Jung… ja, dett is een jescheeter Bursch, dett sieht doch selbst een Blinder!“

Nein, Twit war in allen belangen eine gute Maus. Er kümmerte sich gerne um seine Familie und Nachbarn, er war immer höflich und suchte nicht nach Abenteuern. Gewissenhaft hielt er sich an die Regeln, denen eine junge Maus nun einmal zu folgen hatte.

Nun… bis auf eine.

Denn hin und wieder, wenn der Vollmond besonders hell leuchtete, da überkam es Twit, und da konnte er einfach nicht mehr an sich halten. Dann fühlte er ein Gewicht auf der Brust, das ihm das Herz schwer machte und eine Sehnsucht, die er nicht in Worte fassen konnte. Dann wartete er ab, bis es Nacht war und Mutter und Vater zu Bett gegangen waren und schlüpfte heimlich und leise davon. Tief in den Wald hinein, weit jenseits der Sicherheit von Mäuseheim, dorthin, wo sich nur selten andere Nager hin verwirrten. Dann huschte er von Wurzel zu Wurzel, von Strauch zu Strauch, versteckte sich vor einem vorbeiziehenden Fuchs, und hielt den Atem an, wenn zwischen den Baumkronen lautlos der Schatten einer Eule dahingleitete. Doch unbeirrbar setzte er seinen Weg fort, bis er schließlich eine Lichtung erreichte, auf der ein großer, toter Baum stand. Dann setzte er sich unter die tief hängenden Zweige eines Brombeerbusches und wartete, bis das Spektakel begann.

Und dann, sobald der Mond hoch am Himmel stand, lösten sich Schatten aus den Höhlen des toten Baumes; erst vereinzelt, dann immer mehr und mehr. Bis die ganze Lichtung erfüllt war mit den schemenhaften Umrissen und dem Gezwitscher tausender von Fledermäusen.

Twit drückte sich flach auf den Boden und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen das Spektakel am Himmel. Die Fledermäuse waren so flink und es waren so viele, dass er nie eine einzige im Auge behalten konnte – immer kreuzte eine andere sein Sichtfeld und lenkte ihn ab. Es war ein unbeschreibliches Gewühl, doch noch nie hatte er gesehen, dass zwei Fledermäuse in der Luft zusammengestoßen wären. Elegant glitten sie durch die Lüfte, wichen einander aus wie studierte Tänzer und ihre glatten Flügel und ihr Fell reflektierten das fahle Mondlicht, sodass es für Twit aussah, als flitzten tausende von lebendigen Sternschnuppen unter den Baumkronen umher.

Während Twit den Fledermäusen zusah, fühlte er einen kleinen Stich im Herzen. Wie großartig musste es sein, den Wald von oben sehen zu können? Welch ein Gefühl, wenn es keinerlei Grenzen gab, wenn man so frei war, wie es die Fledermäuse waren? Traurig betrachtete er seine eigenen Pfoten. Im Vergleich zu Flügeln wirkten sie auf ihn so dünn und mickrig. Sein eigenes rotes Fell mochte in der Sonne hübsch glänzen, doch an das Sternenstrahlen der Fledermäuse kam es nicht heran.

Die anderen Nager hatten nicht viele gute Worte für die Fledermäuse übrig. „Ach, die? Das sind ja keine echten Mäuse. Sonst müssten sie nicht nachts ihr Unwesen treiben“, konnte man Frau Spitz manchmal sagen hören. Und Herr Hamster würde nickend antworten: „Ganz recht, ganz recht. Und anständige Pfoten zum Arbeiten haben sie auch nicht.“ Und selbst Herr Maulwurf würde zustimmen: „Dett is keene jute Jesellschaft, dett hat schon meen alter Herr immer jesacht.“

Doch manchmal, ganz für sich allein, dachte Twit, dass er viel dafür gäbe, nur ein einziges Mal die Welt so sehen zu können, wie die Fledermäuse es taten. Zwischen Sternen und Dunkelheit zu schweben, als gäbe es keinen Boden, als sei der Himmel endlos.

Während er in seiner Sehnsucht schwelgte, hörte er plötzlich das Rauschen von Flügeln direkt über sich. Er zuckte zusammen, als drei Fledermäuse sich kopfüber in die Zweige des Brombeerbusches hängten, unter denen Twit sich versteckt hatte.

„Schau an, schau an, was haben wir denn hier?“, fragte eine der Fledermäuse und grinste Twit breit an. Die zweite antwortete: „Einen kleinen Nager, der sich verirrt hat, vielleicht?“ und die dritte lachte: „Hat wohl die Sonne und den Mond verwechselt!“

Die drei lachten mit ihren kieksenden Stimmen und Twit zog den Kopf ein. „Nein“, widersprach er schüchtern und knetete nervös seinen Schwanz in den Pfoten. „Ich… ich wollte nur… ich…“

„Oh, er kann reden, der kleine Nager!“

„Kaum, so wie er stottert.“

„So hässlich wie du bist, würde jeder anfangen zu stottern!“

„Das sagt ja wohl die richtige.“

„Hört auf zu zanken, ihr seid beide Plattnasen.“

Während sie sprachen, stießen sich die Fledermäuse gegenseitig mit den Flügeln an und es erinnerte Twit an die Eichhorn-Kinder, wenn diese einander mit ihren buschigen Schwänzen knufften und schubsten. Der Gedanke ließ ihn etwas lächeln. „Ich finde nicht, dass irgendeiner von euch hässlich ist“, entfuhr es ihm, bevor er sich hätte stoppen können.

Die drei Fledermäuse unterbrachen ihre Kabbelei und starrten ihn alle an, als hätte Twit etwas sehr Merkwürdiges gesagt. Peinlich berührt senkte er den Kopf, doch die Worte sprudelten geradezu aus ihm heraus. „Ich finde euch eigentlich sogar sehr schön. Euch alle, meine ich. Wenn ihr so am Nachthimmel umherfliegt und das Licht sich in euren Flügeln und eurem Fell bricht… ihr seid wie lebende Sterne. Und Sterne sind nicht hässlich.“

Die Fledermäuse sahen sich an, dann fragte eine von ihnen: „Ist das der Grund, warum du dich so oft hier versteckst?“

Twit blinzelte überrascht. „Ihr… ihr wusstet, dass ich hier bin? Die ganze Zeit?“

Die Fledermäuse schüttelten ihr Fell aus und es raschelte, als ihre Flügel aneinander rieben. „Wir haben tausende von Augen, kleiner Nager. Wir haben schon vor Monaten bemerkt, dass du uns beobachtest. Wir konnten uns nur nicht erklären, warum. Normalerweise machen Mäuse sich nichts aus der Nacht.“

„Nun… das stimmt“, sagte Twit. „Zu Hause würde das niemand verstehen… ich verstehe es ja selbst nicht. Aber wenn der Mond so wie heute scheint und die Sterne funkeln und ich dann sehe, wie ihr am Himmel tanzt… ich verstehe nicht, wie irgendjemand nicht die Schönheit darin sehen kann.“

Die Fledermäuse sahen sich an. „Diese Maus hat das Herz eines Sterns“, sagte eine und die anderen nickten. „Zu schade, dass du keine Flügel hast; dann könntest du mit uns fliegen.“

Twit lächelte, um nicht zeigen zu müssen, dass ihn diese Worte mehr trafen, als sie sollten. Natürlich hatte er keine Flügel – schließlich war er nur eine normale, kleine Rötelmaus. Seinesgleichen waren geschickte Kletterer und Hüpfer, doch der Himmel blieb ihnen verwehrt.

Twit wünschte, diese Wahrheit würde nur nicht so wehtun.

„Er mag keine Flügel haben… doch vielleicht können wir ihm unsere leihen“, sagte die dritte Fledermaus auf einmal. Sie sah Twit an und fragte: „Was sagst du, kleine Maus? Möchtest du die Nacht einmal so erleben, wie wir Fledermäuse es tun?“

Und bevor Twit überhaupt verarbeitet hatte, was die Fledermaus da gerade vorgeschlagen hatte, ließen sich zwei von ihnen von den Zweigen fallen und packten mit ihren Klauen seine Pfoten. Twit stieß ein erschrecktes Quieken aus, als der Boden unter den Füßen verlor und sein Magen machte einen Hüpfer. Dann fühlte er, wie Wind an seinem Fell zog und sein Schwanz hilflos unter ihm flatterte.

„Keine Angst, kleine Maus; wir halten dich. Mach die Augen auf und sieh, was es wirklich bedeutet, zwischen Sternen zu fliegen.“

Die Stimme der Fledermaus klang amüsiert. Twit hatte gar nicht bemerkt, dass er die Augen geschlossen hatte. Er blinzelte sie wieder offen, dann riss er sie auf.

Er befand sich inmitten des Fledermausschwarms. Die beiden Fledermäuse hielten seine Pfoten fest im Griff und trugen ihn immer weiter hinauf. Die dritte flatterte grinsend neben ihnen her.

Vorsichtig warf Twit einen Blick nach unten, doch er konnte den Boden in der Dunkelheit nicht sehen. Da war nichts, außer dem Mond über ihnen und die tausenden von glitzernden Fledermäusen um sie herum. Er fühlte sich schwerelos und euphorisch, als schwebte er in einem endlosen Meer aus Sternen.

Es war schöner, als er es sich je erträumt hatte.

Die Fledermäuse zogen einige Kreise über die Lichtung mit ihm, tauchten mal unter einem tief hängenden Ast durch, zogen mal flach über den Boden hinweg, dass die Halme des hohen Grases Twit an den Füßen kitzelten. Jede Kurve ließ sein Herz vor Aufregung laut aufpochen und er konnte ein frohes Lachen nicht unterdrücken.

Dann, irgendwann, senkten die Fledermäuse ihn langsam wieder zur Erde herab und landeten mit ihm unter ein paar Farnen.

Twit brauchte einen Moment, ehe er wieder festen Stand hatte. Der Boden fühlte sich plötzlich härter an als zuvor und ihm war, als wiege er auf einmal doppelt so viel wie vorher. Doch das Gefühl schwand rasch und Twit grinste, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

„Das war… unglaublich!“, sagte er und drehte sich zu den Fledermäusen um. Auf festem Boden waren sie nicht ganz so elegant anzusehen, doch alle drei lächelten sie breit, ob seiner Begeisterung.

„Es freut uns, dass es dir gefallen hat, kleine Maus“, sagte eine, die andere fügte hinzu: „Sternenmaus. Eine Fledermaus magst du nicht sein, aber du bist mit uns zu den Sternen geflogen. Ich hoffe nur, wir haben dir nicht für immer die Erde verleidet!“

Die drei lachten und Twit lachte mit ihnen. Sie plauderten noch weiter, schwelgten in ihrer gemeinsamen Liebe für den Nachthimmel. Doch irgendwann begann der östliche Horizont heller zu werden und die Fledermäuse verabschiedeten sich. „Es war schön, die Nacht mit dir zu teilen, Sternenmaus, doch den Tag überlassen wir gerne dir“, sagten sie zwinkernd und stießen sich wild flatternd vom Boden ab. Twit winkte ihnen nach, bis sie im Gewühl der heimkehrenden Kolonie verschwunden waren.

Als der Morgen kam, waren Mutter und Vater Rötelmaus verblüfft zu sehen, dass Twit mit dunklen Ringen unter den Augen am Frühstückstisch saß, doch als sie ihn fragten, ob er nicht gut geschlafen habe, lächelte er nur und knabberte mit zufriedener Miene an seinem Pinienkern. Den Rest des Tages war er etwas langsamer als sonst. Frau Spitz fragte besorgt, ob er etwa krank sei und stritt mit Herrn Hamster, ob ein Kamillentee oder eine Hagebutte ein besseres Heilmittel wären. Herr Maulwurf sagte dazu nur: „Solang er noch grad stehen kann, isser noch nich jestorben.“

Twit hörte sich das alles geduldig an und lächelte in sich hinein. Und hin und wieder, wenn keiner hinsah, warf er einen Blick hinauf zu den Baumkronen und seufzte.

Seine Füße waren wieder auf festem Boden und Twit war so glücklich wie noch nie. Doch sein Herz, so fürchtete die kleine Sternenmaus, hatte er für immer an den Himmel verloren.

Autorennotiz

Diese Geschichte entstand im Zuge eines Schreibwettbewerbs. Vorgabe war das Erschaffen einer Kurzgeschichte unter dem Prompt "Erdrückende Sehnsucht".

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Autor

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Sätze: 114
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Zeichen: 11.785

Kurzbeschreibung

Das Leben einer Maus ist einfach, harmonisch und - idealerweise - ereignislos. Doch so manches Herz sehnt sich nach mehr.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Humor auch im Genre Abenteuer gelistet.

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