Ich hasse mich selbst.
Das ging mir ziemlich oft durch den Kopf. Jetzt denken Sie bestimmt ‚Ach, das sagt doch jeder mal, aber im Grunde meint man es gar nicht so‘. Ich kann Ihnen nur sagen: Doch, im gesamten letzten Jahr war es mein voller Ernst.
Haben Sie schon mal versucht, jemand anderes zu sein? Ich rede nicht von Vater-Mutter-Kind-Rollenspielen im Kindergarten, in denen kleine Mädchen auch mal gerne die Rolle des starken Papas übernehmen. Ich meine Augenblicke, in denen Sie jemanden gefallen wollten und ganz bewusst so getan haben, als wären Sie zum Beispiel ein gesundheitsbewusster Veganer, obwohl sie ihr morgendliches Müsli mit vollfetter Milch essen und ihr Rumpsteak am liebsten blutig mögen. Ich spreche von Situationen, in denen Sie erzählt haben, dass Sie nicht mal biologisch einwandfrei hergestellte fairtrade Zartbitterschokolade abends anrühren würden, weil Sie natürlich wissen, dass das total ungesund ist. Möhren schmecken ohnehin viel besser. Außerdem haben Sie die Yoga-Übungen perfekt in Ihre vollgestopfte Morgenroutine integriert und Probleme mit dem Aufstehen haben Sie seit des Führens Ihres täglichen Selbstreflexions-Journals schon lange nicht mehr.
Ich meine Zeitpunkte, in denen Sie sich völlig verbogen haben, nur um vor anderen Personen ein bestimmtes Bild abzugeben. Ich bin mir sicher, dass ein bisschen Selbstbetrug zum alltäglichen Sein dazugehört; gerade auch deshalb, um herauszufinden, ob das, was alle anderen machen, zu einem passt. Man muss sich selbst ausloten, um zu erkennen, wer man wirklich ist und dass man sich dafür auch mal an anderen orientiert, ist völlig normal.
Ich finde, dass Bier an dieser Stelle ein ziemlich gutes Beispiel ist, denn: Wer kann von sich behaupten, in seiner Jugend nicht mindestens ein Mal so getan zu haben, dass Bier super lecker schmeckt? Und wer kann sagen, dass er das Zeug nur für sich getrunken hat und nicht etwa, weil es cool aussah, in einer Gruppe halbstarker Pubertierenden mit einer Bierflasche in der Hand gesehen zu werden?
Auch wenn dieses Ausprobieren und Verstellen zur Selbstfindungsphase dazu gehört, denke ich, dass es einige Bereiche gibt, in denen Millionen von Menschen sich tagtäglich verstellen, ohne zu wissen, dass es völlig in Ordnung ist, darüber zu sprechen. Man muss sein Innerstes nicht immer verschweigen. Ich weiß, dass andere Kulturen da ein bisschen offener sind, aber die Deutschen haben in vielen Bereichen echt einen Stock im Arsch.
Sex? Hey, gar kein Ding. Ich stehe voll im Saft! Ich hatte mein erstes Mal schon mit zwölf und es war einfach wunderbar. Seitdem habe ich auch echt tolle Sex-Nächste verlebt. Hoffentlich findet niemand heraus, dass ich trotz meines Alters noch Jungfrau bin.
Ob ich als Single zufrieden bin? Ja klar! Zu zweit gibt es doch ohnehin nur Streit. Außerdem habe ich für einen Partner, dem ich seine Sachen ja doch nur hinterher tragen muss, absolut keine Zeit. Ich bin so einsam, dass ich gar nicht mehr weiß, wohin mit mir und diesem furchtbaren Gefühl.
Unser lang geplantes Treffen klappt heute nicht, weil du mit deinem Goldfisch Gassi gehen musst? Ach, das macht doch überhaupt nichts. Ich habe bestimmt auch nicht das Gefühl, wegen einer Nichtigkeit sitzen gelassen worden zu sein. Mach dir einen schönen Tag, aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Ich bin enttäuscht von dir.
Wie es mir geht? Gut. Und dir? Alles in mir zerbricht. Ich bin so traurig, aber ich kann es nicht sagen.
Viele dieser Situationen sind so alltäglich wie vergänglich. Irgendwann hat man das Selbstbewusstsein, zu sagen, dass Bier einfach widerlich schmeckt und man lieber eine Cola trinken möchte. Man traut sich zu erzählen, dass das erste Mal und viele weitere Male danach nicht mal halb so schön war und waren, wie es in kitschigen Schmonzetten immer dargestellt wird oder dass es noch gar nicht stattgefunden hat. Vor bestimmten Leuten kann man ruhig zugeben, dass die Einsamkeit einen manchmal auffrisst, wenn man schon wieder einen Abend allein auf dem Sofa fristen muss. Und nein, verdammt, heute geht es mir nicht gut. Genau darüber möchte ich jetzt mit dir reden.
Das sollte man öfter machen, denke ich. Darüber sprechen, dass eben nicht alles perfekt ist und dass man einen miesen Tag gehabt hat oder dass man gar nicht weiß, warum es einem nicht gut geht. Je öfter man darüber redet, desto einfacher und normaler wird es; es bricht Tabus.
Was ist aber, wenn sich etwas verändert, das nicht alltäglich ist? Das du nicht verstehst? Das vorher noch nie da war und dir Angst macht? Sollte man da auch einfach drüber sprechen und alles wäre wieder gut? Oder war es besser zu schweigen?
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich mir gesagt habe, dass es nur eine Phase ist. Dass das, was ich empfinde, bloß Einbildung ist, nicht real, ein Hirngespinst, weil ich überarbeitet bin. Und auch diese Träume haben nichts zu bedeuten, denn mir geht es gut. Alles ist in bester Ordnung. Du bist du, Benedikt Johannes Winter; manchmal Benjo genannt; der Typ, der liebend gerne liest und schreibt und irgendwann einmal eine Familie mit seiner langjährigen Freundin Linda gründen möchte.
Aber dass all diese wie Mantras runtergebetenen Phrasen eine einzige Lüge war, wusste ich im Grunde meines Herzens ganz genau. Seit Tante Hannes Beerdigung war bei mir nämlich ganz und gar nichts mehr in Ordnung. Das konnte ich jedoch nicht einfach so sagen, denn mein Leben war bis dato in sehr geordneten Bahnen verlaufen, beinahe schon grotesk normal. Vor diesem einen Moment, in dem ich ihn zum ersten Mal sah, würde ich sogar sagen, dass alles perfekt gewesen war. Doch dann traf ich ihn ... und wusste ganz plötzlich: Ich bin schwul.
Beerdigungen haben immer einen faden Beigeschmack, dachte ich, als ich in die Masse aus einheitlichem Schwarz eintauchte, die sich gemächlich in den Mittelgang schob. In meinem grünen Sakko war ich ein bunter Tintenklecks auf einem schwarzen Blatt Papier, der in etwa so missbilligend beäugt wurde wie ein Fleck Tomatensauce auf einem frisch gewaschenen weißen T-Shirt. Alle sahen gleich aus in ihren dunklen Anzügen, Kleidchen und Hüten, nur die Gesichter unterschieden sich voneinander. Viele von ihnen waren mir fremd und es widerstrebte mir, dass mir die meisten nicht mal ansatzweise bekannt vorkamen.
Tante Hanne jedenfalls schien mit ihnen in Verbindung gestanden zu haben, sonst wären diese Personen ja nicht hier; an diesem grauen regnerischen Sommertag auf dem Weg zum Friedhof.
Gehorsam reihten sich alle hinter dem wuchtigen Eichenholzsarg ein, der auf dem fahrbaren Untersatz in Richtung des ausgehobenen Grabes geschoben wurde. Es machte mich traurig, dass die konservative Beerdigungstradition sich wieder einmal durchgesetzt hatte, obwohl ich genau wusste, dass Tante Hanne gerade oben im Himmel auf ihrer Bank saß, den Trauermarsch betrachtete und wie ein Rohrspatz vor sich hin schimpfte. Die Aufforderung in der Totenanzeige war nämlich klar und deutlich formuliert gewesen: Auf Wunsch unserer lieben Angehörigen Hannelore bitten wir, auf formelle Beerdigungskleidung zu verzichten.
Obwohl Mama die Anzeige höchstpersönlich aufgegeben hatte, trug auch sie ein schwarzes Kleid und hatte sogar Papa dazu gebracht, einen dunkelgrauen Anzug zu tragen, der sich nahezu perfekt in die triste Einheitsmasse einfügte. Immerhin hatte er dem streng katholischen Dorfregime mit seiner blau-weiß gepunkteten Fliege getrotzt.
Ich fragte mich, ob ich der einzige war, der die Anzeige bis zum letzten Satz gelesen hatte oder ob allen anderen die Bitte am Ende einfach nur egal gewesen war. Es war leichter, über dieses Thema zu sinnieren, als zuzulassen, wie traurig ich darüber war, dass Tante Hanne nun nicht mehr unter uns weilte. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ihr von Krebs zerfressener toter Körper nun in dieser Holzkiste lag, in dem sonst so viel Leben, Energie und Kreativität gesteckt hatte. Fast wirkte es so auf mich, als wäre Tante Hannes freigeistlerische Seele zwischen diesen zusammengezimmerten lasierten Brettern eingezwängt worden, die ihr, und da war ich mir sicher, nicht einmal gefallen hätten. Ich glaubte sogar, dass meine Mutter den Wunsch ihrer Schwester, in einem Friedwald beerdigt zu werden, einfach übergangen hatte, um einen aus ihrer Sicht angemessenen Ort zum Trauern zu haben. Umso mehr schade war es, dass man den Sarg dann nicht wenigstens im Vintage-Style babyblau angemalt hatte, denn genau sowas hätte Tante Hanne gefallen. Jedenfalls konnte ich mir gut vorstellen, wie dieses besondere Funkeln in ihren Augen aufgeleuchtet wäre und sie begeistert in die Hände geklatscht hätte. So hatte sie auch immer ausgesehen, wenn sie eine verrückte Idee gepackt hatte. Aber was hätten die Leute bloß zu dem skandalösen Stilbruch eines babyblauen Sargs gesagt?
Seufzend sah ich dabei zu, wie der Untersatz über den Kies geschoben wurde, der unter den Füßen der zahlreichen Trauergäste so laut knirschte, dass nicht einmal die Vögel zu hören waren.
„Wo bleibt denn nur Elisabeth?“ flüsterte Mama in wütendem Ton zu Papa, der, während er sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, nur müde mit den Achseln zuckte.
Meine jüngere Schwester Elisabeth, die alle eigentlich nur Lisa nannten, lebte in den USA und war gerade dabei, sich dort eine Existenz mit einem kleinen Handarbeitsgeschäft aufzubauen. Letztes Jahr hatte sie dort sogar einen Lebenspartner gefunden, von dem sie schwärmte, als wäre er schon ihre große Jugendliebe gewesen.
„Benedikt, weißt du, wo sie steckt?“, wandte Mama sich nun wispernd an mich. Nur mit Mühe und Not verkniff ich mir ein Augenverdrehen, denn niemand nannte mich bei meinem vollen Namen außer meiner Mutter. Verstohlen schielte ich auf mein Handy.
„Pack das weg!“, wurde ich dafür sogleich getadelt, als wäre ich ein jugendlicher Banause und kein fünfundzwanzigjähriger Mann.
„Wie soll ich denn wissen, was mit Lisa ist, wenn ich nicht nachsehe, ob sie mir geschrieben hat?“, zischte ich so leise wie möglich zurück, wofür ich mir einen missbilligenden Blick meiner älteren Schwester Danielle einfing. Sie legte den Zeigefinger an ihre Lippen, um sowohl Mama als auch mir zu bedeuten, den Mund zu halten. Ich ließ mich davon jedoch nicht abhalten, wischte kurz über die In-App-Vorschau der Nachricht und setzte hinzu: „Sie ist unterwegs, der Flieger hatte Verspätung. Ach und ... Sie bringt ihren Freund Justin mit.“
„Sie will ihren neuen Freund auf der Beerdigung meiner toten Schwester vorstellen?“, fragte Mama daraufhin entgeistert einen Tacken zu laut. Unsere Nachbarin Waltraud drehte sich mit fragendem Blick zu uns um. Mama ignorierte sie und wandte sich stattdessen an Papa. „Frederick, was sollen denn nur die Leute davon denken?“
Ja, Mama, dachte ich innerlich aufseufzend, was sollen denn nur die Leute denken?
All das, was Tante Hanne an Kreativität, Entdeckerlust, Lebensenergie, Elan und Mut zum Anderssein gehabt hatte, hatte meine Mutter nicht. Um es genau zu nehmen, war sie das exakte Gegenteil ihrer Zwillingsschwester: Stand- und sesshaft, penibel, fromm und sehr darauf bedacht, dass die Dorfgemeinde ein gutes Bild von ihr und ihrer Familie hatte. Ich hatte mich tatsächlich schon oft gefragt, warum Papa sich für sie und nicht für Tante Hanne entschieden hatte. Ich wusste dass die beiden sich Zeit ihres Lebens immer gut verstanden hatten und hatte insgeheim die Vermutung aufgestellt, dass Papa einfach aus Versehen die Falsche geheiratet hatte, weil die beiden Schwestern gleich ausgesehen hatten.
„Und wo ist Linda?“, wollte Mama nun wissen. Sie flüsterte wieder so leise, dass sogar ich sie kaum hören konnte.
„Bei einem Termin“, antwortete ich augenrollend. Ich hatte es ihr gestern am Telefon bereits erzählt.
„Hätte sie den nicht verschieben können?“
Tief ein- und wieder ausatmen, sprach ich mir in Gedanken gut zu. „Nein“, erwiderte ich dann schlicht und war beinahe froh darüber, als wir an dem rechteckigen Erdloch angekommen waren und der Pastor mit seiner erzkatholischen Beisetzungsrede begann. Meine Mutter faltete sogleich andächtig die Hände und senkte demütig den Kopf.
Ich hingegen konnte kaum zuhören. Mit den Worten des Redners konnte ich nichts anfangen, weil sie nicht nur überirdisch bescheuert sondern auch unsagbar deplatziert klangen. Jeder, der Tante Hanne auch nur ein klein wenig gekannt hatte, musste doch wissen, dass dieses Geschwafel nicht zu ihr passte. Am liebsten hätte ich hysterisch aufgelacht, mich auf den Erdhaufen neben dem Grab geworfen und mich wie ein Irrer darin herumgewälzt, bloß um die trauernde Meute aufzuwecken.
Ich wusste ganz genau, dass Tante Hanne niemals gewollt hätte, dass all jene, die ihr wichtig gewesen waren, mit hängenden Köpfen vor ihrem Grab standen und biblischen Phrasen lauschten, die so fremd wirkten, dass man sie nicht einmal ansatzweise als trostspendend bezeichnen konnte. Tante Hanne hätte gewollt, dass Champagnerkorken knallten, Konfetti durch die Luft flog und Bon Jovi so laut aufgedreht wurde, dass die Wände der Leichenhalle wackelten. Aber nein, stattdessen gab es unpersönliche Religionsphrasen, die derart weltfremd klangen, dass ich dem Pastor das heilige Buch am liebsten aus der Hand geschlagen hätte. Tante Hanne war sicherlich nicht perfekt gewesen, aber diesen Abschied hatte sie nicht verdient.
„Alles gut?“, raunte Dani mir zu, die bemerkt hatte, dass es mir unsagbar schwer fiel, meinen Unmut nicht einfach laut raus zu posaunen. Ich schüttelte mit grimmigen Ausdruck den Kopf und war heilfroh, als der Pastor endlich das Vater Unser anstimmte, das das Ende der Zeremonie einläutete. Alle Anwesenden stimmten in einen Sprechchor ein. Ich kam mir vor wie in einer Sekte und war mir sicher, dass es Tante Hanne genau so ergangen wäre. Danach folgten noch einige weitere christliche Worte, ehe der Abschluss einsetzte. Jeder, der wollte, ging zum Grab vor, nahm eine Hand voll Rosenblätter und warf sie in das Erdloch, in das man bereits während der Beerdigung den Sarg hatte hinab gleiten lassen.
Es fühlte sich seltsam schmerzhaft an, Mama, die genauso aussah wie Tante Hanne, dabei zu beobachten, wie sie dastand, eine Hand vor den Mund gepresst und in das Erdloch hinabstarrte, in das ihre Schwester nun endgültig verschwinden würde. Zu Lebzeiten hatten sich die beiden ständig und immer in den Haaren gehabt, doch ihr unsichtbares Zwillingsband hatte sie jedes Mal herzlich wieder zusammen geführt.
Mama wankte leicht, während sie darum rang, nicht die Fassung zu verlieren. Ein paar Tränen entwichen ihr – und jeder, der meine Mutter so gut kannte wie ich, wusste, dass sie sich nur äußerst selten zu einer derartigen Schwäche hinreißen ließ – und ein ersticktes Schluchzen konnte sie auch nicht unterdrücken. Papa trat zu ihr, gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und legte den Arm um sie, um sie vom Grab fortzuführen.
Dieser Anblick berührte mich sehr. Ich war mir nicht sicher, wann ich das letzte Mal so viel Gefühl in meiner Mutter gesehen hatte.
Nun ging Dani zum Grab, murmelte ein paar Worte des Abschieds und warf die Rosenblätter in das Loch. Ich tat es ihr gleich, wobei es mir äußerst schwer fiel, einfach fortzugehen, als mir bewusst wurde, dass Tante Hanne wirklich unter dem mit Blumenkränzen belegten Deckel ruhte und wahrscheinlich so aussah, als würde sie schlafen.
Dani wartete auf mich und hakte sich schließlich bei mir unter, damit wir zusammen zum Parkplatz gehen konnten. „Schon traurig, hm?“, fragte sie mit dem mütterlichen Unterton, den sie sonst immer nur dann benutzte, wenn sie mit ihrem kleinen Sohn Felix sprach. „Ja ziemlich“, gab ich zurück. „Kann kaum glauben, dass es jetzt niemanden mehr geben wird, der unsere Familienfeste aufmischt.“ Und auch wenn ich Streit hasste wie die Pest, meinte ich es genauso, wie ich es sagte.