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Es war ein besonderer Tag für Hermann Simon im Juli dieses Jahres, denn es war sein letzter. Gerade deshalb empfand er es als höchst unangebracht, dass die ganze Meute hier um sein Bett versammelt war und zahlreiche Taschentücher voll schneuzte. Er wollte doch nichts weiter, als endlich seine Ruhe haben und ohne weiteres Drama aus dem Leben treten. Das machten sie ihm jedoch nicht einfach, mit ihrem Rumgeheule und ihrer Angst, ohne ihn weiter leben zu müssen. Als ob sie ihm bisher nicht wo es ging aus dem Weg gegangen waren.
Das Stimmengewirr der Anwesenden dröhnte in seinem Kopf. Er verstand nicht, was sie sagten und sah auch nur ihre Umrisse. Alle scharten sich um sein Bett, soviel konnte er erkennen. Wenn sie ihn doch bloß in Ruhe lassen würden. Plötzlich ging die Tür auf und jemand trat ein. Hermann glaubte, die Stimme der Krankenschwester zu vernehmen. “...braucht seine Ruhe… später zurückkommen… besser, wenn Sie gehen.” hörte er sie sagen, der Rest blieb unverständlich. Dann verließen alle den Raum. Als die letzte Person gegangen war, wurde die Tür geschlossen. Hermann atmete einmal tief durch. Endlich allein. Endlich Ruhe. Er schloss die Augen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann sank er in einen tiefen, tiefen Schlaf.
Als er wieder aufwachte, fühlte sich Hermann merkwürdig fit. Er war wach wie lange nicht mehr, sein Kopf war klar und auch sein so gequälter Körper war frei von jeglichen Schmerzen. Nach kurzem Zögern hob er langsam den Kopf und blickte sich im Zimmer um. Er lag immer noch in seinem Bett, das immer noch in seinem Schlafzimmer stand. Alles war, wie es gewesen war, bevor er die Augen geschlossen hatte. Und doch - es war irgendwie ganz anders. Was genau es war konnte er nicht sagen, vielleicht hatte es mit seinem plötzlichen Wohlbefinden zu tun. Er blickte durch den dunklen Raum. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er konnte immer mehr Konturen erkennen. Das Fenster, durch das schwach Mondlicht schimmerte. Der Tisch mit dem einzelnen Stuhl, zur Seite geräumt um Platz zu schaffen für die Schar, die sich hier vor wenigen Stunden noch gedrängelt hatte. Sein Kleiderschrank war wie gewohnt an der Wand zu seiner Rechten. Und die Tür, durch die seine Angehörigen geflohen waren, sah er links. Sie stand offen. Hermann fragte sich, wer sie so offen gelassen hatte. Wahrscheinlich war Schwester Hannelore bei ihm gewesen und hatte vergessen die Tür zu schließen. Oder jemand hatte sich herein geschlichen um zu überprüfen, ob er noch unter ihnen weilte.
Erst jetzt bemerkte Hermann, dass sich auf dem Sofa, das unter dem Fenster stand, etwas bewegte. Er erkannte die Umrisse einer dunklen Gestalt, die offenbar auf dem Sofa Platz genommen hatte. Als diese plötzlich ihren Kopf hob, schrak er zurück. Das Gesicht des Fremden konnte Hermann zunächst nicht erkennen, er schien ihn aber direkt anzublicken.
“Hallo? Wer sind Sie? Was tun Sie hier?” fragte er und war selbst verblüfft, wie klar und kräftig seine Stimme wirkte.
Die Gestalt hob freudig die Hände. “Na da ist ja jemand aufgewacht! Sehr gut. Dachte schon, ich muss hier die ganze Nacht rumsitzen und warten. Mein Genick ist schon ganz steif geworden.” Um das zu unterstreichen stand die Gestalt auf, streckte sich und stöhnte bei jeder Bewegung laut. “Na, dann würde ich sagen, wir gehen gleich los, oder?”
Hermann starrte den Fremden nur verblüfft an. “Aber - was - wer -wohin?” brachte er schließlich nur heraus.
“Ach, wie unhöflich von mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Tut mir schrecklich leid! Wenn ich so lange warte vergesse ich manchmal jede Etikette. Ich hoffe, Sie verzeihen mir das, Herr Simon.” Die dunkle Gestalt kam einen Schritt näher an das Bett heran und streckte ihre rechte Hand aus. Hermann sah, dass der Fremde eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen trug, es war für ihn unmöglich darunter etwas zu erkennen. “Ich bin der Tod. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen!” sagte dieser freundlich.
Hermann starrte den Fremden mit offenem Mund an. “Sie sind - Was?” keuchte er.
“Der Tod! Sie haben doch sicher mal von mir gehört. Der dunkle Typ? Mit der Sense? Klingelt da nichts?”
“Doch, doch, sicher. Aber - ist das ein Scherz? War das Martins Idee? Auf so einen Unfug kann doch nur er…” fing Hermann an.
“Ein Scherz? Nein, nein, Herr Simon. Kein Scherz.” unterbrach ihn der Tod.
“Aber - was machen Sie denn hier?” fragte Hermann.
“Na Herr Simon, jetzt überlegen Sie doch mal. Was könnte ich, der Tod, wohl hier in ihrem Schlafzimmer wollen? Es handelt sich sicher nicht um ein Hobby von mir, alten Männern beim Schlafen zuzusehen. Ich bin beruflich hier.” sagte der Tod.
“Sie - beruflich - wegen mir?” stammelte Hermann.
“Genau, wegen Ihnen! Da ist doch der Groschen gefallen! Juchhe! Na dann, lassen Sie uns mal losgehen. Ich habe heute Nacht noch einen weiteren Termin, und für den bin ich schon spät dran. Grauenvolle Geschichte. Mutter mit Kind, von einem Laster überfahren. Erwischt mich jedes Mal aufs neue, so ein Anblick. Naja, Augen auf bei der Berufswahl, was!” Der Tod lachte auf und stieß Hermann kumpelhaft mit seinem Ellenbogen an. Hermann war immer noch perplex. Die ganze Geschichte machte ihm sichtlich zu schaffen. “Also nochmal von vorne…” begann er. Der Tod seufzte auf. “Sie sind der Tod, Sie sind hier um mich zu holen und wegzubringen - aber wohin denn genau? Ins Paradies?” fragte Hermann.
“Och wohin Sie kommen, das entscheide nicht ich. Ich bringe die Toten nur zur Zentrale, dort kümmert sich dann jemand darum, ihnen die Entscheidung mitzuteilen, wie es für sie nun weitergeht.” sagte der Tod.
“Aber - wer entscheidet das dann? Gott?” fragte Hermann mit großen, erwartungsvollen Augen.
Der Tod lachte laut auf. “Gott! Sie sind mir so einer. Denken Sie etwa der hat nichts besseres zu tun, als den ganzen Tag dazusitzen und zu entscheiden, wer nach oben und wer nach unten muss? Nein, dafür haben wir ein sehr ausgefeiltes System.”
“Ein System? Wie - ein Computer?” fragte Hermann.
“Ein Computer? Naja, klar arbeiten wir auch mit Computern. Sind ja nicht von gestern. Was denken Sie, dass wir alles auf Steintafeln einritzen?” sagte der Tod. “Wie auch immer, heute Nacht müsste Vera dran sein.”
“Vera?” Hermann starrte den Tod mit offenem Mund an. “Über mein Schicksal, ob ich in den Himmel oder in die Hölle komme, ob ich im Paradies oder in der ewigen Verdammnis ende entscheidet - Vera?”
“Ja, Jenny ist gerade mit ihrer Familie im Urlaub. Auf den Malediven, glaube ich. Soll echt schön sein da!” sagte der Tod. “Aber jetzt genug geplaudert, stehen Sie auf, wir müssen los.”
Auf den Malediven? Hermann hatte das Gefühl, sein Kopf würde platzen.
“Ihr - ihr macht Urlaub? Auf den Malediven?” fragte er.
“Das ist, was Sie am meisten beschäftigt? Ui. Naja, wenigstens Mal eine Abwechslung von dem ganzen ‘Warum ich?’, ‘Ich bin doch noch so jung’, ‘Das muss ein Fehler sein’. Aber jetzt auf, sonst zerr ich Sie an den Ohren in die Zentrale!”
Hermann atmete einmal tief durch, sammelte sich und stand dann von seinem Bett auf.
“So ist gut!” sagte der Tod. Er breitete seine Arme aus. “Ich hol noch schnell meine Sense, dann können wir los.” Er ging hinüber zum Sofa und nahm die Sense, die er an die Wand gelehnt hatte, dann ging er zur Tür, drehte sich zu Hermann um, streckte seinen Arm einladend aus und sagte “Nach Ihnen!”. Hermann ging langsam zur Tür, sein Kopf immer noch träge von allem, was gerade auf ihn eingeprasselt war. Er starrte hinaus in die Dunkelheit. Eigentlich hätte er im Flur etwas erkennen müssen, doch da war nichts. Er zögerte.
“Gehen Sie einfach durch. Tut nicht weh, versprochen!” sagte der Tod freudig.
Hermann nahm all sein Mut zusammen, atmete ein letztes Mal tief durch und schritt über die Schwelle.
Hermann stand in einem Raum, der aussah wie ein Wartezimmer. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Das Zimmer war in dem Moment wie aus dem Nichts aufgetaucht, in dem er mit dem Fuß den Boden berührt hatte. In der Mitte stand ein kniehoher Tisch, auf dem zahlreiche Zeitschriften lagen. Hermann erkannte einige von ihnen, es waren die gleichen wie im Wartezimmer bei seinem Zahnarzt. In jeder Ecke stand ein großer Topf mit einer ebenso großen Pflanze darin, die bis an die hohe Decke reichte. An der gegenüberliegenden Wand waren zwei Türen. Neben der einen hing ein Schild, auf dem Hermann “BÜRO, ZENTRALE, ABTEILUNG SCHICKSALSBESTIMMUNG, FR. JENNIFER HOHENLODE & FR. VERA FELDKAMP” lesen konnte. Die andere Tür war in großen schwarzen Lettern mit AUSGANG beschrieben. An den verbleibenden drei Wänden waren Bänke über die komplette Länge angebracht.
Die Bänke waren größtenteils unbesetzt, es saßen nur drei weitere Personen in großem Abstand voneinander da. Links vorne im Eck saß eine sehr alte Frau, die Hermann zehn Jahre älter schätzte, als er es war. Sie blätterte in einer Zeitschrift, die er als die Apotheken Rundschau erkannte. Eine merkwürdige Wahl. Immerhin war die gute Dame vermutlich ebenso tot, wie er selbst. Wenn man die Frau jedoch so ansah könnte man meinen, sie wartete lediglich darauf, ein bisschen Zahnstein entfernt zu bekommen.
Ein Stück weiter vorne saß ein Mann, der Hermanns Sohn hätte sein können. Er hatte keine Zeitschrift genommen und schien in Gedanken versunken zu sein. Hermann vermutete, dass es keine sehr frohen Gedanken waren, denn der Mann starrte mit ernstem, beinahe ängstlichem Blick ins Leere. Vielleicht fürchtete er sich vor dem, was bevorstand. Das konnte ihm Hermann auch nicht verübeln, er selbst war ebenfalls angespannt, obwohl er von seinem anständigen Leben überzeugt war.
Als Hermann die dritte Person im Raum betrachtete, wurde ihm ein bisschen schwindelig. Ein tiefes Mitleid umfasste ihn. Es handelte sich um ein Kind, nicht älter als zehn Jahre alt. Der kleine Junge saß im Schneidersitz auf der Bank, die Micky Maus auf seinem Schoß. Hermann fragte sich, ob der Kleine überhaupt verstand, was hier vor sich ging. Schon für ihn war es doch schwer genug gewesen, die Geschichte zu verarbeiten und er war sich immer noch nicht sicher, ob er nicht alles nur träumte. Den Jungen schien das Theater aber nur wenig zu interessieren, er war ebenso wie die alte Dame in seine Lektüre vertieft.
Hermann drehte sich um, er wollte noch einen letzten Blick durch die Tür in sein Schlafzimmer werfen. Da war aber keine Tür mehr. Er blickte direkt an eine weiße Wand, an der nur ein einzelnes Schild in der Größe eines Din A4 Blattes hing. In dicken, roten Großbuchstaben stand dort “ACHTUNG! BEREICH FREIHALTEN, DURCHGANGSZONE!” Hermann ging zwei Schritte in den Raum und drehte sich dann nach rechts um. Der Tod stand immer noch neben ihm.
“So, Herr Simon, machen Sie es sich gemütlich. Drei Personen noch vor Ihnen, dann sind Sie dran. Da Haben Sie aber wirklich Glück! Es gibt Tage, da ist das Wartezimmer zum Bersten voll und die Leute müssen bis draußen anstehen.” sagte der Tod.
Hermann antwortete nicht, ging nur zu einem freien Platz und setzte sich hin.
“Sie werden aufgerufen, wenn sie an der Reihe sind. Ich geh dann weiter, viel Glück!”
“Danke.” brachte Hermann nur heraus.
Der Tod drehte sich um, dann war er verschwunden. Hermann starrte auf die Stelle, wo der Gesichtslose mit der Sense eben noch gestanden hatte. Er überlegte sich eine Zeitschrift zu holen, entschied sich aber dagegen. Er war nicht wirklich in der Stimmung über die Geschehnisse auf der Erde zu lesen, wo er doch sowieso nicht mehr dorthin zurückkehren würde. Stattdessen blieb er einfach sitzen und starrte vor sich hin, wie es auch der Mann ihm gegenüber tat.
Die anderen Wartenden beachteten ihn nicht weiter. Hermann sah sie sich nun ein bisschen genauer an. Vor allem der Junge neben ihm interessierte ihn sehr. Er empfand immer noch eine tiefe Trauer darüber, dass ein so junges Leben beendet worden war. Wenn ein alter Knacker wie er sterben musste, dann konnte er das ja noch verkraften. Aber der kleine Junge? Der hatte doch noch so ein langes Leben vor sich gehabt. Und dann so plötzlich aus dem Leben gerissen.
Nach wenigen Minuten, in denen Hermann über die Todesursachen der Personen im Raum nachdachte, öffnete sich die Tür zum Büro. Eine schluchzende Frau kam heraus, gefolgt von einer etwas untersetzten Dame mit einer randlosen Brille.
“Vielen, vielen Dank!” schluchzte die Frau und schnäuzte in ein Taschentuch, dass sie aus ihrer Handtasche zog. “Ich kann es kaum erwarten.”
“Na, mir müssen sie nicht danken. Ich hab ja nichts gemacht. Sie haben einfach gut gelebt, das zahlt sich dann am Ende auch aus.” sagte die Dame und tätschelte der Schnäuzenden die Schulter.
“Dann auf, gehen sie! Dort durch den Ausgang raus. Dann zum Himmel die zweite Tür links. Gute Reise!” Die Frau schnäuzte noch einmal, bedankte sich erneut und ging dann zum Ausgang. Vor der Tür blieb sie noch einmal stehen und atmete tief durch, bevor sie sie öffnete und hinaus trat.
Als die Tür wieder ins Schloss fiel hob die untersetzte Dame ein Blatt Papier, blickte darauf und sagte “So, als nächstes ein Herr Himmelsbacher. Kommen sie rein!” Der Mann gegenüber von Hermann schreckte auf, starrte die Dame an, dann erhob er sich und ging träge auf sie zu. Sie machte ihm Platz, damit er eintreten konnte und schloss hinter ihm die Tür.
Es herrschte einige Minuten Stille, nachdem der Mann im Büro verschwunden war. Hermann hielt es fast nicht mehr aus. Der kleine Junge neben ihm ging ihm nicht aus dem Kopf, er wollte wissen, was mit ihm passiert war. Während er ihn weiter beobachtete stöberte der Junge in seinem Micky Maus Heft. Abundzu lachte er laut auf, das Grinsen verschwand nie aus seinem Gesicht. Hermann ertrug es nun nicht mehr weiter. Er räusperte sich. Der Junge schaute auf.
“Na du, lustig, dein Heft?” fragte er.
“Joa.” sagte der Kleine nur gelangweilt.
“Meine Enkelkinder lesen nicht mehr viel… die spielen eher mit ihrem Computer-Zeugs.” sagte Hermann.
“Joa.” sagte der Kleine wieder. Er richtete seinen Blick wieder auf das Heft.
Hermann wusste nicht, was er sagen sollte. Es interessierte ihn brennend, warum der Junge hier war, aber er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Außerdem schien er nicht wirklich großes Interesse daran zu haben, sich mit ihm zu unterhalten. Das Heft schien spannender zu sein.
Nach einer Weile, Hermann kam es vor wie eine Ewigkeit, hob der Kleine den Kopf und erlöste ihn.
“Deine Enkel, sind die noch dort?” fragte er.
“Dort?” fragte Hermann, verstand dann aber. “Ah. Hm. Ja.”
“Meine Eltern sind auch noch dort. Ich hoffe, sie sind nicht zu sehr traurig.” sagte der Kleine.
Hermann wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ihm steckte ein Kloß im Hals. Der Tod, gerade der Tod eines so jungen Menschen, war ein Thema, über das er nicht gerne sprach. Dem Kleinen schien das weniger Schwierigkeiten zu bereiten, jetzt wo er begann warm zu werden.
“Hast du auch noch Eltern dort, die traurig sind?” fragte er.
“Nein, die sind schon lange tot.” antwortete Hermann. “Aber meine Kinder und Enkel sind noch da unten.”
“Sind die denn traurig?”
“Hm. Vielleicht. Ich denke schon. Ein paar von ihnen.” sagte Hermann.
Der Kleine blickte ihn an, dann nickte er. “Bestimmt. Sind ja deine Kinder und Enkel. Die müssen doch traurig sein.”
“Hmm.” sagte Hermann darauf nur. Zu mehr war er nicht imstande.
Der Junge widmete sich nun wieder seinem Heft. Immer wieder lachte er auf, schlug sich abundzu sogar auf die Schenkel. Einmal hatte Hermann Angst, er würde vor Lachen von der Bank fallen.
Gerade wollte er den Kleinen fragen, was ihn denn hier hergebracht hatte, als man dumpfe Schreie aus dem Inneren des Büros kommen hörte. Die Tür öffnete sich, dann kam die untersetzte Dame hinaus. Hinter ihr schwebte der Mann, den sie eben herein gerufen hatte. Etwas hatte ihn unter seinen Armen gepackt, auch wenn Hermann nicht erkennen konnte, was es war. Der Mann schien etwas sagen zu wollen, seine Lippen blieben jedoch fest aneinander gepresst, sodass er nur unverständliche Laute von sich geben konnte. In seinen Augen konnte Hermann einen Horror erkennen, der ihm Angst machte.
“Herr Himmelsbacher, ich hab’s Ihnen doch gesagt. Sie können es auch einfacher haben, dazu müssen sie aber schon mitmachen. Wenn sie sich wehren wird’s nur schlimmer.”
Der Mann zerrte daraufhin nur noch stärker an seinen unsichtbaren Fesseln, dann schwebte er ruckartig hinüber zum Ausgang.
“Na dann, selbst Schuld. Hätten sie halt keinen solchen Aufstand gemacht.” sagte die untersetzte Dame.
Die Ausgangstür öffnete sich scheinbar von alleine, dann schwebte der Mann hindurch und die Tür schlug hinter ihm geräuschvoll zu.
“Mannomann. Ich hoffe von Ihnen macht keiner so ein Drama. Was soll ich denn machen, kann ja nicht ändern, was er getan hat.” sagte die Dame. “So, als nächstes Frau Meierle.”
Die alte Frau, die während des ganzen Radaus nur einmal kurz aufgeblickt hatte, legte ihre Zeitschrift zur Seite und ging lächelnd in das Büro. Die Untersetzte schloss die Tür hinter ihr.
Hermann starrte abwechselnd zwischen der Bürotür und dem Ausgang hin und her. Als er bemerkte, dass sein Mund offen stand, schloss er ihn wieder. Was war denn hier gerade passiert? Wehren war eine Strategie, die sich wohl eher nicht lohnte. Was auch immer den Mann gerade herausgebracht hatte, damit wollte sich Hermann lieber nicht anlegen.
Der Junge, der alles ganz genau verfolgt hatte, schaute Hermann mit großen Augen an. “Ui. Der ist wohl auf dem Weg in die Hölle. Der Arme.” sagte er.
“Hmm. Aber sicher nicht ohne Grund.” sagte Hermann.
“Wenn du in den Himmel kommst - auf was freust du dich dann am meisten?” fragte der Kleine.
Hermann lächelte. “Hmm. Das ist eine gute Frage. Ich weiß ja gar nicht wirklich, was da auf mich wartet.” sagte er.
“Na, was wohl!” prustete der Junge los. “Gott natürlich!” sagte er, feste Entschlossenheit in seinem Blick. Hermann musste über die kindliche Gewissheit schmunzeln.
“Darauf freue ich mich. Gott zu sehen. Ich möchte wirklich wissen, wie der aussieht.” sagte der Junge.
“Ist das denn so wichtig, wie er aussieht?” fragte Hermann.
Der Junge schien zu überlegen. Dann sagte er “Nein. Aber es interessiert mich halt einfach!”
Das brachte Hermann zum Lachen.
“Was denkst du denn, wie er aussieht? Ich denke, er hat einen langen weißen Bart.” sagte der Kleine.
Hermann sah ihn mit sanftem Blick an und überlegte kurz. “Ich weiß es wirklich nicht. Mir wurde beigebracht, dass man sich das nicht vorstellen soll.”
“Hmm, komisch.” sagte der Kleine.
“Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.” sagte er nach einer Weile.
“Welche Frage?” fragte Hermann.
“Auf was du dich im Himmel am meisten freust.”
Hermann sah den Jungen an. Dann überlegte er. Ja, auf was freute er sich denn am meisten?
“Meine Frau.” sagte er nach kurzem Zögern.
“Deine Frau?”
“Ja. Sie ist vor zehn Jahren gestorben.”
“Oh” sagte der Kleine, er sah zu Boden. “Da vermisst du sie bestimmt.”
“Ja. Ja, das tue ich.”
“Und du weißt, dass sie auch da oben ist?”
“Wenn sie es nicht wäre” sagte Hermann, “dann wäre es auch nicht der Himmel.”
Darüber dachte der Kleine eine Weile nach, bevor er sich wieder seinem Heft widmete. Schließlich ging die Tür auf und die untersetzte Dame verabschiedete sich von der alten Frau. Der kleine Junge drehte sich zu Hermann um. “So, dann bin ich jetzt wohl dran. Wünsch mir Glück!” sagte er.
“Viel Glück! Wird schon schief gehen.” sagte Hermann und zwinkerte dem Kleinen zu. Dieser sprang auf, warf sein Micky Maus Heft auf den Tisch und marschierte los Richtung Büro. Die alte Frau war gerade durch den Ausgang verschwunden, dann fiel Hermann etwas ein.
“Ach, warte!” rief er. Der Kleine drehte sich um, sah ihn mit fragenden Augen an. Hermann wollte noch die Frage stellen, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. “Was ist passiert? Was hat dich hierher gebracht?”
“Oh. Das. Das war mein Papa.” sagte der Kleine, drehte sich um und folgte der Dame in das Büro.
Kurz nachdem der Junge im Büro verschwunden war tauchte der Tod mit einem weiteren Neuankömmling im Raum auf. Es handelte sich um eine junge Frau, die Hermanns Tochter hätte sein können und ihn kurz anblickte. Nach einer raschen Ansage vom Tod nahm sie auf der Bank schräg gegenüber von Hermann Platz.
“So, das war’s für heute.” sagte der Tod. Er sah zu Hermann hinüber und nickte ihm zu.
“Feierabend?” fragte Hermann.
“Ne, noch nicht ganz.” antwortete der Tod. “Hab noch ein bisschen Papierkram im Büro liegen. Aber das dürfte auch bald erledigt sein, dann geht’s endlich nach Hause. Meine Frau kocht heute mein Lieblingsessen - Lasagne. Da freu ich mich schon den ganzen Tag drauf.”
“Ah, schön.” Hermann lächelte den Tod an.
“Naja, ich geh dann mal ins Büro. Viel Glück Ihnen!”
“Dankeschön. Einen schönen Feierabend!”
“Danke!”
Der Tod ging zur Bürotür und wollte gerade eintreten, als der kleine Junge mit der untersetzten Dame aus dem Zimmer kam.
“Also mein Junge, den Ausgang raus, dann die zweite Tür links. Leb wohl!” sagte die Dame.
Der Junge ging zur Tür, blickte noch einmal zu Hermann und winkte ihm zu. “Tschüss!”
“Tschüss!” sagte Hermann. Er hob die Hand und lächelte dem Kleinen zu. Jetzt war es so weit, er war an der Reihe.
Hermann trat ins Büro und sah sich um, während die untersetzte Dame hinter ihm die Tür schloss. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine weitere Tür, auf die der Tod zuging. Ein kleines Schild verriet Hermann, dass es sich um dessen Büro handeln musste. In der Mitte stand ein Schreibtisch hinter dem ein gewöhnlicher Schreibtischstuhl stand, davor ein weiterer Stuhl, offenbar für die Gestorbenen. Auf dem Tisch konnte Hermann nichts ungewöhnliches erkennen, es handelte sich um übliche Büroutensilien und einen Computer.
Der Tod verließ den Raum durch die Tür und Vera nahm auf ihrem Schreibtischstuhl platz.
“Setzen Sie sich, Herr Simon.” sagte sie.
Hermann setzte sich auf den Stuhl, der vor dem Tisch stand.
“Na da schauen wir doch mal, was für sie ansteht.” sagte Vera und begann, auf der Tastatur ihres Computers herum zu tippen. Hermann sah ihr gebannt zu und ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit, als ihr Gesichtsausdruck immer ernster wurde.
“Hmm. Aha. Hmm.” Sie starrte weiter auf ihren Bildschirm und tippte wild auf ihrer Tastatur herum.
“Na, Herr Simon, das sieht nicht gut aus.”
Hermann sank sein Herz in die Hose. “Was? Aber - das kann nicht sein! Warum denn?”
“Für den Himmel benötigen Sie einen Mindestwert von 42, Sie kommen aber gerade mal auf 27.” Sie hörte auf zu tippen und sah Hermann direkt an. “Sie kommen in die Hölle.”
Hermann sackte auf seinem Stuhl zusammen. Er versuchte etwas zu sagen, es blieb ihm aber im Hals stecken.
“Es tut mir leid, damit hatte ich auch nicht gerechnet. Aber da kann man jetzt leider nichts mehr machen.” sagte Vera.
Hermann starrte sie mit großen Augen an. “Aber - warum denn? Was habe ich falsch gemacht?”
“Ich kann mir die Datei mal genauer ansehen, wenn Sie das wollen. Warten Sie einen Moment.” sagte sie und begann erneut zu tippen. “Aha. Okay. Ja, da haben wir es.” Sie drehte den Bildschirm, sodass Hermann sehen konnte was da stand.
“Zwei Banküberfälle, drei Mal schwere Körperverletzung und zahlreiche kleinere Delikte.” las sie vor.
Hermann starrte den Bildschirm ungläubig an. “Moment, nein! Das stimmt ja gar nicht! Ich habe nie eine Bank überfallen, nie auch nur einer Fliege was angetan! Okay - vielleicht der ein oder anderen Fliege - aber sonst niemandem! Körperverletzung? Nein!”
“Beruhigen Sie sich, Herr Simon. Da steht es doch schwarz auf weiß, leugnen bringt jetzt auch nichts mehr.”
Hermann war fassungslos. Er hatte das alles nie getan. Banküberfälle, er?
“Das muss ein Fehler sein.”
“Das glaube ich kaum, das System macht keine Fehler. Sie werden jetzt hinausgehen, zum Ausgang und dann die erste Tür links.”
“Aber..” begann Hermann, dann fiel ihm der Mann von vorhin wieder ein, und wie er hinaus gezerrt wurde. Alle Kraft schien ihn zu verlassen und er sank noch tiefer auf seinem Stuhl zusammen.
“Kein Aber, Herr Simon. Gehen Sie, oder ich hole den Sicherheitsdienst.”
“Können Sie nicht noch einmal nachschauen? Das stimmt nicht, ich habe das alles nicht getan!”
“Hier steht es doch, ich habe es Ihnen doch gezeigt. Mehr kann ich nicht tun!”
“Gibt es denn niemanden, der nochmal nachsehen könnte? Irgendjemanden, mit dem ich sprechen kann?” Hermann setzte sich wieder auf und starrte Vera hilfesuchend an.
“Hmm. Ich kann da leider nichts machen. Ansonsten - Hmm.” Sie drehte sich um.
“Herr Tod, können Sie mal kurz kommen?”
Einige Sekunden vergingen, dann öffnete sich die Tür und der Tod blickte in das Büro.
“Ja, bitte?” fragte er freundlich.
“Hier gibt es ein kleines Problem mit Herrn Simon. Für ihn würde es nach unten gehen, er behauptet aber er hätte das alles gar nicht getan.”
“Oh. Okay. Naja, aber das haben wir ja öfters, oder nicht? Kaum einer gibt seine Schuld direkt zu.”
Hermann richtete sich auf. “Herr Tod, bitte! Sehen Sie mich an, ich habe so etwas doch nie getan! Ein Banküberfall, ich! Das ist doch lächerlich!”
Der Tod sah Hermann an. “Hmm, Sie kommen mir jetzt nicht gerade wie so einer vor, da haben Sie schon recht. Aber naja, selbst mit meiner Berufserfahrung irrt man sich manchmal.”
“Ich bitte Sie, glauben Sie mir doch! Niemals hätte ich so etwas gekonnt! Niemals!” Die Verzweiflung war Hermann jetzt stark anzumerken. Er wurde ganz bleich und begann zu schwitzen, seine Hände zitterten und er sah hektisch zwischen den beiden anderen hin und her. “Überlegen Sie doch mal, kann das System denn irgendeinen Fehler gemacht haben?”
Der Tod schien zu überlegen. Dann wandte er sich abrupt zu Vera um. “Vera! Oh nein. Oh nein, Oh nein, Oh nein!” Er schlug sich mit der Hand gegen den Kopf.
Vera starrte ihn an. “Was? Was ist denn?”
Der Tod begann auf und ab zu laufen. “Das kann doch nicht wahr sein. Oh nein!”
“Was ist denn?” fragte sie erneut.
Hermann sah den beiden gebannt zu, ein kleiner Hoffnungsschimmer machte sich in ihm breit.
“Der Mann von heute vormittag. Erinnerst du dich an den? Den Biker?” fragte der Tod.
“Klar. Nicht sehr freundlich, aber hatte einen unglaublich hohen Wert. Wie könnte ich das vergessen, sowas sieht man nicht alle Tage. Wieso?”
“Naja, erinnerst du dich an seinen Namen?”
“Hmm. Irgendwas mit S. Sven? Sören?” Vera schien zu überlegen.
“Fast. Simon! Und erinnerst du dich zufällig an seinen Nachnamen?”
Vera’s Gesicht verlor sofort alle Farbe. “Oh nein. Oh nein, oh nein, oh nein!” Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen den Kopf. “Hermann! Er hieß Simon Hermann!”
Hermann verstand jetzt gar nichts mehr.
“Wie? Was heißt das? Sie haben - mich verwechselt?”
Der Tod wandte sich Hermann zu. “Wir haben Sie verwechselt. Da muss etwas mit ihrem Vor und Nachnamen durcheinander gekommen sein.”
Hermann’s Miene heiterte sich daraufhin sofort auf. “Na, das ist doch super! Dann wäre das geklärt. Die zweite Tür links, nicht wahr?” Er erhob sich von seinem Stuhl und strahlte die beiden freudig an.
“Hmm, so einfach ist das leider nicht…” sagte der Tod.
Das Lächeln gefror auf Hermanns Gesicht. “Wie, so einfach ist das nicht?”
“Naja, ihr Namensvetter wurde bereits hoch geschickt - den können wir jetzt nicht mehr runter holen. Einmal oben bleibst du da auch. Das geben unsere Statuten nicht her. Und da er jetzt bereits oben ist, können wir Sie nicht einfach ebenfalls hoch schicken…” Der Tod sah Hermann mitleidig an.
Hermann konnte es nicht fassen. “Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe mein ganzes Leben ehrlich gelebt, während der andere auf den Putz gehauen hat, und jetzt soll ich in die Hölle während er im Paradies feiert? Nein! Das geht so nicht!” Seine Stimme wurde immer lauter und Hermann stand schließlich auf, sein Kopf dunkelrot vor Zorn.
Der Tod hob beschwichtigend die Hände. “Ruhig, ruhig! Lassen Sie mich ausreden. WIR können Sie nicht einfach hochschicken. Aber es gibt da jemanden…”
“Wen?” unterbach Hermann sofort. “Bringen Sie mich zu ihm.”
“Ich bringe Sie sofort zu ihm. Aber dafür müssen wir zunächst einmal in die Hölle.”
“Warum denn das? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich unschuldig bin!”
“Ja, das glaube ich Ihnen auch. Aber derjenige, den wir suchen - nunja - der hat sein Büro in der Hölle.”
Hermann sank erneut das Herz in die Hose. “Wer? Wen suchen wir?”
“Den Boss persönlich. Herr Simon, wir müssen zum Teufel.”
Hermann und der Tod standen vor einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift HÖLLE hing. Der Gedanke daran, was ihn dahinter erwartete, machte Hermann nervös. Der Tod schritt auf die Tür zu und öffnete sie mit einem kräftigen Ruck.
“Kommen Sie, Herr Simon.” sagte er und Hermann trat hinter ihm ein. Ein Schwall Hitze und Rauch kamen ihm entgegen. Hermann blieb kurz der Atem weg und ihm wurde ein bisschen schwindelig, doch er fing sich wieder und ging weiter. Während ihm die Hitze im Gesicht brannte, sah er sich um. Sie befanden sich auf einem Weg, rechts und links davon war ein steinernes Geländer angebracht. Hinter dem Geländer ging es steil nach unten, wo Flammen loderten. In dem Flammenmeer konnte Hermann mehrere Personen erkennen, denen das Feuer bis zu den Knien ging. Sie schrien, während sie von weiteren Personen, die am Rand standen, mit Dreizäcken gestoßen wurden. Hermann betrachtete dieses Schauspiel mit offenem Mund, doch der Tod winkte ihn weiter.
“Kommen Sie schon, Herr Simon. Wir müssen nach da hinten, dort hat der Teufel sein Büro.” Er zeigte auf eine schwarze Tür am Ende des Weges. Neben der Tür führte eine Treppe nach unten. Hermann folgte dem Tod, konnte seinen Blick jedoch nicht von den Personen unter ihnen abwenden.
“Wer sind die, mit den Dreizäcken? Sind das Angestellte?”
“Nein, das sind auch Insassen. Sie wechseln sich mit dem Feuer ab.”
Hermann schaute ihn verblüfft an, hörte dann aber von unten eine laute Stimme “Wechsel!” brüllen. Er wandte sich wieder dem Geschehen zu und beobachtete, wie die Personen aus den Flammen stiegen. Sie übernahmen die Dreizäcke und warteten, bis die anderen in die Flammen gegangen waren, dann begannen sie zuzustoßen. Hermann schluckte einen Schwall Rauch, als er mit offenem Mund zusah und musste husten.
“Lassen Sie den Mund lieber zu, Herr Simon. Sonst holen Sie sich noch Lungenkrebs.” riet ihm der Tod und lachte über seinen Witz.
Die beiden kamen nun immer näher an die Tür und Hermann wurde mit jedem Schritt ein bisschen nervöser. Immerhin war er kurz davor, den Teufel persönlich kennenzulernen. Das geschah schließlich nicht alle Tage.
Als sie an der Tür angekommen waren klopfte der Tod drei Mal. Von innen tönte eine tiefe Stimme. “Herein!” Der Tod öffnete die Tür. Hermann trat vorsichtig hinter ihm ein und blickte sich im Büro des Teufels um. An der Wand sah er mehrere Bücherregale. Gegenüber der Tür stand ein großer Schreibtisch, hinter dem auf einem großen Ledersessel eine Person saß, die Hermann sofort als den Teufel erkannte. Aus der Stirn des Mannes ragten zwei Hörner empor, unter dem Tisch konnte Hermann Hufe anstelle von Füßen erkennen. Der Teufel trug einen edlen, schwarzen Anzug mit einem roten Hemd und einer schwarzen Krawatte. Vor dem Schreibtisch standen zwei Stühle, offenbar für Besucher. Ansonsten war der Raum leer, abgesehen von einer Reihe von Bildern, die neben den gängigen Utensilien auf dem Schreibtisch standen. Hermann konnte zunächst nicht erkennen, was auf ihnen zu sehen war. Als er näher herantrat sah er, dass es sich offenbar um Bilder von der Familie des Teufels handelte. Darauf waren er, eine attraktive, junge Frau und ein Neugeborenes zu sehen.
“Tod, was führt dich hierher? Lange nicht gesehen!” sagte der Teufel.
“Satan, Alter Freund! Na, wie geht’s Frau und Kind?”
“Ach, du weißt ja wie das ist. Seit der Kleine da ist komme ich nicht mehr zur Ruhe. Habe heute Nacht vielleicht eine Stunde am Stück geschlafen, wenn es hoch kommt. Naja, so ist das halt! Und bei dir, Was gibt’s Neues?”
“Nichts wirklich neues. Den Kindern geht’s gut, der Große macht bisschen Probleme in der Schule. Habe Mittwoch einen Termin bei seinem Klassenlehrer. Pass nur auf, da kommt so einiges auf dich zu!” Die beiden lachten, Hermann kam es jedoch so vor, als wäre das Lachen des Teufels weniger enthusiastisch als das des Todes.
Es dauerte einige Sekunden, bis der Tod sich wieder beruhigt hatte. “Jetzt aber zur Sache. Wir haben hier ein kleines Problem. Darf ich vorstellen? Das ist Hermann Simon.” Der Tod trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf Hermann frei. Dem lief der Kopf hochrot an, als der Teufel ihn erblickte und genau ansah.
“Guten Tag Herr Simon, sehr erfreut.” Der Teufel stand auf und streckte Hermann die Hand entgegen. Hermann ging auf den Schreibtisch zu und nahm zögernd die ihm angebotene Hand.
“Wie kann ich Ihnen denn helfen?” fragte der Teufel freundlich.
Hermann wusste nicht, was er sagen sollte. “Ich - ähm - naja, da gab es - ähm…” bekam er nur heraus.
“Herr Simon wurde für dich eingeteilt, Satan.” erklärte der Tod hilfsbereit. “Da gab es aber leider eine Verwechslung. Es wurden offenbar die Daten von ihm und einem anderen Gestorbenen, Simon Hermann, durcheinander gebracht.”
Der Teufel starrte den Tod verdutzt an. “Oh. Mist. Eine Verwechslung?” Er fasste sich nachdenklich an den Kopf. “Naja, dann würde ich sagen die Daten werden berichtigt und Herr Simon geht nach oben, während ich mich um den anderen Herren kümmere. Oder nicht?”
“Ja, das wäre natürlich toll - da gibt es aber noch ein anderes Problem.” sagte der Tod. “Der andere ist schon oben.”
Die Miene des Teufels verfinsterte sich. “Aah. Das ist schlecht. Nein, nein, das ist gar nicht gut.” Er kratzte sich am Kinn und schien zu überlegen. “Was machen wir denn da?”
Hermann trat einen Schritt auf den Teufel zu und hob zögerlich die Hand. “Ähm, entschuldigen Sie, Sata - ich meine, Herr Teufel. Ich - ähm - ich habe ja nichts gemacht. Also, ähm, wäre es nicht - ich meine - könnte ich nicht - ähm, nunja - sollte ich nicht nach oben dürfen?” bekam er schließlich heraus.
Der Teufel starrte Hermann an, die Stirn in Falten gelegt.
“Hmm. Da haben Sie schon recht, Herr Simon. Wenn stimmt, was Sie sagen, sind Sie natürlich unschuldig. Ich bin mir aber gerade nicht sicher, was wir da machen sollen. Wie der Tod Ihnen sicher schon mitgeteilt hat, können wir den anderen Herren nicht einfach wieder von oben runter holen. Und wenn wir Sie jetzt einfach hochschicken stimmt ja das Verhältnis nicht mehr und das geht aufgrund unserer Statuten nicht. Das ist wirklich keine einfache Situation, für uns ebenso wenig, wie für Sie.”
“Aber - ich habe ja nichts falsch gemacht. Es ist doch nicht fair, dass ich für die Sünden eines anderen bestraft werde!” sagte Hermann, immer lauter werdend. Seine Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
“Es tut mir auch wirklich leid!” sagte der Teufel. “Aber wir haben hier gleich mehrere Probleme. Zunächst einmal müssten Sie beweisen, dass es sich hier wirklich um eine Verwechslung handelt. Dem System einen Fehler nachzuweisen wird aber alles andere als einfach. Und selbst wenn Ihnen das gelingen würde, was eigentlich nicht möglich ist, dann sind da immer noch die Statuten!” Der Teufel hob entschuldigend die Hände.
Hermann sackte auf einem der Stühle zusammen, die vor dem Schreibtisch standen. Er wurde ganz bleich und blickte mit angsterfüllten Augen auf den Boden. “Aber - ich bin unschuldig. Ich habe doch nichts getan.” Seine Stimme wurde immer leiser und brach am Ende beinahe zusammen.
Der Tod schaute Hermann mitleidig an, sah dann zum Teufel. “Satan, alter Freund. Denkst du nicht, dass wir noch irgendetwas unternehmen könnten?”
Der Teufel setzte sich wieder und kratzte sich erneut am Kinn. “Hmm. Tod, du weißt, ich meine es nur gut. Aber beim besten Willen, ich weiß nicht was wir da noch machen könnten. Du kennst die Statuten. Du weißt wie wichtig die sind.”
“Ja, das ist mir bewusst. Aber Herr Simon - auch wenn wir es nicht beweisen können, du hättest den anderen sehen sollen. Da gab es eine Verwechslung, das schwöre ich auf meine Sense!”
“Und du weißt, wie hoch ich dein Wort schätze! Aber ich glaube nicht, dass das reicht.” Der Teufel sah zu Hermann und der sah ihm an, wie leid es ihm tat.
“Könntest du nicht eventuell - du weißt schon, oben mal nachfragen?” fragte der Tod.
Der Teufel erstarrte auf seinem Sessel und blickte den Tod ungläubig an. “Oben? Warum denn oben? Was sollen die denn machen?”
“Naja, wenn die oben sich bereit erklären, mal eine Ausnahme zu machen und einen mehr aufzunehmen…” begann der Tod, die Arme abwägend in die Höhe gestreckt. Er stoppte, als er den ernsten Blick des Teufels sah.
“Hmm. Hmm. Oben anrufen. Ich weiß ja nicht…” murmelte dieser.
“Komm schon, Satan.” Der Tod sah den Teufel bittend an.
“Naja. Einen Versuch wäre es wert. Ja, okay. Probieren wir es.” sagte der Teufel und klatschte in die Hände. “Ich kann Ihnen aber nichts versprechen! Machen Sie sich mal lieber keine Hoffnungen.” sagte er an Hermann gewandt. Der hatte das ganze Gespräch gebannt verfolgt, die Hoffnung auf Rettung immer weiter wachsend.
Der Teufel nahm den Telefonhörer in die Hand und begann zu wählen. Es vergingen ein paar Sekunden, dann begann er zu sprechen.
“Hallo! Satan hier. Du, ich hätte da mal eine Frage. Wir haben hier ein kleines Problem mit einem Herrn Simon. Seine Datei wurde mit der eines anderen verwechselt, den habt ihr schon oben. Simon Hermann. Kann man da was machen?” Er schwieg kurz und schien dem am andere Ende der Leitung gebannt zuzuhören. “Ah. Ja. Okay. Ja, schon gut. Nein, da kann man nichts machen.” Hermann sank das Herz in die Hose. “Ja, dann noch einen schönen Tag. Auf Wiederhören!” Der Teufel legte auf. Er sah Hermann mitleidig an und hob entschuldigend die Hände. “Es tut mir wirklich aufrichtig Leid, Herr Simon. Die da oben sehen auch keine Möglichkeit, wie wir Sie aus Ihrer misslichen Lage befreien könnten.”
Hermann blickte hilfesuchend zum Tod, der seinem Blick aber auswich. Ihn verließ alle Kraft und er sank tief auf dem Stuhl zusammen.
Es herrschte einige Zeit Stille. Hermann kam es vor wie eine Ewigkeit, in der niemand ein Wort sprach. Alle schauten nur betreten auf den Boden und keiner brachte genug Mut zusammen, um etwas zu sagen. Dann klingelte das Telefon. Der Teufel zuckte zusammen, sammelte sich aber schnell wieder und hob den Hörer ab.
“Hallo, Satan hier, wie kann ich Ihnen helfen? Ah. Ja, der ist noch da. Oh, okay! Was, wirklich? Das sind ja tolle Nachrichten! Ja, ich werde es weiterleiten. Vielen dank! Bis später!” Der Teufel legte auf und strahlte Hermann an. Der wusste gar nicht, wie ihm geschah. Die ganze Geschichte war ein solches Auf und Ab gewesen, dass er es noch nicht wagte, zu große Hoffnungen aufkommen zu lassen. “Herr Simon, ich habe wunderbare Neuigkeiten!” sagte der Teufel. “Sie haben oben über Ihren Fall gesprochen, da hat sich offenbar ein Freiwilliger gemeldet, der bereit wäre, mit Ihnen zu tauschen.”
“Ein Freiwilliger? Wer?” Hermann sah den Teufel verdutzt an.
“Das weiß ich leider nicht, Sie werden ihn jedoch gleich kennen lernen. Er ist auf dem Weg hierher.”
Hermann konnte sein Glück nicht fassen. Er wunderte sich darüber, wer der Freiwillige war, der für ihn in die Hölle gehen würde. Der Tod und der Teufel sprachen währenddessen miteinander über alles mögliche, beide äußerst erfreut darüber, wie sich alles zum Guten gewendet hatte, Hermann hörte ihnen aber nicht mehr zu. Er war in Gedanken versunken und erleichtert darüber, dass er nun doch in den Himmel durfte, die Frage nach der Identität seines Retters ging ihm jedoch nicht mehr aus dem Kopf. So vergingen wieder einige Minuten, dann klopfte es an der Tür. Der Tod und der Teufel drehten sich beide um, Hermann stand auf und starrte gebannt zum Eingang, wo sich sein Retter jeden Moment offenbaren würde. Der Teufel rief “Herein!”, dann öffnete sich die Tür. Hermann konnte es kaum glauben, als er sah, wer da vor ihm stand. Das Herz sank ihm erneut in die Hose. Es war der Kleine aus dem Wartezimmer.
Hermann starrte ihn an. “Was - Junge! Was machst du hier?”
Der Junge lächelte ihn an. “Du kannst jetzt hoch. Es ist wirklich schön da!”
Hermann schüttelte den Kopf. “Nein, nein das kann ich nicht. Du wolltest hier runter? Für mich? Aber du kennst mich doch gar nicht! Warum machst du so etwas, Junge?”
Das Lächeln des Kleinen wurde noch breiter. “Ich habe deine Frau gesehen.”
Hermann sah den Jungen ungläubig an. “Du hast - was?”
“Deine Frau. Sie sagt, dass sie dich sehr vermisst.”
Hermann schossen Tränen in die Augen. Er hatte einen Kloß im Hals und es fiel ihm schwer, zu sprechen. “Sie ist - da? Da oben? Und ich kann sie sehen?”
“Ja. Du musst nur hoch gehen.”
“Aber - das kann ich nicht. Was passiert dann mit dir?”
Der Junge winkte ab. “Ach, mach dir um mich keine Sorgen. Ich komm schon klar!”
“Nein, Junge, das lasse ich nicht zu. Das kann ich einfach nicht.”
“Willst du denn deine Frau nicht wieder sehen?” fragte der Junge, die Stirn in Falten gelegt. Er wirkte so viel erwachsener, als vor wenigen Stunden im Wartezimmer.
“Doch, klar. Aber nicht so.” Hermann sah den Jungen verzweifelt an.
Von hinten machte sich der Teufel durch ein Räuspern bemerkbar. Hermann, der die beiden anderen komplett vergessen hatte, zuckte zusammen. Der Teufel schritt vor den Schreibtisch und sah den kleinen Jungen und Hermann freudig an. In seinen Augen glitzerte eine einzelne Träne.
“Ihr beide. Ich - ich weiß gar nicht was ich sagen soll.” Der Teufel war sichtlich gerührt von dem, was sich gerade abspielte. Auch er schien einen Kloß im Hals zu haben. “Junge, deine Bereitschaft zu leiden, für einen Fremden, rührt mich zutiefst. Du bist bereit, die schrecklichsten Höllenqualen zu leiden, um diesen Mann mit seiner Frau zu vereinen. Eine edle Geste, keine Frage. Aber auch ich - wie Herr Simon - kann das nicht zulassen. Ich kann keine so unschuldige Seele leiden lassen, niemanden der sich selbst so selbstlos opfert. Nein, du bleibst nicht in der Hölle, Kleiner. Geh wieder nach oben.”
Hermann schaute zum Teufel, er war aber nicht wütend. Zwar bedeutete das nun endgültig, dass er in der Hölle bleiben würde, er konnte es dem Teufel aber nicht übel nehmen. Der Junge hatte das wirklich nicht verdient und seine Geste rührte ihn zutiefst.
“Herr Simon, kommen wir zu Ihnen.” sagte der Teufel. “Dieser Junge, diese unschuldige, unbefleckte Seele, die in ihren jungen Jahren schon so viel Leid erlebt hat, war bereit sich für Sie zu opfern. Sie müssen einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen haben und das sagt einiges über Sie aus. Auch Sie möchte ich nur ungern hier behalten, Sie haben das nicht verdient.”
Hermann starrte den Teufel ungläublig an, der starrte freudig zurück.
“Gehen Sie. Beide.”
Hermann blickte ihn an. “Sie - wirklich? Ich darf…?”
“Gehen Sie!” Unterbrach ihn der Teufel. “Nun los, beeilen Sie sich! Sie wissen doch, was auf sie wartet. Gehen Sie!”
Hermann sah den Teufel mit freude strahlenden Augen an, dann sah er zum Tod. “Ich danke Ihnen. Ihnen beiden.”
Er spürte, wie sich eine kleine Hand um seine schloss. Als er nach unten sah, sah er den Jungen.
“Komm. Wir müssen los.”
Hermann folgte dem Jungen, sah sich noch einmal um und hob zum Abschied die Hand. Der Tod und der Teufel grüßten beide zurück, ein Lachen im Gesicht. Hermann und der Junge traten aus dem Büro und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Sie gingen über den Weg zurück zum Eingang, die Hitze der Flammen im Gesicht und die Schreie der Brennenden in den Ohren. Nachdem sie durch die Tür traten standen sie wieder auf dem Gang. Der Junge führte Hermann zur anderen Tür, an der ein Schild angebracht war, auf dem HIMMEL stand. Sie blieben stehen. Hermann blickte den Jungen an. “Danke.” sagte er. Der Junge lächelte ihn an. “Wie ist es denn? Da oben?” fragte Hermann.
“Es ist wunderschön.” sagte der Junge und öffnete die Tür. Ihnen kam ein helles Licht entgegen und Hermann spürte, wie sich großes Glück in ihm ausbreitete. Der Junge wollte losgehen, da hielt Hermann ihn zurück.
“Wie sieht er denn aus?” fragte er.
“Wer?” fragte der Junge.
“Na wer wohl. Gott!” sagte Hermann und lachte.
“Achso. Naja - ist das denn so wichtig?”
Hermann lächelte den Jungen an. Der lächelte zurück. Dann schritten sie gemeinsam über die Schwelle.
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Yuki • Am 27.05.2019 um 10:00 Uhr | |||
Hallo, bin auf deine Geschichte durch eine Lese Challange gestoßen. Ich sag einfach nur Wow, so geht das in der Zwischenwelt ab. Sehr schön geschrieben, mich hatte nur der Anfang leicht verwirrt. Lag Herman im Krankenhaus (Krankenschwester) oder in seinem Schlafzimmer (Krankenpflege)? Beim zweiten Absatz wurde es zum Glück erklärt. Tolle Geschichte. Gruß Yuki |
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Wörter: | 7.810 | |
Zeichen: | 43.704 |