Storys > Kalendergeschichten > Abenteuer > Verfluchtes Glück - Eine Adventskalendergeschichte

Verfluchtes Glück - Eine Adventskalendergeschichte

78
20.12.25 23:36
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

Meghan, eine eher zierliche und mit ihren 116 Jahren auch recht junge Lindenfee, stand am Fenster einer einladend wirkenden Backstube. Das golden schimmernde Haar fiel ihr in sanften Wellen bis zu ihren Hüften und verbarg die glitzernden durchsichtigen Flügel. Nach einer langen und harten Zeit der Ausbildung hatte sie vor etwas mehr als 16 Jahren, zu ihrem hundertsten Geburtstag, endlich einen Schützling zugewiesen bekommen. Es war der Tag gewesen, auf den sie nächtelang hin gefiebert hatte - und dann war ihr bloß das Bild eines hässlichen, schrumpeligen Neugeborenen präsentiert worden. Das war‘s. Keine offizielle Veranstaltung, keine Begrüßungsrede und keine glamouröse Aufnahme in das Protektoriat, wie es zuvor bei ihren zwei besten Freundinnen der Fall gewesen war. Sie hatte damals tagelang darüber nachgegrübelt, was sie in ihrer Ausbildung falsch gemacht hatte, wo sie diese doch als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatte. Es hatte lange gedauert, bis sie verstanden hatte, dass diese fast schon auffällige Unauffälligkeit nichts mit ihr zu tun hatte, sondern viel mehr mit dem Kind, dass es zu beschützen galt.

Jean-Jacques Lukas Berger (wer um Himmels Willen gibt seinem Kind einen solchen Namen?!) war der Sohn einer französischen Mechanikerin und eines deutschen Musikproduzenten. Bis vor etwa einem halben Jahr waren die Dinge so gelaufen wie sie sollten, von den gelegentlichen Prügeleien in der Grundschule und den kleinen Reibereien mit seinen Eltern während der Pubertät mal abgesehen. Seine schulischen Leistungen waren okay, er war kein Überflieger, aber besonders ab der Mittelstufe ein für sein soziales Engagement respektierter Schüler. Kurz, Jean-Jacques Lukas hatte nur wenig ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, die meiste Zeit hatte sie in der Familienkonditorei ausgeholfen. Doch das hatte sich geändert. Seit dem Umzug mit seinen Eltern, übte sein neues Umfeld einen negativen Einfluss auf ihn aus. 

Jean-Jacques Lukas schien plötzlich wie ausgewechselt. Anstatt wie zuvor auf Provokationen gelassen zu reagieren und andere mit seiner besonnenen Art zum Nachdenken zu bringen, schien er nun geradezu nach Streit und Aggressivität zu suchen. Aus einem bescheidenen Jungen, der es stets geschafft hatte, seine Freunde mit seinen außergewöhnlichen Witzen zum Lachen zu bringen, war ein übellauniger, gieriger junger Mann geworden, dessen grimmige Miene den ein oder anderen schon aus einigen Metern Entfernung zum Schaudern brachte.

„Meghan, das musst dir ansehen, wir brauchen deine Hilfe!“, die alarmierte Stimme ihrer Schwester Kathy riss die Lindenfee aus ihren Gedanken. Mit schnellen Schritten folgte Meghan ihrer Schwester in den unteren Teil der Bäckerei, wo die Öfen standen. Übler Gestank schlug ihnen entgegen. Kathy spurtete in Richtung des Fensters, um die qualmende Hitze, die aus dem größten der Backöfen zu kommen schien, zu vertreiben. Doch ein Schrei ihrer Schwester ließ sie innehalten: „Nicht! Bist du wahnsinnig?!“ Irritiert drehte Kathy sich um. „Wenn das hier das ist, was ich glaube, dann haben wir ein mächtiges Problem. Und zwar ein deutlich Größeres als das Verbrennen unserer beliebten Glücksplätzchen!“ Ein irres Grinsen stahl sich auf Kathys Gesicht: „Und wenn schon! Lassen wir es raus in die Welt, all das verbrannte Glück!“ Schon wieder machte sie sich am Fenstergriff zu schaffen, doch Meghan war schneller. Noch ehe ihre Schwester reagieren konnte, hatte sie sie über ihre Schulter geworfen und rannte so schnell es mit dem zusätzlichen Gewicht ging, in die gemütliche Familienküche ohne auf Kathys Kreischen, Kratzen und Treten zu achten. Erschöpft lies Meghan sie auf die Küchenbank fallen, doch ihre Schwester schlug weiter um sich, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Dieser Vergleich lies die junge Lindenfee zusammenfahren. Was, wenn dem tatsächlich so war? Wenn sie mit ihrer Vermutung Recht behielt und das Böse sich im Herzen ihrer Schwester einfraß? Panisch drehte Meghan sich im Kreis, auf der Suche nach irgendjemandem, irgendetwas, das ihr helfen könnte. „Die Glückskekse!“, schoss es ihr durch den Kopf. Doch siedend heiß fiel ihr ein, dass diese ja soeben im Gift des Unheils ertränkt worden waren. Verzweifelt riss sie sämtliche Schubladen auf, in denen die Familie ihre Notfall-Rationen aufbewahrte, doch auch hier herrschte gähnende Leere. 

Verzweifelt drehte Meghan sich um, als sie Kathy in Richtung des Bads davon stolpern sah. Und in ihrer Hand… in ihrer Hand hatte sie eine kleine Dose, gefüllt mit der eigenen Rettung! Vernunftsplätzchen! Dass sie da noch nicht selber drauf gekommen war! Es war zwar keine längerfristige Lösung, aber zumindest würde es hoffentlich helfen, dass ihre Schwester sich nicht länger wie eine Außerhimmlische verhielt. Mit einem schnellen Sprint hatte sie Kathy eingeholt und versperrte ihr den Weg: „Was willst du?“, fauchte diese. „Dich zur Vernunft bringen!“, knurrte Meghan, als ihr klar wurde, dass ihre Schwester die kostbaren Plätzchen wohl im Klo versenken wollte. Nach kurzem Gerangel schaffte sie es, ihr die Dose aus der Hand zu reißen. Weitere Minuten später, hatte sie Kathy endlich dazu überredet, eins der Vernunftsplätzchen zu essen, indem sie behauptete, sie würden das Unheil in der Welt verstärken. Und tatsächlich schien es zu wirken. „Mama, Mama ist noch da unten! Sie ist wie tot umgefallen, als sie den Backofen geöffnet hat!“, rief Kathy entsetzt, als sie sich der brenzligen Lage bewusst wurde. 

„Mensch Kathy!“, zischte Meghan wütend und bekam sogleich Gewissensbisse, als sie in die traurigen Augen ihrer kleinen Schwester blickte. Sie konnte doch nichts dafür, dass das Böse sie übermannt hatte; im Grunde war es ein Wunder, dass Meghan selbst keinen Schaden genommen hatte. Schließlich hatte auch sie die mächtige Aura gespürt, die das Gift in der Backstube hinterlassen hatte. Ohne weiter darüber nachzugrübeln, lief sie schnellen Schrittes in Richtung der Backstube, doch als sie bemerkte, dass ihre Schwester ihr folgte, blieb sie abrupt stehen. Mit einem entschuldigenden Blick wandte sie sich um und erinnerte Kathy angespannt: „Du nicht, Schwesterherz, du hast für heute genug totes Feuergift abbekommen.“ „Aber was, wenn du dort drinnen genauso einen Anfall bekommst wie ich oder umkippst, so wie Mama?“, wandte diese ein. „Das wird nicht passieren.“, erwiderte Meghan und hoffte, dass ihre Stimme nich so zittrig klang, wie sie sich fühlte. „Pass auf.“, fügte sie sicherheitshalber an, als sie dem verzweifelten Blick ihrer Schwester begegnete, „Wenn ich in, sagen wir fünf Minuten, noch nicht zurück bin, dann holst du Hilfe, okay?“ Das „Wenn es dann noch nicht zu spät ist“, das ihr auf der Zunge lag, verschluckte sie lieber. Kathy wusste genauso gut, wie brenzlig die Situation war und wie viel auf der Kippe stand, deshalb rechnete Meghan es ihr hoch an, dass sie nicht weiter diskutierte und seufzend nickte. 

Umso weiter die Lindenfee sich der Tür zur Backstube näherte desto mehr spürte sie allerdings, wie ihre Selbstsicherheit schwand und beinahe hätte sie sich nun doch ihre Schwester herbei gewünscht. Doch schnell verbot sie sich diesen Gedanken und verbannte die Angst, die sich in ihren Adern anstaute. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich ihr Ziel erreicht hatte, öffnete sie die Tür nur so viel, wie es nötig war und schlüpfte schnell durch den Spalt, um dem Bösen nicht die Möglichkeit zu geben, sich im gesamten Haus zu verteilen. 

Der Schock fuhr Meghan durch alle Glieder, als sie ihre Mutter entdeckte, die leblos hinter dem Ofen lag. Hastig nahm die Lindenfee ihren schlaffen Arm, legte ihn um ihre Schulter und trug den schweren Körper hinaus. Erschöpft ließ sie sich draußen gegen die Tür sinken. „Kathy!“, rief sie mit letzter Kraft, „Hilf mir mal!“ Gemeinsam trugen die zwei Schwestern mit brennenden Augen den Leichnam ihrer Mutter ins sonst so heimelige Wohnzimmer. Doch heute war die Atmosphäre eisig kalt, sogar die Lampe flackerte bloß einmal kurz auf und erlosch dann, als Meghan den Lichtschalter betätigte. Tränen kullerten den Geschwistern über die Wangen, als Kathy plötzlich keuchte. 

„Sie lebt!“, rief die junge Lindenfee aufgeregt. Doch Meghan schüttelte den Kopf: „Es tut mir leid, Kat. Wir können nichts mehr für sie tun.“ Doch ihre Schwester ließ sich nicht von ihrem Einwand beirren und beharrte: „Nein Meggi, sie lebt noch, das weiß ich einfach!“ „Sei nicht albern, die Realität zu ignorieren, bringt Mama auch nicht zurück und das weißt du.“, wollte Meghan die Diskussion beenden. Sie konnte es nicht ertragen, wie Kathy ihren größten Wunsch aussprach und die Realität verdrehte. Meghan konnte den Worten ihrer Schwester einfach keinen Glauben schenken, sie durfte nicht hoffen, sonst würde sie an dieser abermaligen Enttäuschung zugrunde gehen. Eine zarte Hand legte sich auf Meghans Schulter und so gerne sie dem Blick ihrer Schwester ausgewichen wäre, das brachte sie einfach nicht übers Herz. „Schau auf ihren Bauch.“, forderte diese die ältere Lindenfee auf und tatsächlich, in sehr unregelmäßigen Abständen konnte man ein schwaches Heben und Senken des Zwerchfells erahnen. „Du könntest Recht haben“, gab Meghan unsicher zu. „Bloß weiß ich trotzdem nicht, wie wir sie aus diesem seltsamen Koma aufwecken können.“ „Was ist mit den Keksen?“, wollte Kathy verzweifelt wissen, „Irgendeine Sorte wird doch bestimmt helfen!“ „Ja,“, erwiderte ihre Schwester knapp, „die Lebenspralinen würden uns jetzt gute Dienste leisten, um Mama neue positive Energie einzuflößen, aber…“, sie zögerte kurz, „so kurz vor Weihnachten haben wir alle Plätzchen und Pralinen schon dem Weihnachtsmann geliefert. Und auf der Erde scheint es momentan nur so vor Wut, Kummer, Verzweiflung und Hass zu wimmeln, dass wir unsere Notfall Rationen gleich mit verschickt haben, um ein wenig Hoffnung und Freude in die Menschenwelt zu bringen. Das einzige was uns jetzt noch geblieben ist, nachdem die Backstube vergiftet wurde, ist die kleine Dose Vernunftsplätzchen.“ Es zerbrach ihr das Herz, die Verzweiflung in den Augen ihrer kleinen Schwester zu sehen, aber egal wie sehr sie sich anstrengte, ihr wollte einfach kein Ausweg einfallen. „Dann müssen wir eben zum Weihnachtsmann!“, rief Kathy kurzentschlossen, aber so einfach war das nicht. Der alte Zwerg namens Bartholomäus mit dem weißen Bart wohnte viele Kilometer nordwestlich von hier in einer einsamen Einsiedlerwohnung, und nur seine Wichtel wussten, wo genau diese sich befand. Zu dieser Zeit jedoch, so kurz vor dem heiligen Fest, würde sich Bartholomäus Tag und Nacht in seiner Weihnachtswichtelwerkstatt verkriechen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Und wo diese sich befand, nun ja, man sagte es führe ein geheimer Tunnel aus der Wohnung des Zwerges dorthin, aber niemand wusste es genau. 

Es war also kein Erfolg versprechendes Vorhaben. Doch es war die einzige Chance, ihrer Mutter noch zu helfen, mochte sie auch noch so gering sein. Also packten die zwei Lindenfeen ihre sieben Sachen zusammen, die Dose mit den letzten sieben Vernunftskeksen, Wasser, Proviant für die lange Reise, zwei warme Wolldecken, Futter für die Rentiere, die Schneekugel, durch die Meghan ihren Schützling Jean-Jacques Lukas stets im Blick behalten konnte und natürlich das heilige Familienamulett, das ihnen die Fähigkeit des magischen Backens verlieh und das sie niemals allein im Haus zurück ließen. Da ihr Vater vor zwei Wochen für eine wichtige Mission des Protektoriats in die Menschenwelt geschickt worden war und angesichts des Zustands ihrer Mutter, blieb ihnen also nichts anderes übrig, als sie und das Amulett mitzunehmen. Insbesondere in diesen Zeiten, wo es das Böse sogar geschafft hatte, Unheil im Universum des Glücks zu verbreiten. 

Als die Rentiere gesattelt und der kleine Schlitten an das Zaumzeug von Lizzy angebracht war, verstauten sie das Gepäck und legten ihre Mutter vorsichtig, in Decken eingewickelt auf die Sitzbank, wo sie sie vorsichtshalber noch fest gurteten. Und dann ging es los. Mit einem etwas mulmigen Gefühl im Magen, stiegen die Geschwister auf ihren Rentieren gen Himmel. Kathy war auf Merlin durch die geringere Last etwas schneller, aber sie hielt ihn zurück und ließ Meghan die Führung übernehmen, so wie sie es ihr versprochen hatte. 

Schnell zogen unter ihnen die hell erleuchteten Dörfer und die Wälder, die einen geheimnisvollen lila Schimmer verbreiteten, vorüber und schon bald hatte das kleine Reisegrüppchen die ersten schneebedeckten Berge erreicht. Doch erst hier wurde es wirklich gefährlich. Eine unbekannte Gegend. Überall Schnee und Eis. Endlose Weite. Und keine Spur eines einzigen Lebewesens. Zumindest bis sie ihn sahen. Einen Vogel mit einer Flügelspanne von an die sechs Meter, den Kopf eines Adlers, doch der muskulöse, breite Körper strahlte die Aura eines Löwen aus. Eines Löwen auf der Jagd. Und sein durchdringender Blick war genau auf sie gerichtet, der gebogene Schnabel schon geöffnet und die scharfen Klauen ausgefahren. Alle Zeichen standen auf Angriff. 

„Ein Trigoretirus“, rief Kathy verwundert, sie schien noch nicht begriffen zu haben, wer das anvisierte Opfer war. „Ja Kat,“, antwortete Meghan in leichter Panik. „Und zwar nicht irgendein Trigoretirus. Das ist Trira, der König der Lüfte. Und er scheint verflucht zu sein, sonst würde er uns nicht auf so einen Abstand verfolgen! Nichts wie weg hier!“

Meghan ließ sich zwei Meter nach unten sinken und schoss dann im Sturzflug in den Schatten der Berge. Doch da ertönte plötzlich ein markerschütternder Schrei. „Meggie, HILFE!!“ Als sie sich umdrehte jagte ihr ein eiskalter Schauer der Angst über den Rücken. Trira hielt Kathy fest in seinen Klauen und Merlin schien sich nicht entscheiden zu können, ob er unter ihr bleiben sollte, um sie im Falle eines Sturzes aufzufangen, oder ob er den Trigoretirus selbst angreifen sollte, dann aber eine eigene Gefangennahme riskierte und die junge Lindenfee dabei vermutlich in den Tod stürzte. Meghan drehte eine so scharfe Kurve, dass der Schlitten hinter ihr zu schlingern begann, aber Lizzy hielt sich tapfer in der Luft und schaffte es irgendwie, das Gespann zu stabilisieren. In großen Sprüngen eilten sie Kathy zur Hilfe, die allerdings von dem grausamen Vogel immer höher getragen wurde. Mit letzter Kraft schaffte Lizzy es, noch einmal zu beschleunigen und die beiden einzuholen. Bevor Trira realisieren konnte, was hier geschah, packte Meghan ihre Schwester bereits an der Taille. Im gleichen Moment bäumte Merlin sich auf der anderen Seite auf und erwischte den Trigoretirus mit einem Huf am Kopf, sodass dieser zur Seite taumelte und Kathy endlich los ließ. Unter dem zusätzlichen Gewicht, sackte Lizzy erschöpft einige Meter nach unten, doch das war vermutlich ihre Rettung. Denn der Vogel hatte sich schneller berappelt, als ihnen lieb war und versuchte nun, Meghan vom Rentier zu reißen. Nur um Haaresbreite verfehlte er sie und nahm dann die Verfolgung auf. Kathy schaffte es irgendwie, in der Luft wieder auf Merlin zu wechseln, der gleichmäßig neben ihnen her preschte. Wie auf Kommando jagten die beiden Rentiere nun noch schneller in den Abgrund hinab, aber Trira war schnell und holte wieder auf. 

„Da!“, schrie Kathy in den brausenden Wind und zeigte auf eine schmale Felsspalte. Merlin und Lizzy reagierten sofort. Sie wechselten die Richtung und flogen direkt darauf zu. Meghan bezweifelte, dass sie dort hindurch passen würden. Andernfalls würden sie entweder beim Aufprall auf das Gestein zu Brei zerquetscht oder durch die Klauen des Vogels qualvoll getötet werden. Aber es blieb ihnen keine andere Wahl. Die Lindenfee kniff die Augen zusammen und rechnete fast schon damit, gleich aus dem Hier und Jetzt zu schwinden. Doch wie durch ein Wunder gelangte selbst der Schlitten durch die Felsspalte. Als Meghan die Augen wieder öffnete, schaute sie geradewegs in die wütenden Augen mehrerer alter Kampfwichtel.

Alles, was Meghan in diesem Moment wahrnahm, war das rasende Klopfen ihres Herzens, das beim Anblick dieser eisblauen Augen und der auf sie gerichteten Spaten, aus ihrer Brust zu springen drohte. Sie konnten jetzt nicht noch einen Kampf ausfechten, dazu waren sie alle viel zu schwach. Aber zurück war auch keine Option, denn dort lauerte sicherlich noch immer Trira und wartete nur auf eine Gelegenheit, sie in sein Nest der Dunkelheit zu verschleppen. Angestrengt suchte Meghan nach einem Ausweg, doch ihr wollte partout nichts einfallen. Es war ihre Schwester, die sie aus der brenzligen Situation rettete. „Hallo?“, meinte Kathy unsicher, aber es klang eher wie eine Frage. Sämtliche Kampfwichtelköpfe drehten sich ihr zu. „Ehh, i-ich bin Kathy, und das ist meine Schwester Meghan. Wir wollen euch nichts Böses!“ Daraufhin trat ein Wichtel vor, der etwas größer als die anderen war. „Woher seid ihr und wie habt ihr uns gefunden?“, fragte er mit feindseliger Stimme. Also begann die jüngere Lindenfee zu erzählen. Vom Unglück mit ihrer Mutter in ihrem Heimatdorf, von der Reise, auf die sie sich begeben hatten und von dem Trigoretirus, vor dem sie sich hier in Sicherheit gebracht hatten. „Verflixter Schlittenbruch! Verzwickter Rentierzahnausfall! Verlorene Kinderwünsche! Verkümmerter Weihnachtsbaum!“, begann der alte Wichtel zu fluchen als Kathy ihre Geschichte beendet hatte, doch er wurde unterbrochen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte: „He, Lutzi, das bringt uns doch auch nicht weiter, beruhige dich!“ 

Besorgt schauten sich die Geschwister an. Immerhin hatte die Kampfwichtelbande endlich ihre Spaten gesenkt und auch der feindselige Blick war etwas anderem gewichen, was Meghan allerdings mindestens genauso viel Angst einjagte - Sorge. Wenn sich selbst diese scheinbar furchtlose Bande trotz ihrer Spaten vor dem fürchteten, was da draußen vor sich ging, dann war es wirklich schlimm. „Naja, dann kommt mal mit“, grummelte Lutzi und die Wichtel traten zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Nur drei weitere Spatenkämpfer folgten ihnen in den dunklen, schmalen Felsgang. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Meghans Magen breit. Sie fühlte sich wie eine Gefangene in dieser Horde und nur die Anwesenheit ihrer Schwester, ihrer Rentiere und ihrer Mutter, mochte sie auch noch so leblos scheinen, bewahrte sie davor, durchzudrehen. Aber im Moment sah sie keinen Ausweg aus dieser Situation und vielleicht konnten diese alten Wichtel ihnen ja tatsächlich weiterhelfen. Die Frage war nur, konnten die beiden Lindenfeen diesen verrückten Kreaturen trauen?

Die Wichtel führten sie durch mehrere nur spärlich mit Fackeln erleuchtete Felsgänge. Die Flammen warfen unheimliche Schatten an die Wände und die Rentiere waren nervös. Meghan konnte nur hoffen, dass sie nicht in Panik geraten und über das Grüppchen hinweg trampeln würden. Immer steiler führte ihr Pfad sie hinab, bis sie schließlich in einer niedrigen Höhle ankamen, die flächenmäßig mindestens so groß war wie das Wohnzimmer der Lindenfeen zu Hause. Allerdings mussten sie dort nicht die Köpfe einziehen, um aufrecht stehen zu können. Auch Lizzy und Merlin hatten Mühe, ihre Geweihe von der Höhlendecke fernzuhalten und sie schienen unglücklich über die Enge der in den Fels gehauenen Gänge. 

Die Lindenfeen schauten sich voller Staunen um. In der Mitte der Grotte stand ein kleiner runder Tisch, mit einem Durchmesser von vielleicht einer Armlänge. Die Stühle darum herum waren so winzig und zart, dass Meghan sich nicht traute, sie zu berühren, aus Angst sie würden sonst zu Staub zerfallen. An jedem Platz stand eine winzige Tasse, gefüllt mit einer dampfenden lila Flüssigkeit. Die Höhlenwand war bedeckt von Zeichnungen, die für Außenstehende wenig Sinn ergaben. In jede Himmelsrichtung führte ein Gang und die Grotte war so symmetrisch, dass die Geschwister nicht mehr wussten, aus welcher Richtung sie gekommen waren. Na super, jetzt hatten sie auch noch die Orientierung verloren! Meghan fühlte sich den Wichteln schutzlos ausgeliefert. 

„Nehmt Platz“, forderte Lutzi sie auf und machte eine vage Handbewegung in Richtung der Stühlchen. Kathy sah ihre Schwester aus großen Augen an, aber diese schien das Gleiche zu denken: Wie zum Teufel sollen wir da drauf passen? Trotz der Zweifel zogen die beiden jeweils einen Stuhl zu sich heran und setzen sich. Außer einem kurzen Knacken, das Meghan den Atem anhalten ließ, passierte nichts. Glücklicherweise! Nicht, dass die Wichtel kurzerhand Kleinholz aus ihnen machten, wenn sie die Stühle zu Kleinholz zerquetschten… Die Geschwister wagten sich nicht, auch nur die geringste Bewegung zu machen.

„So, ihr wollt also zu Bartholomäus?“, begann Lutzi und als die Lindenfeen nickten - die Stühlchen gaben weitere Knackgeräusche von sich - fuhr er fort: „Da können wir euch hinbringen. Die Weihnachtswichtelwerkstatt ist nämlich nicht nur mit der Hütte des Weihnachtsmannes verbunden, sondern auch mit unserer Wichtelpension. Hier sind nämlich Wichtel wie wir untergebracht, die dem alten Zwerg lange bei seiner Weihnachtsarbeit geholfen und sich nun den Ruhestand verdient haben. Aber von Ruhe kann in diesen Zeiten, wo sich das Böse den Weg zur Macht sucht, keine Rede sein, tztztz.“

„Perlgratz, Klimmbimm und Thurno werden euch begleiten, ansonsten würdet ihr euch in den Tunneln verlaufen. Die drei kennen sich da unten aus!“, ordnete Lutzi an und keiner widersprach. Auch Meghan war über die Unterstützung froh, obwohl eine Stimme in ihrem Hinterkopf immer wieder schrie: „Und was, wenn das eine Falle ist? Wenn wir nun für immer und ewig hier unten festsitzen?“ Die junge Lindenfee beschloss, das erst einmal zu ignorieren, schließlich gab es im Moment keinen anderen Ausweg.

Kurze Zeit später standen die drei kleinen Wichtel mit ihren drei kleinen Wichtel-Taschen und ihren drei kleinen Wichtel-Spaten vor ihnen und wenn sie nicht so grimmig dreinschauen würden und die Lage nicht so brenzlig wäre, hätte man sie fast niedlich finden können. Klimmbimm erhob zuerst das Wort und klimperte dabei so heftig mit den Wimpern, dass er seinem Namen alle Ehre machte: „Folgt mir, es ist ein weiter Weg bis zur Weihnachtswichtelwerkstatt und wir sollten keine Zeit verlieren. Ich wäre gerne noch vor Anbruch der Nacht dort…“ Meghan konnte ihm da nur Recht geben und trotz ihrer Angst und Erschöpfung setzte sie ein zuversichtliches Lächeln auf. Sie fragte sich, wie viel Uhr es wohl sein mochte, vielleicht Vier oder Fünf am Nachmittag? Wie auch immer, es war auf jeden Fall höchste Zeit, ihre Reise fortzusetzen.

 

Und so zog die kleine Karawane, geführt von Perlgratz und Klimmbimm, durch die engen Felsspalten los. Thurno bildete das Schlusslicht und schaute sich immer wieder nervös um, als erwartete er, dass hinter ihnen gleich Trigoretirus oder ein ähnlich vom Bösen verhextes Geschöpf auftauchen würde. Doch die unheimliche Stille hielt an. Nur einmal wurden Sie von einem scheuen Felshamster in Panik versetzt, der ihren Weg kreuzte und, als er das Grüppchen entdeckte, schnell in einem anderen Gang verschwand.

Merlin und Lizzy waren nicht sehr glücklich darüber, weiterhin in dieser dunklen Enge ausharren zu müssen, aber die beiden alleine zurückzulassen wäre keine Option gewesen. Die Rentiere hatten deutlich schärfere Sinne als ihre Feen-Freundinnen und außerdem mochten sie es überhaupt nicht, von Kathy und Meghan getrennt zu werden. 

Plötzlich blieb Merlin abrupt stehen, sodass Thurno beinahe in ihn hinein gestolpert wäre und irgendwas murmelte, das wie „Von wegen Renn-Tier“ klang. „Psst“, machte Kathy und die Karawane verharrte in Stille. Kurze Zeit später hörten sie es auch. Ein trauriges Summen, das immer näher kam und Meghan das Blut in den Adern gefrieren ließ. Was, wenn die Kampfwichtel sie nun wirklich geradewegs in ihr Verderben geführt hatten? Was, wenn sie nun nie wieder dem Unheil entfliehen konnten und ihre Mutter für immer verloren war?

„Das sind die Bijenas.“, erklärte Perlgratz. „Ihr braucht euch nicht vor ihnen zu fürchten, aber ihr solltet bei uns bleiben und uns das Wort überlassen. Die Königin der Felsen, Bijenini, sollte euch nicht für Eindringlinge halten. Ein einziger Stich von ihr oder einem ihrer Untertanen kann tödlich für euch enden. Also haltet euch besser im Hintergrund, sie tun nur ihre Arbeit und patrouillieren die Gänge. Und so, wie ihr Summen heute klingt, möchte man ihnen am liebsten gar nicht begegnen… Sie klingen nicht sehr glücklich…“ „Wie beruhigend!“, schnaubte Meghan nervös und presste sich eng an die Wand, „Hättet ihr uns nicht vorher sagen können, dass uns nicht nur das Böse verfluchen will, sondern uns auch noch diese“, sie fuchtelte in der Luft herum, „Bijenas abmurksen wollen?!“ Sie bekam keine Antwort, denn in diesem Moment flog ein Schwarm kleiner, orange glühender Insekten auf sie zu. Es waren sicherlich an die tausend ihrer Art und sie erfüllten den Gang mit einem Leuchten und einer Melodie, die schön und aggressiv zugleich war. 

Ehrfurchtsvoll verbeugten sich die drei Wichtel vor ihrer Majestät und Kathy, Meghan, Lizzy und Merlin beeilten sich, es ihnen gleich zu tun. „Wen habt ihr denn da?“, wollte die größte der Bijenas, vermutlich Bijenini, wissen. „Äh…“, stotterte Klimmbimm, „Das sind Freunde!“ „Genau, Freunde!“, wiederholte Thurno bestätigend und nickte heftig mit dem Kopf. „Sie sind vor ein paar Stunden in unserer Höhle quasi notgelandet!“, fügte Perlgratz fast ein wenig stolz hinzu. 

„Seid ihr verrückt, einfach irgendwelchen Fremden zu trauen?!“, summte Bijenini wutentbrannt und umrundete die Geschwister. „Was, wenn auch sie Spione des Bösen sind?“

Der Schwarm der Bijenas schien nervös zu werden und auch die Wichtel schienen verunsichert. Da räusperte sich plötzlich Kathy. Die Spannung, die in der Luft lag, war zum Schneiden dick und Meghan wünschte, sie könnte ihre Schwester zum Schweigen bringen, wo Perlgratz sie doch davor gewarnt hatte, selbst das Wort an die Königin der Felsen zu richten, aber es war bereits zu spät: „Wir sind selber Opfer eines Angriffs geworden und nur auf der Suche nach dem Weihnachtsmann. All unsere frischen Glücksplätzchen wurden verbrannt und unsere Mutter liegt seitdem in einer Art Koma.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, um den Bijenas einen Blick auf den Schlitten zu gewähren, den sie noch immer mit sich herum zogen. „Wir können ihr nur helfen, wenn wir Bartholomäus finden, da wir ihm unser gesamtes restliches Gebäck bereits geliefert hatten.“, fasste sie das Übel knapp zusammen.

Die Bijenas waren erstaunlich still geworden und auch die Wichtel starrten die junge Lindenfee aus großen Augen an. „Ich glaube euch.“, erklärte Bijenini entschieden, was Meghan einen Stein vom Herzen fallen lies - bis die Felsenkönigin hinzufügte: „Wir haben da nur ein kleines Problem… Die Weihnachtswichtelwerkstatt wurde auch verflucht und wir schaffen es nicht, hineinzukommen.“

Kathy wurde blass, als ihr zum ersten Mal so richtig bewusst wurde, welches Ausmaß die ganze Katastrophe besaß. Wie sollten sie den Hass und all das Böse in der Welt besiegen, wenn noch nicht einmal der Weihnachtsmann, der doch nur so vor Licht und Liebe sprühte, es bezwingen konnte… Blankes Entsetzen stand auf ihrer aller Gesichter, diese Nachricht hatte ihnen die Sprache verschlagen. Bis eine bedrohliche Melodie aus dem Schlitten mit ihrer Mutter erklang und alle hektisch durcheinander redeten. Nur Meghan schreckte zusammen und wurde noch bleicher, als ihr eine Vermutung kam… 

Aber Kathy war schneller, sie streckte die Hand aus, kramte in ihren sieben Sachen herum und fand die Glaskugel ihrer Schwester, die tatsächlich der Auslöser dieser beängstigend gefährlichen Musik war. Sie wollte das vibrierende Etwas in hohem Bogen wegwerfen, doch diesmal war Meghan schneller. Sie schnappte sich mit zitternden Fingern ihre Kugel und traute ihren Augen kaum, als sie darin das grausam verzerrte Gesicht Jean-Jacques Lukas erkannte, umgeben von schwarzem Nebel. Panisch umfasste die Lindenfee das Glas mit beiden Händen und gab sich alle Mühe, so viel Freude, Liebe, Optimismus und alle weiteren positiven Gefühle, die ihr sonst noch einfielen in diese Berührung zu legen. Aber ihr Schützling lachte nur hämisch und seine Pupillen traten aus den Augenhöhlen hervor. „Ihr könnt uns nicht mehr aufhalten! Wir sind schon zu weit gekommen!“, prophezeite er mit einem irren Grinsen, bevor das Gesicht in Hautfetzen zerfiel und nichts als der dunkle Nebel zurückblieb. 

Erschöpft sackte Meghan in sich zusammen. Wie hatte sie auch nur glauben können, dass sie es schaffte, die ganze Welt von all dem Übel zu befreien, wenn es ihr noch nicht einmal gelang, ihren Schützling davor zu bewahren, in seinen Bann zu gelangen? Sie war so in ihre Verzweiflung vertieft, dass sie fast nicht gemerkt hätte, wie die Bijenas sie umringten und jede versuchte, einen Blick auf diese seltsame Glaskugel zu erhaschen. Nur Bijenini hielt sich im Hintergrund. In einem Tonfall, der sowohl misstrauisch als auch bewundernd sein konnte, meinte sie: „Ausgesandte des Protektoriats! Das wird ja immer besser!“ 

„Wie meinen Sie das?“, hakte Kathy stirnrunzelnd nach und auch Meghan verspürte ein nervöses Kribbeln im Magen. „Nun, wir haben bereits vor einigen Jahren Warnungen an das Protektoriat geschickt, dass das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse zu kippen droht. Aber wir haben stets die Rückmeldung erhalten, man halte die Erde im Blick, aber Machtschwankungen seien natürlich. Scheint, als seien sie nun endlich zur Vernunft gekommen, wo es schon fast zu spät ist!“, grummelte die Königin der Felsen.

„Ehrlich gesagt,…“, erwiderte Kathy, „Sind wir auf eigene Faust losgezogen, um unsere Mutter zu retten. Das Protektoriat hat nichts damit zu tun…“

„Also doch kein Sinneswandel!“, seufzte Bijenini frustriert. „Ohne die Unterstützung des Protektoriats wird es verdammt schwierig werden, den Weihnachtsmann zu befreien. Beinahe unmöglich…“ „Wir können doch helfen!“, rief Kathy aus. Meghan wusste, dass ihre Schwester insgeheim noch immer die Hoffnung hegte, ihre Mutter retten zu können. Sie selbst war sich da nicht mehr so sicher. Wenn das Böse sogar beim Weihnachtsmann eindringen konnte, dann war mit Sicherheit all ihr Glücksgebäck bereits vernichtet worden. Dennoch setzte sie eine hilfsbereite Miene auf. „Genau, nichts ist unmöglich!“, behauptete sie, ohne jedoch selbst daran zu glauben.

Nach einer kurzen Diskussion setzte das kleine Grüppchen, diesmal angeführt von den Bijenas, ihren Weg fort. Niemand sprach, nur das Echo ihrer Schritte hallte von den Wänden wieder. Angespannt hielt jeder Ausschau, ob irgendetwas auf das Böse hindeutete. Schon das leiseste Geräusch eines Wassertropfens, der von der Höhlendecke fiel, lies sie zusammenfahren. Doch ansonsten blieb es unheimlich ruhig. 

Doch plötzlich quiekte Thurno auf und umklammerte krampfhaft Meghans Arm. „Da!“, krächzte er tonlos und zeigte auf eine dünne Rille an der Tunnelwand. „Amstasien!“, knurrte nun auch Perlgratz wütend und Klimmbimm wurde kreidebleich. „Was ist?“, fragte Kathy und Meghan war sich nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte. „Amstasien,“, erklärte Bijenini, „man nennt sie auch den „Schrecken der Felsen“. Sie sind winzig klein und heben sich kaum von der Felswand ab, deshalb sind sie schwer zu finden. Aber sie fressen diese Rillen in den Stein und lassen ihn porös werden. Ein Teil der Wichtelpension ist vor ein paar Monaten dadurch eingestürzt, ihr könnt euch also denken, dass eure neuen Freunde hier auf Kriegsfuß mit den Amstasien stehen. Was allerdings noch niemand weiß: wir hegen die Vermutung, dass sie systematisch vom Bösen eingesetzt werden, zunächst nur für kleinere Auftragsarbeiten, wie das Zerstören von Höhlen, in denen das Gute zuhause ist, aber möglicherweise auch für Spionage…“ Ein eiskalter Schauer lief Meghan über den Rücken und sie hatte plötzlich das ungute Gefühl, von allem Seiten beobachtet zu werden. Doch als sie bemerkte, wie sich Kathy, die Rentiere und die Wichtel, trotz ihrer Spaten, panisch umblickten, beschloss sie, dass wenigstens einer von ihnen die Nerven behalten musste. Selbstbewusst richtete sie sich auf und hoffte, dass ihre Stimme entschlossener klang, als sie sich fühlte: „Na dann nichts wie los zum Weihnachtsmann! Wir müssen all dem ein Ende setzen!“ 

Gesagt, getan. Ohne ein weiteres Wort, setzte sich das Grüppchen wieder in Bewegung. 

Tatsächlich kamen sie ungestört voran. Nach ein paar Stunden schweigenden Fußmarsches und einigen Abzweigungen, sah Meghan endlich ein Licht am Ende des Tunnels. Automatisch wurde sie schneller, doch Bijenini hielt sie zurück: „Halt! Die Weihnachtswichtelwerkstatt befindet sich mitten in den schneebedeckten Bergen Alsouriens. Um jedoch zum Eingang zu gelangen, müssen wir eine kurze Strecke mitten durch die schneeweiße offene Landschaft laufen, ganz ungeschützt. Es gibt keinen Schatten, in dem wir uns verbergen könnten, keine Büsche, hinter die wir uns ducken könnten und keine Höhlenwände, die uns vor größeren Angriffen bewahren. Der schwierigste und gefährlichste Teil unserer Reise liegt also erst noch vor uns.“ Merlins Augen schienen kurz aufzuleuchten und zum ersten Mal meldete sich das Rentier zu Wort: „Freie Fläche bedeutet aber auch, dass wir Platz zum Ausweichen und Verteidigen haben. Hier drinnen komme ich mir vor wie eingesperrt. Und auch das Böse hat dort draußen weniger Möglichkeiten für einen Hinterhalt.“ „So habe ich das noch gar nicht gesehen…“, überlegte Bijenini, „Allerdings könnten sich potentielle Angreifer ebenfalls in der Werkstatt selbst verschanzt haben, wir sollten auf alle Fälle die Augen aufhalten und zusammen bleiben, wenn wir in das Licht hinaus treten. Perlgratz, Klimmbimm, Thurno, habt ihr eure Silberkluster dabei?“ Die drei Wichtel nickten und reckten synchron ihre Spaten in die Luft. 

Kurz darauf machte sich das Grüppchen in neuer Formation auf den Weg. Lizzy und Merlin, die es kaum erwarten konnten, ihre Freiheit zurück zu gewinnen, trabten ungeduldig an der Spitze, gefolgt von den Wichteln mit ihren Silberklüstern oder wie die Dinger nochmal hießen und letzten Endes Meghan und Kathy mit ihrem Schlitten. Der Bijena-Schwarm flog um sie herum und verteilte sich wie leuchtende Heiligenscheine über ihren Köpfe. Was das bringen sollte, wollte den Lindenfeen nicht so recht einfallen, aber die Bijenas schienen überzeugt, dass dies ihre einzige Chance war, ungefährdet zur Werkstatt zu kommen. Allerdings waren die Wichtel auch überzeugt von ihren Mini-Spaten mit dem komischen Namen.

Als sie hinaus ins Licht traten, wäre Meghan am liebsten stehen geblieben, um die frische Luft tief einzuatmen, doch die Unruhe trieb sie weiter. Da blieb Lizzy plötzlich stehen. „Ihr sagtet doch, hier gäbe es keine Felsen!“, meinte sie beunruhigt und zeigte mit ihrem Kopf in Richtung eines grauen Gesteinbrockens. „Entleerter Adventskalender!“, fluchte Perlgratz, „Das sind die Amstasien!“ Kaum hatte er das ausgesprochen, da waren sie auch schon von den kleinen Krabbel-Viechern umzingelt…

Panik überfiel das kleine Grüppchen, die Wichtel versuchten die Viecher mit ihren Silberklustern aufzuspießen, doch ihre Bewegungen waren zu ungelenk und ihre Gegner zu flink. Die Bijenas lösten ihre Heiligenschein-Formation auf und warfen sich ins Gefecht, aber die Amstasien waren deutlich in der Überzahl. Kathy versuchte, sie zu Matsch zu zerstampfen, doch die Dinger krabbelten mühelos zwischen den Rillen ihrer Stiefel hindurch. Unterdessen bemühte sich Meghan, den Schlitten und insbesondere den Körper ihrer Mutter in all dem Chaos vor den Viechern zu beschützen.

Da fing es plötzlich an zu nieseln und jede Amstasie, die von den Tröpfchen getroffen wurde, zerfiel zu Schnee. Erstaunt blickten die Lindenfeen in den Himmel und trauten ihren Augen kaum! Das war kein normaler Regen, der hier herunterkam! Es war Rentierspucke! Merlin und Lizzy schwebten stolz über ihnen und spuckten auf alles, was sich bewegte oder wie Felsen aussah. Lachend ließen sich die Wichtel in den Schnee fallen und klatschten Beifall und auch die Bijenas staunten nicht schlecht! „Das war genial!“ „Ein Hoch auf die Rentiere!“ „Wie kamt ihr denn auf die Idee?“, summten sie durcheinander. „Ach,“, erklärte Lizzy, „Merlin hat die Dinger so angeschrien, dass ihm die Speicheltröpfchen aus dem Mund flogen und zufällig wurde ich Zeugin, wie sich daraufhin diese Amstasien aufgelöst haben!“ Wieder fingen alle an zu lachen und die Rentiere zu bejubeln, nur Kathy stand ein wenig abseits, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. 

Es versetzte Meghan einen Stich, ihre Schwester noch immer so unglücklich zu sehen, aber sie kannte den Grund. Die Vernunftsplätzchen hatten zwar das Unheil aus ihrem Geist vertrieben, doch die Freude konnten sie nicht zurück bringen. Sie brauchte unbedingt einen Glückskeks und Meghan konnte nur hoffen, dass sie in der Weihnachtswichtelwerkstatt irgendwo einen aufspüren könnte und nicht alle verflucht und verbrannt worden waren…

„Alle wieder in Reih und Glied aufgestellt!“, versuchte Klimmbimm sich noch immer grinsend an einer autoritären Stimme, was ihm allerdings nicht so ganz gelingen wollte. Dennoch gehorchte jeder ohne Wiederworte seiner Aufforderung. In der selben Formation wie zuvor, liefen sie weiter in Richtung des Hauses, das die Weihnachtswichtelwerkstatt sein musste. Der Eingang lag scheinbar verlassen und ungeschützt am höchsten Punkt des Hügels, aber diesmal waren sie noch vorsichtiger. Schritt für Schritt schlichen sie sich weiter, bis sie an der Tür angekommen waren. Mit angehaltenem Atem drückte Meghan den Türgriff und erwartete eigentlich, dass sie sich nicht öffnen ließ, doch mit einem leisen Knarzen schwang die Tür auf. Von drinnen war kein Mucks zu hören. Mit einem unguten Kribbeln im Magen übertrat die Lindenfee die Türschwelle…

„Hallo?“, rief Kathy, die neben Meghan auftauchte, in die Stille hinein. Noch immer blieb es mucksmäuschenstill. Entschlossen drangen die Lindenfeen tiefer in die Wichtelwerkstatt ein, dicht gefolgt von Thurno, Klimmbimm und Perlgratz sowie den Rentieren. Im Gegensatz zum Rest der Gruppe, behielten die Bijenas ihre Formation bei und schwebten leuchtend über ihren Köpfen daher.

„Was soll das eigentlich werden, wenn‘s fertig ist?“, wollte Klimmbimm wissen und fuchtelte neben seinem Ohr in der Luft herum. Auch die Lindenfeen mussten zugeben, dass das Gesumme sie allmählich kirre machte. Doch gleichzeitig strahlten die Bijenas eine solche Ruhe aus, dass auch sie sich durch ihre Präsenz ein wenig entspannten.

„Dieser Hoffnungsschein“, erklärte Bijenini geduldig, „ist ein Zeichen dafür, dass ihr in durch und durch positiver Absicht gekommen seid und das Böse ablehnt. Nur wer dieses Symbol des Friedens über seinem Kopf trägt, kann im Fall eines Angriffs durch diese Tür eintreten. Für alle anderen bleibt sie verschlossen.“ „Moment mal!“, schrie Thurno erbost, „Wollt ihr uns jetzt erzählen, dass wir unser Leben lang hier gearbeitet und gewerkt haben, ohne eine Ahnung von alledem zu haben?!“ „Umso weniger wissen, wie das Sicherheitssystem funktioniert, desto sicherer ist es.“, erwiderte Bijenini unbeeindruckt und forderte sie auf, weiter die Werkstatt zu erkunden. 

Da hörte Meghan plötzlich ein leises Wimmern. Wie erstarrt blieb sie stehen: „Was war das?“ Ohne weiter darüber nachzudenken, lief sie in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Wenige Schritte später, stand sie vor einer schweren Eichenholztür, die das Klagen stark dämpfte. Besorgt winkte sie die anderen herbei und rüttelte an der Klinke. Die Tür gab ein ächzendes Knarzen von sich, bewegte sich jedoch keinen Millimeter. Stattdessen verstummte das Jammern und Stöhnen. Ratlos sahen die Lindenfeen einander an. Doch bevor die beiden sich mit vereinten Kräften gegen die Tür werfen konnten, was sicherlich nichts an der Situation geändert hätte, abgesehen von einigen blauen Flecken, räusperte sich Perlgratz. Dann trat er vor, bückte sich, schob die Fußmatte zur Seite und gab einen vierstelligen Zahlencode in das Feld ein, das dort zum Vorschein gekommen war. Mit offenen Mündern starrten Meghan und Kathy auf die Tür, die wie von Zauberhand in Zeitlupe zur Seite geschoben wurde. Die Wichtel hingegen schienen ungerührt. Schulterzuckend erklärte Thurno, diese Öffnungssysteme befänden sich an so ziemlich jedem Raum der Wichtelwerkstatt.

Andächtig traten die Lindenfeen in die große Halle, die sich vor ihnen auftat und beinahe hätten sie das Wimmern vergessen, das sie hierher geführt hatte. Bis ihr Blick auf einen kleinen gefesselten und geknebelten Zwerg fiel, dessen weißer Bart viermal so lang war, wie er selbst und der jede ihrer Bewegungen misstrauisch beobachtete. Es bestand kein Zweifel, dieser armselige Kerl war Bartholomäus, der Weihnachtsmann.

„Barthi!“, quiekten die drei Wichtel außer sich vor Entsetzen, als sie ihren ehemaligen Meister in dieser misslichen Lage entdeckten. „Hmpf-mhh-pfm“, antwortete dieser und versuchte sich aufzurichten, was ihm allerdings nicht gelang. Da Perlgratz, Klimmbimm und Thurno in einer Schockstarre gefangen zu sein schienen und die Rentiere mit ihren Hufen den Weihnachtsmann wohl kaum befreien könnten, geschweige denn die Bijenas, näherte Meghan sich vorsichtig dem Gefesselten. „Wir kommen in friedlicher Absicht.“, erklärte sie mit warmer Stimme und kniete sich nieder, um sich an den Fesseln zu schaffen zu machen. Mit flinken Fingern löste sie die Knoten und zog Bartholomäus das Stofftuch aus dem Mund, das ihn so lange vom Reden abgehalten hatte. Der Zwerg seufzte erleichtert, doch im nächsten Moment war sein Gesichtsausdruck bereits wieder einer sorgenvollen Miene gewichen. 

Und dann ging alles ganz schnell. Der Weihnachtsmann berichtete dem Grüppchen vom Überfall des Bösen. Wie seine arbeitenden Wichtel ebenfalls in ein tiefes Koma gefallen waren, weil ihr Herz dem Übergriff dieser unheilvollen Macht nicht standhielt. Wie eine bösartige Sturmböe ihn mitgerissen hatte und dann hier in diesem jämmerlichen Zustand liegen gelassen hatte, als die Grausamkeit bemerkt hatte, dass es keine Möglichkeit gab, in die Kammer der Freude und des Glücks einzudringen. Sie war gut genug geschützt. Zumindest, um diesem ersten Angriff standzuhalten… Doch es würden noch zahlreiche weitaus Gefährlichere folgen, davon ging Bartholomäus aus. So lange, bis das Böse die Macht an sich gerissen hatte - oder besiegt worden war… 

„Auch wir hatten ähnliche Erlebnisse.“, erzählte Meghan und fasste kurz zusammen, was sie hierhergeführt hatte. „Naja, und jetzt hoffen wir, mithilfe der Lebenspralinen unsere Mutter wieder zu uns holen zu können.“, beendete sie ihre Geschichte, erleichtert, dass die Vorratskammer offenbar vom Übel verschont worden war. Doch der Zwerg sah sie traurig an: „Die Gebäcke sind alle verschont geblieben, aber bis die Gefahr des Bösen nicht gemindert wurde, haben wir selbst auch keine Möglichkeit, in die Kammer der Freude zu gelangen. Ein kompletter Verschluss ist nunmal der sicherste Mechanismus.“ „Mist!“, ärgerte sich Kathy, aber wenn sie schon so weit gekommen waren, dann würden sie jetzt sicherlich noch nicht aufgeben! „Was können wir tun, um die Macht zurückzudrängen?“ 

„Das Problem ist ein Junge und ich glaube Meghan weiß, von wem ich spreche.“, erklärte der Weihnachtsmann, „Das Böse hat ihn unterworfen und seinen Hauptsitz in seinem Herzen eingerichtet. Schafft ihr es, ihn zu zerstören, dann wird die Liebe wieder Einzug finden.“ Jean-Jacques Lukas! Wäre die Lindenfee doch schon früher darauf gekommen! „Ich reise auf die Erde.“, entschied sie und fühlte sich dabei so selbstsicher wie schon lange nicht mehr, „Aber ich werde einen anderen Weg finden als den, meinen Schützling zu töten.“

„Ich komme mit!“, entschied Kathy sofort, aber ihre Schwester schüttelte den Kopf: „Nein, das hier ist meine Aufgabe, ich habe dich schon genug in Gefahr gebracht und du hast deine Protektoriatsausbildung noch nichtmal abgeschlossen.“ Als sie den verletzten Gesichtsausdruck der jungen Lindenfee sah, fügte sie schnell hinzu: „Außerdem brauchen wir jemanden, der hier die Stellung hält. Ich lasse euch die Dose mit den Vernunftsplätzchen hier, zur Sicherheit, einen oder zwei packe ich mir aber ein.“

Nach einem schnellen Abschied, bei dem Kathy sich so fest an sie geklammert hatte, dass sie gedacht hatte, ihre Rippen müssten zerquetscht werden, schwang sie sich auf Lizzy und ließ sich von ihr in die Lüfte tragen. Meghan hatte nur das Nötigste eingepackt, ihre Schneekugel, zwei der magischen Plätzchen und ein wenig Proviant für sich und ihr Rentier und ohne das zusätzliche Gewicht des Schlittens, kamen sie deutlich schneller voran. Die Lindenfee bemühte sich, immer im Schatten das Waldrandes oder der Berge zu fliegen und blieb in der Nähe des Bodens, um nicht die Aufmerksamkeit des Bösen zu erregen. Dennoch sah sie sich immer wieder verstohlen um, aus Angst beobachtet zu werden… Doch obwohl ihr Rücken unangenehm kribbelte, konnte sie niemanden sehen… 

Nach zwei Stunden langen Fluges holte Meghan vorsichtig ihre Glaskugel hervor, in der Hoffnung, dadurch Jean-Jaques Lukas‘ Aufenthaltsort herauszufinden, doch das Glas blieb eisig kalt und beschlug, als die Lindenfee versuchte, eine Verbindung herzustellen. Seufzend packte sie das Ding wieder in ihre Tasche und versuchte angestrengt, sich daran zu erinnern, was sie gesehen hatte, als ihr Schützling die drohende Weissagung verlauten ließ. Doch ständig drängte sich das grausam verzerrte Gesicht in den Vordergrund, das ihr so hämisch in die Augen geblickt hatte. Bis sie eine vage Erinnerung überkam. Verzweifelt versuchte sie, ihre Gedanken zu greifen, es war dunkel gewesen, wie in einer Höhle. Konnte es sein, dass der Junge nicht mehr zuhause war, sondern mitten im Lager des Grauens? Aber da war noch etwas, Meghan spürte, dass es etwas sehr Wichtiges war, doch sie kam einfach nicht darauf, was es war. 

„Lizzy, wir müssen zu einer Höhle oder etwas ähnlichem, ich vermute, dass das Böse sich dort verschanzt hat. Hast du eine Idee, wo das sein könnte? Möglicherweise ist es in der Äterialus-Hülle, die unsere Welt und die der Menschen verbindet.“, überlegte sie laut, ohne das Gefühl loszuwerden, etwas Wesentliches übersehen zu haben. 

„Oh nein!“, vor Schreck sank ihr Rentier einen Meter tiefer, „Wenn sie sich in der Trigoretirus-Grotte eingenistet haben, haben wir keine Chance!“ 

Kurz überfiel Meghan eine hysterische Panik, aber dann schüttelte sie entschieden den Kopf: „Trigoretirusse sind Einzelgänger. Sie können noch so verflucht sein, ich bin mir ziemlich sicher, ihren Brutplatz würde Trira niemals preisgeben. Nein, die Trigoretirus-Höhle wurde noch von niemandem gefunden und das ist auch besser so. Ich glaube, wer auch immer es wagen würde, danach zu suchen, ist mausetot, sobald er auch nur in die Nähe kommt.“ Die Lindenfee stutzte. Mausetot? Das war es! Endlich fiel ihr ein, was sie so lange nicht zu fassen bekommen hatte! „Die Mäusehöhle!“, japste sie aufgeregt und richtete sich mit neuer Energie auf Lizzys Rücken auf. Dass ihr die Maus, die auf der Höhlenwand im Hintergrund der Glaskugel aufgezeichnet gewesen war, nicht aufgefallen war, als ihr Schützling seine Drohung überbracht hatte! „Du meinst“, rief ihr Rentier überrascht aus, „wir können von hinten eindringen?!“ 

Das Protektoriat hatte einen Hintereingang zu dieser Höhle gegraben, um von dort die Menschenwelt besser im Blick zu haben und niemand sonst, nicht einmal die Mäuse, wussten davon, weil es eine Aktion gewesen war, die im rechtlichen Graubereich lag. Begeistert von diesem Einfall lenkte die Lindenfee ihr Rentier in besagte Richtung und gab sich alle Mühe, ihre Euphorie ein wenig zu zügeln. Sie hatte noch immer keinen konkreten Plan und wusste nicht, ob der geheime Zugang zur Mäusehöhle nicht vielleicht doch entdeckt worden war. 

Diese Höhle befand sich am Ausgang der Äterialushülle und war der schnellste Weg zur Menschenwelt. Da jedoch nur sehr wenige Diener des Protektoriats überhaupt von dem geheimen Hintereingang, der unter der Hülle hindurch führte, wussten, gingen fast alle davon aus, dass nur ein Weg mitten durch die Äterialushülle dorthin existierte. Meghan selbst war nur eingeweiht worden, weil ihr Vater sie eines Tages zur Seite genommen und ihr von dem Projekt erzählt hatte. Er schien so eine Ahnung gehabt zu haben, dass dieses Geheimnis ihr irgendwann nützlich sein würde. Das war die Gabe ihres Vaters, er konnte die Zukunft zwar nicht vorhersehen, allerdings hatte er eben solche Instinkte, die ihm verrieten, was wichtig war. Jede Lindenfee hatte eine solche besondere Gabe, allerdings dauerte es oft viele Jahrhunderte, bis sie ans Licht kam. Meghan, ihre Schwester und ihre Mutter wussten bis heute nicht, was ihr einzigartiges Talent war. Das war manchmal ganz schön frustrierend!

Umso mehr Meghan darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam es ihr vor, dass Jean-Jaques Lukas sich genau dort befand: in der Mäusehöhle. Wenn sich das Böse dort verschanzte, versperrte es den schnellsten Weg in die Menschenwelt und das Gute konnte kaum noch bis dorthin durchdringen. 

Als Lizzy und Meghan endlich im Lebenswald angekommen waren, wo sich der Hintereingang befinden sollte, brauchten sie trotz der detaillierten Beschreibungen ihres Vaters fast eine Stunde, um die Falltür zu finden, die den Eingang darstellte. Frustriert wollte Meghan schon aufgeben und doch durch die Äterialushülle hineindringen, als Lizzy Laub und Steine beiseite schob und einen Hebel enthüllte, der ebenso gut ein Ast hätte sein können. Doch als das Rentier dagegen trat setze sich ein Mechanismus in Bewegung und mit einem leisen Quietschen schwang eine Tür an einer naheliegenden dicken Eiche auf. Nie im Leben hätte man diesen Eingang ohne den Mechanismus bemerkt. 

Vorsichtig trat die Lindenfee an den Baum und schaute hinein. Sie musste sich erst an das dämmrige Licht gewöhnen, das nur von draußen hereinkam, doch dann erkannte sie eine Leiter, die in die Tiefen hinab führte. Gut, dass sie nicht blind in die Öffnung hinein getreten war, dann läge sie jetzt mausetot viele Meter weiter unten. Die Leiter führte so tief hinab, dass sie das Ende nichtmal sehen konnte! Hier würde Lizzy nicht mitkommen können. Die Röhre, die nach unten führte, war nicht breit genug zum Fliegen und Leitern konnte ihr Rentier nunmal nicht erklimmen. Von nun an war die Lindenfee auf sich allein gestellt. Als sie Lizzy den Stand der Dinge erklärte, sah sie kurz Erleichterung in den Rentieraugen aufblitzen, die jedoch sogleich von Schuldbewusstsein und Sorge abgelöst wurde. Übel konnte Meghan ihr das nicht nehmen. Sie wusste, wie sehr die Arme enge Gänge hasste und das unterirdische Labyrinth, durch dass sie vorhin mit den Kampfwichteln und den Bijenas geirrt waren, war für sie vermutlich genug Enge für ihr ganzes Leben gewesen. Nach einer schnellen Verabschiedung trat die Lindenfee mit einem mulmigen Gefühl im Magen schließlich in die Eiche und begann, nach unten zu klettern. Vor Angst waren ihre Hände schweißnass und sie musste sich ordentlich festklammern, um nicht runterzufallen. Nun, da der Baumeingang wieder verschlossen war, kam das einzige Licht durch das Schimmern ihrer Flügel, doch das half nicht viel. Alles was sie sehen konnte, waren gruselige Schattenspiele an den feuchten Wänden, die das sanfte Licht ihrer Flügel reflektierten. 

Meghan dachte schon, die Leiter würde nie enden, als sie endlich etwas Hartes unter ihren Füßen spürte. Vorsichtig tastete sie es ab und stellte fest, dass sie tatsächlich am Boden angekommen war. Ein Tunnel führte nach links und zögernd folgte Meghan seinem Verlauf. Wenn hier irgendwer lauerte oder sie verfolgte, würde sie ihn niemals rechtzeitig entdecken können. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinab und die junge Lindenfee musste sich bei dem Gedanken zwingen, weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Denk an was Anderes, denk verdammt nochmal an was anderes!“, sagte sie sich immer wieder, bis sie plötzlich Stimmen hörte. Abrupt blieb sie stehen. 

Verdammt, was war das? Meghan lauschte in die Dunkelheit, doch das Gemurmel hielt an. Und das Schlimmste war: es schien immer näher zu kommen, direkt auf sie zu. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg. Es gab nirgendwo eine Nische, in der sie sich verstecken konnte und sie konnte schon das Licht einer Taschenlampe erahnen, das hinter der nächsten Kurve hervor blitzte. Als sie die einzige Fluchtmöglichkeit ergreifen und den ganzen Weg zurück zur Leiter rennen wollte, kam sie nicht vom Fleck. Ihre Schockstarre hielt sie gefangen. Das war ihr seit ihrer frühen Kindheit nicht mehr passiert und in der Protektoriatsausbildung hatte sie extra Kurse belegt, um zu lernen, damit umzugehen! Meghan könnte sich verfluchen! Doch da hörte sie die Stimme, nun deutlich näher. Eine tiefe warme Stimme und sie gehörte unverkennbar… „Papa!“, rief Meghan voller Erleichterung und fiel ihrem Vater, der gerade um die Ecke kam, erleichtert um den Hals. „Was machst du denn hier?!“, wunderte sich dieser und schloss sie in eine feste Umarmung. Mit einem dicken Kloß im Hals berichtete sie an diesem Tag nun schon zum vierten Mal, was alles passiert war. Selbst ihr sonst so ruhiger Vater begann bei der Erzählung von einem Fuß auf den anderen zu treten. „Schatz, das ist ja furchtbar! Dass ihr beiden das alles habt alleine durchstehen müssen. Jetzt bin ich da.“, antwortete er, „Unsere Mission in der Menschenwelt ist in der Tat auch gescheitert. Du hattest Recht mit deiner Vermutung. Das Böse hat sich direkt in der Mäusehöhle eingenistet und versperrt den Weg, der mitten durch die Äterialushülle führt. Unseren Hintereingang haben sie glücklicherweise nicht bemerkt, allerdings können auch wir nicht unbemerkt durch die Höhle kommen. Der grimmige Junge, den das Böse als Marionette benutzt, hat sein Lager gleich in der Nische neben dem geheimen Eingang aufgeschlagen.“

„Jean-Jaques Lukas! Ich muss zu ihm!“, rief Meghan aus, woraufhin der Lindenelfe vortrat, der ihren Vater begleitet hatte und der der Lindenfee vage bekannt vokam. Vermutlich ein Freund ihres Vaters aus dem Protektoriat, der sie mal besucht hatte. „Das wäre kopflos, dieser Junge ist außer sich, nicht mehr fähig, irgendetwas Vernünftiges zu tun!“, warnte er sie und ihr Vater fügte hinzu: „Roland hat Recht, das wäre zu gefährlich.“ 

Aber Meghan hörte ihnen nicht mehr zu, sie wusste, es war ihre einzige Chance und Jean-Jaques Lukas war ihr Schützling. Schnell schob sie sich an den beiden Elfen vorbei und tastete sich bis zum Ende des Tunnels vor. Sie wusste, dass Roland und ihr Vater ihr folgten, denn das Licht ihrer Taschenlampe half ihr bei der Orientierung. Als sie schließlich angekommen war, gewährte ihr eine kleine Luke einen Einblick in die Mäusehöhle. Erschrocken keuchte sie auf, als sie Jean-Jaques Lukas schwitzend und mit aufgerissenen Augen an der Höhlenwand lehnen sah. Schwarze Nebelfetzen schwebten um seinen Kopf und quollen aus seinen Ohren. Es bestand kein Zweifel: Das Böse zerfraß ihn von Innen heraus. 

Mit schnellen Schritten war Meghan bei der geheimen Tür, die geradewegs ins Herz der Mäusehöhle führte. Sie hörte ihren Vater noch voller Angst rufen: „Nein Meggi, tu das bloß nicht; das Böse wird auch dich verschlingen!“, aber seine Worte erreichten sie nicht. Kaum, dass sie die Türschwelle übertreten hatte, legte sich eine eisige Kälte um sie, aber sie drang nicht in ihr Inneres. Das hielt die Lindenfee für ein gutes Zeichen. Vorsichtig sah sie sich um und musste sich vor Schreck auf die Zunge beißen, um nicht laut los zu schreien, als sie die Abertausenden an gelben Augenpaaren bemerkte, die alle auf ein gemeinsames Ziel gerichtet waren: sie! Ein Schaudern ließ sie beinahe zurück taumeln, aber sie konzentrierte sich auf ihre Mission. Irgendwie musste sie zu Jean-Jaques Lukas gelangen! Vorsichtig setzte sie einen Schritt vor den anderen, doch die Augen kamen nicht näher. Jetzt erst fiel Meghan auf, dass das, was sie für Körper gehalten hatte, nur schwarzeNebelfetzen waren, so wie sie auch aus ihrem Schützling hervorkrochen. Ein kleiner Stein fiel ihr vom Herzen: Das Böse hatte sich noch nicht vollständig materialisiert. Das hielt es jedoch nicht davon ab, sich in Gedanken und Seelen breit zu machen. Meghan konnte schließlich vor sich sehen, was aus Jean-Jaques Lukas geworden war. 

„Wie hatte es nur so weit kommen können?“, fragte sich die Lindenfee. Früher war ihr Schützling doch so ein vorbildlicher Junge gewesen. Warum hatte er sich so geändert? Meghan bemerkte gar nicht, wie sich bei diesen Gedanken ihre Hände zu Fäusten ballten und wie sie dem Jean-Jaques Lukas, dessen Körper unter den schwarzen Nebelschwaden inzwischen kaum noch zu sehen war, mit neuem Mut entgegen trat. Mit neuem Mut - und frischer Wut. „Warum bist du so geworden?“, schleuderte sie dem Nebelgespinst entgegen. „Du bist vollkommen besessen! Ich kann nicht fassen, dass du so ungeheuerlich geworden bist! Nimm das!“, sie streckte ihm einen Vernunftskeks hin, doch sie merkte sogleich, wie das Böse an dem Gebäck saugte. Jetzt musste es schnell gehen, wenn sie diesen Vernunftskeks nicht dem Bösen überlassen wollte. In dem Moment fiel ihr ein, wie sie am Morgen, es kam ihr vor, als wäre das eine Ewigkeit her gewesen, Kathy hatte überzeugen können, den Keks zu essen und schnell fügte sie hinzu: „Er verstärkt das Unheil und die Macht des Bösen hier und in der ganzen Welt!“

Irgendwie hatte sie es geschafft, ihren Schützling zu überzeugen. Ob es an ihrer Wut lag, die sie vertrauenswürdig machte, da auch sie Mittel des Bösen war, oder an der Verkündung über die angeblichen Folgen des Kekses, wusste Meghan nicht, aber das war jetzt auch egal. Vielleicht war es beides zusammen, Fakt war, dass Jean-Jaques Lukas nun endlich gierig nach dem Gebäck griff und es sich in den Mund stopfte. Endlich! Aber sie musste sich noch immer beeilen, bevor die Vernunft, die der Keks spendete, erneut vom Bösen verdrängt wurde. Sie griff in die Nebelschwaden, um den Körper von ihrem Schützling zu schnappen und ihn mit letzter Kraft in den geheimen Gang zu schaffen, zu dem das Böse keinen Zutritt hatte. 

Autorennotiz

Das Kapitel für den nächsten Tag wird jeden Tag am Vorabend hochgeladen. Auf Instagram ist außerdem unter Amelika_Buch jeden Morgen das neue Kapitel als Hörspiel zu finden.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

Amelikas Profilbild Amelika

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Kapitel: 21
Sätze: 564
Wörter: 9.607
Zeichen: 57.798

Kurzbeschreibung

Als die kleine Bäckerei der Lindenfeen, deren Gebäcke Licht, Hoffnung und Liebe ins Herz eines jeden Geschöpfes bringen, von einem Fluch ins Chaos gestürzt wird, ist für Meghan klar, dass sie etwas unternehmen muss. Doch allein hat sie keine Chance! Und dann ist da auch noch Jean-Jaques Lukas, der dem Bösen verfallen ist. Eine unaufhaltsame Spirale der Macht verdunkelt das Licht der Weihnacht…

Kategorisierung

Diese Story wird neben Abenteuer auch in den Genres Fantasy und Familie gelistet.